2015-1 Deutsch Bayern – Abiturprüfung 2015

Deutsch Bayern – Abiturprüfung 2015:
Aufgabe 1: Erschließen eines literarischen Textes
a) Erschließen und interpretieren Sie das Gedicht „Stapfen“ von Conrad Ferdinand
Meyer! Berücksichtigen Sie dabei auch das Verhältnis von Erleben und Erinnern!
b) Zeigen Sie ausgehend von Ihren Ergebnissen vergleichend auf, wie das Thema
„Abschied“ in einem anderen literarischen Text gestaltet wird!
Der Schwerpunkt der Aufgabenstellung liegt auf Teilaufgabe a).
Conrad Ferdinand Meyer (1825 –1898)
Stapfen
(Erstdruck 1882, Orthografie nach der Ausgabe von 1963)
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In jungen Jahren war’s. Ich brachte dich
Zurück ins Nachbarhaus, wo du zu Gast,
Durch das Gehölz. Der Nebel rieselte,
Du zogst des Reisekleids Kapuze vor
Und blicktest traulich1 mit verhüllter Stirn.
Naß ward der Pfad. Die Sohlen prägten sich
Dem feuchten Waldesboden deutlich ein,
Die wandernden. Du schrittest auf dem Bord2,
Von deiner Reise sprechend. Eine noch,
Die längre, folge drauf, so sagtest du.
Dann scherzten wir, der nahen Trennung klug
Das Angesicht verhüllend, und du schiedst,
Dort wo der First3 sich über Ulmen hebt.
Ich ging denselben Pfad gemach zurück,
Leis schwelgend noch in deiner Lieblichkeit,
In deiner wilden Scheu, und wohlgemut
Vertrauend auf ein baldig Wiedersehn.
Vergnüglich schlendernd, sah ich auf dem Rain4
Den Umriß deiner Sohlen deutlich noch
Dem feuchten Waldesboden eingeprägt,
Die kleinste Spur von dir, die flüchtigste,
Und doch dein Wesen: wandernd, reisehaft,
Schlank, rein, walddunkel, aber o wie süß!
Die Stapfen schritten jetzt entgegen dem
Zurück dieselbe Strecke Wandernden:
Aus deinen Stapfen hobst du dich empor
Vor meinem innern Auge. Deinen Wuchs
Erblickt’ ich mit des Busens zartem Bug.
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Vorüber gingst du, eine Traumgestalt.
Die Stapfen wurden jetzt undeutlicher,
Vom Regen halb gelöscht, der stärker fiel.
Da überschlich mich eine Traurigkeit:
Fast unter meinem Blick verwischten sich
Die Spuren deines letzten Gangs mit mir.
Conrad Ferdinand Meyer, Gedichte, hg. von Hans Zeller und Alfred Zäch, Bd. 1, Bern 1963, S. 210 f.
Worterläuterungen:
1 traulich: vertraulich
2 Bord: Rand, kleiner Abhang
3 First: oberste Kante eines Daches
4 Rain: Abhang
Hinweise und Tipps
r Die Aufgabe besteht aus der üblichen Unterteilung in einen Erschließungs- und
r Interpretationsauftrag (a) und einen Vergleichsauftrag (b). Zunächst müssen Sie das
r Gedicht des bekannten Schweizer Lyrikers und Novellisten Conrad Ferdinand Meyer
r erschließen. Als Hilfestellung darf die Formulierung aufgefasst werden, dass vor
r allem „das Verhältnis von Erleben und Erinnern“ betrachtet werden soll.
r Unter der Erschließung eines Textes versteht man, dass die Aussage in inhaltlicher,
r formaler und sprachlich-stilistischer Hinsicht herausgearbeitet werden soll. Gerade
r bei lyrischen Texten bietet es sich an, die Untersuchungsschwerpunkte nacheinanr der abzuhandeln, also erst Aufbau und Inhalt darzustellen und anschließend die Ber sonderheiten der sprachlich-stilistischen Gestaltung in den Blick zu nehmen. Ledigr lich die formale Gestaltung integriert man besser in die beiden Gliederungspunkte,
r um einer bloßen Aufzählung zu entgehen.
r Neben dem Thema „Erleben und Erinnern“ findet sich in der Aufgabe b) ein weiterer
r wichtiger Hinweis für die Interpretation, denn das Thema „Abschied“ muss ja im
r Ausgangstext eine Rolle spielen. Im Gedicht tritt ein eindeutig identifizierbares lyrir sches Ich auf, das sich in Erinnerung an ein „Du“ eine Abschiedsszene vergegenr wärtigt. Für die Deutung sollte, wie immer, auch der Titel des Gedichts beachtet
r werden: Die „Stapfen“ stehen für die Erinnerung an die verabschiedete Person, verr mutlich die Geliebte des lyrischen Ichs, die ihre Spuren im Waldboden hinterlässt.
r Schon auf den ersten Blick wird deutlich, dass die Semantik des Raums von Bedeur tung ist und in die Interpretation einfließen muss.
r Einleitung und Schluss könnten z. B. das Thema „Liebe“ und die Besonderheiten
r der Literatur um 1880 behandeln. Eine literaturgeschichtliche Einordnung Conrad
r Ferdinand Meyers in die Zeit des Realismus wird aber nicht explizit von Ihnen verr langt.
r Für die b-Aufgabe müssen Sie zunächst ein Vergleichswerk auswählen. Abschiede
r spielen in vielen literarischen Werken eine bedeutsame Rolle. Nachdem die Textsorte
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r nicht vorgegeben ist, kann ein weiteres Gedicht genauso zum Vergleich herangezor gen werden wie auch ein Prosatext oder ein Drama. Der Ausgangspunkt des Verr gleichs ist das Ergebnis der Interpretation. Meyers Gedicht schildert in der Rückr besinnung einen Abschied, der in der Vergangenheit liegt und der vermutlich endgülr tig ist. Fragen Sie sich also: Geht es im Vergleichstext auch um einen endgültigen
r oder nur um einen vorläufigen Abschied? Von wem verabschiedet sich die Figur?
r Welche Konsequenzen hat dieser Abschied hier? Und vor allem: Wie wird dieser
r gestaltet? Diese Fragen helfen, der b)-Aufgabe eine Struktur zu geben.
Gliederung
A
„Liebe“ als typisches Thema der Lyrik
B
Erschließung und Interpretation des Gedichts „Stapfen“ von Conrad Ferdinand
Meyer und Vergleich des Themas „Abschied“ mit Eichendorffs gleichnamigem
Gedicht
I Aufbau: Abschied und Erinnern
II Inhalt
1 Begleitung der Gefährtin (V. 1– 8)
2 Abschied vor dem Haus (V. 8 –13)
3 Rückweg: Hoffnung auf ein Wiedersehen (V. 14 –17)
4 Nachdenken über den Charakter der Geliebten und aufkommende Zweifel am Wiedersehen (V. 18 – 34)
III Erinnern und Erleben: Die Ambivalenz der Liebe (formale und sprachlichstilistische Gestaltung, inhaltliche Deutung)
1 Aufbewahren durch Erinnern
2 Vergegenwärtigte Geliebte
3 Natur als Spiegel des Erlebten
4 Realistische Verklärungen
IV Romantischer Abschied: Eichendorff
1 Unterschiede zu Meyer: Abschied von der Heimat
2 Vergleichbares: Abschied als Trauerarbeit
C
Abschiede als Grundthema der Literatur
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Lösungsvorschlag
Zu den großen Themen, die in Gedichten abgehandelt werden, gehört – neben Natur und Politik – die Liebe. Seit der Antike versuchen die Dichter die
Beziehungen zwischen zwei Menschen in Worte zu fassen, das Glück, aber
auch die Schwierigkeiten zu formulieren, die sich aus dem Zusammenleben
ergeben können. Aber nicht nur erfüllte Augenblicke haben die Autoren im
Sinn, wenn von der Liebe die Rede ist, sondern eben auch Momente des Wartens, des Bangens und der Erinnerung an gemeinsam erlebte Zeiten. Wer das
„Wiedersehen“ in den Fokus nimmt, der muss manchmal auch das „Abschiednehmen“ der Liebenden in Betracht ziehen. Eines der bekanntesten Gedichte der deutschen Literatur übernimmt diese Ambivalenz bereits im Titel:
„Willkommen und Abschied“ von Johann Wolfgang von Goethe schildert aus
der Sicht eines lyrischen Ichs das stürmische Treffen zweier Liebender, die
sich bei Anbruch des Tages aber wieder trennen müssen. Der Sprecher des
Gedichts trägt diese Begegnung in der Vergangenheitsform vor, er erinnert
sich also an sein Glück. Conrad Ferdinand Meyer hat gut hundert Jahre
später ebenfalls ein Gedicht zum Thema „Liebe und Abschied“ geschrieben, wobei in seinem Text daneben noch die Frage nach der Wirklichkeit des
Erlebens eine Rolle spielt. Mit dem Gedicht „Stapfen“ aus dem Jahr 1882
wird damit nicht nur die Verabschiedung thematisiert, sondern darüber hinaus
die Rolle des Schreibens und damit der Literatur für den Prozess des Abschiednehmens. Um diese Thesen am Text zu belegen, soll zunächst das Gedicht Conrad Ferdinand Meyers erschlossen und interpretiert werden.
A
Das Gedicht Meyers besteht aus 34 meist einen fünfhebigen Jambus aufweisenden und reimlosen Versen, die eine einzige Strophe bilden. Inhaltlich
kann eine Zweiteilung im Aufbau festgestellt werden. Der erste Teil (V. 1–13)
zeigt zwei Erwachsene, das lyrische Ich und sein Gegenüber, die gemeinsam
auf einem Waldweg zu einem Haus gehen, um sich dort zu verabschieden. Im
zweiten Teil (V. 14 – 34) wandert das lyrische Ich den gleichen Weg wieder
zurück, allein und über die Geliebte nachdenkend. Diese doppelte Bewegung
des Hin- und Rückwegs spiegelt den Prozess des Abschiednehmens und der
Erinnerung wider. Bei einer genaueren inhaltlichen Analyse wiederum lassen
sich innerhalb des Gedichts jeweils zwei weitere Abschnitte erkennen.
B
I
In den ersten acht Verszeilen erinnert sich das lyrische Ich an eine Situation,
die offenbar schon länger zurückliegt: Es begleitet eine ihm nahestehende
Person, die in der Gegend zu Besuch war, zurück zum Haus der Gastfamilie.
Der schmale Weg führt durch einen Wald. Sie gehen vertraut und zunächst
schweigend nebeneinander her. Das lyrische Ich nimmt die Umgebung sehr
bewusst wahr, vor allem aber die Fußabdrücke, die beide im nassen Waldboden hinterlassen (V. 1– 8).
II
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