Das Magazin der bayerischen Grünen 8 zusammen wachsen Inshallah! 1 EDITORIAL GRUEN7 I xxx Willkommen in einem Land, das viele hunderttausend Menschen in den letzten Monaten aufgenommen hat, die durch Krieg und Verfolgung aus ihrer Heimat vertrieben wurden. Will kommen in einem Land, das vor großen Herausforderungen steht. Herausforderungen der Integration und Herausforderun gen des Zusammenhalts in der Bevölkerung. Die Landtagswahlen im März zeigten, dass sich immer mehr Menschen abgehängt fühlen in unserer Gesellschaft, aber auch, dass fremdenfeindliche und rassistische Einstellungen bis weit in die Mittelschicht hinein verbreitet sind. Umso wichtiger ist es, dass wir Haltung zeigen und mit klarer Kante gegen Rechts für unsere offene und lebens werte Gesellschaft kämpfen. Das sind wir unseren eigenen Werten ebenso schuldig wie den vielen tausend Freiwilligen, die Tag für Tag humanitäre Ideale so wunderbar enga giert leben. Und wir können hier auf die Mehrheit in unserem Land bauen. Wir müssen aber auch die Ängste und Sorgen vieler Bürgerinnen und Bürger ernstneh men und ehrliche Antworten geben auf das wachsende Gefühl der Unsicherheit. Wir setzen auf eine Politik der Gerechtigkeit gegen die zunehmende soziale Spaltung. Soziale Unsicherheit wird aber auch von rechten Politikern in unverantwortlicher Weise herbei geredet und geschürt. Ja, Ängste vor Neuem, vor Unbekanntem kennen wir alle. Doch gerade weil es diese gefühlte Unsicherheit gibt, aber auch in Verantwortung für unsere Geschichte, ist es zentrale Aufgabe von Politik, die diffusen Ängste gegenüber Schutz suchenden abzubauen. In dieser Ausgabe unseres Themenmagazins GRÜEN lassen wir junge Menschen zu Wort kommen, die in Bayern verwurzelt sind oder hier – vorübergehend oder dauerhaft – eine Heimat gefunden haben. Wir gehen der Frage im Gespräch mit einer Politologin auf den Grund, nach welchen Prinzipien und Regeln Integration von zugewanderten Menschen erfolgen soll. Wir analysieren und entlarven einige Begriffe der aktuellen politischen De batte, die wir besser nicht verwenden sollten. Und Renate Künast gibt uns schließlich Tipps, wie man auf Rassisten reagieren kann, ohne den Verstand zu verlieren. Wir hoffen, dass dieses Heft seinen Teil dazu beiträgt, dass unsere Gesellschaft wieder ein Stückchen mehr zusammenwächst und wir Grüne dieses Zusammenwachsen weiterhin kraftvoll und mit klarem Kompass voranbringen. Verstehen ist einfach. Wenn man einen Finanzpartner hat, der die Region und ihre Menschen kennt. Sprechen Sie mit uns. Eike Hallitzky, Landesvorsitzender inhalt flucht & migration in zahlen 4 wer hat hier angst ? 6 junge menschen in bayern 8 freiheit heißt verantwortung 12 zusammenwachsen läuft bei uns 14 2 das grundgesetz ist eine quelle der identität 16 jetzt reden wir mal klartext 20 wie man auf rassisten reagiert, ohne den verstand zu verlieren 22 wir schaffen das – inshallah 26 impressum 27 GRÜEN 8 I integration BeispielLeistungen für eine alleinstehende Asylbewerberin, die seit sechs Monaten in Deutschland ist: 143 Euro „Taschengeld“ (soziale Teilhabe) 216 Euro für Nahrung, Kleidung, Hygiene oder Sachleistungen Gesundheitliche Versorgung nur bei Schmerzen oder akuter Erkrankung Wohnsitz nicht frei wählbar Asylbewerber I n: 7 m² Einwohner I n: 42 m² 4 Zuzug 2015: 330.000 Fortzug 2015: 160.000 Schutzquote * in Deutschland: Schutzberechtigt in Deutschland sind Personen, die fliehen vor: Politischer Verfolgung, Bürgerkrieg, gravierenden Menschenrechtsverletzungen, begründeter Furcht vor Verfolgung, wegen Rassendiskriminierung, Religion, Nationalität, politischer Überzeugung, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe Nicht schutzberechtigt sind Personen, die fliehen vor: Durchschnittliche Wohnfläche pro Person in Bayern: AusländerInnen in Bayern: Armut, Hunger, Umweltkatastrophen, Verfolgung wegen sexueller Orientierung Zusammengetragen von Birgit Zipfel und Hamun Tanin, Quellen: OECD, Weltbank, UNHCR Global Trends, www.zukunftsministerium.bayern.de, mediendienst-integration.de, Mikrozensus 2011, BAMF, Bayerisches Landesamt für Statistik, Antwort der Bundesregierung auf Kleine Anfrage der LINKEN vom 22.2.2016 (Drucksache 18/7625), * bereinigte Schutzquote laut Bundesregierung flucht und migration in zahlen 4. Quartal 2014: 49,4% 4. Quartal 2015: 74,7% Hilfe gegen Elend 117 Milliarden Euro Summe der offiziellen Entwicklungshilfen aller Mitgliedsländer der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) 350 Milliarden Euro Summe der Überweisungen von MigrantInnen weltweit zurück in Entwicklungsund Schwellenländer (2014) Hoffnung auf asyl (2015) Menschen weltweit auf der Flucht: ca. 60 Millionen (höchste Zahl seit dem 2.Weltkrieg) gestellte Asylanträge in Deutschland: 441.899 gestellte Asylanträge in Bayern: 67.639 5 GRÜEN 8 I integration wer hat hier angst? Im Sommer 1954 organisierte der Sozial psychologe Muzafer Sherif ein Ferienlager für 22 Jungen. Er teilte die Teilnehmenden nach dem Zufallsprinzip in zwei gleich große Gruppen ein und gab den Gruppen die Namen Adler und Klapperschlan gen. Eine Woche lang wussten die beiden Gruppen nichts voneinan der und die Jungen innerhalb der Gruppen wuchsen zusammen. Dann lernten sich Adler und Klapperschlangen bei einer Reihe von Wettkampfspielen kennen, z. B. Football, Baseball, und Tauziehen. Von Beginn an beobachtete der Forscher gewaltsame Rivalitäten zwischen den Gruppen: Fahnen der Gegner wurden verbrannt, Hütten geplündert und es brach ein Kampf um das Essen aus, der einem Aufstand glich. Ähnliche Szenen, wie sie Dr. Sherif in den 1950er Jahren in seinem berühmten Ferienlager-Experiment beob achtet hatte, sehen wir auch heute: Flücht lingsheime brennen, Menschen stehen daneben und klatschen Beifall. Woher kommt dieser Hass auf die Fremden, den Muzafer Sherif innerhalb von nur einer Woche in seinem Experiment erzeugen konnte? Die deutsche Kultur „gehe den Bach runter“ Ist es die Angst um begrenzte Ressourcen, um den Arbeitsplatz? Oder dass es zu eng wird in Bayern und man keine Wohnung 6 mehr findet? Der Sozialpsychologe Ulrich Wagner glaubt, dass hinter den öffentlich geäußerten Befürchtungen gegenüber Fremden mehr steckt als die bloße Angst vor materiellem Verlust. Die Leute haben den Eindruck, die deutsche Kultur „gehe den Bach runter“. Sie begreifen Kultur nicht als historischen Prozess, der einem ständigen Wandel unterliegt, sondern als Zustand, der fortwährend und immer gleich bleibt. Und vor der unweigerlichen Veränderung haben sie Angst. Der Migrationsexperte Prof. Dr. Klaus Bade prägte dafür den Begriff Kultur angst. Darunter versteht er die Angst vor einer Gefährdung der eigenen Wertvorstel lungen, der eigenen Lebensart oder dem, was man dafür hält. Die Gefahr geht dabei von allem aus, was einem fremd ist. Nicht nur Geflüchtete, auch Obdachlose, Homose xuelle oder Conchita Wurst können diese Angst auslösen. Ob eine Angst berechtigt ist oder nicht, spielt für die Empfindung kaum eine Rolle. Ängste messen sich nicht daran, wie groß eine Gefahr tatsächlich ist. Jeder, der schon mal von einem Hochhaus herunter gesehen hat, kennt das: Die Wahrschein lichkeit, plötzlich abzustürzen, ist gering. Und dennoch hat man ein mulmiges Ge fühl. Irrationale Angst kann man nur zum von Thomas Rose Teil mit rationalen Argumenten abbauen. Flüchtlinge nehmen uns kaum Arbeit oder Wohnung weg. Erst recht nicht der gut situierten Mittelschicht mit doppel tem Einkommen und zwei Monster-Autos in der Garage. Diese Menschen müssen sich um ihre wirtschaftliche Zukunft kei ne Sorgen machen und glauben dennoch, dass kein Flüchtlingsheim in ihre Nach barschaft gehört. Schon in den 1930ern beschäftigte sich der Sozialpsychologe Erich Fromm mit einer ähnlichen Frage, wie wir sie uns heute stellen: Warum akzeptie ren manche Menschen antisemitische Ideen und halten starr an Machtori entierung und Unterwür figkeit fest, während andere hingegen fähig sind, fremde Meinungen und Wertvorstellun gen auszuhalten und Vielfalt als Bereiche rung anzusehen? Theodor Adorno und Else Frenkel-Brunswik entwickelten dar aus die Theorie der autoritären Persön lichkeit. Menschen bilden negative Hal tungen gegenüber Minderheiten aus, wenn sie in autoritären Strukturen auf wachsen, zu blindem Gehorsam gegen über ihren Eltern erzogen und von einer repressiven Gesellschaft zur Anpassung gezwungen werden. Die angeborenen, ag gressiven Triebe, die jeder in sich trägt, können sich dann in Gewalt gegenüber Schwächeren entladen. Und Geflüchtete sind immer die Schwächsten im sozialen Gefüge. Feindseligkeit gegenüber Fremden ist also auch eine charakterliche Prägung und un abhängig von Stand und formaler Bil dung. Weil sie schon in der Kindheit geprägt wird, ist sie so hartnäckig. Der Mainzer Politikwissenschaftler Jürgen Winkler rät daher, fremdenfeindlichen Einstellungen möglichst früh zu begeg nen. Wenn Kinder schon in der Schule oder im Sportverein mit Menschen ande rer Herkunft in Kontakt kommen, baut das Vorurteile ab. Je mehr Ausländer da sind, desto niedriger die Fremdenfeindlichkeit Eine ähnliche Schlussfolgerung lässt sich auch aus der Mitte-Studie ableiten. Alle zwei Jahre untersucht eine Forschergrup pe der Universität Leipzig, wie verbreitet rechtsextreme Einstellungen in Deutsch land sind. Ein Ergebnis der Studie: auslän derfeindliche Einstellungen nehmen ab, je höher der Ausländeranteil ist. In Mecklen burg-Vorpommern, Thüringen und Bran denburg bejahte etwa jeder dritte Befragte ausländerfeindliche Aussagen. In BadenWürttemberg und Nordrhein-Westfalen war es „nur“ jeder fünfte. Dabei liegt im Westen der Ausländeranteil mit zehn Pro zent etwa fünf Mal so hoch wie im Osten. Man kann auch sagen: Wer einen Auslän der zum Nachbarn hat, hasst ihn nicht. Die erlebte Realität steht dem Hass entge gen. In der Angsttherapie nutzt man die sen Mechanismus erfolgreich, um Patien ten von ihrer Angst zu befreien. Der Patient muss mit dem, was ihm Angst macht, in Kontakt treten. Er lernt so, dass seine Angst unbegründet ist und keine ne gativen Folgen entstehen. Wer Angst vor Spinnen hat, muss sie sich über die Hand laufen lassen. Wer Angst vor großen freien Flächen hat, muss über große Plätze lau fen und lernen, dass ihm oder ihr nichts passiert. Ganz so einfach ist es bei Fremdenangst allerdings nicht. Muzafer Sherif, der Wis senschaftler mit den 22 Jungen im Ferien lager, versuchte die Feindseligkeiten zwi schen den beiden Gruppen dadurch zu reduzieren, dass er die jeweils andere Gruppe möglichst positiv anpries und nur gut über sie sprach. Ohne Erfolg. Dann organisierte er gemeinsame Aktionen au ßerhalb der Wettkämpfe. Auch nur mit mäßigem Erfolg. Die feindlichen Einstel lungen gingen erst merklich zurück, als beide Gruppen eine Aufgabe gestellt bekamen, die sie nur gemeinsam lö sen konnten: Der Campingbus mit der eingebauten Küche war bei der Rückkehr vom Einkauf ei nen Abhang hinuntergerutscht. Eine Gruppe alleine konnte ihn nicht mehr auf die Straße zurückziehen, dafür war die ge meinsame Kraft von allen Jungen nötig. Erst nach diesem Erlebnis nahmen die Feindseligkeiten allmählich ab. Begegnungen ermöglichen Der Umgang mit fremden Menschen hängt sehr von den Erfahrungen ab, die man mit ihnen macht und ob es über haupt solche Erfahrungen gibt. Integrati on kann nur gelingen, wenn alteingesesse ne Menschen und Neuankömmlinge sich gegenseitig als Normalität in ihrem Um feld erleben können und wenn Deutsche Migrantinnen und Migranten nicht nur dulden, sondern sich im Alltag begegnen und dessen Herausfor derungen zusammen meistern. Gemeinsame Erlebnisse schwei ßen zusammen. Das gilt für bei de Richtungen: Von Deutschen gegenüber MigrantInnen und andersherum von MigrantInnen gegenüber Deutschen. Es ist Aufgabe von Politik, Unternehmen, Medien, Lehrerinnen und Erziehern, diese Kontaktpunkte auf allen Ebenen zu schaffen und zu fördern. 7 GRÜEN 8 I integration junge menschen in bayern Ein Einblick in den Alltag und die Zukunftspläne fünf junger Menschen, die in Bayern verwurzelt sind oder hier – vorübergehend oder dauerhaft – eine Heimat gefunden haben. von Daniela Wüst Evans, 21 Jahre Evans Dimitri 8 Seit wann bist du in Deutschland? Seit 4 Jahren. Woher kommst Du? Aus Uganda. Was machst Du zurzeit? Ich bin auf der Suche nach einem Ausbildungsplatz im Einzel handel in Augsburg und schreibe gerade sehr viele Bewerbun gen. Ich will unbedingt arbeiten, selbstbestimmt leben und nicht vom Staat abhängig sein. Wo siehst Du Dich in 10 Jahren? Ich wünsche mir, für immer hier in Deutschland zu leben. Mein Traum ist, ein eigenes Modegeschäft zu eröffnen. Au ßerdem würde ich gerne ein paar Projektideen, die ich habe, in den nächsten Jahren ausbauen und weiter umsetzen. Zum Beispiel möchte ich Fahrräder sammeln, um sie neu ange kommenen Flüchtlingen zu schenken. Ich weiß, wie schwierig es ist, wenn man nicht mobil ist. Was machst Du am Wochenende? Ich spiele Fußball im Verein und habe am Wochenende meis tens ein Spiel. Abends treffe ich mich mit Freunden. Wann hast Du Dich mal ausgeschlossen gefühlt? Vor zwei Jahren habe ich einen Brief von der Ausländerbe hörde bekommen, in dem stand, dass ich abgeschoben wer den soll. Schon damals konnte ich sehr gut deutsch, weil ich die Sprache von Anfang an Tag und Nacht gelernt habe. Ich habe mir sehr viel Mühe gegeben. Deshalb fand ich es wirk lich unfair. Im Moment habe ich eine Duldung. Hast Du ein Vorbild? Der Brasilianer Ronaldinho ist mein Vorbild. Er ist nicht nur ein großer Fußballer, sondern hat auch ein großes Herz. Er kam aus der Armut und hat sehr viel Geld verdient. Er gibt es aber nicht verschwenderisch für sich aus, sondern baut Schu len und spendet viel. Mein größter Traum ist es, ihm einmal zu begegnen. Dafür werde ich auch nach Brasilien fahren, wenn ich es mir leisten kann. Xaver Kleopatra Sophie Kleopatra, 26 Jahre Emma Ayasha Luca Seit wann bist du in Deutschland? Seit 23 Jahren. Woher kommst Du? Geboren wurde ich in Athen/Griechenland. Was machst Du zurzeit? Ich bin Studentin (Politikwissenschaften). Wo siehst Du Dich in 10 Jahren? Ich hoffe, dass ich ein ausgeglichenes Leben haben werde, mit einem anständigen Job und Glück im Privatleben. Kannst Du Dir vorstellen, Deutschland zu verlassen? Ich weiß noch nicht, ob ich in Deutschland wohnen werde. Auch andere Länder, insbesondere Griechenland kämen in Frage. Es wäre schön, wenn die Menschen nicht nur aus Grie chenland davonlaufen, sondern auch wieder zurückkehren, um gemeinsam an der Erneuerung des Landes zu arbeiten. Ich bin mir sicher, dass es mindestens genauso schwierig ist, ein Land zu verlassen, wie wieder dorthin zurückzukehren. Was hast Du am Wochenende vor? Lernen, Hausarbeiten schreiben. Ich stehe kurz vor den Dip lomprüfungen. Wenn’s hinhaut, noch ins Kino. Wann hast Du Dich mal ausgeschlossen gefühlt? Ich fühle mich eigentlich nie ausgeschlossen. Hast Du ein Vorbild? Ein richtiges Vorbild nicht, aber meine Eltern waren für mich immer die, die mir vorgelebt haben, was es heißt, ein anstän diger Mensch zu sein. Mustaf 9 Vincent GRÜEN 8 I integration GRÜEN 8 I integration Maurycy Lara Yasmin, 22 Jahre Seit wann bist du in Deutschland? Ich bin hier geboren. Deine Wurzeln? Meine Eltern sind beide aus Syrien und seit 27 Jahren in Deutschland. Was machst Du zurzeit? Gerade fertig studiert (Orientalistik). Wo siehst Du Dich in 10 Jahren? Ich möchte meinen Weg gehen und gerne Karriere als Nach richtenredakteurin machen. Später will ich nicht ausschlie ßen, mit den angereicherten Erfahrungen vielleicht auch in die Politik zu gehen. Kannst Du Dir vorstellen, Deutschland zu verlassen? Tief im Inneren habe ich eine Sehnsucht, auch mal woanders zu leben. Wenn ich in arabischen Ländern zu Besuch bin, merke ich, wie viele Gemeinsamkeiten ich mit den Menschen dort teile. Genauso, wie in Deutschland meine syrischen Wur zeln ein bedeutender Teil von mir sind, wären mir im Ausland meine deutschen Wurzeln wichtig. Was hast Du am Wochenende vor? In meiner freien Zeit bin ich gerne draußen unterwegs und bei meiner Familie. Wann hast Du Dich mal ausgeschlossen gefühlt? Ein Schlüsselerlebnis, an das ich mich noch heute gut erinne re, war eine Geburtstagsfeier im Kindergarten. Ich durfte die gegrillten Schweinewürstel nicht essen, was mir zum ersten Mal das Gefühl vermittelt hat, ausgeschlossen zu werden. Hast Du ein Vorbild? Meine Mutter. Ich finde, sie hat alles richtig gemacht. Meine Geschwister und ich wurden zweisprachig erzogen. Das war nicht immer leicht, ich bin meiner Mutter sehr dankbar dafür. Karim Laura Melli, 17 Jahre Maurycy, 19 Jahre Seit wann bist Du in Deutschland? Seit 6 Monaten. Woher kommst Du? Ich komme aus Polen. Was machst Du zurzeit? Freiwilligendienst in der Evangelischen Versöhnungskirche in der KZ-Gedenkstätte Dachau. Wo siehst Du Dich in 10 Jahren? Ich bin nicht sicher, wie mein Leben in 10 Jahren aussehen wird. Ich freue mich jetzt erstmal, dass ich weiß, was ich in einem Jahr machen möchte. Ich habe in den letzten Monaten gemerkt, dass mir Deutschlernen großen Spaß macht. Daher habe ich mich entschlossen, nach dem Freiwilligendienst in Warschau Sprachen zu studieren. Was machst Du am Wochenende? Nächstes Wochenende fahre ich nach Leipzig und Dresden, um mir die Städte anzusehen und Freunde zu besuchen. Wann hast Du dich mal ausgeschlossen gefühlt? Seit ich in Deutschland bin, habe ich nur gute Erfahrungen gemacht und nette Leute getroffen. Ausgeschlossen habe ich mich hier noch nicht gefühlt. Hast Du ein Vorbild? Menschliche Vorbilder habe ich eigentlich keine. Aber Gott sehe ich als mein Vorbild. Von ihm kann ich sehr viel lernen. Yasmin Melli Aysha Seit wann bist du in Deutschland? Ich bin hier geboren. Deine Wurzeln? Meine Eltern sind auch beide aus Deutschland. Was machst Du zurzeit? Ich gehe in die 11. Klasse FOS und bin derzeit in einer Praktikumsphase. Wo siehst Du Dich in 10 Jahren? Irgendwo in der Sonne, viel reisend. Und am Ende meines Studiums. Ich bin noch nicht sicher, was ich studieren werde, vielleicht Politikwissenschaften oder Wirtschaftspsychologie. Kannst Du Dir vorstellen, Deutschland zu verlassen? Ich würde gerne in Deutschland bleiben. Auch wenn es einige Dinge gibt, mit denen ich hier nicht so einverstanden bin, gibt mir das Land ein Gefühl der Sicherheit. Meine ganze Familie ist hier, was für mich auch ein wichtiger Grund ist, hierzublei ben. Was machst Du nächstes Wochenende? Lernen, ich habe bald Prüfungen. Freitags gebe ich Hausauf gabenhilfe bei uns im Flüchtlingshelferkreis und am Samstag gibt es eine Spielgruppe für Flüchtlingskinder, bei der ich mit mache. Das macht großen Spaß. Wann hast Du dich mal ausgeschlossen gefühlt? Als ich letztes Jahr die Schule gewechselt habe und in die neue Klasse kam. Von außen in ein neues Umfeld zu kommen ist immer erstmal schwierig. Hast Du ein Vorbild? Mein Papa dafür, wie er sein Leben so meistert. Er strahlt eine große Zufriedenheit aus. Ich finde es toll, wenn man weiß, dass man den richtigen Beruf gefunden hat. Filmstars und so finde ich als Vorbilder nicht geeignet. Sie geben ja nur einen kleinen Teil ihrer Persönlichkeit preis. Max 11 GRÜEN 8 I integration freiheit heißt verantwortung Aveen Khorschied, eine in Bayern lebende Muslima aus dem Irak, schildert ihre Beobachtungen über das Frauenbild in ihrer Heimat. Mit Religion haben Diskriminierungen nach ihrer Auffassung wenig zu tun. Bildung spielt die Hauptrolle für Gleichberechtigung und gelungene Integration. Protokolliert von Ina Machold Ich bin im Irak geboren, als Kind kurdi scher Eltern und habe die ersten 23 Jahre meines Lebens in Bagdad verbracht. Wir lebten dort zusammen mit meinen beiden jüngeren Brüdern in einer großen familiä ren Gemeinschaft. Meine Mutter hat als Mathematiklehrerin ihr Geld verdient und mein Vater war In genieur. Er wollte so gern, dass ich – wahr scheinlich, weil ich die Erstgeborene war – in seine Fußstapfen trete und ebenfalls Ingenieurin werde. Diesen Wunsch habe ich ihm nicht ganz erfüllt: Ich bin Mathe matikerin geworden. Bildung ist Sicherheit Dass ich als Mädchen studiert habe, war damals ganz normal, zumindest in den Kreisen, in denen ich aufgewachsen bin. Mein Vater sagte immer: „Bildung ist Si cherheit. Wenn du einen guten Abschluss hast, hast du eine gute Basis für dein gan zes Leben. Dann kannst du entscheiden, ob und was du arbeiten willst.“ Meine Brüder und ich, und auch meine Tanten, wir alle mussten uns richtig an strengen in der Schule und haben Ärger gekriegt, wenn wir keine guten Noten ge schrieben haben. Das war richtig peinlich für sie, als ich mal einen schlechten Durch schnitt hatte. Die Menschen zum Lernen zu motivieren bedeutet, ihnen die Basis für ein gutes Le ben zu geben. Und das gilt für alle, egal ob Mann oder Frau, ob jung oder alt. Das 12 steht in der ersten Sure im Koran: Alle sol len lernen, Frauen und Männer. Und auch damit, ob die Familie auf dem Land oder in der Stadt lebt. Im Koran sind Männer und Frauen gleich – und im Leben? Gleichberechtigung hat nichts mit Religion zu tun Wer gläubig ist, also gemäßigt muslimisch, weiß genau, wie wichtig Bildung für Frau en ist. Diese Eltern schicken ihre Töchter zur Schule. In meiner Familie war Bildung immer eine wichtige Sache. Meine Mutter zum Beispiel lebte im Nordirak und reiste für ihr Studium vier Jahre lang nach Bag dad. Sie durfte das, weil alle wussten, dass das wichtig für sie ist. Auch alle meine Tanten, alle Frauen in meiner Familie, ha ben studiert oder eine gute Ausbildung gemacht. Aber in manchen Familien ist das anders. Da durften die Töchter nur in der gleichen Stadt studieren. Oder gar nicht. Manche sind sehr konservativ und erlau ben ihren Töchtern nur, die Mittelschule oder sogar nur die Grundschule zu be suchen. Diese konservativen Familien gibt es aber in allen Religionen. Ich bin mit Muslim*innen verschiedener Richtungen, Jesid*innen und Christ*innen aufgewachsen. Und überall gab es Fami lien, in denen die Töchter gleichberechtigt waren, und solche, in denen ihnen ein selbstbestimmtes Leben verweigert wurde. Das hat viel weniger mit der Religion als mit dem Bildungsstand der Eltern zu tun. Ich habe Fotos von meiner Mutter aus den 60er und 70er Jahren, da trägt sie einen Minirock und geht damit auf die Straße. Ganz normal. Das wäre heutzutage un denkbar. In Afghanistan und im Iran war das da mals genauso. Da hatte jeder Mensch seine freie Meinung und jeder konnte für sich wählen, wie er leben will. Die aktuelle Politik im Irak und in den meisten muslimischen Ländern hat das verändert. Die Religion wurde dafür miss braucht, eigene Vorstellungen von Recht und Unrecht, von Männlichkeit und Weiblichkeit gewaltsam durchzusetzen. Dadurch wurden die Rechte von Frauen immer mehr eingeschränkt und die Ge walt gegen Frauen hat zugenommen. Der Kampf für Frauenrechte Die Feministinnen im Irak richten ihre Arbeit vor allem auf drei Ziele: das Anhe ben des Heiratsalters, eine gute Schulund Ausbildung für ein selbstbestimmtes Leben und den Kampf gegen häusliche Gewalt. Es gibt im Irak weniger Gleichheit und keine Sicherheit für Frauen. Hier in Deutschland bekommen Frauen, die von Gewalt betroffen sind, Hilfe, um sich zu trennen und ein eigenes Leben auf zubauen. Im Irak gibt es viel weniger Stellen, an die sich eine Frau wenden kann. Es gibt zwar Gesetze, die Frauen Rechte zugestehen, aber ob die auch tatsächlich umgesetzt werden, hängt von der Politik ab und von den Familienoberhäuptern. Sie darf die Polizei rufen und ihren Mann anzeigen. Aber der Rest ist abhängig von ihrer Fami lie. Ich kenne eine Frau, die von den Män nern ihrer Familie gezwungen wurde, die Anzeige zurückzuziehen, weil die Männer gesagt haben: Wir regeln das unter uns. Die Familie steht über dem Gesetz Wir sind eine konservative Gesellschaft. Ich bin so aufgewachsen, dass wir uns an Regeln halten müssen. Zum Beispiel durf te man nicht unverheiratet zusammenle ben, das kennen die deutschen Frauen ja ähnlich von ihren Omas. Für das gegen seitige Kennenlernen gab es die Verlo bungszeit, in der sich das Paar treffen konnte. Natürlich unter Aufsicht beider Familien. Wenn ich so aufwachse und keine Bildung habe, weiß ich nicht, was meine Rechte und meine Grenzen sind. Und dann bin ich eben zufrieden mit der Vorstellung von einem Leben in Abhängigkeit. Dann ist al les, was wichtig ist, einen Mann zu finden, der mich heiratet und mich und die Kin der versorgt. Wenn ich aber eine Ausbildung habe, weiß ich, dass ich alleine leben kann, ohne von Männern abhängig zu sein. Hier in Deutschland gibt es viel mehr Möglichkei ten, als Frau ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Mit Freiheit überfordert Viele Menschen, die jetzt hierher flüchten, sind Diktaturen gewöhnt. Sie kennen nur ein Leben unter strengen staatlichen Re geln, in dem jeder tut, was ihm befohlen wird. Diese Menschen sind überfordert mit den Freiheiten, die sie hier haben. Sie wissen nicht, was es heißt, Freiheit verant wortlich zu leben. Deshalb ist die wichtigste Basis für eine ge lungene Integration die Bildung. Dazu ge hört natürlich als erstes, die deutsche Sprache zu lernen. Sprachkurse sollten verpflichtend sein. Denn wenn es freiwillig ist, verstehen die meisten Menschen nicht, dass das wichtig ist. Ganz besonders wich tig ist aber, dass die Frauen lernen, dass es mehr gibt als Heiraten, Kinder bekommen und vom Mann versorgt zu werden. Die Frauen müssen lernen, dass sie selbst ihr Leben gestalten können, dass sie Träu me haben und verwirklichen können. Und das geht nur mit einer guten Ausbil dung! Ein Leben in Sicherheit Ich habe zwischen 1996 und 2000 bei einer englischen NGO der Flüchtlingshilfe im Nordirak gearbeitet und wollte nach Eng land ziehen, um weiter für die Organisa tion t ätig zu sein. Deutschland war nur eine Zwischenstation für mich, das Flugzeug ist in München gelandet. Um nach England weiterzureisen, hätte ich einen Schleuser teuer bezahlen müssen, um in einem Ge müsetransporter illegal weiterzufahren. So habe ich mich schweren Herzens entschie den, in Deutschland zu bleiben. Und nun selbst Flüchtling zu sein. Mein Universitätsabschluss ist hier nicht anerkannt, ich arbeite für weniger Geld als viele andere in meinem Beruf und ich kann nicht mit meiner Großfamilie zu sammenleben. Wichtig ist aber: Ich bin in Sicherheit. Ich kann nachts schlafen ohne Angst zu haben, ermordet oder ver schleppt zu werden. Und ich ermögliche meinen Kindern ein neues Leben, ein Le ben in Sicherheit. Das ist alles, was zählt. 13 GRÜEN 8 I integration zusammenwachsen läuft bei uns Gelebte Integration zeigt sich an zahlreichen Orten in Bayern. Hier einige kreative Ideen und Initiativen, die ein Zusammenwachsen ermöglichen. Kopieren erwünscht. von Daniela Wüst ROTTAL-INN: Theaterprojekt – Mitten in Niederbayern Ausverkaufte Shows und eine so hohe Nachfrage, dass die bunte Truppe nun auf Tour geht: Beim Theaterstück „Mitten in Niederbayern“ werden Rollen zwischen Flüchtlingen und alteingesessenen Dorf bewohnerInnen getauscht, Vorurteile ab gebaut und vor allem viel gelacht. Möglich gemacht hat das interkulturelle Lehrstück der Fonds Soziokultur. Info: [email protected] NÜRNBERG: Treffpunkt Asylothek Als im Juli 2012 eine Asylbewerberunter kunft im Nürnberger Stadtteil Gostenhof eröffnet wurde, entstand die Idee, eine ehrenamtlich initiierte und betriebene Bib liothek im Asylbewerberheim Kohlenhof straße auf Spendenbasis – ohne jegliche städtische oder staatliche Zuschüsse – zu errichten, eben eine „Asylothek“. Das En gagement der Ehrenamtlichen erschöpft sich aber nicht in der Bibliotheksbetreu ung. Vielmehr werden an fünf Tagen in der Woche Betreuungsprogramme mit Sprachkursen, Schreib- und Lesekursen, kommunikationsfördernden Maßnahmen, Hausaufgabenbetreuung, Malen und Bas teln oder Sport angeboten. Mittlerweile hat das Projekt Schule gemacht und wei tere Standorte eröffnet. Info: www.asylothek.de BAYREUTH: Bewerbertage für jugendliche Flüchtlinge Viele Unternehmen in der Region Bay reuth sind bereit, Ankommende in die Betriebe aufzunehmen. Um Firmen und Jugendliche zusammenzubringen, orga nisierte der Fachkräftemanager der Stadt Bayreuth gemeinsam mit der Volkshoch schule und Stadtbibliothek Bewerbertage, an denen sich Unternehmen präsentier ten, Berufe portraitiert und Bewerbungs unterlagen erstellt wurden. Info: www.bayreuth.de/bewerbertagefuer-jugendliche-fluechtlinge INGOLSTADT: Mit Diskopaten richtig Spaß haben Die Diskothek Amadeus in der Ingolstäd ter Innenstadt hatte vor einem Jahr große Probleme. Von eingetretenen Toiletten türen über Belästigungen von Frauen bis hin zu versuchter Vergewaltigung lagen viele Beschuldigungen gegenüber Asylbe werbern vor, welche die Disko besuchten. Viele Nachtclubs reagieren in solchen Fäl len mit einem Einlassverbot für Flüchtlin ge, so auch zunächst das Amadeus. Dann wagte Clubbetreiber Martin Tomiak den Schritt nach vorn: Mit dem Projekt Dis kopate vermitteln Ingolstädter und schon länger hier lebende Flüchtlinge den Neu ankömmlingen bei einem gemeinsamen Diskobesuch die deutsche Weggehkultur. Keinerlei weitere Beschwerden seither. Flüchtlinge zahlen hier übrigens keinen Eintritt. Info: www.amadeus-allesrock.de MÜNCHEN: Schluss mit kulturellen Missverständnissen Kulturelle Missverständnisse, unter schiedliche Wertevorstellungen – viele Hindernisse können durch Aufklärung aus der Welt geräumt werden. Die Bro schüre „Willkommen in Deutschland“ des Münchner Forums für Islam soll Mi grantInnen helfen, die deutsche Kultur und gesellschaftliche Normen schneller zu verstehen. Da die Inhalte explizit isla misch begründet werden, kann die Hand reichung für muslimische AdressatInnen eine entscheidend höhere Akzeptanz er reichen. Die Broschüre liegt in Arabisch, Englisch und Deutsch vor und soll bald auch in weiteren Sprachen erhältlich sein. Info: www.islam-muenchen.de/ broschuere.html MÜNCHEN: Ein Teller Heimat Unter dem Motto „Kochen schafft Hei mat“ schafft das Projekt, das es mittlerwei le in mehreren Städten und Stadtvierteln gibt, Raum für interkulturelle Begegnun gen in der Küche und am Esstisch. In Erst aufnahmeeinrichtungen haben Geflüch tete längere Zeit keinen Zugang zu einer Küche. „Ein Teller Heimat“ ermöglicht es ihnen, gemeinsam mit ihren deutschen Nachbarn Leibspeisen aus ihrer Heimat zu kochen. Info z.B.: www.facebook.com/ eintellerheimat Noch mehr Ideen gibt’s auf gruene-bayern.de/fluechtlingshilfe 14 15 GRÜEN 8 I integrationt I INTERVIEW das grundgesetz ist eine quelle der identität Die Debatte, nach welchem Prinzip, welchen Regeln und Gesetzen die Integration der Flüchtlinge erfolgen soll, ist in vollem Gange. Welche Rolle spielen Normen in diesem Zusammenhang? Tine Stein: Normen kommt grundsätzlich eine handlungsorientierende Funktion zu. Sie erlauben uns, in Konfliktfällen auf der Basis übergeordneter Aspekte Entscheidungen darüber zu treffen, wie wir uns verhalten sollen. Aber wie stark der Gel tungsanspruch der Norm ist, das variiert: Wenn es sich um positives Recht handelt, dann gilt die Norm, weil die demokratisch legitimierten staat lichen Institutionen dies verbindlich festgelegt haben. Handelt es sich um moralische Normen, gleichviel, ob diese auf philosophische oder auf re ligiöse Lehren zurückgehen, dann binden sie die jenigen, die von der Bedeutung bzw. Geltung die ser Lehren überzeugt sind, im Gewissen – was die Triebfeder zu ihrer Befolgung ist, wie Kant gesagt hat. Handelt es sich um Normen der gesellschaft lichen Konvention, die etwa auf Tradition oder die ‚guten Sitten‘ zurückgehen, dann sind diese in dem Maße verbindlich, wie ihre Befolgung entweder als 16 selbstverständlich gilt oder aber soziale Sanktions potentiale wie Exklusionsmechanismen noch eine Einhaltung erwirken können. Allerdings wird in einer pluralen Gesellschaft der Bestand solcher all gemein geteilter sozialer Normen, die Konformität herstellen, kleiner. Wie lässt sich in einer komplexen und pluralen Gesellschaft wie der unseren dann überhaupt noch so etwas wie Gemeinschaft herstellen? Was haben denn ein konservativer Landwirt, der in traditioneller Ehe auf dem Land lebt und eine erfolgreiche Software-Entwicklerin, die global unterwegs ist und eine lose gleichgeschlechtliche Beziehung führt, eigentlich gemeinsam? Unterstellen wir nicht mehr Homogenität, als es tatsächlich gibt? Wenn ich richtig informiert bin, entscheiden sich auch in Bayern schon einige Bäuerinnen für GRÜN, sind geschieden oder auch nicht und die erfolgreiche lesbische Programmiererin hat wo möglich bei der letzten Bundestagswahl das ers Bei der Integration gibt es viele Baustellen, Fragen und Debatten. Brauchen wir zum Beispiel Verbindlichkeit? Spielt das Recht eine wichtige Rolle? Oder doch die Tradition? Aber fangen wir erst einmal bei der Begriffsklärung an. Dafür haben wir mit Tine Stein gesprochen. Sie ist Professorin für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Politische Theorie an der Uni Kiel und Mitglied im Aufsichtsrat der Heinrich Böll Stiftung. te Mal CSU gewählt, weil sie die Steuerpläne der GRÜNEN aus eigenem Interesse abgelehnt hat. Unsere Gesellschaft hat sich in den letzten Jahr zehnten sehr verändert – die Schrumpfung ge wohnter zugunsten heterogenerer Milieus ist ein wesentliches Kennzeichen davon. Damit ist aber nicht automatisch gesagt, dass die ökonomische und sozio-kulturelle Heterogenität sich vollstän dig in eine Pluralität der Einstellungen übersetzt. So genießt insbesondere das Grundgesetz als die Verfassung einer freiheitlichen und demokrati schen Ordnung eine hohe Wertschätzung, wie die Einstellungsforschung zeigt. Dem Grundgesetz ist in der Geschichte der (alten) Bundesrepublik die Funktion einer Identitätsquelle zugewachsen – verkürzt gesagt: Stolz empfindet eine Mehrheit der Deutschen nicht in Bezug auf ihr Vaterland, son dern auf ihre Verfassung. Das Konzept der Leitkultur ist bevormundend und anfällig für Rassismus, die multikulturelle Gesellschaft birgt die Gefahr von Werte-Relativismus. Ist die Idee des Verfassungspatriotismus, der nach Dolf Sternberger nicht nur ein vernünftiges Bekenntnis zur Verfassung, sondern auch deren aktive Unterstützung, sprich eine positive innere und äußere Haltung zur Verfassung fordert, ein gelungener Kompromiss aus universellen Werten und nationaler Identität? Mit Sternbergers Konzept des Verfassungspatrio tismus ist in der Tat ein Brückenschlag zwischen Vernunft und Gefühl, zwischen menschenrecht licher Universalität und nationaler Besonderheit möglich. Er wollte eben nicht an den in Deutsch land vorpolitisch besetzten Begriff der Nation an knüpfen, um eine Vorstellung von Verbundenheit innerhalb der Bürgerschaft auszudrücken – das war nach dem Zivilisationsbruch des Nationalso zialismus nicht möglich – , sondern er wollte an knüpfen an die republikanische Tradition, also an das wesentlich politisch, nicht kulturell-historisch verstandene Gemeinwesen, für das die Bürger schaft selbst verantwortlich ist. Der Parlamentari sche Rat hat im Grundgesetz die Basis für diesen Neuanfang gelegt: für eine demokratische Bürger 17 GRÜEN 8 I integrationt I INTERVIEW schaft, die sich ausdrücklich zu Menschenwürde und Menschenrechten „bekennt“, wie es wörtlich in Artikel 1 heißt. Ein Bekenntnis ist keine Aus sage der reinen Vernunft, sondern mit einer Hal tung verbunden: „Dafür stehen wir ein, das ist uns wichtig.“ Menschenrechte werden als universell anerkannt, womit die Verantwortung einer Bürgerschaft auch über die Staatsgrenzen hinausgeht. Gleichzeitig gibt es Verpflichtungen für den Staat, die aus den Bürgerrechten hervorgehen. Wie ist das Verhältnis von Menschen- und Bürgerrechten? Das ist jedenfalls ein Spannungsfeld: Auf der einen Seite das normative Bekenntnis zu der Universa lität von Menschenwürde und Menschenrechten, auf der anderen Seite die Ansprüche der Bürger schaft, die ja das Gemeinwesen trägt und ausmacht und die eben eine historisch situierte, kulturell ge prägte Gemeinschaft ist. Diese Gemeinschaft muss sich gegenwärtig politisch darüber verständigen, unter welchen Bedingungen sie Neuzugänge in die Bürgerschaft zulässt und unter welchen Be dingungen hier „Gastbürger“ leben können. Diese Bedingungen dürfen ein gewisses Untermaß nicht unterschreiten – das kann vor allem aus der Men schenwürde abgeleitet werden –, aber was das im Einzelnen heißt, darüber muss politisch gestritten werden. Politisch nicht einfach aber legitim ist die Frage, ob die kulturelle Prägung der Mehrheitsge sellschaft erkennbar bleiben soll. Der Begriff der Leitkultur sagt, etwas verkürzt, dass sich alle, die in unser Land kommen, an die geltenden Regeln zu halten haben. Was das kodifizierte Recht angeht, ist das unumstritten. Wie ist das mit den informellen Regeln? Die strittige Frage, welche Normen des sozialen Verhaltens und welche Einstellungen über Werte den MigrantInnen auferlegt werden sollen und können, ist komplex. Das kann nicht so einfach mit der – meines Erachtens berechtigten – Kritik am Versuch der CSU, die Leitkultur quasi wie eine neue Form des Artenschutzes in der Verfassung festzuschreiben, vom Tisch gefegt werden. Denn auch hier gilt es wieder, ein Spannungsfeld zu se hen: Auf der einen Seite schützt selbstverständlich die Gewissensfreiheit als Menschenrecht einen Migranten davor, ein positives Bekenntnis zur ho mosexuellen Partnerschaft ablegen zu müssen; auf der anderen Seite aber ist es gerade für diejenigen, die eine längere Bleibeperspektive haben, wichtig „Stolz empfindet eine Mehrheit der Deutschen nicht in Bezug auf ihr Vaterland, sondern auf ihre Verfassung.“ 18 „Ein Bekenntnis ist keine Aussage der reinen Vernunft, sondern mit einer Haltung verbunden: Dafür stehen wir ein, das ist uns wichtig.“ zu wissen, wo hinein sie sich integrieren sollen. Allein auf den Universalismus der Menschen rechte, der sich mit dem Verfassungspatriotismus verbindet, das Grundgesetz und die geltenden Gesetze zu verweisen, reicht da nicht aus. Es muss erklärt, beschrieben, begründet werden, dass sich mit einer auf die Menschenrechte gegründeten freiheitlichen und demokratischen Gesellschaft auch eine bestimmte Haltung verbindet, die sich in bestimmten sozialen Praktiken, in einem gleichen Respekt gegenüber jedem Menschen unabhängig von Geschlecht und sexueller Orientierung, in der Wertschätzung ziviler politischer Konflikte als Mittel der Problemlösung und vielem mehr zeigt. Gegenüber denen, die in der deutschen Gesell schaft als deutsche Staatsbürger geboren sind und die etwa als Anhänger von Pegida rassistisch den ken, die Demokratie verachten und Gewalt als ein Instrument ansehen, um ihren Ansichten Geltung zu schaffen, muss man die Mittel des Rechtsstaats einsetzen und zugleich eine harte politische Aus einandersetzung führen. Zusammenfassend: Die richtige Erkenntnis, dass Leitkultur auch als ein Kampfbegriff genutzt wird, darf nicht den Blick darauf verstellen, dass gerade eine freiheitliche Gesellschaft auf Haltungen in der Bürgerschaft und der insgesamt auf dem Staatsgebiet lebenden Bevölkerung angewiesen ist, die der Staat mit den Mitteln des Rechts nicht erzwingen kann. Leitkul tur kann also auch ganz anders verstanden wer den: als eine normativ auf das Grundgesetz aus gerichtete, in diesem Sinne leitende Kultur, die die Bürgerschaft also auf einer affirmativen Weise mit der Verfassung verbindet – so schließt Leitkultur an das Konzept des Verfassungspatriotismus an. Prof. Dr. Tine Stein, Universität Kiel 19 GRÜEN 8 I integration die macht der gefährlichen worte Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt (Ludwig Wittgenstein) von Alex Burger Ob ich vom halb vollen oder vom halb leeren Glas spreche, macht einen gewaltigen Unterschied. Einmal rufe ich eine optimistische Stimmung auf, einmal eine pessimistische – obwohl sich an den Fakten dadurch nichts ändert. Sprache ist nur sehr selten das Abbilden einer objektiven Wirklichkeit. In der Regel ist sie deren Interpretation. Und wie beim Beispiel des Glases erzeugt man damit gewollt oder ungewollt Stimmung. In politischen Debatten werden Begriffe gezielt gesetzt – und leider von den Medien oft unkritisch übernommen. Was die Begriffe tatsächlich meinen und bewirken, welche moralische Haltung sie spiegeln, ist manchmal offensichtlich, häufig aber auch verborgen. Begriffe machen Politik oder sie bereiten ihr den Weg. Das gilt besonders für den heftig diskutierten Bereich der Ein wanderung und der Integration. An einigen Beispielen, mit denen wir täglich konfrontiert sind, lässt sich dies gut zeigen. Der vermeint liche Klartext, der vorgegeben wird, ist oft nicht mehr so klar, wie er vorzugeben scheint. Besorgte BürgerInnen AsylkritikerIn Kritik ist in einer offenen Gesellschaft ein wichtiges Prinzip. Zustände, Ideen, Institutionen werden aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet, Argumente ab gewogen, um am Ende ein fundiertes, rationales Urteil zu erhalten. In Bezug auf das Thema Asyl würde das etwa bedeuten, sich mit den rechtlichen Voraussetzungen auseinander zu setzen, über das Für und Wider des Rechts auf Asyl zu streiten oder den Ablauf der Verfahren zu kritisieren. Denjenigen, die in den Medien als „Asyl kritiker“ bezeichnet werden, geht es um keinen einzigen dieser Aspekte. Ihnen geht es primär darum, Einwanderung zu verhindern, meistens aus fremdenfeindli chen Motiven. Islamophobie Eine Phobie ist ein Krankheitsbild. Wir kennen es in Form der Klaustrophobie (Platzangst), Arachnophobie (Angst vor Spinnen) oder auch als Aviophobie (Flu gangst). Wer unter einer Phobie leidet, ist also krank, sucht Heilung und verdient Hilfe und Unterstützung durch die Mit menschen. Islamophobie wäre in dieser Logik ein Krankheitsbild. Diejenigen, die davon betroffen sind, wären Opfer dieser Krankheit. Tatsächlich ist Islamophobie kein Krankheitsbild, sondern eine selbst gewählte Haltung; die Betroffenen sind keine Opfer, sondern vielmehr TäterIn nen. Das klingt nach Durchschnittsmenschen, die aufgrund bestimmter Entwicklungen – hier gemeint, aber nicht erwähnt die Einwanderung – Fragen und Sorgen ha ben. Sie suchen deshalb nach Antworten und erwarten sie von Politik und Regie rung. Tatsächlich handelt es sich meistens aber nur um Verharmlosung eines grund legend fremdenfeindlichen Denkens. Natürlich gibt es Anlass genug, sich wegen der großen Zahl der Flüchtlinge Gedan ken und Sorgen zu machen; aber die Überlegungen der „Besorgten Bürger“, die an den Pegida-Aufmärschen teilnehmen, kreisen nicht um Fragen der Aufnahme und Integration, sondern darum, wie sich Deutschland am effektivsten abschotten kann. Das Boot ist voll Das Boot ist voll slamophobie AsylkritikerIn AsylkritikerIn Besorgte Besorgte BürgerInnen BürgerInnen ChristlichChristlichAbendländisch Abendländisc Kultur Kultur Flüchtlingsanstur Flüchtlingsansturm Christlich-Abendländische Kultur Das klingt nach Aufklärung, Nächstenliebe und demokratischem Rechtsstaat. Tatsäch lich verbirgt sich dahinter eine Abwertung von Menschen, die nicht aus dem „abend ländischen“ oder „christlichen“ Kultur- kreis kommen oder diese Werte nicht tei len. Unterschlagen wird, dass die Werte der Aufklärung – sollten sie damit gemeint sein – im Widerstand gegen kirchliche In stitutionen erkämpft wurden. Außerdem haben sie universalistischen Charakter, d. h. sie sind unteilbar. Flüchtlingsansturm Ein Ansturm ist ursprünglich eine Be zeichnung aus dem Kriegswesen. Es be zeichnet einen schnellen und kraftvollen Angriff. Im übertragenen Sinn ist damit eine zielgerichtete Bewegung von sehr vielen Menschen gemeint. Wegen der ur sprünglichen Bedeutung wird bei „An sturm“ oft auch die Frage des „Standhal tens“ mitgedacht. Es geht also auch hier um etwas Bedrohliches, dem es eine ent schlossene Verteidigung entgegen zu set zen gilt, um die mögliche feindliche Ab sicht zu brechen. Im konkreten Fall, dem „Ansturm“ der Flüchtlinge, denen damit auch die Absicht zur Eroberung unterstellt wird. Leitkultur Das Boot ist voll Der Platz ist begrenzt. Wenn noch mehr Menschen in dieses Boot wollen, droht es zu sinken. Alle sind gefährdet und die klare Handlungsanweisung lautet: Kei nen mehr reinlassen. Der Staat und die Gesellschaft werden metaphorisch als physisches Gefäß mit objektiven Grenzen gesehen. Alles Zwischenmenschliche und Soziale ist ausgeblendet, „Rette sich wer kann“ ist die Devise. Tatsächlich sinkt aber nicht Deutschland, sondern es sinken die Flüchtlingsboote in der Ägäis. Und auch sind nicht die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland bedroht, sondern diejenigen, die sich auf der Flucht befinden. Die Me tapher wirkt übrigens auch dann, wenn sie negiert wird. Der Satz „Das Boot ist nie mals voll“ ist gut gemeint, aber Unsinn. Jedes Boot ist irgendwann voll. Aber unser Land ist eben kein Boot. Ein sehr schillernder Begriff, der doppelt problematisch ist. „Leit-“ kommt von leiten und hat mit Orientierung und mit Handlungsleitung zu tun. Es gibt die Leit planken, das Leitsystem, aber auch den Leitwolf. In allen Fällen wird die Auto nomie des Einzelnen, seine Freiheit, ein geschränkt. Das kann zum Schutz (Leit planken), zur Entlastung (Leitsystem), aber auch zur Entmündigung (Leitwolf) führen. In allen Fällen ist das „Leit-“ nicht Ergebnis einer Aushandlung, sondern be reits vorhanden. Durch die Verbindung mit „Kultur“ wird der Begriff noch schwieriger. Kultur ist eben kein klar akzentuierter Begriff, son dern eine Melange aus Sitte, Brauch, Überlieferung und eingeübten Verhal tensweisen. Mindestens dort, wo aus der Kultur über bestehende Gesetze hinaus verbindliche Regeln abgeleitet werden sol len, wird es problematisch; insbesondere, wenn die Begründung aus der Religion, dem Brauchtum, aus ethnischen oder na tionalen Kategorien kommt. Spätestens dann droht ein Konflikt mit den Freiheits rechten und dem Grundsatz der Gleich behandlung als Grundprinzipien des mo dernen, liberalen Verfassungsstaates. 21 GRÜEN 8 I integration wie man auf rassisten reagiert, ohne den verstand zu verlieren Im Zuge der immer stärkeren Polarisie rung beim Thema Integration der Ge flüchteten werden viele Grüne – ob Voll zeit-Politikerin, Netzaktive oder engagiertes Ortsverbands-Mitglied – mit Beleidigung und gewaltverherrlichenden Beschimp fungen in einer völlig neuen Dimension konfrontiert. Das Facebook-Profil wird mit aggressiven Hasskommentaren und Morddrohungen zugemüllt, das Mail-Postfach quillt über vor bitterbösen E-Mails, eigentlich fröh liche, grüne Veranstaltungen wie die Neujahrsempfänge in Rosenheim und Aschaffenburg werden von rechten De monstrantInnen gestört und belagert. Hier heißt es, einen kühlen Kopf zu be wahren und im besten Fall mit kreativen Aktionen und Ideen den Rechtspopulis tInnen und RassistInnen zu kontern. 22 Spende an Flüchtlinge für Hass-Kommentar Als im Juni 2015 das Facebook-Profil der Fraktionsvorsitzenden im Landtag Marga rete Bause mit rechtspopulistischen und fremdenfeindlichen Hasskommentaren überflutet wird, entscheidet sich die Politi kerin für eine ungewöhnliche Maßnahme. Für jeden derartigen Kommentar spendet sie fortan zwei Euro an Pro Asyl. In kür zester Zeit kamen so mehrere hundert Euro zusammen. Das Projekt „Rechts gegen Rechts“ greift zu ähnlichen Mitteln und etikettiert rechte Aufmärsche kurzerhand zu Spendenläu fen um. Ähnlich wie bei Benefiz-Spenden läufen werden hier pro gelaufenem Meter eines rechten Demonstranten Spenden von Unternehmen und Privatpersonen für Projekte gegen Rechts eingesammelt. So wird die fremdenfeindliche Demo zum unfreiwilligen Spendenlauf gegen Rechts extremismus. Einen anderen Weg ist Renate Künast ge gangen. Sie hat als Reaktion auf hunderte Hasskommentare nach einem TalkshowAuftritt ein eigenes „Hass-Tool“ auf ihrem Facebook-Profil zur Verfügung gestellt. Hier gibt Renate auf ironische Weise Tipps, wie Kommentatoren noch schneller und einfacher Hasskommentare schreiben können. Der Leitfaden für Hass-Kommentare ist aber nur die neueste kreative Idee von Re nate. Ihre Schlagfertigkeit ist schon seit ihrer Zeit als erste grüne Landwirtschafts ministerin Deutschlands gefragt, in der sie mit viel Gegenwind umgehen musste. Grund genug bei Renate nachzufragen und weitere Tipps einzuholen. 23 GRUEN7 I INTEGRATION „Wir müssen kreativ und beharrlich sein bei unserer Reaktion auf rechte Störer“ Renate Künast Hass-Tool Hallo, Sie wollen mir einen Hass-Kommentar schicken? Sich mal so richtig auskotzen? Vielleicht weil ich in einer Talkshow nicht das erzählt habe, was Sie hören wollten? Oder weil Ihnen meine Politik nicht passt? Oder weil Sie meine Frisur nicht mögen? Sie wissen aber noch nicht genau, was Sie schreiben sollen? Oder Sie haben eine ausgeprägte Rechtschreibschwäche? Dann gebe ich Ihnen hier ein paar Hinweise, die Ihnen das Schreiben und mir das Lesen erleichtern: 1. Grußformel Die meisten Hass-Kommentare kommen ganz ohne Anrede aus. Tun Sie sich keinen Zwang an. Manche schreiben auch „Frau Künast!“ und manche bringen den immer wieder neuen Witz und nennen mich „Frau Knast“. Alles ist möglich. Sie können mich aber jederzeit auch mit „Sehr geehrte Frau Künast“ anreden. 2. Inhalt Hauen Sie einen raus. Seien Sie kreativ. Hier ein paar Dinge, die fast noch niemand geschrieben hat: - „Pfui!!!!“, „Unerträglich!!!!!“, „Peinlich!!!!!!“, „Sie sollten sich schämen!!!!!!!“ - „Wenn ich die schon sehe!“ - „Früher habe ich mal die Grünen gewählt, spätestens jetzt sind sie unwählbar!“ - „Es wird bald Prozesse für Politiker (sic!) wie dich geben!“ - „Noch schlimmer als die Roth!“ - „Nie wieder Grün!“ - „Und das von meinen Steuergeldern!“ - „Dumm wie Brot!“ - „Zieh die Schuhe aus!“ - „Armes Deutschland“ - „Lern erst mal Türkisch!“ - „Volksverräterin!“ -„Wie war das noch mit Lincoln und Washington?“ Es gibt natürlich noch viel mehr Möglichkeiten. Schauen Sie sich die Kommentare Ihrer Vorgängerinnen und Vorgänger an. Kopieren Sie es einfach. Hauptsache, es geht Ihnen danach besser. 3. Stil Sparen Sie nicht an Ausrufezeichen. Schreiben Sie einzelne Worte, Sätze oder gleich den gesamten Kommentar ruhig in Versalien. 4. Soziales Sie werden bestimmt einige Likes bekommen. Je früher Sie posten, desto wahrscheinlicher ist das. Sehen Sie das als Bestätigung und liken Sie dafür die Hass-Kommentare der anderen. Solche Gruppenerfahrungen bei gleichzeitiger Einsamkeit daheim kann ich Ihnen dank meines facebook-Profils kostenlos anbieten. 24 Dein Hass-Tool auf Facebook hat in einigen Medien hohe Wellen geschlagen. Was hat Dich dazu veranlasst und wie sind die Reaktionen darauf? Renate Künast: Die rechten Hasskom mentatoren schicken uns AfD-Irrsinn oder versuchen Leute systematisch runter zu machen. Alles ohne Kinderstube, mit zahlreichen Rechtschreibfehlern, wüten der Großschreibung und vielen !!!!!!!! Da schreibt jemand, er könne meine Posts nicht ertragen, ist aber überfordert mit der simplen Aufgabe, mir einfach nicht zu fol gen. So etwas schreit doch nach Persiflage. Die Reaktionen für unseren „Leitfaden“ waren durchweg BEGEISTERT, zumal wir uns ja nicht auf deren Niveau herab bege ben!!!!! Dein Hass-Tool ist eine sehr überspitzte Reaktion auf die vielen Hasskommentare auf deiner Facebook-Seite. Was würdest Du Personen raten, die beispielsweise aufgrund ihres Engagements für Flüchtlinge im Internet und im echten Leben angegriffen und beleidigt werden? Wie sollte man auf Hasskommentare reagieren? Überspitzt ist gar nichts. Ich war noch zu rückhaltend. Hier heißt es, klare Kante zu zeigen. Strafanträge und -anzeigen stellen, wo es angemessen ist. Die lokale Politik, Polizei und Vereine auffordern, klar sicht bar zu sein und für Schutz zu sorgen. Sich gegenseitig unterstützen. Und Facebook muss endlich die „Hate Speech“-Leute sperren statt derer, die den Hass doku mentieren. Gerade in den letzten Wochen sind einige Veranstaltungen mit grünen SpitzenpolitikerInnen von rechten Populisten bedroht und gestört worden. In Deiner Zeit als Bundeslandwirtschaftsministerin hattest Du öfter harte Konflikte mit Landwirten auf offener Bühne auszufechten. Ist das vergleichbar und wie reagiert man auf Störer am besten? Also was jetzt passiert, ist damit nun wirk lich nicht zu vergleichen. Heute geht es ja in der Regel um Rechtsextreme und Ras sisten, die ihre Bühne bei anderen suchen oder bewusst Veranstaltungen sprengen wollen. Mal muss der Redner deren Vor gehen auseinandernehmen. Mal könnte der ganze Saal mit Sprechchören antwor ten. Wir müssen kreativ sein. Beharrlicher sind wir auf jeden Fall! Wie kann man mit Personen im privaten oder geschäftlichen Umfeld umgehen, die gezielt Ausländer beleidigen und Unwahrheiten verbreiten und dies auch oft auf einem sehr suggestiven Niveau tun, ohne zu deutlich zu werden? Es gibt dafür natürlich kein allgemeines Rezept. Aber wer es drauf hat, sollte die Debatte aufnehmen, hinterfragen, Belege fordern und den anderen auffordern, nicht suggestiv drum herum zu reden. Fordert sie auf, sich öffentlich zu beken nen zur Würde, zur Gleichheit aller Men schen. Und wenn sie etwas Rassistisches sagen, sollen wir es öffentlich so benen nen. Vor allem aber: Unterstützen wir uns gegenseitig! Was tun, wenn Nazis Veranstaltungen stören? Einige Tipps: www.gruene-bayern.de/ was-tun-wenn-nazisveranstaltungen-stoeren 25 GRÜEN 8 I integration wir schaffen das, inshallah von Hamun Tanin Hier im Paradies der voralpinen Berge stehe ich und blicke über die Täler hinter den Balkan auf ein Kind, schreiend, weinend. Der Tod lauert ihm auf, aber lässt es fliehen, nimmt es nicht mit, noch nicht. Der Tod in Kabul hat mich als Kind vor 24 Jahren ziehen lassen. So stehe ich heute als geflohener Bay er im Paradies, mit einer Narbe im Herzen und ei ner neuen Heimat. Was für ein schönes stolzes Leben die bayerischen Ureinwohner hier leben, umgeben von Seen, Wäl dern, Bergen, Schlössern. „Leben und leben lassen“ ist die Devise im Freistaat. Ein wunderbares Mit einander angefüllt mit Volkskultur, Heimatliebe und Seilschaften. Diese bayerische Chaoslandschaft fühlt sich an wie ein Gemälde des Unruhegeists Hieronymus Bosch. Doch bei aller Umtriebigkeit und Spießigkeit hat sich hier in Bayern eine alte, fast schon vergessene Lebensart erhalten können: Die Gemütlichkeit! Sich Zeit lassen und das zuträglich Behagliche bis zum letzten Schluck auskosten. Eine Manier, die nur allzu sympathisch und vertraut ist. Überhaupt erinnert mich so einiges an die alte Heimat. Drogen fürs Volk gibt‘s hier und dort, wer nun auf die Un terscheidung zwischen Opium und Bier besteht, zeigt Kleingeist. Volkskultur und Heimatliebe ste hen hoch im Kurs, Frauen sollen Haushalt und Kin der führen, der Mann seinen Mann stehen, man muss nur mitmachen, schon ist man daheim. Dieser Bavarian Way of Life ist schützenswert, auch wenn ihn keiner auf eine rote Liste schreibt. Wir 26 müssen unsere Leitkultur einzementieren, gegen Veränderung, gegen Entwicklung, gegen alles Neue. Die Verfassungsschrift muss geändert werden, da mit sich nichts mehr weiterentwickelt. Mia san mia und wollen genau so bleiben. Fangen wir also an mit dem Bekenntnis von Zuag roasten zur deutschen oder besser zur bayerischen Sprache. Ein Vorschlag für das Vokabelheft: Spezl wirtschaft und Hundling. Das müssten die Flücht linge ja ganz schnell verstehen mit ihrem kulturel len Hintergrund. Die Pflicht zur Pflege bayerischer Moralprinzipien müsste auch festgeschrieben wer den. Geldverdienen mit Modelbauautos und Ver wandtenbeschäftigung als Pflichtfach in allen Integ rationsklassen wäre ein guter Anfang. Auf Kurs gebracht werden müssen aber nicht nur frisch Angekommene. Ein kritischer Blick ins baye rische Kulturgut tut ebenfalls not. Am hinterhältigs ten ist der Angriff von König Ludwig II. auf das Abendland mit seiner verrückten Schwäche für die orientalische Lebensart. Der Maurische Kiosk mit seiner goldenen Kuppel und das Marokkanische Haus samt Minarett im Schlosspark Linderhof ge hören einfach nicht in unser schönes bayerisches Voralpenland. Und wo wir schon dabei sind, ein Chinesischer Turm im Englischen Garten, wo gibt’s denn sowas? Schaut hin, wo’s bröckelt, unser bayerisches Abend land, und schreit laut auf. Denn: Wir schaffen das – den Erhalt der bayerischen Leitkultur mein ich, Inshallah. Impressum Grüen – das Magazin von Bündnis 90 / Die Grünen in Bayern Herausgeber: Konzept und Gestaltung: Fotonachweis: Bündnis 90 / Die Grünen, Landesverband Bayern R. Botzenhardt | buxdesign istock: Titel, S. 4-5, S. 6-7, S. 25, S. 27 Sigi Hagl und Eike Hallitzky (Landesvorsitzende) www.buxdesign.de Ruth Botzenhardt: S. 4-5, S. 20, Daniela Wüst: S. 8-11 Sendlinger Str.47, 80331 München Satz: shutterstock: S. 23, 25, photocase: S.14 / 15 Tel: 089 / 21 15 97-0, Fax:-24 buxproduktion | München Anzeigen und Förderabos: www.gruene-bayern.de www.buxproduktion.de Christopher Reiter, Tel: 089 / 21 15 97-22 Redaktion: e-mail: [email protected] Daniela Wüst (verantwortlich), Alex Burger, Wir freuen uns über Ina Machold, Christopher Reiter, Thomas Rose, Rückmeldungen zum Heft: Hamun Tanin, Birgit Zipfel [email protected] 27 Mein Girokonto mag grünen Strom Gut zu wissen, dass mein Geld ausschließlich in sozial und ökologisch arbeitende Unternehmen investiert wird — von der Kita bis zum Solarpark. www. gls.de Filiale München, Bruderstr. 5a
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