Ein Mädchen verschwindet

Leseprobe aus:
Frauke Kühn
Ein Mädchen verschwindet
© 2002 der dt. Übersetzung von Fred Schmitz by Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH. Alle Rechte vorbehalten.
2/4
Mittwoch, 7. August, 3. Polizeirevier, 22 Uhr, Johann Antel, Polizeiobermeister der
Schutzpolizei, 40, zwei Kinder (13 und 16):
Ursula Krapp erschien auf unserem Revier und meldete ihre Tochter, Karin Krapp,
sechzehn, als vermisst. Als aufnehmender Beamter habe ich mich um die Frau
gekümmert. Sie war nervös, aber nicht ausgesprochen beunruhigt. Ich renne nicht
gleich an die Schreibmaschine und tippe drauflos. Zunächst einmal unterhält man
sich mit demjenigen, der zu uns kommt. Warum sollte ich alarmiert gewesen sein?
Ich habe meine Dienstzeit nicht umsonst auf dem Buckel. Jährlich verschwinden
etwa vierzigtausend Kinder und Jugendliche. Vermisstenanzeigen sind zwar nicht
unbedingt etwas Alltägliches, aber trotzdem ließ ich die Frau erst einmal Luft
schöpfen und dann erzählen.
Karin verließ angeblich am Morgen… Ich betone das angeblich nicht, es gehört zum
Sprachgebrauch. Solange etwas nicht überprüft und gesichert ist, ist es für mich
angeblich. Außerdem, nicht nur in Krimis sagen die Eltern nicht immer die Wahrheit.
Manchmal schummeln sie ein wenig, wenn bestimmte Angaben ihnen unangenehm
sind. Manchmal schwindeln sie ganz bewusst, wenn sie etwas verbergen möchten,
aber gleichzeitig wollen, dass wir uns um etwas kümmern sollen. Es gibt ja auch
Falschaussagen.
Also: Karin verließ angeblich am Morgen des 7. August zwischen sieben und sieben
Uhr zehn die Wohnung der Eltern in der Bergstraße 5. Seitdem, so Frau Krapp, war
sie nicht zurückgekehrt. Ihre Nachbarn hätten sie über Tag nicht gesehen. Das ist
von Bedeutung, da auch Frau Krapp ganztätig im Kaufhaus arbeitet. Weiterhin gab
sie an, dass es überhaupt nicht Karins Art sei,, längere Zeit wegzubleiben. Nicht,
ohne wenigstens eine Nachricht zu hinterlassen, wo sie sich aufhält und wann sie
zurückkommt. Ebenfalls würde sie nicht ohne Vorankündigung später als gegen 20
Uhr nach Hause kommen. Karin könne auch unmöglich unbeobachtet in der
Zwischenzeit zu Hause gewesen sein. Ein Nachbar sei an den Rollstuhl gefesselt
und würde den ganzen Tag am Fenster sitzen, der hätte sie einfach bemerken
müssen. Hinzu käme, dass zum Zeitpunkt von Frau Krapps Rückkehr der Zustand
von Karins Zimmer unverändert gewesen sei. In der Küche sei auch kein Essen
zubereitet worden. All das spräche gegen Karins Gewohnheiten. Ihr Mann würde
jetzt zu Hause auf Karin warten.
Ich habe versucht, die Frau zu beruhigen. Habe auf meinen eigenen Sohn
verwiesen, der auch anfängt, länger als üblich abends von zu Hause wegzubleiben.
3/4
Mit sechzehn fängt das eben an. Die denken sich nichts Böses dabei, während zu
Hause die Alten sitzen und nervös Däumchen drehen. Ich hätte es vorgezogen, noch
etwas abzuwarten. Bei einem Jungen reagiert man höchstwahrscheinlich anders als
bei einem Mädchen. Jedenfalls besteht Frau Krapp darauf, eine Vermisstenanzeige
aufzugeben. Es wurde ein Formular ausgefüllt. Vor- und Zuname, Nationalität, Beruf
– in diesem Fall Schülerin -, Anschrift, vermisst seit, Tag und Uhrzeit.
Sie hatte schon überall angerufen, Freundinnen, Verwandte und Bekannte. Die
Lehrerin hätte sie nicht erreicht. Auf dem Formular wird noch festgehalten, von wem
die vermisste Person zuletzt gesehen wurde. Dann folgt der Platz für die
Personenbeschreibung: Größe, Gestalt, Haare, besondere Kennzeichen,
Bekleidung. Die Frage nach dem zuletzt behandelnden Zahnarzt füllen wir bei älteren
Personen aus. Wenn man nun eine Leiche findet, die der vermissten Person ähnelt
im Sinne der gesamten Beschreibung …das heißt, manchmal können wir von der
Person nicht mehr viel erkennen, kann das Gebiss – soweit vorhanden –
beziehungsweise ein Abdruck dazu dienen, den Zahnarzt zu befragen.
Wir notieren ebenfalls noch Angaben über den, der die Anzeige erstattet. Vor- und
Zuname, Anschrift und Verhältnis zum Vermissten. Schließlich halten wir gleich fest,
was mit der vermissten Person geschehen soll, wenn wir sie auffinden. Wenn sie
abgeholt wird, von wem. Oder ob sie dem zuständigen Jugendamt übergeben
werden soll. Minderjährige müssen von uns entsprechend übergeben werden. Selbst
wenn sie Stunden hier auf dem Revier warten, bis sie abgeholt werden.
Wir fragen auch gleich, ob die Erziehungsberechtigten auch mit einer
Presseveröffentlichung einverstanden sind.
Nachdem die Formalitäten erledigt waren, hat der Dienstgruppenleiter als Erstes eine
Funkfahndung eingeleitet. Dieser Funkspruch erreicht alle Streifenwagen und
Polizeidienststellen im Stadtbereich. Es kann ja sein, dass das Mädchen bereits
aufgegriffen wurde oder dass es einen Unfall hatte. Die Besatzung der einzelnen
Streifenwagen wird dann nach diesem Mädchen Ausschau halten. Anschließend
geht diese vorläufige Vermisstenanzeige in das Fernschreibnetz, sodass bundesweit
die Dienststellen benachrichtigt sind. Schließlich geht die Anzeige in den
Fahndungscomputer.
Natürlich haben wir die Anzeige von Anfang an ernst genommen! Obwohl Frau Krapp
der Meinung war, ein Disco-Besuch käme nicht in Frage, haben wir die draußen
arbeitenden Kollegen angehalten, entsprechende Örtlichkeiten aufzusuchen. Ebenso
4/4
Jugendtreffs, obwohl die Mutter sich einen Aufenthalt von Karin dort absolut nicht
vorstellen konnte.
Als vermisst gelten alle Personen, die ihren gewohnten Lebensraum verlassen
haben. Für deren Leib oder Leben Gefahr besteht wie bei Unfall, Freitodabsicht oder
Hilflosigkeit, und wenn der Aufenthaltsort unbekannt ist. Bei Minderjährigen und
Entmündigten entfällt die Vorraussetzung der Gefahr für Leib und Leben. Es genügt,
wenn der gewohnte Lebenskreis verlassen wurde und der Aufenthaltsort unbekannt
ist. Warum hätte ich eine größere Suchaktion auslösen sollen? Die Anhaltspunkte
sprachen doch nicht dafür! Wo hätte man Karin suchen sollen? – Sicher, zwischen
sieben und zweiundzwanzig Uhr ist ein langer Zeitraum. Zu diesem Zeitpunkt
wussten wir aber noch nicht, dass Karin die Schule gar nicht erreicht hatte! Die
vorläufige Vermisstenanzeige wurde, wie notwendig, dem Sachbearbeiter bei der
Kripo, Abteilung Sitte, übergeben. Nicht persönlich, so etwas wird weitergeleitet. Bis
zu diesem Zeitpunkt gab es keinerlei Anhaltspunkte für ein Verbrechen.