Seite 1/2 Gefallen Ich bin aus der Zeit gefallen. Ich komme von den

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Gefallen
Ich bin aus der Zeit gefallen. Ich komme von den Toten. Und laufe auf den Wendepunkt zu.
Die Sonne glüht, das Leben brodelt. Hochsommer wie damals. Blitzende, spärlich bedeckte
Haut. Wortfetzen. Das kehlige Lachen der Frauen. Kindergeschrei. Nochmals Gelächter.
Der Geruch von Staub und Gummi, offene Autos, junge Gesichter. Schönheit. Der Duft von
Schweiß und Parfum, von Sonne auf der Haut. Der irritierende Lockruf des Lebens. Die
Explosion der Farben und der Schwingungen, eine rohe und doch zarte Anziehung, eine
schwellende Kraft, ein flüssiger Kern. Unter Schleiern, hinter verworrenen Gedanken, wie
unter einem hauchdünnen Gespinst. Nichts hat sich verändert, doch alles ist anders. Die
schnurgerade Allee, die ausladenden Kronen der Bäume, löchrige Kreise aus Schatten und
Einsamkeit, die alten verfallenen Häuser im Schwebezustand des Traumes, die Trampelpfade
im Gras und die nackten Beine der Kinder, Menschen mit vom Eis klebrigen Händen und
staunenden Blicken, entspanntes Vergehen der Zeit, zwischen stummen Mauern, bröckelnden
Steinen und ungesagten Worten, das Summen der Bienen, flirrendes Licht, so viel Licht,
so viel wehmütiges Blau, diese blendende Helligkeit, an die sich meine Augen wieder
gewöhnen müssen, diese andere Dimension, die mir nicht mehr vertraut ist, und ich erstarre,
gerate ins Stocken, einen Moment nur, doch dann schreite ich weiter, mühelos, schwerelos,
getrieben, ich muss da sein, in diesem Biergarten, vor Einbruch der Dämmerung muss ich da
sein, ich muss da sein, wo die Menschen hinströmen, wo die Lebensfreude aufwallt und die
Fröhlichkeit dampft und schwitzt, wo das Bier und die Lust im Blut kreisen, auf uralte
Weise, wo die Liebe zum Leben auflodert, ich muss hin, wo die Herzen noch schlagen,
ich muss da sein, wo die Geliebte ist, denn heute ist der Tag, bald ist der Wendepunkt,
ich muss da sein, wo die Freunde sind, wo ich Zuhause war, sie werden alle da sein, die
schöne Geliebte mit dem geheimnisvollen Blick und den wilden flammenden Haaren, die
schweigsame Geliebte, die rätselhafte, die anschmiegsame nahe und doch so fremde Frau, die
Geliebte mit den jungen biegsamen Gliedern, mit den zarten Knochen und den zärtlichen
Händen, und die Freunde werden da sein, laut und männlich, strotzend vor Kraft, sprühend
vor Abenteuerlust und Witz, herrlich anzusehen in ihrer Jugend, in ihrem gedankenlosen
Mannsein, es zieht mich hin, es treibt mich an, die Zeit drängt, schon werden die Fackeln
angezündet, schon erhellen sie die Dunkelheit in warmen Kreisen, das Licht flackert, schon
sagt meine Geliebte, ich mag kein Bier, bring mir doch ein Glas Wein von oben aus der
Gaststube, ich renne, ich eile, ich sprinte mit elastischen Schritten die schmale dunkle Treppe
hoch, ich hole den Wein, ich drehe mich um, übermütig lachend, und rutsche aus, auf der von
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Bier und Schmutz verschmierten Stufe rutsche ich aus, das Licht flackert, ein Schrei löst sich
aus der Menge, ich falle holpernd in die Tiefe, mein Kopf schlägt auf einen Stein, und der
Schmerz explodiert in mir und wird unerträglich, bevor er allmählich leiser und kleiner wird
und ich mit ihm verschwinde, und die Weinflecken sind wie Blutflecken auf meinem
hellen Sommerhemd, ich bin fast unverletzt, nur meine Genick ist seltsam verrenkt,
das Licht flackert, und es ist totenstill, eine quälende Ewigkeit ist es still, dann bricht
Tumult aus, Hektik, Schreie, die Menschen springen auf, drängen vorwärts, sie
schieben mich an, sie halten mich zurück, es gibt kein Durchkommen für mich, wieder
bin ich zu spät, wieder dieser Schmerz, ich habe den Moment verpasst, mich anders zu
entscheiden, mich anderes zu verhalten, vorsichtiger zu sein, den Wein eine winzige
Sekunde später zu holen oder gar nicht, ich bin zu spät, ich bin zu spät, ich möchte zu dem
Ursprung, an dem ich den Verlauf der Dinge beeinflussen kann, damit mein Tod nicht als
Scherbe in der Seele der anderen stecken bleibt, ich will zurück zu dem Augenblick, wo ich
meinen Tod rückgängig machen kann, in dessen Windschatten Tränen fließen und Qual die
Tage bauscht und die Zeit spaltet, die Herzen zerreißt und das Leben derer aushöhlt, die um
mich weinen, und immer weinen werden, ich will hin und muss hin, zu der vollkommenen
Unversehrtheit, zur Weggabelung der Barmherzigkeit, zu dem Moment, der das Glück eines
Sommerabends in einem Biergarten nicht zerstört, der die Besucher nicht vernichtet und
gebrochen zurücklässt, ich muss hin, ich laufe, ich renne, ich renne, jetzt doch atemlos von so
viel Anstrengung und Sehnsucht und Eifer, ich muss das alles wieder in Ordnung bringen, die
Welt muss wieder im Lot sein und soll nicht Kopf stehen, endlich bin ich da, ich bin da, es ist
ein Sommerabend wie damals, so erschreckend schön, so ausgelassen, so überschäumend, so
versonnen, ich bin da … und was sehe ich … meine Geliebte mit ergrauten Haaren und
erloschenen grünen Augen, an der Seite fremder Menschen, fremder Kinder, meine verlorene
Geliebte mit den ehemals jungen Gliedern und zärtlichen Händen, meine Geliebte ist da, und
sieht mit ungläubigem Blick auf die Treppe, und hoch zur Gaststube, wo immer noch Wein
ausgeschenkt wird, sie blickt suchend dorthin, wo ich vor vielen Jahren aus dem Leben
gefallen bin, und ich begreife, dass ich nur ein Gedanke bin in ihrem Kopf, eine Spiegelung
ihrer Sehnsucht, ein Lichtstreifen in den Windungen ihres Gehirns, eine fluoreszierende
Erinnerung, ein gefräßiger Schmerz und eine unerloschene Liebe, denn ich bin aus der Zeit
gefallen und komme von den Toten und mein Herz schlägt nicht mehr.
Und dann löse ich mich auf und verschwinde und vergesse und falle in die Gewissheit:
Nichts ist schöner als das Leben.