downloaden. - SOS Kinderdorf

6
SOZIALES
KINDERDORF
20er 03/16
Kinder statt Konten
Ein neuer Lebensweg als Erzieher
Nach elf Jahren schmiss Andreas Niederbacher seinen Bank-Job.
Er machte eine extreme berufliche Kehrtwende in ein Fach, in dem
Männer immer noch Exoten sind: Niederbacher arbeitet jetzt als
Erzieher im SOS-Kinderdorf. CHRISTINA SCHWIENBACHER
A
ndreas Niederbacher kann
nicht mehr genau sagen,
wann es bei ihm zum ersten
Mal „Klick“ gemacht hat. Es
war irgendwann nach 2009 zur Zeit der
Wirtschaftskrise. Er habe seine Arbeit
bei der Bank, „das ganze System“, wie
er sagt, in Frage gestellt. Über Bekannte
kam der Sellrainer per Zufall ins Kinderheim Axams und war sofort begeistert: „Von der Arbeit mit den Kindern
und wie sie den ganzen Tagesablauf
bestimmen.“ Er schrieb sich am zweijährigen Kolleg für Sozialpädagogik in
Stams ein und schnupperte während
dieser Zeit in alle möglichen Arbeitsbereiche hinein, bis es irgendwann zum
zweiten Mal „Klick“ machte, diesmal
aber gehörig: Während eines vierwöchigen Ferienlagers des SOS-Kinderdorfs
am Caldonazzo-See zwischen Lagerfeuer,
Gruselgeschichten und Tempelhüpfen.
Kurz darauf kam das Job-Angebot des
SOS-Kinderdorfs in Imst. Der 34-Jährige sagte zu.
So ein Arbeitstag hat es in sich: In
der Früh müssen die Kinder raus aus
den Federn, nach dem Frühstücken und
Zähneputzen geht es ab in den Kindergarten, in die Schule oder in den Ausbildungsbetrieb. Am Nachmittag sind
Hausübungen zu machen, es wird gespielt oder es wartet der Musik- bzw.
Sportunterricht. Dann ist auch mal ein
aufgeschürftes Knie zu verarzten oder
ein Streit zu schlichten: Der ganz normale Wahnsinn eben, wenn sechs Kinder
unter einem Dach wohnen. Die Betreuung der Kinder ist im SOS-Kinderdorf
genau geregelt: Neben dem Kinderdor-
Fotos (2): Daniel Jarosch
Zwei Jahre später wird er sagen: „Es
war die richtige Entscheidung“. Auf einen Schlag wurde er Kinderdorf-Papa,
Sportkompagnon, Hausaufgabenüberwacher, All-inclusive-Animateur, Hausmann, Finanzverwalter, Kummernummer und noch so viel mehr. Er arbeitet
40 Stunden in der Woche als Sozialpädagoge in einer Wohngruppe (siehe Infobox), wo sich ein Team die Betreuung
von bis zu sechs Kindern teilt. Als Betreuungsschlüssel gilt ein Betreuer je
drei Kinder.
SOZIALES
KINDERDORF
20er 03/16
7
1949 wurde weltweit das erste SOS-Kinderdorf
eröffnet – in Imst: In 14 Häusern leben heute
zwei SOS-Kinderdorf-Familien und 12 Wohngruppen. Während bei der Familie eine fixe
Bezugsperson Tag und Nacht bei den Kindern
wohnt und arbeitet, aber natürlich Anspruch auf
gesetzlichen Urlaub hat, wechselt sich bei den
Wohngruppen ein Team von Sozialpädagogen
rund um die Uhr im Schichtdienst ab.
fleiter gibt es vier pädagogische Leiter,
die in enger Zusammenarbeit mit allen
in Imst beschäftigten Mitarbeitern stehen. In regelmäßigen Team-Sitzungen
wird über die Entwicklung der Kinder
gesprochen und beraten. Über jedes
Mädchen und jeden Bub wird eine Akte
geführt, in der alles festgehalten wird,
was wichtig ist.
Waisen sind die Kinder übrigens
höchst selten: Sie haben zumeist (Tiroler) Eltern, die jedoch nicht in der Lage
sind, für sie zu sorgen. Vernachlässigung, Drogen- oder Alkoholsucht der
Eltern – die Liste der Gründe ist lang,
warum das Jugendamt die Kinder in die
Obhut des SOS-Kinderdorfs gibt. In Imst
wohnen derzeit übrigens auch zahlreiche minderjährige Flüchtlingskinder.
Eine der schwierigsten Seiten des Jobs
sei die Elternarbeit, erzählt Andreas. Bei
jedem Kind ist der Besuch der leiblichen
Eltern in Imst genau geregelt. Nicht immer kooperieren die Eltern, manchmal
vergessen sie das vereinbarte Treffen sogar. Mitunter muss Andreas, der bei den
Treffen mit dabei ist, sogar mittendrin
abbrechen oder die Kinder bei einem verpatzten Besuch trösten und auffangen.
Die Trennlinie zwischen Beruf und privat zu ziehen, ist nicht immer einfach.
„Mit Mitleid darf man aber nicht an die
Sache herangehen. Jedes Kind dort hat
sein Rucksackl zu tragen. Aber trotzdem sind es ganz normale Kinder.“ Eine
riesige Verantwortung bringe der Job je-
denfalls mit sich: „Man muss psychisch
und körperlich fit sein.“
nau 26.000 weibliche, jedoch nur 11.100
männliche Erwerbstätige.
Andreas ist aber noch aus einem
ganz besonderen Grund unersetzlich:
Er ist ein Mann und als solcher in seinem Job heillos unterrepräsentiert. Dabei seien männliche Bezugspersonen
für Kinder, die ohne leiblichen Vater
aufwachsen, extrem wichtig, wie Andreas berichtet: „Die Buben und Burschen
suchen das Rollenbild Mann!“ Gerade
wenn sie in die Pubertät kommen, stellten sich viele die Sinnfrage und wollten
Der Sprecher des SOS-Kinderdorfs,
Viktor Trager, erklärt: „Unsere Stellenangebote werden immer geschlechtsneutral
ausgeschrieben. Aus teamparitätischen
Gründen werden männliche Bewerber
jedoch häufig bevorzugt aufgenommen.“
Seit der Gründung von SOS-Kinderdorf
im Jahr 1949 – übrigens in Imst – gab
es dort männliche Betreuer. Vor allem in
den sogenannten Jugendhäusern, wenngleich die klassische Kinderdorffamilie
mit einer fixen Bezugsperson bis in die
1970er-Jahre in reiner Frauenhand war.
In Entwicklungs- oder Schwellenländern
in Afrika und Asien ist der Mann nach
wie vor als Erzieher in den SOS-Kinderdörfern so gut wie nicht vorhanden.
„Man muss psychisch
und körperlich fit sein.“
wissen, woher sie kommen. Wenn die
männliche Bezugsperson bis ins Teenageralter fehlt, sei das für viele ein großes Problem. Männer sind in sozialen
Berufen immer noch Exoten. Beim SOSKinderdorf in Österreich sind weniger
als ein Drittel aller Mitarbeiter im pädagogischen Bereich männlich: Es gibt
nur 235 Männer, dafür aber 722 Frauen.
Dies entspricht auch dem österreichweiten Trend: Laut Statistik Austria arbeiteten im Jahr 2014 in den nicht-akademischen, sozialpflegerischen Berufen (wie
z. B. Familienhelfer, Jugendarbeiter, Behindertendienst, Fürsorgehelfer, Frauenhausbetreuer) mehr als doppelt so
viele Frauen wie Männer: Es waren ge-
In Europa hingegen wählen seit etwa
30 Jahren immer wieder Männer diesen
speziellen beruflichen Alltag. Sie haben
sich über klassische Geschlechterrollen
und die Aussicht auf ein hohes Einkommen hinweggesetzt und wissen, dass es
auch in ihrer Sparte die Chance auf einen
richtig guten beruflichen Coup gibt. Bei
Andreas sieht der z. B. so aus: Da gibt es
diesen 13-Jährigen in Imst, der sich nie
mitteilte und alles mit sich selbst, allein
in seinem Zimmer ausmachte. Mittlerweile hat er es geschafft, sich zu öffnen
und zu sagen, wenn ihm etwas nicht
passt. Jetzt geht er damit zu Andreas.
Das ist irgendwie also auch sein Erfolg.