Das Leben eines Theoretischen Physikers in schwierigen Zeiten

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Wolfgang Gebhardt, Regensburg
Das Leben eines
schwierigen Zeiten:
Theoretischen
Physikers
in
Zur Biographie von Erich Kretschmann.
Vorbemerkung
In diesem Jahr (2015) feiert die Fachwelt der Physiker das 100jährige
Bestehen
der
Feldgleichungen
der
Allgemeinen
Relativitätstheorie (ART), die Albert Einstein im Herbst 1915 zum
ersten Mal vollständig veröffentlichte. Es ist deshalb auch an der
Zeit, eines Mannes zu gedenken, der durch seine gründlichen
Untersuchungen und kritischen Bemerkungen zur Rezeption der
ART beitrug und in diesem Zusammenhang noch heute zitiert wird.
Es handelt sich um Erich Kretschmann (1887 – 1973), dessen zwei
den Relativitätstheorien gewidmete Arbeiten 1915 und 1917 in den
Annalen der Physik erschienen sind. Kretschmann war zuletzt von
1946 – 1952
ord. Professor für Theoretische Physik an der
Universität Halle. Dort habe ich als Student im dritten Semester
meine ersten Vorlesungen in Theoretischer Physik bei ihm gehört
und im SS 51 auch bei ihm die Zwischenprüfung abgelegt. Die
Recherchen nach seinem Leben gestalteten sich insofern
schwierig, als fast keine persönlichen Aufzeichnungen oder ein
längerer Briefwechsel von ihm auffindbar waren. Kretschmann
blieb unverheiratet, ebenso seine jüngere Schwester Herta, die er
zur Alleinerbin einsetzte, die 1973 sein Begräbnis organisierte und
inzwischen längst verstorben ist. So war ich bei meiner
Spurensuche auf die im Archiv der Universität Halle vorhandenen
offiziellen Schreiben, sowie die eingereichten Unterlagen und
Lebensläufe angewiesen (s. dazu Quellennachweis am Schlu
ss).
Kindheit und Jugend
Erich Kretschmann kam am 14.07.1887 in Berlin als erstes Kind
des Bauführers Joseph Kretschmann (1847 – 1931 ) und seiner
Ehefrau Johanna geb. Rudel (1857 – 1938) zur Welt. Die
Berufsbezeichnung „Bauführer“ schließt heute meist eine
Fachhochschulausbildung ein. Bauführer überwachen auf einer
2
Baustelle die Arbeiter und die Bauausführung nach vorliegenden
Plänen. Sie sind für die Qualität verantwortlich und werden als
Angestellte bezahlt. Man darf davon ausgehen, dass sich im Laufe
der Zeit an diesem Berufsbild nicht viel geändert hat und die
Ausbildung zum Bauführer der Zeit entsprechend ähnlich war. Das
bedeutet, dass wir die Eltern Kretschmann zur bürgerlichen
Mittelschicht rechnen können. Die Familie ist römisch-katholischer
Konfession. Erich schreibt später zur Begründung seines
Kirchenaustritts, dass er erst nach dem Krebstod der Mutter (1938)
die römisch-katholische Kirche verlassen habe. Er nennt sich, wie
damals üblich, gottgläubig, möchte damit aber keine falsche
Vorstellung verknüpft wissen. Sein Weltbild und seine Metaphysik
begründe sich im
wissenschaftlichen Realismus, wie ihn die
modernen Naturwissenschaften vertreten. Entsprechende Zweifel
an der strengen Lehre der Kirche seien ihm schon früher
gekommen, aber er habe seine Weltsicht aus „Rücksicht auf „die
Gefühle der Eltern“ für sich behalten.
Erich besuchte die „Vorschule“ und die drei ersten Klassen des
humanistischen Gymnasiums. Die Familie zog 1898 nach
Königsberg. Im Juni 1901, Erich ist 14 Jahre alt, treten psychische
Probleme bei ihm auf. Der Schulbesuch muss abgebrochen werden.
In einem späteren ärztlichen Gutachten von 1912 schreibt Dr. E.
Hallervorden, ein Facharzt für Psychiatrie aus Königsberg, Erich
„hat während seines Wachstums- und Entwicklungsalters vom
14ten Jahre ab eine schwere Neuro- und Psychopathie (depressive
Zwangsvorstellungen mit Erscheinungen nervöser Erschöpfbarkeit)
durchgemacht. Drei Jahre, von der Untersekunda ab, musste der
Schulbesuch ganz unterbleiben. Darauf bestand der wenn auch
kranke, so doch hochbegabte junge Mann nach 2jährigem ärztlich
modifiziertem und mit größter Schonung geübten Schulbesuch im
19. Jahr das Abiturientenexamen. Die Krankheitserscheinungen
sind durch vorsichtiges, hygienisch geregeltes Leben allmählich
zurückgedrängt, und der Patient hat seitdem Mathematik und
Physik studiert….“ Eine „hygienisch geregelte“ Lebensführung hat
Erich Kretschmann offensichtlich ein ganzes Leben durchgehalten.
Es bleibt offen, wie aus heutiger medizinischer Sicht eine solche
Krise
einzuschätzen
ist.
Möglicherweise
war
es
eine
psychosomatische Störung und keine Psychopathie.
Die
medizinischen Begriffe, aber auch die Behandlungsmethoden
haben sich seitdem geändert. Man mag darüber spekulieren,
3
inwieweit eine strenge katholische Erziehung beim Eintritt in die
Pubertät zur Verschärfung, vielleicht sogar zur Auslösung der Krise
beigetragen hat. Nach der Genesung konnte sich Erichs
mathematisch-naturwissenschaftliche Begabung offensichtlich voll
entfalten. Zu seinem großen Glück machte ihn der ärztliche Befund
nach überstandener Krankheit für den Militärdienst „dauerhaft
untauglich“, wie er schreibt, und „führte dazu, dass ich nie Soldat
wurde“. Das hat ihn später auch vor der Teilnahme am Ersten
Weltkrieg bewahrt (s. unten). Stattdessen fällt später in diese Zeit
seine kreativste Schaffensphase.
Studium
1906 immatrikuliert sich Kretschmann, 19 Jahre alt, in München
für Physik und Mathematik. Das zweite Semester studiert er in
Berlin, das dritte in Göttingen und hört Vorlesungen bei Woldemar
Voigt (1850 – 1919) und David Hilbert. Vom sechsten Semester an
(1909) bis 1912 ist er wieder in Berlin eingeschrieben. Er besucht
die Vorlesungen und Übungen von Max Planck und absolviert das
physikalische Praktikum bei Robert Wichard Pohl und James Franck
(damals noch in Berlin). Sieben Monate vor seiner Promotion rückt
er in das Fußartillerie-Regiment „von Lingen“ in Königsberg als
Einjähriger Freiwilliger ein, wird aber nach einem Monat als
„dauernd untauglich“ wieder entlassen. Dazu schreibt er: „Den
gleichen Bescheid erhielt ich bei mehreren Untersuchungen
während des Krieges.“
Die Dissertation. Berlin 1914
Kretschmanns Dissertation, die im Mai 1914 in Berlin vorgelegt
wurde, trägt den Titel „Eine Theorie der Schwerkraft im Rahmen
der ursprünglichen Einsteinschen Relativitätstheorie“. Es wird ein
komplexes Modell entwickelt, was für heutige Leser umständlich
und schwer verdaulich erscheint. Der Grund liegt weniger bei dem
vorsichtigen Kretschmann als mehr an der Unsicherheit, die
damals noch gegenüber grundsätzlichen Fragen herrschte. In der
Einleitung diskutiert der Autor auf 23 Seiten alle damaligen
Versuche zur Aufstellung einer entsprechenden Theorie der
Gravitation. Zitiert werden H. Poincaré, H.A. Lorentz (1900), A.
Sommerfeld, H.
Minkowski (1909), M. Abraham (1912), G.
Nordström (1912), G. Mie und A. Einstein. Einige der zitierten
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Physiker, wie H.A. Lorenz und M. Abraham, hatten in ihren Arbeiten
den ruhenden Äther noch nicht aufgegeben, blieben also bei der
Voraussetzung eines absoluten Bezugssystems..
Grundsätzliche Fragen konnten aufgrund der experimentellen
Befunde nur unsicher oder gar nicht beantwortet werden. War
wirklich schwere gleich träger Masse, wie Einstein (und M.
Grossmann) mutig voraussetzten? Wie sollte aber dann der
Massenverlust durch radioaktiven Zerfall berücksichtigt werden?
Kommt der Hohlraumstrahlung Masse zu? Offensichtlich ist die
Materie aus „positiver und negativer Ladung“ aufgebaut, aber die
Gravitation scheint nur mit der positiven Ladung verbunden zu
sein. Da das Neutron noch lange unbekannt blieb, war es schwer
die Gravitation sicher von der viel größeren elektromagnetischen
Wechselwirkung (Faktor 1036) zu trennen. Diese Unsicherheiten
führten auf langwierige, aus heutiger Sicht völlig überflüssige
Diskussionen. So braucht man etwa den Gravitationsdruck im
Innern eines Himmels-Körpers nicht zu kennen, wenn die
Gravitation im Außenraum bestimmt werden soll..
Kretschmann setzt sich in der Einleitung auch mit der EinsteinGrossmann-Arbeit (1913) auseinander, die den Entwurf einer
geometrischen Deutung der Gravitation enthältt und bereits die
Gleichheit von träger und schwerer Masse als Grundvoraussetzung
ebenso wie das Äquivalenzprinzip enthält. Es taucht darin auch
schon der differentielle Abstand ds2 und der (gkl)-Tensor auf, sowie
die Forderung, daß für eine Weltlinie das Integral über ds ein
Minimum werden soll, was auf die Geodätengleichung führt.
Kretschmann kritisiert, dass diese mathematischen Beziehungen
physikalisch inhaltsleer seien. Der (gkl)-Tensor steht zwar für das
alte skalare Gravitationspotential, aber es fehlt noch der
Zusammenhang mit den Quellen des Feldes, also mit dem EnergieImpuls-Tensor (Tkl).
Kretschmann folgt nicht dem Ansatz Einsteins, sondern bleibt bei
einem skalaren Gravitationspotential wie auch andere Autoren zu
dieser Zeit. Liest man in Kretschmanns Dissertation die
Skizzierung der alternativen Gravitationstheorien, welche bis 1914
publiziert wurden und berücksichtigt man, daß die Abweichung von
der Newtonschen Gravitation nur in dem winzigen Effekt der
Perihel-Bewegung des Merkurs bestand, dann wird klar, dass alle
diese Versuche (einschließlich Kretschmanns) ziemlich beliebig
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waren. Einstein und Grossmann kümmerten sich in jhrer Arbeit
wenig um die noch vage experimentelle Situation und setzten sich
so einem erheblichen Risiko aus. Denn weder die Gleichheit von
schwerer und träger Masse, noch die Unabhängigkeit des
Gravitationsfeldes von elektromagnetischen Kräften war
experimentell hinreichend gut bestätigt. Instinktsicher steuerte
Einstein von der Annahme der Gleichheit von träger und schwerer
Masse auf die Einsicht zu, daß es der Raum selbst sein muss, der
die Bahnen von Testmassen im Schwerefeld bestimmt und daß in
einem frei fallendes System keine äußeren Gravitationskräfte mehr
auftreten. Der Nachteil von Einsteins kühnem Ansatz war
allerdings, daß er sich eine schwierige Mathematik einhandelte,
welche einen pseudo-Riemannschen Raum und ein System
nichtlinearer Differentialgleichungen erfordert. Diese Probleme,
wird Kretschmann wenig später (1917) nach dem Erscheinen von
Einsteins vollständig ausgeführter Theorie (1915) wieder
aufgreifen. Obwohl nirgends explizit genannt, dürfte Max Planck
der „Doktorvater“ gewesen sein. Kretschmann dankt ihm in einer
Fußnote für den Hinweis auf eine experimentelle Arbeit aus
England. Planck hatte sich seit dem Erscheinen von Einsteins
Arbeit von 1905 immer wieder intensiv mit der Speziellen
Relativitätstheorie (SRT) beschäftigt, hatte darüber publiziert und
in öffentlichen Vorträgen für ihre Akzeptanz geworben. Das Thema
von Kretschmanns Arbeit lag demnach ganz in Plancks
Forschungsinteresse.
Habilitation und Karriere in Königsberg
Nach der Promotion geht Kretschmann zurück zu den Eltern nach
Königsberg. Dazu schreibt er in einer Biographie vom November
1938: „Nach der Promotion arbeitete ich weiter selbständig auf
dem Gebiet der theoretischen Physik im Hause meiner Eltern in
Königsberg und beteiligte mich im Institut für praktische Physik
durch Vorträge an dem physikalischen Kolloquium unter Professor
Walter Kaufmann.“ Von 1917 – 1919 unterrichtet Kretschmann
Rechnen, Mathematik und Physik als „Vertreter eines Oberlehrers“
am „Kneiphöfschen Gymnasium“ der Stadt, später in der
„Waldschule in Retgethen“. Diese Tätigkeit half ihm als Physiker
und Zivilist in einer schwierigen Zeit zu überleben. In den Schulen
vertrat er beamtete Lehrer, die im Kriege kämpften oder vielleicht
schon nicht mehr am Leben waren. Daneben arbeitet er
selbständig weiter an physikalischen Problemen und hält Kontakt
zum physikalischen Institut an der Albertus-Universität in
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Königsberg, dessen Direktor der Experimentalphysiker Walter
Kaufmann (1871 – 1947) war.
Die theoretische Physik wurde in Königsberg damals von dem
Ordinarius Paul Volkmann (1856 – 1938) vertreten, der 1924 in den
Ruhestand trat. Kretschmann beteiligt sich zunächst am
physikalischen Kolloquium und hält Vorträge über aktuelle Themen
der theoretischen Physik. Den experimentellen Lehrstuhl hatte
Walter Kaufmann inne, einer der Ersten, der die Abhängigkeit der
Geschwindigkeit von der Elektronenmasse gemessen hatte. 1915
und 1917 veröffentlichte Kretschmann zwei längere Arbeiten in
den Annalen der Physik. Die Titel lauten:
„Über die prinzipielle Bestimmbarkeit berechtigter Bezugssysteme
beliebiger Relativitätstheorien“. Annalen der Physik (1915) 48,Teil
I, S. 907 – 942 und Teil II, S. 943 – 993.
und
„Über den physikalischen Sinn der Relativitätspostulate. Albert
Einsteins neue und seine ursprüngliche Relativitätstheorie“.
Annalen der Physik (1917) 53, S. 575 – 614.
In der ersten zweiteiligen Arbeit beschäftigt sich der Autor mit
Einsteins Spezieller Relativitätstheorie (SRT) sowie mit damals
diskutierten Alternativen. Vor Einsteins Arbeiten war Kants
Auffassung von Raum und Zeit als Anschauungsformen noch
weitgehend unumstritten. Diese Auffassung wiederum, konsequent
vertreten, verhinderte zunächst, daß Raum und Zeit überhaupt
Objekte theoretischer und empirischer Forschung werden konnten.
Deshalb nimmt sich Kretschmann in der Arbeit von 1915 im 1. Teil
viel Raum, um darzulegen, wie wir Raum erfahren und wie
räumliche Ausdehnungen und Entfernungen gemessen werden
können. Man spürt noch den Einfluss der physiologischen
Forschungen des 19. Jahrhunderts, in welchen es vor allem darum
ging, wie aus Sinneswahrnehmungen nachprüfbare objektivierbare
Messwerte werden können. Im zweiten Teil wird vor allem die
Bedeutung
von
Symmetrien,
also
Bewegungsgruppen,
hervorgehoben. In der Speziellen Relativitätstheorie (SRT) ist es die
Lorentz-Gruppe, mit deren Operationen gleichförmige Bewegungen
ineinander übergeführt werden können. Der sprachlich leicht
missverständliche Begriff der „Relativität“ bedeutet letzten Endes
eine Invarianz der physikalischen Größen und ihrer Gesetze
7
gegenüber der Gruppe der Lorentz-Transformationen (oder
allgemeiner
der
Poincaré-Gruppe).
Deshalb
empfiehlt
Kretschmann, sich bei der Überprüfung besser an Invarianten zu
halten anstatt an Raum-Zeit-Punkte (Weltlinien).
In der zweiten Arbeit Kretschmanns von 1917, die bis heute zitiert
wird, befasst er sich mit Einsteins „Allgemeiner Relativitätstheorie“
(ART) wieder unter dem Gesichtspunkt der Symmetrie einer
allgemeinen Bewegungsgruppe. Er stellt dabei fest, dass es sich
bei
der
ART
um
eine
außerordentlich
umfangreiche
Bewegungsgruppe handelt. In diesem Fall ist es die Gruppe GL
aller linearer Transformationen, so daß man im allgemeinen Fall
nicht mehr von Symmetrie reden kann, da nur noch das
Einheitselement physikalische Ereignisse in sich abbildet.
Kretschmann kritisiert deshalb Einsteins Sprachgebrauch: Wenn in
der
SRT
„Relativität“
mit
einer
Gruppeneigenschaft
(Lorentzgruppe) verbunden war, so kann man bei der ART gar nicht
mehr von Relativität sprechen. Es handele sich nach Kretschmann
stattdessen um eine „Absolut-Theorie“. Auch seien andere
ursprüngliche Vorgaben Einsteins dabei nicht eingelöst worden,
wobei sich diese Kritik ausdrücklich nicht auf inhaltliche Aussagen
bezieht. Außerdem könne man im Grunde jede physikalische
Theorie kovariant schreiben, wobei man aber noch nichts zum
physikalischen Problem beigetragen hätte (eine polemische
Übertreibung Kretschmanns). Deshalb müsse es auch noch einen
tieferen physikalischen Sinn geben, den es heraus zu arbeiten
gelte. Auch heute noch erscheint der Name der ART eher
irreführend, obwohl wir uns daran gewöhnt haben. Deshalb wird
meist dazu gesagt, dass es sich um eine geometrische Theorie der
Gravitation handelt. Einstein hat in den Annalen (1918) auf
Kretschmanns Kritik in einer kurzen Stellungnahme in drei Punkten
geantwortet.
Er
führt
dazu
aus,
daß
die
allgemeine
Relativitätstheorie „auf 3 Hauptgesichtspunkten beruht“: a) Das
Relativitätsprinzip, b) das Äquivalenzprinzip, c) das Machsche
Prinzip. Einstein schreibt zu Kretschmann, er halte seine Einwände
für richtig, halte aber „seine Neuerung“ (nämlich alle Gesetze
kovariant zu schreiben) „für nicht empfehlenswert“ . Das war eine
höflich ironische Replik auf Kretschmanns Übertreibung.
Kretschmann habilitierte sich in Königsberg am 30.04.1920 mit
einer strahlungstheoretischen Arbeit, deren Essenz er in den
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Annalen der Physik (1921) 370 Heft 12, S.310 – 334, unter dem
Titel „Über die Wirkung des Planckschen Oszillators auf die
spektrale Energieverteilung des Strahlungsfeldes“ veröffentlichte.
Am 29.06.1922 erhält er einen Lehrauftrag für theoretische Physik.
Er schreibt zahlreiche Referate zu den Beiblättern der Annalen der
Physik und die physikalischen Berichte.
Am 22.03.1926 wird Erich Kretschmann zum nichtbeamteten a.o.
Professor der Theoretischen Physik in Königsberg ernannt. Zur
damaligen Zeit waren Extraordinate für Theoretische Physik vom
guten Willen und der Kooperationsbereitschaft des Ordinarius
abhängig, dem die Labors unterstanden, die Räume und die
laufenden Mittel. Ohne seine Zustimmung konnte niemand beim
Extraordinarius promovieren. Wie eng diese Grenzen für
Kretschmann gezogen waren, ist nicht bekannt, zumal seinem
Vorgänger ein Assistent zustand. Die Zahl der Physikstudenten,
welche sich für eine theoretische Arbeit entschieden hatten, dürfte
ohnehin klein gewesen sein. Wer ehrgeizig war und die „Neue
Physik“ kennen lernen wollte, ging nach Göttingen zu Born oder
nach München zu Sommerfeld. So ist es zweifelhaft, ob
Kretschmann Doktoranden hatte oder ob er sich auf das Abhalten
der theoretischen Kursvorlesungen und Übungen beschränken
musste.
Hat er sich später um eine ordentliche Professur bemüht?
Vergleicht man seine Karriere mit der seines Vorgängers Paul
Volkmann, so fällt auf, dass Volkmann ebenfalls in Königsberg
habilitierte (1882) und und 4 Jahre später zum Extraordinarius
ernannt wurde. Schließlich wurde Volkmann 8 Jahre später
ordentlicher Professor für Theoretische Physik ebenfalls in
Königsberg. Man könnte nun spekulieren, dass die Fakultät bei
Ernst Kretschmann ähnlich verfahren würde. Dann hätte er mit
einer Ernennung zum Ordinarius 1934 rechnen können. Sie blieb
jedoch aus. Dafür könnte es Gründe geben: 1933 kam Hitler an die
Macht. Walter Kaufman, zwar evangelisch getauft, war der Sproß
einer jüdischen Famiie und kam sicher unter Druck, denn er wurde
1935 zur Emeritierung gezwungen, obwohl erst 64. Damit verlor
Kretschmann wahrscheinlich schon seit 1933 einen wichtigen
Fürsprecher und Förderer. Ob er selbst unter Druck geriet ist eher
unwahrscheinlich.
Wenn
aber
Scharfmacher
aus
dem
Reichsministerium sich seine Vita vornahmen, so müsste er doch
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als ein Kenner und Förderer jüdischer Physik gelten und deshalb
nicht förderungswürdig.
Er scheint nicht viel gereist oder auf Tagungen aufgetreten zu sein.
In seiner Bescheidenheit ist er nur durch seine Publikationen in
Erscheinung getreten. In einem Brief vom 14.11.1927 schreibt
Arnold Sommerfeld an Karl Försterling (1885 - 1960), ord. Professor
für
theoretische
Physik
in
Köln,
der
ihn
um
Berufungsempfehlungen gebeten hatte, unter anderem:
„Ferner fällt mir ein, Dr Kretschmann, Privatdozent in Königsberg,
sehr
gründlich,
speziell
(in)
Relativitätstheorie
und
Elektronenstatistik zu Hause. Es wäre ihm ganz gut, wenn er
einmal von Königsberg fortkäme.“ Arnold Sommerfeld 1868 –
1951) stammte selbst aus Königsberg und hatte dort studiert, was
daran erinnert daß Königsberg auf eine glänzende Vergangenheit
der Mathematik vor allem im 19. Jahrhundert zurückblicken konnte
mit Namen wie Neumann und Jacobi, die an der Alberta 1834 das
erste mathematisch-physikalische Seminar gründeten. Auch
Minkowski, Hurwitz und Hilbert haben die frühen Jahre ihrer
Karriere in Königsberg verbracht, waren eng befreundet und haben
dort entscheidende Anregungen erfahren.
Sommerfelds gutgemeinter Wunsch ging allerdings vor dem 2.
Weltkrieg nicht mehr in Erfüllung. Bis in die 30er Jahre publiziert
Kretschmann 14 Arbeiten, die meist in den Annalen der Physik
oder in der Zeitschrift für Physik erscheinen, davon waren 7 den
Relativitätstheorien Einsteins gewidmet. Im November 1938
schreibt
er
allerdings:
„Hauptgegenstand
meiner
wissenschaftlichen Arbeit sind die allgemeinen Grundlagen
physikalischer Gesetzmäßigkeiten. Doch bin ich auf diesem Gebiet
zu keinem befriedigenden Ergebnis gekommen und habe daher
noch nichts darüber veröffentlicht. Später klagt er darüber, ab
1937 nichts mehr publiziert zu haben, wobei 2 Arbeiten 1939
publikationsreif gewesen wären. Er gibt als Gründe das
langanhaltende Leiden seiner Mutter an, die 1938 an Magenkrebs
starb. Er habe sich dann um die Auflösung des elterlichen
Haushalts und den Verkauf des Hauses kümmern müssen. Danach
wechselt er im Zeitraum von Februar bis Oktober 1939 fünf Mal die
Wohnung. Das lässt vermuten, dass er bis zum Tod der Mutter im
elterlichen Haus lebte und als Junggeselle die Annehmlichkeiten
einer Rundumversorgung durch die Mutter genoss. Ein Ersatz war
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schwer zu finden. Seine wissenschaftliche Arbeit, so klagt er, litt
seit 1939 unter der zeitweisen Verpflichtung zu „kriegstauglichen
Arbeiten“. 1942 erhält er eine „Treue-Medallie von der
Reichsregierung für seinen (kriegstauglichen?) Einsatz.
De profundis: Flucht und Notunterkunft in SchleswigHolstein
Vom
01.01.45
gibt
es
eine
Einkommensund
Vermögensaufstellung, welche vermutlich in Anbetracht der
drohenden Flucht angefertigt worden war. Danach hatte
Kretschmann ein monatliches Einkommen von 600 RM und ein
Vermögen von 80 000 RM. Der Unterschied der Kaufkraft zur
Gegenwart lässt sich ungefähr durch einen Faktor sieben
ausdrücken. Am 27.01.1945 schließt Friedrich Hoffmann, Kanzler
und Kurator seit 1922, wegen „drohender Feindgefahr“ die
Albertus-Universität Königsberg. Als nächster Ausweichort war
Greifswald vorgesehen. Aber in Anbetracht des raschen Vorrückens
der Roten Armee bringen sich viele Mitglieder der Universität in
Schleswig-Holstein in Sicherheit. Flensburg wird zur Anlaufstelle für
Anfragen und Suche nach Personen. Kretschmann ist in
Rendsburg /Schleswig-Holstein, Waldstr. 24 untergekommen. Die
Bitte des früheren Kanzlers und Kurators Hoffmann, den
versprengten Mitgliedern der Albertus-Universität bei der Suche
nach einer neuen Stelle zu helfen, beantwortet Kretschmann: Er
würde, was in seiner Macht stehe, gern tun, allerdings dürften die
Betreffenden nicht durch die Vergangenheit belastet sein, und sie
sollten auch bereit sein, in der sowjetischen Besatzungszone eine
Stelle anzunehmen.
1946 schrieb Kretschmann aus Rendsburg mehrfach an Günter
Mönch, seit kurzem Ordinarius für angewandte Physik am II.
Physikalischen Institut der Universität Halle. Mönch hatte wohl kurz
vorher 2 Telegramme an Kretschmann geschickt, von welchen
keine Abschriften erhalten sind. In Halle war die Stelle eines
Direktors des Instituts für Theoretische Physik zu besetzen in der
Nachfolge von Adolf Smekal, der zusammen mit dem Physiologen
Abderhalden und anderen Hallenser Wissenschaftlern von der
amerikanischen
Besatzungsmacht
nach
Westdeutschland
abtransportiert wurde. Mönch war von 1942 - 45 apl. Professor für
angewandte Physik in Königsberg gewesen und kannte
11
offensichtlich Kretschmann gut. Dieser erkundigt sich bei Mönch,
„wie wir uns hier (in Halle) bewegen und verhalten können“.
Darauf antwortet Mönch, der Kretschmann offensichtlich schon für
die Wiederbesetzung des Lehrstuhls in Halle ins Gespräch gebracht
hatte: „Das Grundgehalt eines etwa 58-jährigen ordentlichen
Professors (Kretschmann war gerade 59) beträgt 966,67 RM
zuzüglich 114 RM Wohnungszuschuss. Hiervon dürften etwa 50%
als Steuern abgehen. Kolleggeld wird ausgezahlt, dagegen gibt es
keine Kolleggeldgarantie. Es gibt keinen Zwang für uns irgendeiner
Partei anzugehören. Und prinzipiell können wir, sofern es sich um
deutsche Behörden handelt, jeden Ruf in anderen Zonen
annehmen……Ansprüche auf verflossene Verpflichtungen anderer
Universitäten oder Nachzahlungen kann eine staatliche Stelle nicht
übernehmen“. Weiter schreibt G.Mönch: „Das Institut ist
vollkommen unzerstört und im Ausbau begriffen. Dem
theoretischen
Physiker
steht
ein
Amtszimmer,
ein
Assistentenzimmer, ein Schreibzimmer und eine in zwei Teile
geteilte Bibliothek zur Verfügung. Zu dem Lehrstuhl gehört eine
Assistentenstelle und eine Schreibkraft. Für die Kohleversorgung
des Instituts sind bereits (Juni 1946) 50% der im Frieden
benötigten Menge eingefahren worden.“ Der Brief enthält noch
Informationen darüber, in welcher Form der zu Berufene
benachrichtigt wird. Mönch fährt fort: „Die Wohnungsnot ist hier
zwar auch groß, aber, ungleich mit dem Westen, verschwindend
klein. Ich erhielt einige Tage nach der Berufung eine schöne 5 ½
-Zimmer-Wohnung.
Sofort
standen
mir
Handwerker
zur
Renovierung zur Verfügung und in 4 Wochen war die ganze
Wohnung instand gesetzt.“ Man bedenke, dass Mönch den Brief 13
Monate nach Kriegsende schreibt. Mönch schlägt vor, Kretschmann
möge sich doch in Halle einmal vorstellen. Kretschmann antwortet
G. Mönch am 08.09.46, dass er keine Reisegenehmigung
bekommen habe und begründet warum er keine „Schwarzfahrt
über die „grüne Grenze“ auf sich nehmen wolle.
Hier handelt es sich um eine der wenigen persönlichen
Äußerungen Kretschmanns, die auch den Hintergrund von
Schwierigkeiten, Not und Entbehrung charakterisieren, von der wir
uns heute kaum noch eine Vorstellung machen können Deshalb
zitiere ich eine längere Passage aus Kretschmanns Brief: „Darauf
versuchte ich mir Reisegenehmigung zu verschaffen, erfuhr dass
dies ganz unmöglich sei und drahtete Ihnen dies nebst „Brief
12
folgt“. Zu einer Schwarzfahrt, zu der ich mir heute Mittag Auskunft
holte, kann ich mich aus schwer wiegenden Gründen nicht
entschließen. Erstens würde ich dabei von meinen Barmitteln, von
denen ich z. Zt. leben muss, so viel verbrauchen, wie hier in
mehreren Monaten. Zweitens würden die Strapazen und
Entbehrungen
der
Schwarzfahrt
meine
Gesundheit
und
Arbeitsfähigkeit,
die
ich
hier
durch
äußerst
geregelte
Lebensführung und genaueste Einteilung der für mich
erreichbaren Lebensmittel noch so eben erhalte, auf lange Zeit
und womöglich für den ganzen kommenden Winter untergraben.
Ich könnte nämlich durch die langen Eisenbahnfahrten und den
anstrengenden Nachtmarsch über die Grenze so gut wie keine
Lebensmittel mitnehmen, da ich so gut wie alle meine
(Lebensmittel-)Marken für ein 10-tägiges Mittagessen und ein 14tägiges Abendessen fortgegeben habe, bei denen ich besser fahre
als bei Entnahme von Einzelmahlzeiten. Und dann hätte ich noch
immer nichts für den Aufenthalt in Halle und für die Rückfahrt, zu
der ich schon meiner Sachen wegen genötigt wäre, die ich nicht
alle mit mir mitschleppen könnte. Schlechtes und kaltes Wetter
könnten, da ich keinen auch nur einigermaßen dicht haltenden
Regenmantel besitze und meine nassen Sachen am Leibe trocknen
lassen müsste, das Unternehmen geradezu lebensgefährlich für
mich machen. – Ganz abgesehen von der Gefahr, von den Russen
erwischt
zu
werden.“
Tatsächlich
hatten
damals
die
Besatzungsmächte ihre „Zonen“ relativ stark gegeneinander
abgeschottet. Außer an politischen Differenzen mag das einerseits
an der schwierigen Mangel-Verteilung von Lebensmitteln gelegen
haben, die es nur stark rationiert auf Lebensmittelkarten gab, aber
andererseits mag auch die Sorge vor der Ausbreitung von Seuchen
Anlass zur Abschottung gegeben haben. In meiner Erinnerung
waren Typhus und Tuberkulose besonders bei älteren Menschen
damals eine häufige Todesursache. Kretschmann
nennt im
gleichen Brief Namen von Personen, welchen er gut bekannt sei
und hoffe, dass man sich auch ohne seine persönliche Vorstellung
in Halle durchaus ein Bild von ihm machen könne. Er nennt dann
seine Bedingungen: dazu gehören die Anerkennung des
Dienstalters, die Freiheit ein anderes Angebot anzunehmen, die
Freiheit der politischen Betätigung (oder von deren Enthaltung)
und Anerkennung des Anspruchs auf Nachzahlung von Bezügen,
die seit 01.06.1945 eingestellt wurden. Am 01.10.1946 erfolgt
13
schließlich die Berufung zum ord. Professor für theoretische Physik
an der Universität Halle in Nachfolge von Adolf Smekal.
Ich fand in Kretschmanns Akten auch den Fragebogen zu seiner
etwaigen Parteizugehörigkeit. Er gibt an, weder der NSDAP noch
einer ihrer angeschlossenen Organisationen angehört zu haben.
Allerdings wären einige Jahre automatisch Beiträge von der
Universitätskasse einbehalten worden. Nach Aktenlage
trat
Kretschmann am 01.10.33 in den NS-Lehrerverband (NSLB) ein. Für
den Reichsbund f. Leibesübungen NSV und Luftschutzbund, deren
Mitgliedschaft er angibt, liegen keine Belege vor. In diesen
Verbänden sei er „nolens – volens Mitglied gewesen“. Er beteuert,
nie zu irgendwelchen Versammlungen oder Schulungen gegangen
zu sein. Dazu ergänzt er im Fragebogen, dass er die Mahnung des
Kultusministers Rust, doch einmal an einem Schulungslager für
Dozenten teilzunehmen, geflissentlich überhört habe. Auf
Kretschmanns
Karteikarte
des
Reichsministeriums
für
Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung ist in der Spalte
„Politische Betätigung“ vermerkt „keinerlei“. (Die entsprechenden
Unterlagen aus dem Bundesarchiv liegen mir in Kopie vor.)
Kretschmann als ord. Professor in Halle
Im Archiv der Universität Halle befanden sich mehrere
Beurteilungen
von
Kretschmanns
Lehrtätigkeit,
die
offensichtlich auch von Studenten durchweg als sehr positiv
dargestellt
wurde.
Anläßlich
eines
Gesuchs
um
Reisegenehmigung nach Berlin begründet Kretschmann die
Reise und die mehrwöchige Abwesenheit von der Universität
Halle mit dem Studium von Fachzeitschriften, die
offensichtlich,
falls es sich um internationale Journale
handelte, nur in Berlin gehalten wurden und dort von
Fachwissenschaftlern eingesehen werden konnten.
Ich immatrikulierte mich im Herbst 1949 an der Universität
Halle in Physik und Mathematik. Nach 2 Semestern
Experimentalphysik wurde im WS 50/51 von Kretschmann
eine Vorlesung „Theoretische Mechanik“ angeboten, die im
kleinen Hörsaal des physikalischen Instituts stattfand.
14
Kretschmann
betrat den Hörsaal als ein schlanker,
braungebrannter älterer Herr. Es hieß, er sei Tennisspieler. Mit
seinem vollen, schlohweißem Haar war er eine imponierende
Erscheinung. Stets elegant gekleidet kam
er in immer
gleichem Anzug, den er wahrscheinlich noch aus Königsberg
gerettet hatte. In der kalten Jahreszeit trug er einen
dunkelblauen Wintermantel mit weißem Schal. Da sich neben
der Wandtafel über dem Waschbecken ein Haken an der
Wand befand, hängte Kretschmann seinen Mantel dort auf.
Als er auch noch den weißen Schal dazu tat, sahen wir
Studenten, dass es ein weißes Handtuch war. Not machte
auch den Eleganten erfinderisch.
Die Vorlesung war tatsächlich gut verständlich. Manchmal
trat er von der Wandtafel zurück und unterbrach sich durch
ein oder zwei gekeuchte „Ä“, so als ob er sich gerade einer
körperlichen Anstrengung entledigt hätte. Zur Vorlesung hielt
der habilitierte Assistent, Max Hieke, eine ergänzende
Spezialvorlesung. Sie war nicht verpflichtend. Mit einigen
anderen interessierten Studenten erfuhr ich dort etwas über
die Lagrange-Funktion und die Hamiltonsche Mechanik. Im SS
51 las Kretschmann für uns Viertsemester-Studenten eine
„Einführung in die Atomphysik“. Die Vorlesung bestand aus
einer ausführlichen ‚Beschreibung und Diskussion der
Grundexperimente, die zur Aufstellung der Quantentheorie
geführt hatten. In der letzten Vorlesung stand endlich die
Schrödinger-Gleichung an der Tafel, in karthesischen
Koordinaten geschrieben. Kretschmann erklärte, dass eine
weitergehende Diskussion der Schrödinger-Gleichung sich
nicht für eine Vorlesung eigne. Diese Einstellung hat leider
dazu beigetragen, dass nicht wenige Mitstudenten, die sich
später nicht selbst weiterbildeten, den Eindruck mitnahmen,
Quantenmechanik sei etwas sehr Schwieriges, das man
sowieso nicht verstehen könne.
Eine naturphilosophische Bemerkung Kretschmanns ist mir
noch in Erinnerung geblieben, die er angesichts des
Unterschieds von Physik und Mathematik machte. „Die
Physik“, meinte er, „ist eine Wissenschaft rückwirkender
Verfestigung“. Mir ist die Bedeutung dieser Bemerkung erst
viele Jahre später aufgegangen: Physikalische Gesetze haben
15
zwar eine analytische Form, beruhen aber auf Experimenten,
die nur induktive Schlüsse zulassen. Erst wenn die Gesetze
sich nach längerer Zeit nicht falsifizieren lassen, „verfestigt“
sich das Vertrauen in ihre Gültigkeit, und die Grenzen ihrer
Anwendbarkeit treten klarer hervor. Auch an eine andere
Bemerkung erinnere ich mich. Kretschmann suchte immer
nach möglichst kurzen Wegen, um zum Ziel zu kommen, das
bei ihm stets physikalisch begründet sein musste. Bei einer
entsprechenden Gelegenheit entfuhr ihm die Bemerkung:
„Man kann auch mathematisch quasseln!“
Ich machte in Halle im SS 1951 noch
meine
Zwischenprüfung, wie das Vordiplom damals genannt wurde,
unter anderem auch in Theoretischer Physik bei Prof.
Kretschmann. Max Hieke trat in der Prüfung als Beisitzer auf.
Aber Kretschmann sagte zu ihm in seiner üblichen
Bescheidenheit: „Ach Herr Hieke, stellen Sie doch die Fragen.
Ich schreibe das Protokoll“. Nach dem Ende des SS 51
wechselte ich an die Universität Jena.
Erich Kretschmann emeritierte 1952 und wurde offiziell mit
Wirkung vom 31.08.52 von seinen Dienstpflichten entbunden.
1954 schrieb er ein Testament, in welchem er seine
Schwester Herta Kretschmann
zur Alleinerbin einsetzte.
Kretschmann bleibt in Halle wohnen. Der Dekan der Fakultät
gratuliert ihm auch im Namen der Universität regelmäßig im
Juli zum Geburtstag und Kretschmann bedankt sich auf
Postkarten handschriftlich. Eine letzte derartige Karte ist vom
Juli 1973 erhalten. Kretschmanns Schriftzüge sind großzügig,
glatt und fast schön zu nennen, keine Spur von Zitterigkeit.
Im Juli 1973 scheint noch nichts darauf hinzudeuten, dass er
am 30. Dezember des gleichen Jahres stirbt. Herta
Kretschmann richtet das Begräbnis aus, das in aller Stille
stattfindet.
Benutzte Quellen
Zu den Ausführungen wurden von mir ausschließlich, die
Dokumente verwendet, welche ich in der Personalakte
Kretschmanns im Archiv der Martin-Luther-Universität Halle
einsehen konnte. Die biographischen Angaben stammen
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vorwiegend aus drei Lebensläufen, die in Abschriften
vorliegen, zwei längere vom Nov. 1 des Jahres 1938 und vom
25.06.46 und eine kürzerer Undatierter aus der Zeit nach
1946.
Außerdem wurden die Auskünfte des Bundesarchivs in Berlin
zu Kretschmanns eventuellen Mitgliedschaften in NSOrganisationen verwendet.
Kretschmanns Publikationen
Sie finden sich gelistet unter Mathforum und Erich Kretschmanns
Namen bei http://mathforum.org/kb/message.jspa?
messageID=4927825.
1) Eine Theorie der Schwerkraft im Rahmen der ursprünglichen
Einsteinschen Relativitätstheorie. Berlin, 113 S.
Dissertationsschrift 1914
2) Über
die
prinzipielle
Bestimmbarkeit
berechtigter
Bezugssysteme beliebiger Relativitätstheorien. Annalen der
Physik (1915) 48,Teil I, S. 907 – 942 und Teil II, S. 943 – 993.
3) Über den physikalischen Sinn der Relativitätspostulate. Albert
Einsteins neue und seine ursprüngliche Relativitätstheorie.
Annalen der Physik (1917) 53, S. 575 – 614.
4) Der Liouvillesche Satz und die Relativitätstheorie.
Physik. Zs. 21, 484-487. (1920)
5) Über die Wirkung des Planckschen Oszillators auf die spektrale
Energieverteilung des Strahlungsfeldes. Annalen der Physik
(1921) 370 Heft 12, S.310 – 334.
6) Eine Bemerkung zu Hrn. A. Gullstrands Abhandlung: „Allgemeine
Lösung des statischen Einkörperproblems in der Einsteinschen
Gravitationstheorie".
Ark. för Mat., Astron. och Fys. 17, Nr. 2, 4 S. (1922).
7) Das statische Einkörperproblem in der Einstein'schen Theorie.
Antwort an Hrn. A. Gullstrand. Ark. för Mat., Astron, och Fys. 17,
Nr. 25, 4 S. (1923)
8) Über die Ableitung der Helmholtzschen Wirbelsätze in der
Lorentz-Einsteinschen
Relativitätstheorie.
Schriften
der
Königsberger Gelehrten Gesellschaft (1925) Naturwiss. Klasse
Heft 5.
17
9) Das Maxwell-Boltzmannsche Geschwindigkeits- und
Energieverteilungsgesetz in der Relativitätstheorie.
Phys. Zs. 25, 162-165 (1924)
10) Zur Theorie der Supraleitfähigkeit und der gewöhnlichen
elektrischen Leitfähigkeit der Metalle. Schriften der Königsberger
Gelehrten Gesellschaft (1925) Naturwiss. Klasse Heft 6.
11) Zur Theorie der Dauerströme in Supraleitern. Annalen d.
Physik (4) 80, 109-136. Berichtigung. Annalen d. Physik (4) 80,
532. (1926)
12) Die Supraleitfähigkeit nach Schrödingers Wellengleichung und
Fermis Statistik. Annalen d. Physik (4) 86, 914-928. (1928)
13) Eine Bemerkung zu Herrn Sommerfelds Arbeit: Zur
Elektronentheorie der Metalle auf Grund der Fermischen
Statistik. Zeitschrift für Physik 48, 739-744: (1928)
14) Atom und Welle. Schriften der Königsberger Gelehrten
Gesellschaft (1929) Naturwiss. Klasse VI,5.
15) Beitrag zur Theorie des elektrischen Widerstandes und der
Supraleitfähigkeit der Metalle. Annalen d. Physik (1932) (5) 13,
564-598.
16) Über die Resonanzbedingung und über die Beschleunigung der
Elektronen in der Blochschen Theorie der Elektrizitätsleistung.
Z. f. Physik
88, 792-799. (1934)
17) Beitrag zur Kritik der Blochschen Theorie der
Elektrizitätsleitung.
Z. f. Physik 87, 518-534. Published: (1934)
18) Über streng punktförmige Elementarladungen. Eine
Bemerkung zur
klassischen Elektronentheorie. Zeitschrift für
Physik 1949
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