18 STUTTGART STUTTGARTER ZEITUNG Nr. 159 | Dienstag, 14. Juli 2015 „Ich brauche nicht zu allem Soße“ Interview Unangenehme Fragen ist Ministerpräsident Winfried Kretschmann gewohnt. Doch fünf Kinderreporter haben dem Schirmherrn Gerhard Raff des Stuttgarter Zeitung Kinder und Jugendfestivals Löcher in den Bauch gefragt und wissen nun: der GrünenPolitiker isst gerne Kässpätzle. Ein großer Gelehrter Unser Kolumnist erinnert an den vor 150 Jahren geborenen Botaniker, Geografen und Landeskundler Robert Gradmann. Ü ber seine Haller Vorfahren, wo runter auch der Reformator Jo hannes Brenz ist, ist er mit der gan zen schwäbischen Geistesaristokratie ver wandt, ein Vetterle also beispielsweis vom Hauff, Hegel, Hesse, Heuss, Mörike, Planck, Schubart und von den Weizsäckers, ja sogar vom Büchner, Bonhoeffer und Goe the. Sein Vater ist der ehrbare Kaufmann Adolf Gradmann (1831–1907), seine Mutter die Pfarrerstochter Pauline, geborene Hör lin (1833–1912). Geboren ist er am 18. Juli 1865 wie der Hölderlin in Lauffen am Neckar, aufge wachsen in Stuttgart. Besuchte dort das taufrisch gegründete Dillmanngymna sium, hernach die altehrwirtembergischen Klosterschulen in Maulbronn und Blau beuren, war Tübinger Stiftler und hatte be reits als Zweiundzwanzigjähriger sein Exa men in der Tasche und schaffte als Vikar in Kuchen an der Fils, in Leutkirch im Allgäu und in Öhringen im Hohenlohischen, und von dort ist es nicht arg weit in das an Kup fer und Kocher gelegene Städtchen Forch tenberg, wo er, grad mal 26 Jahre alt, seine erste (und einzige) Pfarrstelle erhielt. Und jetzt konnte er seine große Liebe aus Stu dententagen heiraten und verhalten, die Tübinger Wirtstochter Julie Tritschler (1868–1930). Ein Aufsatz wird zum Standardwerk Und ist nun 43 Jahre lang jeden Tag selig mit ihr, auch wenn sie nur ein Mädle und einen Buben haben, dafür aber zuletzt 13 Enkel, darunter die mit sehr viel Glück von Freislers Schafott verschonten Wider standskämpfer der Weißen Rose, die Pfar rerskinder Susanne (1921–2012) und Hans Hirzel (1924–2006), beide gebürtig aus Untersteinbach bei Pfedelbach in Hohen lohe. In der ländlichen Idylle des frommen Forchtenberg hat er viel Freizeit, und abge sehen davon, dass er dort sogar die Raiffei senkasse gegründet hat, kann er auch sei nen Steckenpferden nachgehen, der Geo grafie und der Botanik. Und eines schönen Tages schickt er seinem Bundesbruder von der „Tübinger Königsgesellschaft Roigel“, dem Stiftler Professor Eugen Nägele (1856–1937) einen Aufsatz über die Pflan zen der Alb für sein Albvereinsblättle. Und der Nägele bringt es dann fertig, dass der Pfarrer daraus das Standardwerk „Pflan zenleben der Schwäbischen Alb“ verfasst. Und der Nägele gibt das dem Großmeister seiner Zunft, dem Tübinger Botanikprofes sor Hermann von Vöchting (1847–1917). Und der ist grad so begeistert vom Grad mann und befördert ihn ohne viel Feder lesens und ohne Studium zum Doktor rer. nat. mit „summa cum laude“. Und trotzdem dass er am Kocher glück lich und gerne Pfarrer ist, holen sie ihn an no 1901 nach Tübingen an die Universitäts bibliothek. Wäre er voll in Forchtenberg ge blieben, so hätte er anno 1921 die im dor tigen Rathaus geborene Forchtenberger Schultheißentochter Sophie Scholl getauft. Stattdessen darf er zugucken, wie der bald darauf mit seinem Stuttgarter Hauptbahn hof weltberühmt werdende Architekt Paul Bonatz (1877–1956) die neue Unibibliothek baut. Und neben seinem täglichen Haufen Gschäft schreibt der Herr Pfarrer a. D. einen Haufen gscheiter Bücher „in kristall klarer Diktion“. Aber erst anno 1921 be kommt er endlich einen Lehrstuhl an der Universität Erlangen. Nicht im geliebten „NeckarAthen“. Eine Künstlernatur, kein Langweiler Und so schafft er halt bei den Franken bis zu seiner Pensionierung anno 1934. Und kommt wieder nach Tübingen und wirkt und schreibt grad so fleißig weiter. Und an no 45 zieht er aus der „Zone Française“ über die „Frontière de Detten’ausen“ in die USZone zu seinem Mädle nach Sindelfin gen. Und dort ist er am 18. September 1950 nach einem Schlaganfall gestorben, und man hat ihn im Tübinger Stadtfriedhof beim Hölderlin begraben. In den letzten Kriegs und ersten Friedenswochen hat er seine „mit Charme und Humor durchsetz ten Erinnerungen“ verfasst, und weil er eine „Künstlernatur“ gewesen ist und wirk lich alles andere als so ein akadämlicher Langweiler, kann man die auch heute noch mit viel Gewinn und Freude lesen. Am Schluss schreibt er: „Wie viele Großväter von elf Enkeln mag es geben, die sich rüh men können, nach zwei Weltkriegen noch alle ihre Nachkommen aus allen Fährlich keiten gerettet um sich zu haben? Ich habe ein schönes Leben gehabt. Soli Deo gloria!“ A n einem der bisher heißesten Tage dieses Sommers ist Mi nisterpräsident Winfried Kretschmann noch ein wenig mehr ins Schwitzen gekom men. Die Kinderreporter Aaron Obojski, Lukas Kurz, Paula Haspel, Pius Leins und Jasmin Schaal haben ihm auf den Zahn ge fühlt und dabei auch erfahren, dass er ein begeisterter Handwerker ist, für den Poli tik Sinn macht. Herr Ministerpräsident, müssen Sie immer einen Anzug tragen? Meistens. Aber heute ist es so heiß, dass ich mal keinen anhabe. Mich zwingt niemand dazu, einen Anzug zu tragen, aber die Klei dung zeigt den Respekt, den man den ande ren gegenüber hat. Sie sind jetzt seit vier Jahren Ministerpräsi dent. Macht es immer noch Spaß? Ich glaube, Spaß ist nicht das richtige Wort. Es gefällt mir natürlich, was ich tue, und ich regiere das Land gern. Aber man hat ja auch manchmal Ärger in so einem Amt und des halb sage ich immer, wenn ich gefragt wer de: Politik macht Sinn, Politik macht kei nen Spaß. Das ist so wie bei euch mit der Schule: Das macht ja auch nicht immer Spaß, aber es macht Sinn. Vermissen Sie manchmal die Zeit, in der Sie als Lehrer gearbeitet haben? Ja, das Schöne war immer, jede Woche mit Schülern zusammen zu sein. Das war eine tolle Sache, jetzt treffe ich nur selten Kin der und Jugendliche. Winfried Kretschmann mit den Reportern Aaron Obojski (v. li.), Lukas Kurz, Paula Haspel, Pius Leins und Jasmin Schaal KINDER UND JUGENDFESTIVAL Aktion Das Stuttgarter Zeitung Kinder und Ju gendfestival findet am Samstag und Sonntag, 18. und 19. Juli, statt und steht in diesem Jahr unter dem Motto „Unsere bunte Stadt“. Außer Ministerpräsident Winfried Kretschmann ist auch Stuttgarts Oberbürgermeister Fritz Kuhn Schirmherr der Veranstaltung. Das Fest dauert an beiden Tagen von 11 bis 18 Uhr. 65 000 gro ße und kleine Besucher werden erwartet. Part ner des Kinder und Jugendfestivals sind unter anderem die CityInitiative, der Sportkreis Stuttgart und der Stadtjugendring. Auf einer Fläche, die so groß ist wie acht Fußballfelder, gibt es auf dem Schlossplatz und rund um den Eckensee mehr als 120 Spiele und Mitmachsta tionen. Alle Aktionen sind kostenlos. Ist es schwieriger, eine Klasse im Zaum zu halten oder Ihre Mitarbeiter hier? Die Leute hier sind schwieriger. Was sind denn aus Ihrer Sicht die drei wich tigsten Dinge, die eine gute Schule ausma chen? Das Wichtigste ist, dass eine Schule gute Lehrerinnen und Lehrer hat. Zum Zweiten: dass dort ein Klima herrscht, bei dem alle gut zusammenarbeiten und kein Schüler Angst hat. Drittens macht eine gute Schule aus, dass in ihr gut gelernt wird. Dass jeder, je nachdem, welche Fähigkeiten er hat, gute Leistungen bringen kann. Und dass es egal ist, wo jemand herkommt und wie viel Geld die Eltern haben. Würden Ihre ehemaligen Schüler Sie als strengen Lehrer bezeichnen? Ich denke schon, aber ich glaube nicht, dass ich ein sehr strenger Lehrer war, eher so in der Mitte. Nachträglich bekomme ich von ehemaligen Schülern jedenfalls immer ganz gute Noten. Gestatten, Kretschmann. Der Ministerpräsident begrüßt Paula Haspel. tun, dass ich froh bin, wenn ich mich privat mit dem Ding nicht beschäftigen muss. Ich muss fast immer online sein und so oft draufschauen. Insofern habe ich null Bock, das Smartphone noch zu benutzen, wenn ich nicht muss. Eine Ausnahme gibt es al lerdings: Beim Wandern schaue ich drauf, um zu sehen, wie weit ich gelaufen bin. Und wenn ich eine schöne Orchidee finde, mache ich gern ein Bild. Ist es ein großer Unterschied, ob man vor einer Klasse redet oder vor dem Parlament? Vor der Klasse redet man ja als Lehrer. Das muss man vor dem Parlament vermeiden, das kommt nicht gut Was machen Sie außer an. Ich bin Abgeordne Wandern in Ihrer Frei ter, und das sind die an zeit? deren auch. Das ist also Ich bin ein begeister eine Diskussion auf ter Handwerker. Augenhöhe. Außerdem Wenn ich Zeit habe, geht es im Parlament mache ich Reparatu ganz anders zu: Da gibt ren an meinem Haus. es Zwischenrufe, und Kinder und Jugendfestival Letzten Sommer habe man macht andere ich einen neuen Tisch Dinge, die man in einer Klasse nicht darf gemacht für den Garten. Heimwerken, also oder tun sollte. Das Parlament ist kein sägen, mauern, Holzarbeiten, das macht Lernraum, sondern ein Raum der öffentli mir großen Spaß. chen Auseinandersetzung, des Streits. Vie le Leute regen sich auf, wie es da zugeht, Wie viel Zeit bleibt Ihnen für Ihre Freunde aber die haben nicht verstanden, dass es und Familie? hier nicht um freundliche Gespräche geht. Viel zu wenig. Meine Kinder sind alle groß Oft wird heftig diskutiert. und wohnen nicht mehr zu Hause. Mein jüngster Sohn bekommt mit seiner Frau Was finden Sie besser? Abitur nach der Nachwuchs, ich werde also diesen Monat zwölften Klasse, also G8, oder G9: ein Jahr zum ersten Mal Opa, wenn alles gutgeht. länger Schule? Darauf freue ich mich, und ich hoffe, dass Ich bin ein Anhänger von G8, aber finde, ich dann Zeit für meinen Enkel habe. dass wir es unbedingt noch verbessern müssen. Auch das Studium dauert heute Haben Sie zu Hause noch ein Kuscheltier? nicht mehr so lang. Früher gab es einen (Aaron hatte von seinem kleinen Bruder den Spruch, der hieß: Was Hänschen nicht Auftrag, diese Frage zu stellen.) lernt, lernt Hans nimmermehr. Und heute Nein, das habe ich nicht mehr. Aber ich ha ist nichts so falsch wie dieser Satz. Man be neulich eins für meinen Enkel gekauft, muss das ganze Leben lang lernen, weil sich der bald auf die Welt kommt. Da habe ich die Welt so schnell verändert. Deshalb ist es einen AlpakaHof besucht. Das Tolle an Al nicht sinnvoll, dass man als Jugendlicher so pakawolle ist nämlich, dass sie nicht kratzt, lange in der Schule und an der Universität und das ist für Kinder genau das Richtige. lernt, vielmehr sollte man sich auch später immer wieder weiterbilden. Es ist doch Wollten Sie als Kind eher Lehrer oder Politi kaum noch so, dass man sich für einen Be ker werden? ruf entscheidet und dass sich dann bis zum Gar nichts von beiden. Ich wollte immer Lebensende nichts an der Arbeit ändert. Pfarrer werden. Als ich so alt war, wie ihr seid, gab es keine Computer und keine Smartphones. Das al Warum sind Sie nicht Pfarrer geworden? les musste meine Generation später lernen. Das ist eine sehr lange Geschichte, die muss ein anderes Mal erzählt werden. Das hat so Sie haben bestimmt ein Smartphone. Spielen viele Gründe. Sie damit in der Freizeit? Nein, ich habe damit beruflich so viel zu Glauben Sie noch immer an Gott? 13. Fotos: Lg/Zweygarth Ich bin Katholik, und der Glaube an Gott spielt für mich eine wichtige Rolle. Da durch fühle ich mich behütet und habe nicht immer Angst, irgendetwas falsch zu machen. Ich kann Vertrauen in mich und meine Arbeit haben und mich in meinem Glauben zu Hause fühlen. Kochschule Die Stuttgarter Zeitung ist wieder mit der Kinderzeitung und dem Kochzelt dabei. An der Fotostation schafft es jedes Kind auf die Titelseite seiner eigenen Zeitung. Weitere Infos gibt es unter www.kinderjugendfestival.de. StZ nis. Dass wir das geschafft haben, ist für mich persönlich das schönste Werk. Wie kamen Sie zu den Grünen? Ich kam da nicht dazu, sondern ich habe die Grünen selbst gegründet, mit anderen zu sammen. Wir hatten die Idee, dass man eine Partei braucht, die sich auch um die Natur kümmert. Und was wollen Sie noch erreichen? Ich will noch mal Ministerpräsident wer den. Es sind ja bald Wahlen, und da werde ich noch mal kandidieren, damit wir das fertig machen können, was wir angefangen haben. Ganz wichtig ist, dass wir die vielen Flüchtlinge gut unterbringen. Und dass sie gut Deutsch lernen und einen Beruf finden können. Die Menschen, die vor Krieg und Gewalt geflüchtet sind, sollen hier eine neue Heimat finden können. Weil Sie ja bei den Grünen sind: Fahren Sie manchmal mit dem Fahrrad zur Arbeit? Nein, ich wohne in Sigmaringen – das sind hundert Kilometer. Da müsste ich arg früh aufstehen, so weit bin ich noch nie in mei nem Leben mit dem Rad gefahren. Und wenn ich in Stuttgart bin, übernachte ich meistens gleich hier im Haus. Was macht Ihnen als Ministerpräsident nicht so viel Spaß? Tage, an denen ich einen Termin nach dem anderen habe. Das sind manchmal 16 Stun den, erst neulich hatte ich so einen Tag, da ging es durch von morgens bis spät in die Nacht. Selbst beim Essen muss ich dann arbeiten, und das ist nicht so schön. Wie wird man eigentlich Ministerpräsident? Kann das jeder machen? Theoretisch schon, aber praktisch nicht. Man kann das nicht bestimmen, so wie man zum Beispiel sagen kann: Ich werde Förs ter. Man muss in einer Partei sein, und die Partei muss einen dann gut finden. Dann muss man gewählt werden: erst von der Partei, dann von den Menschen und dann vom Parlament. Was ist denn Ihr Lieblingsessen? Ich habe mehrere, aber eines ist auf jeden Fall Kässpätzle. Worauf sind Sie am meisten stolz, wenn Sie auf die letzten vier Jahre zurückblicken? Eigentlich darauf, dass wir gut und gerne regieren. Und auf den Nationalpark Schwarzwald, das ist auch ein wichtiges persönliches Anliegen von mir. Da überlas sen wir ein Stück Wald sich selbst. Daraus wird in ein paar Hundert Jahren eine Wild VITA WINFRIED KRETSCHMANN Steckbrief Seit dem Jahr 2011 ist Winfried Kretschmann Ministerpräsident des Landes BadenWürttemberg. Seine Spitznamen sind: Kretsch, Kretsche, Winni und Winnetou. Früher hat er als Lehrer an verschiedenen Gymnasien Biologie, Chemie und Ethik unterrichtet. Schon sein Vater war Lehrer. Kretschmann hat mit an deren 1979 die Partei Die Grünen gegründet. Der 67Jährige ist mit der Grundschullehrerin Gerlinde Kretschmann verheiratet. Er hat drei erwachsene Kinder und lebt in Sigmaringen. StZ Haben Sie das als Kind schon gern gegessen? Überhaupt nicht. Meine Familie kam aus Ostpreußen, da gab es nichts Schwäbisches, also auch keine Kässpätzle. Als Kind hatte ich eine andere Lieblingsspeise: ostpreußi sche Kartoffelklöße mit Speck und Zwie beln. Etwas, was ich heute gar nicht mehr bekomme. Und Königsberger Klopse, das esse ich heute noch gerne. An dem merkt man, dass ich kein Schwabe bin: Ich bin kein Nassesser. Das bedeutet, dass ich nicht zu allem Soße brauche. Ich lasse sie sogar oft weg. Auch Politiker aus anderen Parteien können Sie gut leiden. Woran liegt das Ihrer Mei nung nach? Da bin ich der Falsche, den du fragst. Aber ich vermute, dass sie zufrieden sind mit dem, was wir an der Regierung tun. Und oft sagen Leute, dass ich glaubwürdig sei. Das heißt, ich erzähle nichts anderes, als ich mache oder denke. Sind Sie Fußballfan? Ich bin Mitglied beim VfB Stuttgart und bin leidenschaftlicher VfBFan, auch wenn es einem der VfB wie in dieser aufregenden Saison nicht immer leicht macht.
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