Protokoll - Literaturwissenschaft Online

Einführung in die Literaturwissenschaft
›lyrisch‹ − ›episch‹ − ›dramatisch‹
Literarische Formen folgen jeweils einer Eigengesetzlichkeit. Umso wichtiger ist es, die
entscheidenden idealtypisch zu definieren, um konkrete Texte daran spiegeln und auf diese Weise auch
genauer beobachten zu können.
Die Differenzierung zwischen den drei Hauptformen ›lyrisch‹, ›episch‹ und ›dramatisch‹ geht bis auf
die klassische Antike zurück (damals allerdings noch ohne klaren Begriff für ›Lyrik‹). Der älteste
Beleg hierfür findet sich bei Platon, der in seiner Politeia danach unterscheidet, ob der Dichter
unmittelbar selbst spricht (Dithyrambos/Chorlyrik), zugunsten von Figuren gänzlich abwesend ist
(Drama) oder seine Rede mit personaler Darstellung verschränkt (Epos). Die erzählende Dichtung
stellt für Platon also eine Mischform aus Lyrik und Drama dar.
Wie immer bei dieser Art von Allgemeinbegriffen ist die Unterscheidung logisch-abstrakt zwar
stichhaltig, findet sich in der Literatur jedoch nur selten rein realisiert. Als einen Extremfall einer
solchen Grenzüberschreitung der literarischen Formen bezeichnet Goethe die Gattung der Ballade
(Bsp.: Der Erlkönig von 1782): Sie ist ›lyrisch‹, weil in kunstvoller, gebundener Sprache verfasst,
erzählt eine in sich geschlossene Geschichte (›episch‹) und verwendet Wechselreden von Figuren
(›dramatisch‹).
Lyrisch
Goethe bezeichnet das Lyrische als die ›enthusiastisch aufgeregte‹ Dichtart. Sie ist geprägt von
Begeisterung und sinnlicher Intensivität, die einem Gefühl Ausdruck verleihen und sich auf den Leser
übertragen will (wie in Mörikes Er ist’s). Ein solcher Gefühlsausdruck ist aber nicht in jedem Gedicht
vorhanden (siehe Morgensterns Das ästhetische Wiesel) und unterscheidet somit den Spezialfall
›Lyrik‹ vom Oberbegriff ›Gedicht‹. Ein weiteres Unterscheidungsmerkmal ist die Musikalität oder
Singbarkeit, woraus sich auch die Etymologie erklärt: Der Begriff ›Lyrik‹ geht auf das altgriechische
Wort ›lyra‹ (harfenartiges Zupfinstrument) zurück und bezeichnet ursprünglich Dichtungen, die zur
Leier gesungen wurden (Oden, Hymnen). Erst im frühen 18. Jahrhundert ist das Adjektiv ›lyrisch‹ als
Analogbildung zur ›(poésie) lyrique‹ aus dem Französischen ins Deutsche übernommen worden.
Charakteristika der Lyrik sind eine artifizielle Sprache (Metrik, Reim, Inversionen, Bildlichkeit) und
die Homogenität des Tons, die eine spezifische Stimmung vermittelt. Typisch sind ebenfalls eine
gewisse Musikalität, da in der Lyrik der Klang wichtiger ist als die Semantik und die Ganzheitlichkeit
der Perspektive des lyrischen Ichs. Außerdem zeichnet sich Lyrik durch Kürze aus. Essentiell ist
jedoch vor allem die Referenzlosigkeit des Lyrischen, die ihr einen Absolutheitscharakter verleiht (ein
Frühlingsgedicht wie Mörikes Er ist’s lässt sich auch im Winter lesen, kann also nicht durch äußere
Umstände falsifiziert werden).
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VI. ›lyrisch‹ - ›episch‹ - ›dramatisch‹
WS 09/10
Einführung in die Literaturwissenschaft
Episch
Schon Goethes Beschreibung des Epischen als ›klar erzählende‹ Naturform macht deutlich, dass diese
kontrollierter bzw. distanzierter als das Lyrische ist. In der allgemeinen Definition bedeutet ›episch‹
erzählend und impliziert eine ganze Geschichte aus Anfang, Mitte und Ende. Das Epische besitzt aber
stets drei Dimensionen: Jemand (Erzähler) erzählt jemandem (Zuhörer) etwas (Geschichte).
Wenn also in der Lyrik ein Ich sich ›ausdrückt‹, so wird in der Epik von jemandem etwas für andere
wiedergegeben. Das erklärt auch das ›epische Präteritum‹, da sich eine Geschichte bereits ereignet
haben muss, um erzählt werden zu können. Es entsteht also eine Distanz zwischen dem Geschehen und
seiner wiederholenden Darstellung. Ohne den zusätzlichen Aspekt der ›epischen Breite‹ jedoch würde
man eine Geschichte nicht als ›episch‹ akzeptieren.
Da von einer zentralen Instanz aus erzählt wird, stellt sich immer die Frage nach der Gültigkeit bzw.
Subjektivität des Erzählten (Beispiel: Wie verlässlich/glaubwürdig ist ein Erzähler, der seine
Geschichte mit folgenden Worten beginnt: »Zugegeben: ich bin Insasse einer Heil- und Pflegeanstalt
[...]« (so beginnt Günter Grass’ Roman Die Blechtrommel von 1959).
Dramatisch
›Drama‹ wird als Oberbegriff für die konträren Gattungen ›Tragödie‹/›Trauerspiel‹ und
›Komödie‹/›Lustspiel‹ verwendet. Gemeinsames Charakteristikum ist die (körperliche) Präsenz der
handelnden und sprechenden Akteure. Wenn also in der Lyrik ein Ich sich ›ausdrückt‹ und in der Epik
einem Publikum etwas erzählt wird, so führt das Drama etwas ›vor‹ (bzw. ›auf‹)‹ und zeichnet sich
insofern durch ›Gegenwärtigkeit‹ aus. Das ›Dramatische‹ ist also allgemein gekennzeichnet durch die
Präsenz der Figuren bei gleichzeitiger Abwesenheit des Autors.
Zusammengefasst: In der lyrischen Form wird etwas ausgedrückt, in der epischen etwas von
jemandem für jemanden wiedergegeben und in der dramatischen etwas vor jemandem getan. Dies sind
jedoch Idealtypen, die selten in reiner Form auftauchen (vgl. etwa Brechts Konzept eines ›epischen‹
Theaters).
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VI. ›lyrisch‹ - ›episch‹ - ›dramatisch‹
WS 09/10
Einführung in die Literaturwissenschaft
Zitate
Jonathan Culler
»I can´t pick up my old chemistry textbook and read it as a novel.«1
Goethe – Naturformen der Dichtung
»Es gibt nur drey ächte Naturformen der Poesie: die klar erzählende, die enthusiastisch aufgeregte und
die persönlich handelnde: Epos, Lyrik und Drama.«2
Platon - Politeia
»[…] daß nämlich die eine Form der Dichtung und Märchenerzählung ganz in Nachahmung besteht,
die Tragödie nämlich [...] und die Komödie, die andere aber ganz in der persönlichen Kundgebung des
Dichters; man trifft sie vorzugsweise in den Dithyramben an; eine dritte Form aber, aus beiden
vereinigt, findet sich in der epischen Dichtkunst, aber auch sonst vielfältig […].«3
Eduard Mörike – Er ist’s (9.März 1829)
Frühling läßt sein blaues Band
Wieder flattern durch die Lüfte;
Süße, wohlbekannte Düfte
Streifen ahnungsvoll das Land.
Veilchen träumen schon,
Wollen balde kommen.
– Horch, von fern ein leiser Harfenton!
Frühling, ja du bist’s!
Dich hab ich vernommen!
Christian Morgenstern – Das ästhetische Wiesel
Ein Wiesel
saß auf einem Kiesel
inmitten Bachgeriesel.
Wißt ihr
weshalb?
Das Mondkalb
verriet es mir
im Stillen:
Das raffinierte Tier
tat's um des Reimes willen.
Georg Büchner - Lenz
»Den 20. ging Lenz durch’s Gebirg. Die Gipfel und hohen Bergflächen im Schnee, die Täler hinunter
graues Gestein, grüne Flächen, Felsen und Tannen. Es war nasskalt, das Wasser rieselte die Felsen
1
Jonathan Culler: Literary Theory. A Very Short Introduction. Oxford / New York 1997, S. 26.
Johann Wolfgang von Goethe: West-östlicher Divan [1819]. Studienausgabe. Hrsg. von Michael Knaupp.
Durchgesehene und bibliographisch ergänzte Ausgabe. Stuttgart 2005 (rub 6785), S. 356.
3
Platon: Der Staat. Politeia. Übersetzt und herausgegeben von Karl Vretska. Durchgesehene, verbesserte und
bibliographisch ergänzte Ausgabe. Stuttgart 1982 (rub 8205), S. 98, V. 394 a-c.
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VI. ›lyrisch‹ - ›episch‹ - ›dramatisch‹
WS 09/10
Einführung in die Literaturwissenschaft
hinunter und sprang über den Weg. Die Äste der Tannen hingen schwer herab in die feuchte Luft. Am
Himmel zogen graue Wolken, aber alles so dicht, und dann dampfte der Nebel herauf und strich
schwer und feucht durch das Gesträuch, so träg, so plump.«4
4
Georg Büchner: Lenz. Herausgegeben von Gerhard Schaub. Stuttgart 1987 (rub 8180).
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