UE Strafrecht und Strafverfahrensrecht WS 2008/2009/Hinterhofer 1 Lösungsvorschlag Fall 7 I. I. Strafbarkeit von P1 und P2 wegen Unterlassens des Alkoholtests und Annahme der je 100 € 1) 1) Amtsmissbrauch in unmittelbarer Täterschaft – Mittäter (§§ 12, 1. Fall, 302 Abs OTB: - Beamter: Definiert in § 74 Abs 1 Z 4 = jede Person, die dazu bestellt ist, im Namen einer Gebietskörperschaft (Bund, Länder oder Gemeinden) oder einer anderen Person des öffentlichen Rechts als deren Organ Rechtshandlungen vorzunehmen (1. Alt) oder die sonst mit Aufgaben der Bundes-, Landes- oder Gemeindeverwaltung betraut ist (2. Alt). P1 und P2 sind Polizisten und damit Beamte, weil sie bestellt sind, im Namen des Bundes als dessen Organe Rechtshandlungen vorzunehmen (Organwalter). - In Vollziehung der Gesetze: In diesem Merkmal liegt eine Beschränkung des Amtsmissbrauchs auf die Hoheitsverwaltung, für die charakteristisch ist, dass der Rechtsträger den Normunterworfenen im Verhältnis der Überordnung gegenübertritt. Diese liegt vor, weil Polizisten Privaten gegenüber in einem übergeordneten Verhältnis auftreten, die polizeiliche Tätigkeit somit ein Teil der Hoheitsverwaltung ist. - Befugnis, Amtsgeschäfte vorzunehmen: 1) Amtsgeschäft: = grundsätzlich alle Verrichtungen, die zum Gegenstand der jeweiligen Behörde gehören und zur Erfüllung ihrer Vollziehungsaufgaben notwendig sind; 2 Bereiche: a) Rechtshandlungen b) Faktische Verrichtungen, die einer Rechtshandlung gleichwertig sind (sog Gleichwertigkeitstheorie). Der Alkoholtest sowie eine allfällige Anzeige wegen Verweigerung desselben sind Verrichtungen, die zum Gegenstand der polizeilichen Vollziehung gehören; es handelt sich hier um Rechtshandlungen. UE Strafrecht und Strafverfahrensrecht WS 2008/2009/Hinterhofer 2 2) Befugnis: = abstrakte Erlaubnis (sachliche Zuständigkeit) zur Vornahme des Amtsgeschäftes. P1 und P2 hatten als Polizisten die Befugnis, diesen Alkotest sowie eine allfällige Anzeige vorzunehmen. – Befugnismissbrauch: = jeder pflichtwidrige Gebrauch der dem Beamten eingeräumten Befugnis. Darunter fallen allgemein sowohl die pflichtwidrige Ausübung als auch die pflichtwidrige Nichtausübung der Befugnis. P1 und P2 sehen trotz offensichtlicher Alkoholisierung des Lenkers vom Alkoholtest und einer Anzeige wegen Verweigerung des Tests ab, obwohl sie sicher sind, dass F alkoholisiert ist. Darin liegt eine pflichtwidrige Nichtausübung der ihnen eingeräumten Befugnis. Problem: hier Missbrauch durch Unterlassen. Umstritten ist dabei, ob dafür die Voraussetzungen des § 2 (Garantenstellung, Gleichwertigkeit) vorliegen müssen oder nicht. Richtigerweise ist keine Garantenstellung erforderlich, weil es sich bei § 302 um kein Erfolgsdelikt handelt. STB: a) Tatvorsatz: hinsichtlich - Beamteneigenschaft: Es ist davon auszugehen, dass P1 und P2 als Polizisten wissen, dass sie Beamte sind; Wissentlichkeit, § 5 Abs 3. - In Vollziehung der Gesetze: Auch hier ist Wissentlichkeit anzunehmen; P1 und P2 wissen, dass sie in Form der Hoheitsverwaltung tätig sind, Wissentlichkeit, § 5 Abs 3. - Befugnis, Amtsgeschäfte vorzunehmen: Auch wissen P1 und P2, dass der Alkotest bzw eine Anzeige eine Rechtshandlung ist, zu der sie abstrakt befugt sind. - Befugnismissbrauch: Wissentlichkeit (ausdrücklich erforderlich!) Der Beamte muss seinen Befugnismissbrauch iS von § 5 Abs 3 für gewiss halten. P1 und P2 ist sicherlich bekannt, dass die Unterlassung eines Alkotests bzw einer Anzeige trotz offensichtlicher Alkoholisierung des Lenkers F einen Befugnismissbrauch darstellt. b) Erweiterter Vorsatz: UE Strafrecht und Strafverfahrensrecht WS 2008/2009/Hinterhofer 3 Der Beamte muss mit dem erweiterten Vorsatz handeln, einen anderen an seinen Rechten zu schädigen (Schädigungsvorsatz). Dieser kann sich sowohl auf private als auch auf konkrete öffentliche Rechte beziehen. Hier hielten es P1 und P2 ernstlich für möglich und fanden sich auch damit ab, den Staat an seinem Recht auf gesetzeskonforme Vollziehung der Straßenverkehrsordnung zu schädigen. Ergebnis: P1 und P2 verwirklichen § 302 Abs 1. 2) Geschenkannahme durch Amtsträger in Mittäterschaft (§§ 12, 1. Fall, 304 Abs 1) OTB: – Amtsträger: definiert in § 74 Abs 1 Z 4a; P1 und P2 sind Amtsträger, weil sie für Österreich ein Amt in der Verwaltung innehaben. Generell gilt, dass alle Beamten iS des § 74 Abs 1 Z 4 zugleich auch Amtsträger iS des § 74 Abs 1 Z 4a sind. – Annahme eines Vorteils: P1 und P2 haben lt SV je 100 € und damit einen Vorteil angenommen. STB: a) Tatvorsatz hinsichtlich – Amtsträgereigenschaft: P1 und P2 ist bewusst, dass sie als Polizisten Amtsträgereigenschaft aufweisen. – Annahme eines Vorteils: P1 und P2 wissen ferner, dass sie je 100 € und damit einen Vorteil annehmen. b) Erweiterter Vorsatz: Für eine Unterlassung im Zusammenhang mit der Amtsführung P1 und P2 wissen, dass sie das Geld für die Unterlassung eines Alkoholtests bzw einer Anzeige annehmen, weil sie nach wie vor von der Alkoholisierung des F überzeugt sind. Der Alkoholtest sowie eine Anzeige wegen Unterlassen des Tests zählen unproblematisch zur Amtsführung von P1 und P2, sodass auch der Motivationszusammenhang zwischen Vorteilsannahme und konkreter Amtshandlung gegeben ist. Ergebnis: P1 und P2 verwirklichen § 304 Abs 1. UE Strafrecht und Strafverfahrensrecht WS 2008/2009/Hinterhofer 4 II. Strafbarkeit von F wegen Anbieten von je 100 € 1) 1) Bestimmungstäterschaft zum Amtsmissbrauch (§§ 12, 2. Fall, 14 Abs 1, 302 Abs OTB: – Tatsubjekt: Voraussetzungen des § 14 Abs 1 Satz 1 und Satz 2, 2. Fall (§ 302 als Sonderpflichtdelikt): F kann als Nichtbeamter Täter des § 302 sein, weil die Beamten P1 und P2 (= Qualifizierte iS des § 14 Abs 1) in vorsätzlicher Weise Amtsmissbrauch begehen (siehe oben). – Bestimmungshandlung: durch das Anbieten von je 100 € weckt F den Tatentschluss in P1 und P2, den Alkoholtest bzw eine Anzeige zu unterlassen. – Tatvollendung durch unmittelbare Täter: P1 und P2 vollenden § 302 Abs 1 (siehe oben). STB: – Bestimmungsvorsatz: F kam es wohl sogar darauf an, die beiden Beamten dazu zu bringen, von einem Alkoholtest bzw einer Anzeige Abstand zu nehmen (Absicht). – Tatvorsatz: Auch F weiß in laienhafter Beurteilung, dass P1 und P2 Beamte sind. Ferner weiß er, dass diese in Form der Hoheitsverwaltung agieren; ferner weiß er, dass P1 und P2 grundsätzlich dazu befugt sind, Alkoholtests durchzuführen bzw Anzeigen zu erstatten; schließlich weiß F auch, dass P1 und P2 durch das Unterlassen des Alkoholtests bzw einer Anzeige ihre Befugnis missbrauchen. – Erweiterter Vorsatz: Schädigungsvorsatz: Auch F hielt es zumindest ernstlich für möglich und fand sich damit ab, dass durch das Unterlassen des Alkoholtests bzw der Anzeige der Staat in seinem Recht auf ordnungsgemäße Vollziehung der StVO geschädigt wird. Ergebnis: F verwirklicht §§ 12, 2. Fall, 14 Abs 1, 302 Abs 1 2) Bestechung (§ 307 Abs 1 Z 1) OTB: – Vorteilsgewährung an einen Amtsträger: Dadurch, dass F den beiden Amtsträgern P1 und P2 je 100 € übergibt, gewährt er ihnen einen Vorteil. STB UE Strafrecht und Strafverfahrensrecht WS 2008/2009/Hinterhofer 5 a) Tatvorsatz hinsichtlich Vorteilsgewährung an einen Amtsträger: F kam es wohl sogar darauf an, den beiden Amtsträgern das Geld zu übergeben. b) Erweiterter Vorsatz: F weiß, dass er den Amtsträgern das Geld für die Unterlassung eines Alkoholtests bzw der Anzeige gewährt; dabei handelt es sich um eine Unterlassung im Zusammenhang mit der Amtsführung von P1 und P2. Es besteht wiederum ein Motivationszusammenhang zwischen der Vorteilsgewährung und der konkreten Amtshandlung. Ergebnis: F verwirklicht § 307 Abs 1 Z 1. III. Strafbarkeit des F wegen des erzwungenen Geschlechtsverkehrs 1) Vergewaltigung (§ 201)? Es liegt keine Vergewaltigung vor, weil F weder mit Gewalt noch durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben den Geschlechtsverkehr abnötigt. Im Unterschied zu § 202 setzt die Drohung bei der Vergewaltigung also Imminenz iS des sofortigen Vollzugs des in Aussicht gestellten Übels voraus (arg „gegenwärtiger“). Die Realisierung des Übels muss also nach dem Inhalt der Drohung unmittelbar ihrer Äußerung folgen. Es muss ein zeitliches Naheverhältnis zwischen dem Ausspruch der Drohung und der Verwirklichung des (angekündigten) Übels vorhanden sein. Das zeitliche Naheverhältnis ist dabei nur zu bejahen, wenn zwischen der Drohung und der angekündigten Realisierung des Übels (maximal) einige Minuten liegen; bezieht sich die angedrohte Gefahr wie hier auf einen entfernten Zeithorizont (einige Stunden, Wochen oder Monate), fehlt es an der Gegenwärtigkeit. 2) Geschlechtliche Nötigung (§ 202 Abs 1) OTB: – Gefährliche Drohung: § 74 Abs 1 Z 5; 2 Voraussetzungen: 1) Nötigungserhebliches Rechtsgut: Drohung mit einer Verletzung an Körper, Freiheit, Ehre oder Vermögen. Die Androhung einer „saftigen Abreibung“ für den Bruder der L ist die Drohung mit einer Körperverletzung. Denn F stellt ein Übel für die körperliche Integrität des Bruders des L in Aussicht, auf dessen Verwirklichung er Einfluss zu haben vorgibt. UE Strafrecht und Strafverfahrensrecht WS 2008/2009/Hinterhofer 6 2) Begründete Besorgniseignung: das angedrohte Übel war zwar nicht gegen L selbst, wohl aber gegen eine Sympathieperson iS des § 74 Abs 1 Z 5, nämlich ihren jüngeren Bruder, gerichtet; als solche ist die Drohung sicherlich geeignet, bei L begründete Besorgnis auszulösen. – Nötigung zur Duldung einer geschlechtlichen Handlung: L hat laut SV den Geschlechtsverkehr zugelassen, wurde also zur Duldung des Beischlafs genötigt. STB: Laut SV kam es F darauf an, L gefährlich zu bedrohen und sie zur Duldung des Beischlafs zu nötigen (Absicht). Ergebnis: F verwirklicht § 202 Abs 1. Konkurrenzen: P1 und P2: § 302 verdrängt § 304. F: §§ 12, 2. Fall, 14 Abs 1 302 verdrängt § 307. Dazu kommt § 202 Abs 1 in echter Realkonkurrenz. UE Strafrecht und Strafverfahrensrecht WS 2008/2009/Hinterhofer 7 II. 1. V hat die M vergewaltigt. Als Folge dieser Vergewaltigung wird M schwanger und bringt ein Kind zur Welt. Drei Monate nach der Geburt des Kindes findet vor dem zuständigen Gericht die Hauptverhandlung gegen V statt. M sagt ohne eine spezielle Belehrung erhalten zu haben aus und belastet den V mit ihrer Aussage schwer. V wird auf Grund dieser Aussage wegen Vergewaltigung verurteilt. Kann V das Urteil erfolgreich anfechten? Zuständigkeit: Qualifizierte Vergewaltigung nach § 201 Abs 2 StGB (Schwangerschaftsfolge) fällt in die Zuständigkeit des Geschworenengerichts (§ 31 Abs 2 Z 1 StPO). M hat gem § 156 Abs 1 Z 1 StPO ein Aussagebefreiungsrecht als Angehörige des angeklagten V. Denn gem § 72 Abs 1 StGB, auf den § 156 Abs 1 Z 1 StPO verweist, ist V als der Vater des gemeinsamen unehelichen Kindes ein Angehöriger der M. Über dieses Aussagebefreiungsrecht muss M gem § 159 Abs 1 StPO belehrt werden. Dies ist lt SV nicht geschehen. Zudem hat M nicht ausdrücklich auf ihr Aussagebefreiungsrecht verzichtet (§ 159 Abs 3 Satz 1 StPO). Dies führt zur ausdrücklichen Nichtigkeit der Aussage der M. V kann daher Nichtigkeitsbeschwerde erheben gem § 345 Abs 1 Z 4 StPO (der zur Nichtigkeit führende Umstand wurde direkt in der HV gesetzt). Ob M auch ein Aussageverweigerungsrecht als Sexualtatopfer gem § 156 Abs 1 Z 2 StPO hat, hängt davon ab, ob sie bereits kontradiktorisch (dh mit Gelegenheit für die Parteien, sich daran zu beteiligen) einvernommen wurde (§ 165 StPO). Sollte M in der Hauptverhandlung zum ersten Mal vernommen werden, kommt ihr kein Aussagebefreiungsrecht zu. Zu dieser Frage sagt der SV nichts Näheres, sodass darauf nicht einzugehen ist, zumal ihr ohnehin das Aussagebefreiungsrecht als Angehörige zukommt. 2. X wird wegen Amtsmissbrauchs als Bestimmungstäter verurteilt. In den Urteilsgründen wird ausgeführt, dass er einen befreundeten Beamten dazu überredet hat, einen bestimmten rechtswidrigen Bescheid zu erlassen, wobei X sich sowohl mit der rechtlichen Unvertretbarkeit einer solchen Erledigung als auch mit dem Umstand abgefunden hat, dass dem Bescheidadressaten dadurch ein Vermögensschaden entstehen werde. Bestehen Anfechtungsmöglichkeiten? UE Strafrecht und Strafverfahrensrecht WS 2008/2009/Hinterhofer 8 Zuständigkeit: Amtsmissbrauch (§ 302 StGB) ist vor dem Schöffengericht (§ 31 Abs 3 Z 6 StPO) zu verhandeln. Zur subjektiven Tatseite stellt das Urteil lediglich fest, dass sich X mit der rechtlichen Unvertretbarkeit der Erledigung abgefunden hat. Für eine Verurteilung wegen Amtsmissbrauchs hätte X aber darüber hinaus hinsichtlich der rechtlichen Unvertretbarkeit der Erledigung wissentlich handeln müssen. Zum Vorliegen dieser Vorsatzkomponenten enthält das Urteil aber keine Feststellungen. Dies ermöglicht eine Nichtigkeitsbeschwerde nach § 281 Abs 1 Z 9 lit a (Rechtsrüge) infolge des Mangels an Feststellungen zur Wissentlichkeit des X; denn wenn der Bestimmungstäter nicht wissentlich in Bezug auf den Befugnismissbrauch des Beamten handelt, ist seine Bestimmung nicht gerichtlich strafbar (fehlende Tatbestandsmäßigkeit). Nach der Lehre kommt zudem eine Nichtigkeitsbeschwerde gem § 281 Abs 1 Z 5 StPO (Feststellungs- und Begründungsmangel) in Betracht. Nach der Rsp ist dagegen in diesem Fall nur § 281 Abs 1 Z 9 lit a einschlägig. 3. A verursacht als Lenker eines Personenkraftwagens fahrlässig einen Unfall bei dem seine Beifahrerin schwer verletzt wird (§ 88 Abs 4 1. Fall StGB). A wird verurteilt. Nun möchte er im Rechtsmittelweg die in der Hauptverhandlung nicht angesprochene und im Urteil nicht erwähnte, beim Unfall erlittene eigene schwere Verletzung geltend machen. Welches Rechtsmittel muss A ergreifen und wer entscheidet über das Rechtsmittel? Zuständigkeit: Gem § 30 Abs 1 StPO entscheidet über § 88 Abs 4, 1. Fall StGB das Bezirksgericht. Die beim Unfall erlittene schwere Verletzung des A ist ein Milderungsgrund gem § 34 Abs 1 Z 19 StGB. Wenn das Gericht diesen Milderungsgrund unberücksichtigt lässt, hat es sein Ermessen im Rahmen der Strafzumessung unrichtig ausgeübt. Dies ist mit Strafberufung gem § 464 Z 2, 2. Fall StPO zu bekämpfen. Es liegt kein Nichtigkeitsgrund nach §§ 468 Abs 1 Z 4 iVm 281 Abs 1 Z 11 StPO vor, weil hier nicht gegen zwingende Vorschriften der Strafzumessung verstoßen wurde, sondern lediglich das bestehende Ermessen falsch ausgeübt wurde. Über die Berufung entscheidet das Landesgericht als 3-Richter-Senat (§ 31 Abs 5 Z 1 StPO).
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