Die zwei Gesichter der Säuren

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Manuskript
radioWissen
SENDUNG: Do., 18.06.2015
09.05 Uhr
AUFNAHME: Di., 26.05.15
STUDIO: 6
CHEMIE, BIOLOGIE, WIRTSCHAFT
Ab 8. Schuljahr
TITEL:
Die zwei Gesichter der Säuren
Ätzend, aber lebensnotwendig
AUTOR:
Hellmuth Nordwig
REDAKTION:
Bernhard Kastner
REGIE:
Sabine Kienhöfer
TECHNIK:
Fabian Zweck
PERSONEN:
Erzählerin:
Caroline Ebner
Erzähler:
Christian Baumann
O-Töne von:
Prof. Dr. Andreas Kornath, Anorganische Chemie
Universität München;
Prof. Dr. Jörg Schirra, Innere Medizin, Universität München;
Hanno Hintze, Leiter Säurebetriebe Aurubis, Hamburg;
Mark Benecke, Kriminalbiologe, Köln.
Musik, Atmo,
Länge: 20‘56‘‘, Podcast
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MUSIK: C1527530 103 (00‘36‘‘)
ERZÄHLER
Sauer war jeder schon mal. Stinksauer sogar.
ERZÄHLERIN
Der Volksmund weiß Bescheid: was ist echt ätzend? Na klar, die Säuren.
ERZÄHLER
Bestens geeignet dafür, Leichen spurlos verschwinden zu lassen.
ERZÄHLERIN
Säuren zischen, rauchen und lösen alles auf. Genau wie im Labor des Doktor
Faustus. Gruseligeres als Säuren gibt es kaum. Auf den ersten Blick jedenfalls
(MUSIK: C1553520 137 [00‘16‘‘]). Beim Essen allerdings: Da schätzt unser
Geschmackssinn sie sogar.
ERZÄHLER
Sauer macht bekanntlich lustig.
ERZÄHLERIN
Aber nur in Maßen, sagt Andreas Kornath. Er muss es wissen. Schließlich ist er
Chemiker und Professor an der Universität München.
MUSIK ENDE
O-Ton Andreas Kornath
Jeder hat vielleicht schon die Erfahrung gemacht, ja, wenn er versucht hat, eine
ganze Ananas aufzuessen: Irgendwann mal brennt es an den Lippen. Das sind die
Fruchtsäuren der Ananas, die das Gewebe angreifen. Oder wenn man mal eine
Verletzung hat, irgendwie einen kleinen Kratzer, und da kommt Essig dran, dann
spürt man das auch. Also Fruchtsäuren: Da ist unser Körper geübter, die
wahrzunehmen.
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MUSIK: C1490140 008 (00‘57‘‘)
ERZÄHLERIN
Geübter als bei den meisten Säuren, die es im Labor gibt.
ERZÄHLER
Etwa Schwefelsäure oder die berüchtigte Flusssäure.
ERZÄHLERIN
Biologisch hat das seinen Sinn: In der Natur kommen vor allem Fruchtsäuren vor,
zum Beispiel in Zitrusfrüchten oder Ananas. Auch Ameisen und andere Insekten
verteidigen sich mit Säuren. Genau darauf ist unsere Wahrnehmung trainiert.
ERZÄHLER
Von den Säuren im Labor reagiert unsere Haut am ehesten auf Salzsäure. Die ist für
Andreas Kornath nichts Besonderes.
O-Ton Andreas Kornath
Naja. Ist eine Alltagschemikalie für einen Chemiker.
MUSIK ENDE
ERZÄHLER
Er wäscht damit im Labor seine Reaktionskolben aus. Und hat deshalb eine PlastikSpritzflasche mit 20-prozentiger Salzsäure am Spülbecken stehen. Damit bekommen
seine Mitarbeiter die meisten Glasgefäße einigermaßen sauber.
ERZÄHLERIN
Aufpassen müssen sie aber schon. Salzsäure ist ja kein gewöhnliches Spülmittel.
O-Ton Andreas Kornath
Das Wichtigste ist - und auch immer zu Hause daran denken - eine Brille
aufzusetzen, eine Schutzbrille. Denn unsere Bindehaut des Auges, die ist am
empfindlichsten. Wenn da etwas hineinspritzt, da kann selbst schon eine
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Essigessenz zu einer Verätzung führen. Und dann sollte man bei Salzsäure erst
recht aufpassen.
ERZÄHLER
Auch Kalkstein und Marmorboden löst Salzsäure auf. Und in Pullover und Jeans
fressen schon kleinste unbemerkte Spritzer hässliche Löcher hinein.
ERZÄHLERIN
Erstaunlich, dass wir trotzdem Salzsäure im Körper haben. Sie ist sogar
lebensnotwendig für uns. Denn der Magensaft besteht hauptsächlich aus Salzsäure.
ERZÄHLER
Hier gilt es allerdings schon den ersten der vielen Mythen zu entlarven, die über
Säuren im Umlauf sind. Denn im Magen hat die Säure eine andere Aufgabe, als viele
von uns denken.
O-Ton Andreas Kornath
Früher wurde geglaubt, dass diese Salzsäure für die Verdauung wichtig ist. Das ist
sie nicht, ja. Die Salzsäure im Magen bewirkt eine Desinfektion unseres täglichen
Essens.
O-Ton Jörg Schirra
Die Magensäure ist wichtig, um den oberen Magen-Darm-Trakt frei zu halten von
Bakterien.
ERZÄHLERIN
Das sagt Jörg Schirra, Arzt, Magen-Darm-Spezialist und Professor am Klinikum der
Münchner Universität. Für ihn ist Säure also vor allem ein hilfreiches
Desinfektionsmittel im Körper.
ERZÄHLER
Allerdings kennt er auch mehr als genug Patienten, denen die Magensäure zu
schaffen macht.
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O-Ton Jörg Schirra
Häufigste Erkrankung, die Magensäure abhängig ist, ist sicherlich die sogenannte
Reflux-Krankheit, bei der den Leuten die Säure die Speiseröhre hochklettert und hier
Brennen oder Schmerzen verursacht. Das ist Sodbrennen. Nicht jeder kennt
Sodbrennen. Also es sind immer – bei den Studenten wenn ich frage: Wer kennt kein
Sodbrennen? Also zehn Prozent heben den Arm und kennen einfach kein
Sodbrennen. Das sind die Glücklichen unter uns.
MUSIK: C1553520 138 (00‘45‘‘)
ERZÄHLERIN
Bei diesen Glücklichen sorgt ein Schließmuskel dafür, dass der Mageninhalt nicht in
die Speiseröhre zurückfließen kann.
ERZÄHLER
Genau wie ein Ventil.
ERZÄHLERIN
Doch es kommt eben bei fast jedem von uns ab und zu vor, dass uns etwas „sauer
aufstößt“ und dieser Muskel nicht richtig funktioniert. Zum Beispiel bei werdenden
Müttern gegen Ende der Schwangerschaft. Dann drückt der Fötus den Magen schon
mal zur Seite – und die Säure weicht nach oben aus.
ERZÄHLER
Meist ist der Schließmuskel aber aus anderen Gründen überfordert. Fettes Essen,
Alkohol, Stress, körperliche Anstrengung: All das führt dazu, dass der Magen zu viel
Säure erzeugt. Dabei ist diese Säureproduktion eigentlich ein ganz normaler
Vorgang.
MUSIK: C1553520 137 (00‘30‘‘)
ERZÄHLERIN
Los geht es schon, wenn wir leckeres Essen auch nur riechen. Dann bereitet der
Magen sich darauf vor, dass er bald zu tun bekommt. Er bildet Verdauungsenzyme,
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die später das Eiweiß in der Nahrung mürbemachen sollen, und er schüttet Säure
aus, die diesen Vorgang unterstützt.
ERZÄHLER
„Magensaft“ heißt diese mit Wasser verdünnte Mischung, von denen wir täglich einen
bis zwei Liter herstellen. Jörg Schirra bekommt sie bei vielen seiner Patienten zu
sehen.
O-Ton Jörg Schirra
Im Rahmen der Magenspiegelung sieht man natürlich auch in den Magen. Also:
Magensaft ist durchsichtig, klar. Und je nachdem, ob etwas Gallebeimengung dazu
kommt, färbt er sich etwas gelb. Aber er ist nicht unappetitlich.
ERZÄHLERIN
In der Magenwand gibt es spezielle Zellen – die nur dafür da sind, Salzsäure zu
bilden.
ERZÄHLER
Vom Standpunkt des Chemikers aus gesehen, entstehen bei diesem Vorgang
Wasserstoffteilchen. Sie heißen auch 'Protonen' und sind der wesentliche Bestandteil
jeder Säure, sozusagen ihr Kennzeichen: Je mehr Protonen da sind, desto saurer ist
eine Flüssigkeit.
ERZÄHLERIN
Außer den Protonen enthalten die Säuren noch einen Bestandteil. Der ist von einer
Säure zur anderen verschieden. Bei der Salzsäure heißt er Chlorid.
ERZÄHLER
Und dieses Chlorid wird gleichzeitig mit den Protonen in den Magen gepumpt. Dabei
entsteht die aggressive Salzsäure. Und trotzdem wird der Magen nicht angegriffen.
Eine Schleimhaut verhindert das.
O-Ton Jörg Schirra
Also der Magen selber wird durch Magensäure nicht angegriffen. Allerdings gibt es
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eine Magenkrankheit, die es ohne Säure nicht gibt, und das ist das Magengeschwür.
Das sind dann Teile des Magens, die meistens noch andere Verletzungen erlitten
haben. Die bekannteste Verletzung oder die bekannteste Infektion ist die mit dem
Helicobacter pylori. Das ist ein Magenkeim, den etwa 10 bis 15 Prozent der
Bevölkerung hat, der zusammen mit der Säure Geschwüre verursachen kann.
MUSIK: C1490140 004 (00‘45‘‘)
ERZÄHLERIN
Auch manche Schmerzmittel schädigen die Magenschleimhaut – dann kann die
Magensäure ebenfalls Geschwüre verursachen. Und bei Menschen mit
Sodbrennen…
ERZÄHLER
… also den weniger Glücklichen unter uns …
ERZÄHLERIN
… greift der Magensaft auch die Speiseröhre an. Bei manchen entsteht dadurch
sogar Speiseröhrenkrebs. Wer häufig Sodbrennen hat, sollte sich deswegen von
einem Arzt untersuchen lassen.
ERZÄHLER
Meist ist die Säure aber nur lästig, und Ärzte geben Medikamente, die sie
unterdrücken. Noch besser ist es aber, gesund zu leben: nicht zu fett zu essen,
wenig Alkohol zu trinken …
ERZÄHLERIN
… und möglichst alles zu vermeiden, was uns "sauer" macht.
MUSIK ENDE
ERZÄHLER
Säuren werden täglich und auf der ganzen Welt gebraucht. Allen voran die
Schwefelsäure, die jedes Labor in konzentrierter Form vorrätig hat.
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ERZÄHLERIN
Natürlich auch der Chemiker Andreas Kornath. Er öffnet ein Schränkchen und holt
eine braune Literflasche heraus.
ERZÄHLER
Soviel wie in einen vollen Maßkrug passt. Nur schwerer ist die konzentrierte
Schwefelsäure.
O-Ton Andreas Kornath
Sie ist durchsichtig und, wenn sie ganz sauber ist, ist sie auch farblos. Von der
Konsistenz her ist sie schon ein bisschen öliger, ja, viskoser, und hat eine höhere
Dichte. Ein Liter Schwefelsäure wiegt ungefähr 1,8/1,9 Kilogramm.
ERZÄHLERIN
Chemiker schätzen die konzentrierte Schwefelsäure nicht nur, weil sie so schön ätzt
wie jede andere Säure auch. Sie hat noch eine Besonderheit: Schwefelsäure zieht
Wasser an. Wer im Labor ein chemisches Präparat trocknen will, stellt es in ein
geschlossenes Gefäß und daneben einfach ein Schälchen mit konzentrierter
Schwefelsäure.
ERZÄHLER
Die Schwefelsäure kann aber noch mehr: Sie entzieht selbst solchen Substanzen
das Wasser, bei denen es fest im Molekül gebunden ist.
O-Ton Andreas Kornath
Selbst aus Verbindungen, wo Wasser nur formal enthalten ist – nicht wirklich, ja, nur
in der Formel vorkommt. Zum Beispiel im Wort Kohlenhydrate, Zucker. Die heißen
so, weil chemisch gesehen bestehen sie aus einem Kohlenstoff und einem H2O, das
Ganze aber x Mal. Die Schwefelsäure stört das nicht. Die nimmt sich das Wasser
heraus. Mit anderen Worten: Wenn Sie die konzentrierte Schwefelsäure auf Zucker
draufgießen, dann wird sie dem Zucker das ganze Wasser entnehmen. Dann
machen Sie aus dem Kohlenhydrat – machen Sie Kohle.
MUSIK: C1555150 103 (00‘45‘‘)
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ERZÄHLERIN
In der Industrie spielt Schwefelsäure eine wichtige Rolle. Jedes Jahr werden 250
Millionen Tonnen weltweit verbraucht.
ERZÄHLER
Eine unvorstellbare Menge: Pro Erdenbewohner, vom tibetischen Baby bis zum
europäischen Greis, sind das ziemlich genau 20 Liter konzentrierte Schwefelsäure
pro Jahr.
ERZÄHLERIN
Zwei Drittel davon werden zu Phosphatdünger weiterverarbeitet. Ohne
Schwefelsäure müssten also deutlich mehr Menschen hungern …
ERZÄHLER
… behauptet jedenfalls die chemische Industrie. Die braucht auch selbst viel
Schwefelsäure, sagt der Ingenieur Hanno Hintze. Er ist Produktionsleiter der
Säurebetriebe bei der Hamburger Firma Aurubis.
MUSIK ENDE
O-Ton Hanno Hintze
Ungefähr ein Drittel geht in die chemische Industrie. Und dort zum Beispiel in solche
Produkte wie Kunstfasern. Das bekannteste ist wohl Nylon. Das sind aber nicht nur
Strümpfe oder Strumpfhosen, wie weithin bekannt, sondern eben ganz viel zum
Anziehen, das man insgesamt als aus Kunststoff gemacht bezeichnet. Dann gibt es
aber auch noch ganz andere Kunstfasern wie das hochfeste Kevlar für Leichtbauten
in der Luftfahrtindustrie. Zellulose wird für das Papier hergestellt, dafür auch sehr
wichtig. Ein bekanntes Produkt ist Acrylglas. Autobatterien, die enthalten verdünnte
Schwefelsäure. Und – ja, alles, was weiß ist, auf weißen Pigmenten basiert, das ist
das Titandioxid. Das basiert auch auf der Produktion, die – für die die Schwefelsäure
unabdingbar ist.
MUSIK: C1490140 024 (00‘25‘‘)
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ERZÄHLERIN
Kunstfasern, Batterien, weiße Farbe und vor allem Nahrungsmittel – für all diese
Produkte wird Schwefelsäure benötigt. Kein Wunder, dass die Industrie sie als
wichtigste Grundchemikalie bezeichnet.
ERZÄHLER
So unentbehrlich ist die Schwefelsäure, dass sie sogar als Indikator für die
Wirtschaftsleistung eines Landes gilt.
O-Ton Hanno Hintze
Ja, das kann man auf jeden Fall sagen. Deutschland hat ungefähr noch – ja, so ein
Viertel der europäischen Produktion (MUSIK ENDE), und die Wirtschaftskraft
Deutschlands zieht ja im Moment auch Europa, weil wir hier eben noch die Industrie
haben. Wenn ich mir in jüngster Zeit das Beispiel China angucke: Die haben seit den
90er-Jahren erhebliche Schwefelsäureanlagen gebaut, und das Wachstum dort ist ja
auch entsprechend.
ERZÄHLERIN
Schwefelsäure ist also einer der Treibstoffe, den eine Volkswirtschaft unbedingt
herstellen muss, um zu wachsen.
ERZÄHLER
Klingt gut, ist aber auch eines der vielen Märchen, die über Säuren erzählt werden.
ERZÄHLERIN
Die Produktion von Schwefelsäure ist nämlich aus Sicht der Industrie vor allem eine
elegante Methode, schwefelhaltige Abfälle loszuwerden. Die fallen dort in rauen
Mengen an: Wenn Benzin oder Dieselkraftstoff entschwefelt werden; als Abgas bei
vielen Verbrennungen; und wenn Metalle aus schwefelhaltigen Erzen erzeugt
werden.
ERZÄHLER
Lange Zeit haben die Firmen den Schwefel einfach in die Luft geblasen. Und zwar
als Schwefeldioxid. Bekannt als Ursache für den sauren Regen. Strengere
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Umweltvorschriften haben dem ein Ende gesetzt. Heute muss die Industrie
Schwefeldioxid abfangen - und macht eben Schwefelsäure daraus.
O-Ton Hanno Hintze
Aus dem Abfall Schwefeldioxid wird dann entsprechend als verkaufsfähiges Produkt
die Schwefelsäure gemacht, die dann eben als Grundstoff für unheimlich viele
Produkte dann dient. Gerade die Metallhütten, die müssen auf jeden Fall auch die
Säure, die sie entsprechend aus der Abgasbehandlung erzeugen, in den Markt
bringen. Wenn das nicht gelingen würde, dann – ja, würde im Endeffekt die
Metallproduktion entsprechend – ja, gedrosselt werden müssen. Denn ohne die
Abgasbehandlung kann man eben die Metalle nicht produzieren.
ERZÄHLERIN
Davon wäre auch die Hamburger Firma Aurubis betroffen, nach eigenen Angaben
der größte Kupferproduzent in Deutschland. Genau wie in anderen Betrieben fällt
dort weit mehr Schwefelsäure an, als wir Europäer verbrauchen könnten.
MUSIK: C1531100 113 (00‘17‘‘)
ERZÄHLER
Deshalb gibt es zum Beispiel im Hamburger Hafen große Tanks voll mit
Schwefelsäure. Und Frachtschiffe transportieren die Chemikalie rund um die Welt.
MUSIK ENDE
ERZÄHLERIN
Zurück ins Labor von Andreas Kornath an der Universität München. Er hat
inzwischen zwei Löffel Zucker in ein Glasgefäß gegeben. Und kippt jetzt vorsichtig
ein Schnapsglas voll Schwefelsäure darüber.
O-Ton Andreas Kornath
Konzentrierte Schwefelsäure. Es wird gelb. Also die Schwefelsäure beginnt das
Wasser zu entziehen. Dabei erwärmt sich das Ganze auch. Und je wärmer es dann
wird, desto schneller geht der Vorgang. Und Sie sehen schon, dass es dann braun
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wird, erinnert so an karamellisierten Zucker, und in der Mitte wird es dann schwarz.
Und da hat dann die Schwefelsäure schon begonnen, sämtliches Wasser aus den
Kohlenhydraten herauszuziehen. Und was übrig bleibt, ist letztendlich Kohle.
ERZÄHLER
Am Tag der Offenen Tür führt das Münchner Universitäts-Labor manchmal einen
makabren Versuch vor (MUSIK: C1527530 123 [00‘12‘‘]). Ein Hähnchenschenkel
wird in konzentrierter Schwefelsäure vollständig aufgelöst. Nicht nur die
Kohlenhydrate, sondern auch Fett, Muskeleiweiß und Knochen verschwinden dabei
so gut wie spurlos.
MUSIK: M0021058 000 (00‘28‘‘)
ERZÄHLERIN
Krimiautoren sind begeistert. Und gelegentlich lassen sich davon auch echte Mörder
anstecken und wollen ihr Opfer in Säure auflösen.
ERZÄHLER
Mit einem Stückchen Geflügel klappt das gerade noch. Aber nicht mit einem ganzen
menschlichen Leichnam, sagt der Kölner Kriminalbiologe Mark Benecke.
MUSIK ENDE
O-Ton Mark Benecke
Warum jetzt einer auf die Idee kommt, tatsächlich Säure zu benutzen, ist – glaube ich
echt – aus der Not geboren. Die meisten Menschen haben überhaupt keine Ahnung
von Leichen. Die wissen nicht, wie der menschliche Körper aufgebaut ist, die wissen
nicht, welche Flüssigkeiten da drin sind, die wissen nicht, dass das sehr viel Wasser
auch ist, was man auch nicht so einfach wegkriegt mit Säure. Die kennen sich nicht
mit den Materialeigenschaften ihrer Badewanne aus. Die wissen nicht, wie ihr
Abflussrohr funktioniert. Das ist einfach so aus der Not.
MUSIK: C1473150 013 (00‘28‘‘)
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ERZÄHLERIN
Auch das ist ein beliebter Säure-Mythos: Man lege eine Leiche in die Badewanne,
gieße konzentrierte Säure drüber - und dann braucht man nach ein paar Stunden nur
noch den Stöpsel zu ziehen.
ERZÄHLER
Doch das scheitert an einem ganz banalen Effekt: Das Wasser aus dem Körper
verdünnt die Säure ziemlich schnell so weit, dass sie einfach nicht mehr wirkt. Keine
Chance also, eine Leiche spurlos verschwinden zu lassen.
O-Ton Mark Benecke
Es bleibt Matsche übrig (MUSIK ENDE). Das ist auch das Problem, wenn die Täter
versuchen, die Leiche – die denken dann, man könnte die durch den Abfluss spülen
irgendwie. Das geht überhaupt nicht. Der Abfluss verstopft sofort massiv. Da
funktioniert überhaupt gar nichts mehr. Bevor man richtig angefangen hat, ist also
schon das Badezimmer überschwemmt von dem Wasser, was man da nachlaufen
lässt. Es ist einfach eine riesige Sauerei. Das kann man sich ungefähr so vorstellen
vielleicht, wie wenn man so eine Biomülltonne hat, und wenn man dann vergisst, die
irgendwie rauszustellen und kann sich leisten, sechs Wochen in Urlaub im Sommer
zu fahren. Dann kommt der zurück. So ungefähr sieht das dann aus. Alles matschig,
stinkig, schwarz, Insekten werden da wahrscheinlich rumkreuchen.
ERZÄHLERIN
Dabei ist es egal, welche Säure verwendet wird. In der Fernsehserie „Breaking Bad“
versucht der Chemiker und Drogenproduzent Walter H. White, die Überreste eines
missliebigen Dealers mit Flusssäure zu beseitigen.
ERZÄHLER
Doch sein ziemlich dämlicher Laborhelfer Jesse Pinkman wählt dafür ausgerechnet
eine Keramikbadewanne. Hätte er auch nur einen Funken Ahnung von Chemie,
wüsste er, dass Flusssäure die einzige Säure ist, die Glas und Keramik auflöst.
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ERZÄHLERIN
Blöd gelaufen – aber im Film hat so ein unbegabter Chemiker natürlich die Lacher
auf seiner Seite.
O-Ton Mark Benecke
Da ist das natürlich sexy, das dann jetzt einen Chemiker machen zu lassen, weil: Wie
stellt sich ein kleines Kind einen Chemiker vor? Natürlich mit wildem Bart – und
Säuren. So sehen Chemiker aus, und ein Karohemd und vielleicht auch noch eine
Brille. Das ist ja nur Spaß, ist ja nur ein Spielfilm.
MUSIK: C1531100 113 (00‘45‘‘)
ERZÄHLER
Von den echten Chemikern wagt es kaum einer, mit Flusssäure zu arbeiten –
vielleicht hundert Fachleute weltweit, schätzt Andreas Kornath. Er selbst hat dieses
Forschungsgebiet gewählt, weil er sich für das Element Fluor interessiert, und dafür
ist die Flusssäure der Ausgangsstoff.
ERZÄHLERIN
Fluor steckt zum Beispiel in Teflon, in Kühlmitteln und in Medikamenten. Flusssäure
ist nicht deshalb so unbeliebt, weil sie besonders aggressiv wäre – das ist eben nur
eine Filmlegende. Aber höchsten Respekt hat Andreas Kornath trotzdem vor ihr.
MUSIK ENDE
O-Ton Andreas Kornath
Die Flusssäure ist sehr gefährlich, nicht weil sie eine stark ätzende Wirkung hat. Da
ist sie vergleichbar mit – vielleicht Essigsäure. Aber weil die Flusssäure eben Fluorid
enthält, und das ist in höheren Dosen sehr giftig. In kleinen Dosen ist es essenziell
notwendig.
MUSIK: C1490140 024 (00‘45‘‘)
15
ERZÄHLER
Denn Fluorid macht die Zähne hart. Wenn Flusssäure aber auf die Haut tropft, dringt
das enthaltene Fluorid sofort ins Blut vor. Dort bindet es Kalzium, und ohne Kalzium
können unsere Muskeln nicht funktionieren. Auch nicht das Herz. Schon ein Fünftel
Gramm Flusssäure wirkt tödlich – wenn nicht rasch ein Gegenmittel gegeben wird.
ERZÄHLERIN
Deshalb gelten im Labor strengste Sicherheitsvorschriften: Mit Flusssäure darf nur in
geschlossenen Apparaturen gearbeitet werden. Dass die Chemiker trotzdem auf
alles gefasst sein müssen, zeigt ein Unfall, den die Berufsgenossenschaft zur
Warnung dokumentiert hat.
MUSIK ENDE
O-Ton Andreas Kornath
(Öffnet Ordner) Ich habe hier nämlich so ne Geschichte, ist aber übel. In einem
Betriebslabor wurde ein sogenannter Flusssäureaufschluss durchgeführt, und das
Gefäß ist geplatzt. Und ein vorbeikommender Mitarbeiter hat eine – das
abbekommen, eine ungefähr handtellergroße Fläche – das ist nicht viel. Das Labor
wusste Bescheid. Man hat also Erste-Hilfe-Maßnahmen durchgeführt, aber
unterschätzt, dass man auch unbedingt sofort ins Krankenhaus muss. Eine Stunde
nach dem Unfall war die Person im Krankenhaus. Dort wurde dann sofort eine
unfallchirurgische Behandlung eingeleitet. Noch während der Operation – so wird
hier berichtet – tritt Kammerflimmern auf, und es muss mehrfach reanimiert werden.
Die Reanimationsbemühungen wurden dann nach etwa fünfeinhalb Stunden nach
dem Unfall aufgegeben.
ERZÄHLER
Säuren haben also viele Gesichter. Eines davon lernen schon Schüler kennen, wenn
sie eine Säure mit Wasser verdünnen sollen. Spätestens dann bekommen sie den
Spruch zu hören:
ERZÄHLERIN
Erst das Wasser, dann die Säure, sonst geschieht das Ungeheure.
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O-Ton Andreas Kornath
Das heißt: Ich habe Wasser, ich gieße sukzessive die Säure dazu und habe dann
eine gute Wärmeverteilung, da kann nichts passieren. Mache ich es anders herum,
dann entsteht so viel Wärme, dass die Säure eventuell anfängt, zu sieden oder gar
zu spritzen, und das ist eben das Gefährliche. Heiße, spritzende Säure möchte
keiner.
MUSIK: C1553520 137 (00‘25‘‘)
ERZÄHLER
Denn die finden selbst Chemiker richtig ätzend. Egal ob es Schwefelsäure ist, die
aus Zucker Kohle macht, oder Salzsäure, die für unseren Körper sogar
lebensnotwendig ist.
ENDE