Macht der Medizin Beine! - Bundesverband Internetmedizin

TITEL
WISSEN & GESUNDHEIT
Vom digitalen Datenaustausch im Gesundheitswesen profitieren alle,
aber er kommt nicht voran. Jetzt sind die Patienten gefragt
Macht der Medizin Beine!
W
er behauptet, die
digitale Vernetzung im deutschen
Gesundheitswesen hinke hinterher, kennt sich
in Anatomie nicht aus. Denn
ein Hinken ohne Beine ist
nicht möglich. Und so kriecht
Deutschland über den Weg zur
IT-Vernetzung zwischen Praxen,
Kliniken, Apotheken und Kassen: Patienten müssen bei jedem
Arztbesuch ihre Krankengeschichte erzählen, Röntgen- und
Blutuntersuchungen werden
doppelt und dreifach durchgeführt. Leidende sind gezwungen, ihre wertvolle Lebenszeit
unnötig in Arztpraxen und Krankenhäusern zu verbringen.
Schuld ist ein System, das
noch immer von sich glaubt, es
würde auf ewig das beste der
Welt bleiben. Es weigert sich mit
eitler Arroganz, ins digitale Zeitalter einzutreten.
Dabei kann man ein krankendes Gesundheitswesen
auch heilen, wie der Blick in
die USA zeigt. Die medizinische Versorgung dort kann man
sicher nicht durchgehend als
vorbildlich bezeichnen. Aber
der amerikanische Staat hat bis
heute weit mehr als 30 Milliarden US-Dollar in die digitale
Vernetzung investiert. Ärzte und
Krankenhäuser wurden verpflichtet, elektronische Patientenakten einzuführen, die alle
relevanten Informationen eines
Patientenlebens auf Abruf bereit88
Ein Aufruf von Markus Müschenich
Vertritt
Pioniere
Markus
Müschenich, 54,
ist Mitglied im Vorstand des Bundesverbands InternetMedizin. Dort sind
Technologieanbieter,
Ärzte und Pharmafirmen vertreten.
Müschenich arbeitet
als Unternehmensberater. Zuvor war er
als Kinderarzt und
Klinikmanager tätig.
halten. Liest man den aktuellen
Entwurf des deutschen eHealthGesetzes, sucht man vergebens
nach einer solche Akte.
Apropos Amerika: Die ITRiesen aus den USA haben sich
längst auf den Weg ins Gesundheitswesen gemacht. Apple stellt
die Technik für elektronische
Patientenakten auf jedem verkauften iPhone zur Verfügung.
IBM liefert Ärzten mit dem
Expertensystem Watson Therapieempfehlungen auf der Basis
der Medizin-Weltliteratur. Dafür
scannt ein Hochleistungsrechner 200 Millionen Seiten in drei
Sekunden. Google investiert
jährlich gut 100 Millionen Dollar
in Gesundheitsinnovationen.
Noch ist die Situation hierzulande nicht hoffnungslos:
Eine Vielzahl an Gründern setzt
hilfreiche Ideen um. Die Unternehmer interessieren sich selten dafür, was die Politik in den
letzten zehn Jahren versäumt
hat. Patientus, OneLife, Caterna,
Preventicus, Emperra – solche
Start-ups konzentrieren sich
darauf, was Ärzten und Patienten nützt. Ihre Produkte machen
die Online-Sprechstunde möglich und helfen Schwangeren.
Diabetiker werden damit besser
versorgt und die Früherkennung
und Prävention von Herz-Kreislauf-Leiden endlich mobil und
alltagstauglich.
Ein paar Vertreter des
Gesundheits-Establishments
sind aus ihrer digitalen Ago-
nie erwacht. Die Barmer GEK
bezahlt seit vergangenem Jahr
als weltweit erste Krankenkassen eine nur über das Internet
erhältliche Therapie für Kinder
mit Sehschwäche. Diese „App
auf Rezept“ wird von Augenärzten verordnet. Auch die Bundesärztekammer bekannte, dass
digitale Medizin besser sein
kann als die analoge Variante.
Damit die Vernetzung Wirklichkeit wird, müssen Patienten
dem deutschen Gesundheitswesen Beine machen. Sie sollten
ihren Ärzten und Krankenkassen klar zu verstehen geben,
dass sie von ihnen erwarten,
was sonst in ihrem Alltag bereits
seit Jahren selbstverständlich ist
– eine vernetzte Welt der Information ohne Wartezeiten und
Grabenkämpfen zwischen verschiedenen Disziplinen.
Patienten sollten keinen Zweifel daran lassen, dass sie zwar
gerne auf ihre Ärzte zurückgreifen, aber in der digitalen Welt
durchaus über Alternativen verfügen. Ein Beispiel: Bereits heute vertrauen mehr als 360 000
Diabetiker der arztfreien
Online-Plattform mySugr, wenn
es um die Optimierung ihrer
Therapie geht.
Das ist eine klare Ansage an
Ärzte, Kassen- und Kammervertreter sowie Gesundheitspolitiker, nicht zu jammern, sondern
mit wirklicher Innovationsbereitschaft an der digitalen Vernetzung zu arbeiten.
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FOCUS 44/2015