weiss ich den weg auch nicht - Bund Freier evangelischer

PERSPEKTIVEN
In seinen monatlichen PERSPEKTIVEN greift Ansgar Hörsting, Präses des
Bundes Freier evangelischer Gemeinden, regelmäßig einen Aspekt aus dem
Leben oder ein Thema aus der öffentlichen Diskussion auf.
WEISS ICH DEN WEG
AUCH NICHT ...
M
an hatte sie gefangen gesetzt. Mit 31 anderen Personen
wurde Marion von Klot im lettischen Zentralgefängnis
in Riga festgehalten. Am 22. Mai 1919 wurden alle Gefangenen ermordet. Am Vorabend dieses Massakers tröstete sie die
Mitgefangenen und sich selbst mit einem Lied. Sie sang es vor.
Gedichtet wurde es 1901 von Hedwig von Redern. Bis heute hat
dieses Lied Tausende, Abertausende, vielleicht Millionen Menschen getröstet und gestärkt. Ich habe es auf Beerdigungen
kennengelernt. Dadurch hat es bei mir einen schweren, fast
traurigen Unterton. Dabei ist es alles andere als traurig. Es ist
geradezu verwegen, zuversichtlich, voller Hoffnung. Es gibt
Mut inmitten extremer Belastungen oder Bedrohungen. Es ist
ein Lied für die Grenzen unseres Lebens, für die Herausforderungen des Tages und für die unruhigen Stunden der Nacht.
1) Weiß ich den Weg auch nicht, du weißt ihn wohl; das macht die
Seele still und friedevoll. Ist‘s doch umsonst, dass ich mich sorgend
müh, dass ängstlich schlägt mein Herz, sei‘s spät, sei‘s früh.
2) Du weißt den Weg für mich, du weißt die Zeit, dein Plan ist
fertig schon und liegt bereit. Ich preise dich für deiner Liebe Macht,
ich rühm die Gnade, die mir Heil gebracht.
3) Du weißt, woher der Wind so stürmisch weht, und du gebietest
ihm, kommst nie zu spät, drum wart ich still, dein Wort ist ohne
Trug, du weißt den Weg für mich, das ist genug.
Wie kann ein Mensch so etwas sagen? Was gehört dazu, so verwegen in den kalten Gegenwind zu singen? Ein Mensch kann
so ein Lied singen, wenn er fest darauf vertraut, was Jesus gesagt hat: „Niemand wird sie aus meiner Hand reißen.“ (Joh
10,28). Wenn ein Mensch weiß, dass Gott größer und weiser
ist, als alle Menschen es denken können, dann kann er sich so
vertrauensvoll in seine Hände fallen lassen.
Der Satz „dein Plan ist fertig schon“ ist oft missverstanden
worden. Das Bild eines göttlichen Planes, der abzuarbeiten ist,
verwirrt. Ich verstehe es anders. Am Ende – selbst wenn dem
Leben ein gewaltsames Ende bereitet werden sollte wie damals
in Riga – wird nichts geschehen, was Gottes Weg mit dieser
Welt und den Menschen gefährdet. Wir verstehen diese Wege
oft nicht. Wir protestieren, weinen, hadern und leiden. Und
dann fassen wir doch wieder Vertrauen, dass Gott den Weg
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CHRISTSEIN HEUTE 2/2016
kennt. Manchmal erst in dem Moment, wenn wir das Lied singen oder den Text in Erinnerung rufen.
Es ist kein Lied nur für Friedhöfe oder Gefängnisse. Es ist
ein Lied für die Mitte des Lebens. Ich muss an die manchmal
eskalierenden Debatten der letzten Monate denken. Deutschland verändert sich dramatisch. Manche mögliche Zukunftsszenarien können mich ängstigen, ich gebe es zu. Ich höre
das auch von anderen. Leute schreiben mir und prophezeien
die Herrschaft des Islam inklusive Scharia-Gesetzgebung in
Deutschland. Die Konsequenzen aus dieser Sicht sind sehr verschieden. Sie reichen von „Grenzen dicht machen“ bis „Trotzdem willkommen heißen und Gottes Liebe zeigen“. Dann versuche ich, die Informationen und Zukunftsperspektiven rational durchzuspielen, um einer diffusen Angst gute Argumente
entgegensetzen zu können. Bei allen Schwachstellen habe ich
eine recht hohe Meinung vom deutschen Rechtsstaat. Das hilft
oft schon. Und dann? Ist das alles? Nüchtern betrachtet muss
ich eingestehen, dass niemand wirklich weiß, was langfristig
kommt. Genauso wenig weiß ich, wie meine ganz persönliche
Zukunft aussieht. Morgen schon kann mein Leben aus den
Angeln gehoben werden. Ein „wird schon“ hilft da nicht weiter.
Dieses Lied dagegen hilft weiter. Ich singe es in die Angst
hinein. Ich sage: „Jesus, ich bin und bleibe in deiner zuverlässigen Hand!“ Die Situation bleibt dann von außen
betrachtet, wie sie ist. Aber ich verändere mich. Ich werde­
still. Gottes Friede kommt – er überragt alle logischen
­Argumente. Mit einem befreiten Herzen kann ich leben!
Manche meinen, sie müssten den Weg genau kennen, der
vor ihnen liegt, um zuversichtlich leben zu können. Glaube
aber ist verwegen, auch wenn er den Weg nicht kennt. Denn
Gott weiß ihn. Im Blick auf unseren Weg verlasse ich mich auf
Psalm 1,6: „Der Herr kennt den Weg der Gerechten, aber der
Gottlosen Weg vergeht.“ Und ich bete: „Zeige mir, Herr, den
Weg deiner Gebote, dass ich sie bewahre bis ans Ende.“ Das
sind gute Wege, Gottes Wege.
Das zitierte Lied ist übrigens eines von über 30 in einem
Projekt der Stiftung Christliche Medien unter dem Titel „Das
Liederschatzprojekt“, mit dem das Singen alter, bewährter Gemeindelieder wieder neu in den Blickpunkt der Gemeinde gerückt werden soll (Infos: www.Das-Liederschatzprojekt.de).