zusaMMen wachsen

Das Magazin der bayerischen Grünen
8
zusammen
wachsen
Inshallah!
1
EDITORIAL
GRUEN7 I xxx
Willkommen in einem Land, das viele hunderttausend
Menschen in den letzten Monaten aufgenommen hat, die durch
Krieg und Verfolgung aus ihrer Heimat vertrieben wurden. Will­
kommen in einem Land, das vor großen Herausforderungen
steht. Herausforderungen der Integration und Herausforderun­
gen des Zusammenhalts in der Bevölkerung.
Die Landtagswahlen im März zeigten, dass sich immer mehr
Menschen abgehängt fühlen in unserer Gesellschaft, aber auch,
dass fremdenfeindliche und rassistische Einstellungen bis weit in
die Mittelschicht hinein verbreitet sind. Umso wichtiger ist es,
dass wir Haltung zeigen und mit klarer Kante gegen Rechts für unsere offene und lebens­
werte Gesellschaft kämpfen. Das sind wir unseren eigenen Werten ebenso schuldig wie
den vielen tausend Freiwilligen, die Tag für Tag humanitäre Ideale so wunderbar enga­
giert leben. Und wir können hier auf die Mehrheit in unserem Land bauen.
Wir müssen aber auch die Ängste und Sorgen vieler Bürgerinnen und Bürger ernstneh­
men und ehrliche Antworten geben auf das wachsende Gefühl der Unsicherheit. Wir
setzen auf eine Politik der Gerechtigkeit gegen die zunehmende soziale Spaltung. Soziale
Unsicherheit wird aber auch von rechten Politikern in unverantwortlicher Weise herbei­
geredet und geschürt. Ja, Ängste vor Neuem, vor Unbekanntem kennen wir alle. Doch
gerade weil es diese gefühlte Unsicherheit gibt, aber auch in Verantwortung für unsere
Geschichte, ist es zentrale Aufgabe von Politik, die diffusen Ängste gegenüber Schutz­
suchenden abzubauen.
In dieser Ausgabe unseres Themenmagazins GRÜEN lassen wir junge Menschen zu Wort
kommen, die in Bayern verwurzelt sind oder hier – vorübergehend oder dauerhaft – eine
Heimat gefunden haben. Wir gehen der Frage im Gespräch mit einer Politologin auf den
Grund, nach welchen Prinzipien und Regeln Integration von zugewanderten Menschen
erfolgen soll. Wir analysieren und entlarven einige Begriffe der aktuellen politischen De­
batte, die wir besser nicht verwenden sollten. Und Renate Künast gibt uns schließlich
Tipps, wie man auf Rassisten reagieren kann, ohne den Verstand zu verlieren.
Wir hoffen, dass dieses Heft seinen Teil dazu beiträgt, dass unsere Gesellschaft wieder ein
Stückchen mehr zusammenwächst und wir Grüne dieses Zusammenwachsen weiterhin
kraftvoll und mit klarem Kompass voranbringen.
Verstehen
ist einfach.
Wenn man einen Finanzpartner hat, der die Region
und ihre Menschen kennt.
Sprechen Sie mit uns.
Eike Hallitzky, Landesvorsitzender
inhalt
flucht & migration in zahlen 4
wer hat hier angst ? 6
junge menschen in bayern 8
freiheit heißt verantwortung 12
zusammenwachsen läuft bei uns 14
2
das grundgesetz ist eine
quelle der identität 16
jetzt reden wir mal klartext 20
wie man auf rassisten reagiert, ohne
den verstand zu verlieren 22
wir schaffen das – inshallah 26
impressum 27
GRÜEN 8 I integration
BeispielLeistungen
für eine alleinstehende
Asylbewerberin,
die seit sechs Monaten
in Deutschland ist:
143 Euro „Taschengeld“
(soziale Teilhabe)
216 Euro für Nahrung,
Kleidung, Hygiene
oder Sachleistungen
Gesundheitliche Versorgung
nur bei Schmerzen oder
akuter Erkrankung
Wohnsitz nicht frei wählbar
Asylbewerber I n: 7 m²
Einwohner I n: 42 m²
4
Zuzug 2015: 330.000
Fortzug 2015: 160.000
Schutzquote *
in Deutschland:
Schutzberechtigt
in Deutschland
sind Personen,
die fliehen vor:
Politischer Verfolgung,
Bürgerkrieg, gravierenden
Menschenrechtsverletzungen,
begründeter Furcht vor
Verfolgung, wegen
Rassendiskriminierung,
Religion, Nationalität,
politischer Überzeugung,
Zugehörigkeit zu einer
bestimmten sozialen Gruppe
Nicht schutzberechtigt
sind Personen,
die fliehen vor:
Durchschnittliche Wohnfläche
pro Person in Bayern:
AusländerInnen
in Bayern:
Armut, Hunger,
Umweltkatastrophen,
Verfolgung wegen
sexueller Orientierung
Zusammengetragen von Birgit Zipfel und Hamun Tanin, Quellen: OECD, Weltbank, UNHCR Global Trends, www.zukunftsministerium.bayern.de, mediendienst-integration.de, Mikrozensus 2011, BAMF,
Bayerisches Landesamt für Statistik, Antwort der Bundesregierung auf Kleine Anfrage der LINKEN vom 22.2.2016 (Drucksache 18/7625), * bereinigte Schutzquote laut Bundesregierung
flucht und migration
in zahlen
4. Quartal 2014: 49,4%
4. Quartal 2015: 74,7%
Hilfe gegen Elend
117 Milliarden Euro
Summe der offiziellen
Entwicklungshilfen
aller Mitgliedsländer der
Organisation für
wirtschaftliche
Zusammenarbeit und
Entwicklung (OECD)
350 Milliarden Euro
Summe der Überweisungen
von MigrantInnen weltweit
zurück in Entwicklungsund Schwellenländer (2014)
Hoffnung auf asyl (2015)
Menschen weltweit
auf der Flucht:
ca. 60 Millionen
(höchste Zahl seit
dem 2.Weltkrieg)
gestellte Asylanträge
in Deutschland: 441.899
gestellte Asylanträge
in Bayern: 67.639
5
GRÜEN 8 I integration
wer hat hier angst?
Im Sommer 1954 organisierte der Sozial­
psychologe Muzafer Sherif ein Ferienlager
für 22 Jungen. Er teilte die Teilnehmenden
nach dem Zufallsprinzip in zwei gleich
große Gruppen ein und gab den Gruppen
die Namen Adler und Klapperschlan­
gen. Eine Woche lang wussten die
beiden Gruppen nichts voneinan­
der und die Jungen innerhalb der
Gruppen wuchsen zusammen.
Dann lernten sich Adler und
Klapperschlangen bei einer Reihe
von Wettkampfspielen kennen, z. B.
Football, Baseball, und Tauziehen.
Von Beginn an beobachtete der Forscher
gewaltsame Rivalitäten zwischen den
Gruppen: Fahnen der Gegner wurden ver­brannt, Hütten geplündert und es brach
ein Kampf um das Essen aus, der einem
Aufstand glich. Ähnliche Szenen, wie sie
Dr. Sherif in den 1950er Jahren in seinem
berühmten Ferienlager-Experiment beob­
achtet hatte, sehen wir auch heute: Flücht­
lingsheime brennen, Menschen stehen
daneben und klatschen Beifall. Woher
kommt dieser Hass auf die Fremden, den
Muzafer Sherif innerhalb von nur einer
Woche in seinem Experiment erzeugen
konnte?
Die deutsche Kultur
„gehe den Bach runter“
Ist es die Angst um begrenzte Ressourcen,
um den Arbeitsplatz? Oder dass es zu eng
wird in Bayern und man keine Wohnung
6
mehr findet? Der Sozialpsychologe Ulrich
Wagner glaubt, dass hinter den öffentlich
geäußerten Befürchtungen gegenüber
Fremden mehr steckt als die bloße Angst
vor materiellem Verlust. Die Leute haben
den Eindruck, die deutsche Kultur „gehe
den Bach runter“. Sie begreifen Kultur
nicht als historischen Prozess, der einem
ständigen Wandel unterliegt, sondern als
Zustand, der fortwährend und immer
gleich bleibt. Und vor der unweigerlichen
Veränderung haben sie Angst.
Der Migrationsexperte Prof.
Dr. Klaus Bade prägte dafür den Begriff Kultur­
angst. Darunter ver­steht er die Angst vor
einer Gefährdung der
eigenen Wertvorstel­
lungen, der eigenen
Lebensart oder dem,
was man dafür hält. Die
Gefahr geht dabei von allem
aus, was einem fremd ist. Nicht nur
Geflüchtete, auch Obdachlose, Homose­
xuelle oder Conchita Wurst können diese
Angst auslösen.
Ob eine Angst berechtigt ist oder nicht,
spielt für die Empfindung kaum eine
Rolle. Ängste messen sich nicht daran, wie
groß eine Gefahr tatsächlich ist. Jeder, der
schon mal von einem Hochhaus herunter
gesehen hat, kennt das: Die Wahrschein­
lichkeit, plötzlich abzustürzen, ist gering.
Und dennoch hat man ein mulmiges Ge­
fühl. Irrationale Angst kann man nur zum
von Thomas Rose
Teil mit rationalen Argumenten abbauen.
Flüchtlinge nehmen uns kaum Arbeit
oder Wohnung weg. Erst recht nicht der
gut situierten Mittelschicht mit doppel­
tem Einkommen und zwei Monster-Autos
in der Garage. Diese Menschen müssen
sich um ihre wirtschaftliche Zukunft kei­
ne Sorgen machen und glauben dennoch,
dass kein Flüchtlingsheim in ihre Nach­
barschaft gehört.
Schon in den 1930ern beschäftigte sich
der
Sozialpsychologe
Erich
Fromm mit einer ähnlichen
Frage, wie wir sie uns heute
stellen: Warum akzeptie­
ren manche Menschen
antisemitische Ideen und
halten starr an Machtori­
entierung und Unterwür­
figkeit fest, während andere
hingegen fähig sind, fremde
Meinungen und Wertvorstellun­
gen auszuhalten und Vielfalt als Bereiche­
rung anzusehen? Theodor Adorno und
Else Frenkel-Brunswik entwickelten dar­
aus die Theorie der autoritären Persön­
lichkeit. Menschen bilden negative Hal­
tungen gegenüber Minderheiten aus,
wenn sie in autoritären Strukturen auf­
wachsen, zu blindem Gehorsam gegen­
über ihren Eltern erzogen und von einer
repressiven Gesellschaft zur Anpassung
gezwungen werden. Die angeborenen, ag­
gressiven Triebe, die jeder in sich
trägt, können sich dann in Gewalt
gegenüber Schwächeren entladen. Und
Geflüchtete sind immer die Schwächsten
im sozialen Gefüge.
Feindseligkeit gegenüber Fremden ist also
auch eine charakterliche Prägung und un­
abhängig von Stand und formaler Bil­
dung. Weil sie schon in der Kindheit
­geprägt wird, ist sie so hartnäckig. Der
Mainzer Politikwissenschaftler Jürgen
Winkler rät daher, fremdenfeindlichen
Einstellungen möglichst früh zu begeg­
nen. Wenn Kinder schon in der Schule
oder im Sportverein mit Menschen ande­
rer Herkunft in Kontakt kommen, baut
das Vorurteile ab.
Je mehr Ausländer da
sind, desto niedriger die
Fremdenfeindlichkeit
Eine ähnliche Schlussfolgerung lässt sich
auch aus der Mitte-Studie ableiten. Alle
zwei Jahre untersucht eine Forschergrup­
pe der Universität Leipzig, wie verbreitet
rechtsextreme Einstellungen in Deutsch­
land sind. Ein Ergebnis der Studie: auslän­
derfeindliche Einstellungen nehmen ab, je
höher der Ausländeranteil ist. In Mecklen­
burg-Vorpommern, Thüringen und Bran­
denburg bejahte etwa jeder dritte Befragte
ausländerfeindliche Aussagen. In BadenWürttemberg und Nordrhein-Westfalen
war es „nur“ jeder fünfte. Dabei liegt im
Westen der Ausländeranteil mit zehn Pro­
zent etwa fünf Mal so hoch wie im Osten.
Man kann auch sagen: Wer einen Auslän­
der zum Nachbarn hat, hasst ihn nicht.
Die erlebte Realität steht dem Hass entge­
gen. In der Angsttherapie nutzt man die­
sen Mechanismus erfolgreich, um Patien­
ten von ihrer Angst zu befreien. Der
Patient muss mit dem, was ihm Angst
macht, in Kontakt treten. Er lernt so, dass
seine Angst unbegründet ist und keine ne­
gativen Folgen entstehen. Wer Angst vor
Spinnen hat, muss sie sich über die Hand
laufen lassen. Wer Angst vor großen freien
Flächen hat, muss über große Plätze lau­
fen und lernen, dass ihm oder ihr nichts
passiert.
Ganz so einfach ist es bei Fremdenangst
allerdings nicht. Muzafer Sherif, der Wis­
senschaftler mit den 22 Jungen im Ferien­
lager, versuchte die Feindseligkeiten zwi­
schen den beiden Gruppen dadurch zu
reduzieren, dass er die jeweils andere
Gruppe möglichst positiv anpries und nur
gut über sie sprach. Ohne Erfolg. Dann
organisierte er gemeinsame Aktionen au­
ßerhalb der Wettkämpfe. Auch nur mit
mäßigem Erfolg. Die feindlichen Einstel­
lungen gingen erst merklich zurück, als
beide Gruppen eine Aufgabe
gestellt bekamen, die sie
nur gemeinsam lö­
sen konnten: Der
Campingbus mit
der eingebauten
Küche war bei
der Rückkehr
vom Einkauf ei­
nen Abhang hinuntergerutscht. Eine
Gruppe alleine konnte ihn nicht mehr auf
die Straße zurückziehen, dafür war die ge­
meinsame Kraft von allen Jungen nötig.
Erst nach diesem Erlebnis nahmen die
Feindseligkeiten allmählich ab.
Begegnungen
ermöglichen
Der Umgang mit fremden Menschen
hängt sehr von den Erfahrungen ab, die
man mit ihnen macht und ob es über­
haupt solche Erfahrungen gibt. Integrati­
on kann nur gelingen, wenn alteingesesse­
ne Menschen und Neuankömmlinge sich
gegenseitig als Normalität in ihrem Um­
feld erleben können und wenn Deutsche
Migrantinnen und Migranten nicht
nur dulden, sondern sich im Alltag
begegnen und dessen Herausfor­
derungen zusammen meistern.
Gemeinsame Erlebnisse schwei­
ßen zusammen. Das gilt für bei­
de Richtungen: Von Deutschen
gegenüber MigrantInnen und
andersherum von MigrantInnen
gegenüber Deutschen. Es ist Aufgabe
von Politik, Unternehmen, Medien,
Lehrerinnen und Erziehern, diese
Kontaktpunkte auf allen Ebenen
zu schaffen und zu fördern.
7
GRÜEN 8 I integration
junge menschen
in bayern
Ein Einblick in den Alltag und die Zukunftspläne
fünf junger Menschen, die in Bayern verwurzelt
sind oder hier – vorübergehend oder dauerhaft –
eine Heimat gefunden haben. von Daniela Wüst
Evans, 21 Jahre
Evans
Dimitri
8
Seit wann bist du in Deutschland?
Seit 4 Jahren.
Woher kommst Du?
Aus Uganda.
Was machst Du zurzeit?
Ich bin auf der Suche nach einem Ausbildungsplatz im Einzel­
handel in Augsburg und schreibe gerade sehr viele Bewerbun­
gen. Ich will unbedingt arbeiten, selbstbestimmt leben und
nicht vom Staat abhängig sein.
Wo siehst Du Dich in 10 Jahren? Ich wünsche mir, für immer hier in Deutschland zu leben.
Mein Traum ist, ein eigenes Modegeschäft zu eröffnen. Au­
ßerdem würde ich gerne ein paar Projektideen, die ich habe,
in den nächsten Jahren ausbauen und weiter umsetzen. Zum
Beispiel möchte ich Fahrräder sammeln, um sie neu ange­
kommenen Flüchtlingen zu schenken. Ich weiß, wie schwierig
es ist, wenn man nicht mobil ist.
Was machst Du am Wochenende?
Ich spiele Fußball im Verein und habe am Wochenende meis­
tens ein Spiel. Abends treffe ich mich mit Freunden.
Wann hast Du Dich mal
ausgeschlossen gefühlt?
Vor zwei Jahren habe ich einen Brief von der Ausländerbe­
hörde bekommen, in dem stand, dass ich abgeschoben wer­
den soll. Schon damals konnte ich sehr gut deutsch, weil ich
die Sprache von Anfang an Tag und Nacht gelernt habe. Ich
habe mir sehr viel Mühe gegeben. Deshalb fand ich es wirk­
lich unfair. Im Moment habe ich eine Duldung.
Hast Du ein Vorbild?
Der Brasilianer Ronaldinho ist mein Vorbild. Er ist nicht nur
ein großer Fußballer, sondern hat auch ein großes Herz. Er
kam aus der Armut und hat sehr viel Geld verdient. Er gibt es
aber nicht verschwenderisch für sich aus, sondern baut Schu­
len und spendet viel. Mein größter Traum ist es, ihm einmal
zu begegnen. Dafür werde ich auch nach Brasilien fahren,
wenn ich es mir leisten kann.
Xaver
Kleopatra
Sophie
Kleopatra, 26 Jahre
Emma
Ayasha
Luca
Seit wann bist du in Deutschland?
Seit 23 Jahren.
Woher kommst Du?
Geboren wurde ich in
Athen/Griechenland.
Was machst Du zurzeit?
Ich bin Studentin (Politikwissenschaften).
Wo siehst Du Dich in 10 Jahren? Ich hoffe, dass ich ein ausgeglichenes Leben haben werde, mit
einem anständigen Job und Glück im Privatleben.
Kannst Du Dir vorstellen,
Deutschland zu verlassen?
Ich weiß noch nicht, ob ich in Deutschland wohnen werde.
Auch andere Länder, insbesondere Griechenland kämen in
Frage. Es wäre schön, wenn die Menschen nicht nur aus Grie­
chenland davonlaufen, sondern auch wieder zurückkehren,
um gemeinsam an der Erneuerung des Landes zu arbeiten.
Ich bin mir sicher, dass es mindestens genauso schwierig ist,
ein Land zu verlassen, wie wieder dorthin zurückzukehren.
Was hast Du am Wochenende vor?
Lernen, Hausarbeiten schreiben. Ich stehe kurz vor den Dip­
lomprüfungen. Wenn’s hinhaut, noch ins Kino.
Wann hast Du Dich mal
ausgeschlossen gefühlt?
Ich fühle mich eigentlich nie ausgeschlossen.
Hast Du ein Vorbild?
Ein richtiges Vorbild nicht, aber meine Eltern waren für mich
immer die, die mir vorgelebt haben, was es heißt, ein anstän­
diger Mensch zu sein.
Mustaf
9
Vincent
GRÜEN 8 I integration
GRÜEN 8 I integration
Maurycy
Lara
Yasmin, 22 Jahre
Seit wann bist du in
Deutschland?
Ich bin hier geboren.
Deine Wurzeln?
Meine Eltern sind beide aus Syrien und seit 27 Jahren in
Deutschland.
Was machst Du zurzeit?
Gerade fertig studiert (Orientalistik).
Wo siehst Du Dich in 10 Jahren? Ich möchte meinen Weg gehen und gerne Karriere als Nach­
richtenredakteurin machen. Später will ich nicht ausschlie­
ßen, mit den angereicherten Erfahrungen vielleicht auch in
die Politik zu gehen.
Kannst Du Dir vorstellen,
Deutschland zu verlassen?
Tief im Inneren habe ich eine Sehnsucht, auch mal woanders
zu leben. Wenn ich in arabischen Ländern zu Besuch bin,
merke ich, wie viele Gemeinsamkeiten ich mit den Menschen
dort teile. Genauso, wie in Deutschland meine syrischen Wur­
zeln ein bedeutender Teil von mir sind, wären mir im Ausland
meine deutschen Wurzeln wichtig.
Was hast Du
am Wochenende vor?
In meiner freien Zeit bin ich gerne draußen unterwegs und
bei meiner Familie.
Wann hast Du Dich mal
ausgeschlossen gefühlt?
Ein Schlüsselerlebnis, an das ich mich noch heute gut erinne­
re, war eine Geburtstagsfeier im Kindergarten. Ich durfte die
gegrillten Schweinewürstel nicht essen, was mir zum ersten
Mal das Gefühl vermittelt hat, ausgeschlossen zu werden.
Hast Du ein Vorbild?
Meine Mutter. Ich finde, sie hat alles richtig gemacht. Meine
Geschwister und ich wurden zweisprachig erzogen. Das war
nicht immer leicht, ich bin meiner Mutter sehr dankbar dafür.
Karim
Laura
Melli, 17 Jahre
Maurycy, 19 Jahre
Seit wann bist Du in
Deutschland?
Seit 6 Monaten.
Woher kommst Du?
Ich komme aus Polen.
Was machst Du zurzeit?
Freiwilligendienst in der Evangelischen Versöhnungskirche in
der KZ-Gedenkstätte Dachau.
Wo siehst Du Dich in 10 Jahren? Ich bin nicht sicher, wie mein Leben in 10 Jahren aussehen
wird. Ich freue mich jetzt erstmal, dass ich weiß, was ich in
einem Jahr machen möchte. Ich habe in den letzten Monaten
gemerkt, dass mir Deutschlernen großen Spaß macht. Daher
habe ich mich entschlossen, nach dem Freiwilligendienst in
Warschau Sprachen zu studieren.
Was machst Du
am Wochenende?
Nächstes Wochenende fahre ich nach Leipzig und Dresden,
um mir die Städte anzusehen und Freunde zu besuchen.
Wann hast Du dich mal
ausgeschlossen gefühlt?
Seit ich in Deutschland bin, habe ich nur gute Erfahrungen
gemacht und nette Leute getroffen. Ausgeschlossen habe ich
mich hier noch nicht gefühlt.
Hast Du ein Vorbild?
Menschliche Vorbilder habe ich eigentlich keine. Aber Gott
sehe ich als mein Vorbild. Von ihm kann ich sehr viel lernen.
Yasmin
Melli
Aysha
Seit wann bist du in Deutschland?
Ich bin hier geboren.
Deine Wurzeln?
Meine Eltern sind auch beide aus Deutschland.
Was machst Du zurzeit?
Ich gehe in die 11. Klasse FOS und bin derzeit in einer
Praktikumsphase.
Wo siehst Du Dich in 10 Jahren? Irgendwo in der Sonne, viel reisend. Und am Ende meines
Studiums. Ich bin noch nicht sicher, was ich studieren werde,
vielleicht Politikwissenschaften oder Wirtschaftspsychologie.
Kannst Du Dir vorstellen,
Deutschland zu verlassen?
Ich würde gerne in Deutschland bleiben. Auch wenn es einige
Dinge gibt, mit denen ich hier nicht so einverstanden bin, gibt
mir das Land ein Gefühl der Sicherheit. Meine ganze Familie
ist hier, was für mich auch ein wichtiger Grund ist, hierzublei­
ben.
Was machst Du nächstes Wochenende?
Lernen, ich habe bald Prüfungen. Freitags gebe ich Hausauf­
gabenhilfe bei uns im Flüchtlingshelferkreis und am Samstag
gibt es eine Spielgruppe für Flüchtlingskinder, bei der ich mit­
mache. Das macht großen Spaß.
Wann hast Du dich mal ausgeschlossen gefühlt?
Als ich letztes Jahr die Schule gewechselt habe und in die neue
Klasse kam. Von außen in ein neues Umfeld zu kommen ist
immer erstmal schwierig.
Hast Du ein Vorbild?
Mein Papa dafür, wie er sein Leben so meistert. Er strahlt eine
große Zufriedenheit aus. Ich finde es toll, wenn man weiß,
dass man den richtigen Beruf gefunden hat. Filmstars und so
finde ich als Vorbilder nicht geeignet. Sie geben ja nur einen
kleinen Teil ihrer Persönlichkeit preis.
Max
11
GRÜEN 8 I integration
freiheit heißt
verantwortung
Aveen Khorschied, eine in Bayern lebende Muslima aus dem Irak, schildert ihre Beobachtungen über das Frauenbild in ihrer Heimat. Mit Religion haben Diskriminierungen
nach ihrer Auffassung wenig zu tun. Bildung spielt die Hauptrolle für Gleichberechtigung
und gelungene Integration. Protokolliert von Ina Machold
Ich bin im Irak geboren, als Kind kurdi­
scher Eltern und habe die ersten 23 Jahre
meines Lebens in Bagdad verbracht. Wir
lebten dort zusammen mit meinen beiden
jüngeren Brüdern in einer großen familiä­
ren Gemeinschaft.
Meine Mutter hat als Mathematiklehrerin
ihr Geld verdient und mein Vater war In­
genieur. Er wollte so gern, dass ich – wahr­
scheinlich, weil ich die Erstgeborene war –
in seine Fußstapfen trete und ebenfalls
Ingenieurin werde. Diesen Wunsch habe
ich ihm nicht ganz erfüllt: Ich bin Mathe­
matikerin geworden.
Bildung ist Sicherheit
Dass ich als Mädchen studiert habe, war
damals ganz normal, zumindest in den
Kreisen, in denen ich aufgewachsen bin.
Mein Vater sagte immer: „Bildung ist Si­
cherheit. Wenn du einen guten Abschluss
hast, hast du eine gute Basis für dein gan­
zes Leben. Dann kannst du entscheiden,
ob und was du arbeiten willst.“
Meine Brüder und ich, und auch meine
Tanten, wir alle mussten uns richtig an­
strengen in der Schule und haben Ärger
gekriegt, wenn wir keine guten Noten ge­
schrieben haben. Das war richtig peinlich
für sie, als ich mal einen schlechten Durch­
schnitt hatte.
Die Menschen zum Lernen zu motivieren
bedeutet, ihnen die Basis für ein gutes Le­
ben zu geben. Und das gilt für alle, egal ob
Mann oder Frau, ob jung oder alt. Das
12
steht in der ersten Sure im Koran: Alle sol­
len lernen, Frauen und Männer.
Und auch damit, ob die Familie auf dem
Land oder in der Stadt lebt.
Im Koran sind Männer
und Frauen gleich – ­
und im Leben?
Gleichberechtigung
hat nichts mit Religion
zu tun
Wer gläubig ist, also gemäßigt muslimisch,
weiß genau, wie wichtig Bildung für Frau­
en ist. Diese Eltern schicken ihre Töchter
zur Schule. In meiner Familie war Bildung
immer eine wichtige Sache. Meine Mutter
zum Beispiel lebte im Nordirak und reiste
für ihr Studium vier Jahre lang nach Bag­
dad. Sie durfte das, weil alle wussten, dass
das wichtig für sie ist. Auch alle meine
Tanten, alle Frauen in meiner Familie, ha­
ben studiert oder eine gute Ausbildung
gemacht.
Aber in manchen Familien ist das anders.
Da durften die Töchter nur in der gleichen
Stadt studieren. Oder gar nicht.
Manche sind sehr konservativ und erlau­
ben ihren Töchtern nur, die Mittelschule
oder sogar nur die Grundschule zu be­
suchen. Diese konservativen Familien gibt
es aber in allen Religionen.
Ich bin mit Muslim*innen verschiedener
Richtungen, Jesid*innen und Christ*innen
aufgewachsen. Und überall gab es Fami­
lien, in denen die Töchter gleichberechtigt
waren, und solche, in denen ihnen ein
selbstbestimmtes Leben verweigert wurde.
Das hat viel weniger mit der Religion als
mit dem Bildungsstand der Eltern zu tun.
Ich habe Fotos von meiner Mutter aus den
60er und 70er Jahren, da trägt sie einen
Minirock und geht damit auf die Straße.
Ganz normal. Das wäre heutzutage un­
denkbar.
In Afghanistan und im Iran war das da­
mals genauso. Da hatte jeder Mensch seine
freie Meinung und jeder konnte für sich
wählen, wie er leben will.
Die aktuelle Politik im Irak und in den
meisten muslimischen Ländern hat das
verändert. Die Religion wurde dafür miss­
braucht, eigene Vorstellungen von Recht
und Unrecht, von Männlichkeit und
Weiblichkeit gewaltsam durchzusetzen.
Dadurch wurden die Rechte von Frauen
immer mehr eingeschränkt und die Ge­
walt gegen Frauen hat zugenommen.
Der Kampf für
Frauenrechte
Die Feministinnen im Irak richten ihre
Arbeit vor allem auf drei Ziele: das Anhe­
ben des Heiratsalters, eine gute Schulund Ausbildung für ein selbstbestimmtes
Leben und den Kampf gegen häusliche
Gewalt.
Es gibt im Irak weniger Gleichheit und
keine Sicherheit für Frauen. Hier in
Deutschland bekommen Frauen, die von
Gewalt betroffen sind, Hilfe, um sich
zu trennen und ein eigenes Leben auf­
zubauen.
Im Irak gibt es viel weniger Stellen, an die
sich eine Frau wenden kann. Es gibt zwar
Gesetze, die Frauen Rechte zugestehen,
aber ob die auch tatsächlich umgesetzt
werden, hängt von der Politik ab und von
den Familienoberhäuptern. Sie darf die
Polizei rufen und ihren Mann anzeigen.
Aber der Rest ist abhängig von ihrer Fami­
lie. Ich kenne eine Frau, die von den Män­
nern ihrer Familie gezwungen wurde, die
Anzeige zurückzuziehen, weil die Männer
gesagt haben: Wir regeln das unter uns.
Die Familie steht
über dem Gesetz
Wir sind eine konservative Gesellschaft.
Ich bin so aufgewachsen, dass wir uns an
Regeln halten müssen. Zum Beispiel durf­
te man nicht unverheiratet zusammenle­
ben, das kennen die deutschen Frauen ja
ähnlich von ihren Omas. Für das gegen­
seitige Kennenlernen gab es die Verlo­
bungszeit, in der sich das Paar treffen
konnte. Natürlich unter Aufsicht beider
Familien.
Wenn ich so aufwachse und keine Bildung
habe, weiß ich nicht, was meine Rechte
und meine Grenzen sind. Und dann bin
ich eben zufrieden mit der Vorstellung von
einem Leben in Abhängigkeit. Dann ist al­
les, was wichtig ist, einen Mann zu finden,
der mich heiratet und mich und die Kin­
der versorgt.
Wenn ich aber eine Ausbildung habe, weiß
ich, dass ich alleine leben kann, ohne von
Männern abhängig zu sein. Hier in
Deutschland gibt es viel mehr Möglichkei­
ten, als Frau ein selbstbestimmtes Leben
zu führen.
Mit Freiheit überfordert
Viele Menschen, die jetzt hierher flüchten,
sind Diktaturen gewöhnt. Sie kennen nur
ein Leben unter strengen staatlichen Re­
geln, in dem jeder tut, was ihm befohlen
wird. Diese Menschen sind überfordert
mit den Freiheiten, die sie hier haben. Sie
wissen nicht, was es heißt, Freiheit verant­
wortlich zu leben.
Deshalb ist die wichtigste Basis für eine ge­
lungene Integration die Bildung. Dazu ge­
hört natürlich als erstes, die deutsche
Sprache zu lernen. Sprachkurse sollten
verpflichtend sein. Denn wenn es freiwillig
ist, verstehen die meisten Menschen nicht,
dass das wichtig ist. Ganz besonders wich­
tig ist aber, dass die Frauen lernen, dass es
mehr gibt als Heiraten, Kinder bekommen
und vom Mann versorgt zu werden.
Die Frauen müssen lernen, dass sie selbst
ihr Leben gestalten können, dass sie Träu­
me haben und verwirklichen können.
Und das geht nur mit einer guten Ausbil­
dung!
Ein Leben in Sicherheit
Ich habe zwischen 1996 und 2000 bei einer
eng­lischen NGO der Flüchtlingshilfe im
Nordirak gearbeitet und wollte nach Eng­
land ziehen, um weiter für die Organisa­
tion t­ ätig zu sein. Deutschland war nur eine
Zwischenstation für mich, das Flugzeug ist
in München gelandet. Um nach England
weiterzureisen, hätte ich einen Schleuser
teuer bezahlen müssen, um in einem Ge­
müsetransporter illegal weiterzufahren. So
habe ich mich schweren Herzens entschie­
den, in Deutschland zu bleiben. Und nun
selbst Flüchtling zu sein.
Mein Universitätsabschluss ist hier nicht
anerkannt, ich arbeite für ­weniger Geld als
viele andere in meinem Beruf und ich
kann nicht mit meiner Großfamilie zu­
sammenleben. Wichtig ist aber: Ich bin in
Sicherheit. Ich kann nachts schlafen ohne
Angst zu haben, ermordet oder ver­
schleppt zu werden. Und ich ermög­liche
meinen Kin­dern ein neues Leben, ein Le­
ben in Sicherheit. Das ist alles, was zählt.
13
GRÜEN 8 I integration
zusammenwachsen
läuft bei uns
Gelebte Integration zeigt sich an zahlreichen Orten in Bayern. Hier einige kreative Ideen
und Initiativen, die ein Zusammenwachsen ermöglichen. Kopieren erwünscht.
von Daniela Wüst
ROTTAL-INN:
Theaterprojekt –
Mitten in Niederbayern
Ausverkaufte Shows und eine so hohe
Nachfrage, dass die bunte Truppe nun auf
Tour geht: Beim Theaterstück „Mitten in
Niederbayern“ werden Rollen zwischen
Flüchtlingen und alteingesessenen Dorf­
bewohnerInnen getauscht, Vorurteile ab­
gebaut und vor allem viel gelacht. Möglich
gemacht hat das interkulturelle Lehrstück
der Fonds Soziokultur.
Info: [email protected]
NÜRNBERG:
Treffpunkt Asylothek
Als im Juli 2012 eine Asylbewerberunter­
kunft im Nürnberger Stadtteil Gostenhof
eröffnet wurde, entstand die Idee, eine
­ehrenamtlich initiierte und betriebene Bib­
liothek im Asylbewerberheim Kohlenhof­
straße auf Spendenbasis – ohne jegliche
städtische oder staatliche Zuschüsse – zu
errichten, eben eine „Asylothek“. Das En­
gagement der Ehrenamtlichen erschöpft
sich aber nicht in der Bibliotheksbetreu­
ung. Vielmehr werden an fünf Tagen in
der Woche Betreuungsprogramme mit
Sprachkursen, Schreib- und Lesekursen,
kommunikationsfördernden Maßnahmen,
Hausaufgabenbetreuung, Malen und Bas­
teln oder Sport angeboten. Mittlerweile
hat das Projekt Schule gemacht und wei­
tere Standorte eröffnet.
Info: www.asylothek.de
BAYREUTH:
Bewerbertage für
jugendliche Flüchtlinge
Viele Unternehmen in der Region Bay­
reuth sind bereit, Ankommende in die
Betriebe aufzunehmen. Um Firmen und
Jugendliche zusammenzubringen, orga­
nisierte der Fachkräftemanager der Stadt
Bayreuth gemeinsam mit der Volkshoch­
schule und Stadtbibliothek Bewerbertage,
an denen sich Unternehmen präsentier­
ten, Berufe portraitiert und Bewerbungs­
unterlagen erstellt wurden.
Info: www.bayreuth.de/bewerbertagefuer-jugendliche-fluechtlinge
INGOLSTADT:
Mit Diskopaten
richtig Spaß haben
Die Diskothek Amadeus in der Ingolstäd­
ter Innenstadt hatte vor einem Jahr große
Probleme. Von eingetretenen Toiletten­
türen über Belästigungen von Frauen bis
hin zu versuchter Vergewaltigung lagen
viele Beschuldigungen gegenüber Asylbe­
werbern vor, welche die Disko besuchten.
Viele Nachtclubs reagieren in solchen Fäl­
len mit einem Einlassverbot für Flüchtlin­
ge, so auch zunächst das Amadeus. Dann
wagte Clubbetreiber Martin Tomiak den
Schritt nach vorn: Mit dem Projekt Dis­
kopate vermitteln Ingolstädter und schon
länger hier lebende Flüchtlinge den Neu­
ankömmlingen bei einem gemeinsamen
Diskobesuch die deutsche Weggehkultur.
Keinerlei weitere Beschwerden seither.
Flüchtlinge zahlen hier übrigens keinen
Eintritt.
Info: www.amadeus-allesrock.de
MÜNCHEN:
Schluss mit kulturellen
Missverständnissen
Kulturelle Missverständnisse, unter­
schiedliche Wertevorstellungen – viele
Hindernisse können durch Aufklärung
aus der Welt geräumt werden. Die Bro­
schüre „Willkommen in Deutschland“
des Münchner Forums für Islam soll Mi­
grantInnen helfen, die deutsche Kultur
und gesellschaftliche Normen schneller
zu verstehen. Da die Inhalte explizit isla­
misch begründet werden, kann die Hand­
reichung für muslimische AdressatInnen
eine entscheidend höhere Akzeptanz er­
reichen. Die Broschüre liegt in Arabisch,
Englisch und Deutsch vor und soll bald
auch in weiteren Sprachen erhältlich sein.
Info: www.islam-muenchen.de/
broschuere.html
MÜNCHEN:
Ein Teller Heimat
Unter dem Motto „Kochen schafft Hei­
mat“ schafft das Projekt, das es mittlerwei­
le in mehreren Städten und Stadtvierteln
gibt, Raum für interkulturelle Begegnun­
gen in der Küche und am Esstisch. In Erst­
aufnahmeeinrichtungen haben Geflüch­
tete längere Zeit keinen Zugang zu einer
Küche. „Ein Teller Heimat“ ermöglicht
es ihnen, gemeinsam mit ihren deutschen
Nachbarn Leibspeisen aus ihrer Heimat zu
kochen. Info z.B.: www.facebook.com/
eintellerheimat
Noch mehr Ideen gibt’s auf gruene-bayern.de/fluechtlingshilfe
14
15
GRÜEN 8 I integrationt I INTERVIEW
das grundgesetz ist
eine quelle der identität
Die Debatte, nach welchem Prinzip,
welchen Regeln und Gesetzen die Integration der Flüchtlinge erfolgen soll,
ist in vollem Gange. Welche Rolle spielen Normen in diesem Zusammenhang?
Tine Stein: Normen kommt grundsätzlich eine
handlungsorientierende Funktion zu. Sie erlauben
uns, in Konfliktfällen auf der Basis übergeordneter
Aspekte Entscheidungen darüber zu treffen, wie
wir uns verhalten sollen. Aber wie stark der Gel­
tungsanspruch der Norm ist, das variiert: Wenn
es sich um positives Recht handelt, dann gilt die
Norm, weil die demokratisch legitimierten staat­
lichen Institutionen dies verbindlich festgelegt
haben. Handelt es sich um moralische Normen,
gleichviel, ob diese auf philosophische oder auf re­
ligiöse Lehren zurückgehen, dann binden sie die­
jenigen, die von der Bedeutung bzw. Geltung die­
ser Lehren überzeugt sind, im Gewissen – was die
Triebfeder zu ihrer Befolgung ist, wie Kant gesagt
hat. Handelt es sich um Normen der gesellschaft­
lichen Konvention, die etwa auf Tradition oder die
‚guten Sitten‘ zurückgehen, dann sind diese in dem
Maße verbindlich, wie ihre Befolgung entweder als
16
selbstverständlich gilt oder aber soziale Sanktions­
potentiale wie Exklusionsmechanismen noch eine
Einhaltung erwirken können. Allerdings wird in
einer pluralen Gesellschaft der Bestand solcher all­
gemein geteilter sozialer Normen, die Konformität
herstellen, kleiner.
Wie lässt sich in einer komplexen und
pluralen Gesellschaft wie der unseren
dann überhaupt noch so etwas wie Gemeinschaft herstellen? Was haben
denn ein konservativer Landwirt, der
in traditioneller Ehe auf dem Land lebt
und eine erfolgreiche Software-Entwicklerin, die global unterwegs ist und
eine lose gleichgeschlechtliche Beziehung führt, eigentlich gemeinsam? Unterstellen wir nicht mehr Homogenität,
als es tatsächlich gibt?
Wenn ich richtig informiert bin, entscheiden
sich auch in Bayern schon einige Bäuerinnen für
GRÜN, sind geschieden oder auch nicht und die
erfolgreiche lesbische Programmiererin hat wo­
möglich bei der letzten Bundestagswahl das ers­
Bei der Integration gibt es viele Baustellen, Fragen und Debatten. Brauchen wir zum
Beispiel Verbindlichkeit? Spielt das Recht eine wichtige Rolle? Oder doch die Tradition? Aber fangen wir erst einmal bei der Begriffsklärung an.
Dafür haben wir mit Tine Stein gesprochen. Sie ist Professorin für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Politische Theorie an der Uni Kiel und Mitglied im
­Aufsichtsrat der Heinrich Böll Stiftung.
te Mal CSU gewählt, weil sie die Steuerpläne der
GRÜNEN aus eigenem Interesse abgelehnt hat.
Unsere Gesellschaft hat sich in den letzten Jahr­
zehnten sehr verändert – die Schrumpfung ge­
wohnter zugunsten heterogenerer Milieus ist ein
wesentliches Kennzeichen davon. Damit ist aber
nicht automatisch gesagt, dass die ökonomische
und sozio-kulturelle Heterogenität sich vollstän­
dig in eine Pluralität der Einstellungen übersetzt.
So genießt insbesondere das Grundgesetz als die
Verfassung einer freiheitlichen und demokrati­
schen Ordnung eine hohe Wertschätzung, wie die
Einstellungsforschung zeigt. Dem Grundgesetz ist
in der Geschichte der (alten) Bundesrepublik die
Funktion einer Identitätsquelle zugewachsen –
verkürzt gesagt: Stolz empfindet eine Mehrheit der
Deutschen nicht in Bezug auf ihr Vaterland, son­
dern auf ihre Verfassung.
Das Konzept der Leitkultur ist bevormundend und anfällig für Rassismus,
die multikulturelle Gesellschaft birgt
die Gefahr von Werte-Relativismus. Ist
die Idee des Verfassungspatriotismus,
der nach Dolf Sternberger nicht nur
ein vernünftiges Bekenntnis zur Verfassung, sondern auch deren aktive
Unterstützung, sprich eine positive innere und äußere Haltung zur Verfassung fordert, ein gelungener Kompromiss aus universellen Werten und
nationaler Identität?
Mit Sternbergers Konzept des Verfassungspatrio­
tismus ist in der Tat ein Brückenschlag zwischen
Vernunft und Gefühl, zwischen menschenrecht­
licher Universalität und nationaler Besonderheit
möglich. Er wollte eben nicht an den in Deutsch­
land vorpolitisch besetzten Begriff der Nation an­
knüpfen, um eine Vorstellung von Verbundenheit
innerhalb der Bürgerschaft auszudrücken – das
war nach dem Zivilisationsbruch des Nationalso­
zialismus nicht möglich – , sondern er wollte an­
knüpfen an die republikanische Tradition, also an
das wesentlich politisch, nicht kulturell-historisch
verstandene Gemeinwesen, für das die Bürger­
schaft selbst verantwortlich ist. Der Parlamentari­
sche Rat hat im Grundgesetz die Basis für diesen
Neuanfang gelegt: für eine demokratische Bürger­
17
GRÜEN 8 I integrationt I INTERVIEW
schaft, die sich ausdrücklich zu Menschenwürde
und Menschenrechten „bekennt“, wie es wörtlich
in Artikel 1 heißt. Ein Bekenntnis ist keine Aus­
sage der reinen Vernunft, sondern mit einer Hal­
tung verbunden: „Dafür stehen wir ein, das ist uns
wichtig.“
Menschenrechte werden als universell
anerkannt, womit die Verantwortung
einer Bürgerschaft auch über die
Staatsgrenzen hinausgeht. Gleichzeitig gibt es Verpflichtungen für den
Staat, die aus den Bürgerrechten hervorgehen. Wie ist das Verhältnis von
Menschen- und Bürgerrechten?
Das ist jedenfalls ein Spannungsfeld: Auf der einen
Seite das normative Bekenntnis zu der Universa­
lität von Menschenwürde und Menschenrechten,
auf der anderen Seite die Ansprüche der Bürger­
schaft, die ja das Gemeinwesen trägt und ausmacht
und die eben eine historisch situierte, kulturell ge­
prägte Gemeinschaft ist. Diese Gemeinschaft muss
sich gegenwärtig politisch darüber verständigen,
unter welchen Bedingungen sie Neuzugänge in
die Bürgerschaft zulässt und unter welchen Be­
dingungen hier „Gastbürger“ leben können. Diese
Bedingungen dürfen ein gewisses Untermaß nicht
unterschreiten – das kann vor allem aus der Men­
schenwürde abgeleitet werden –, aber was das im
Einzelnen heißt, darüber muss politisch gestritten
werden. Politisch nicht einfach aber legitim ist die
Frage, ob die kulturelle Prägung der Mehrheitsge­
sellschaft erkennbar bleiben soll.
Der Begriff der Leitkultur sagt, etwas
verkürzt, dass sich alle, die in unser
Land kommen, an die geltenden Regeln zu halten haben. Was das kodifizierte Recht angeht, ist das unumstritten. Wie ist das mit den informellen
Regeln?
Die strittige Frage, welche Normen des sozialen
Verhaltens und welche Einstellungen über Werte
den MigrantInnen auferlegt werden sollen und
können, ist komplex. Das kann nicht so einfach
mit der – meines Erachtens berechtigten – Kritik
am Versuch der CSU, die Leitkultur quasi wie eine
neue Form des Artenschutzes in der Verfassung
festzuschreiben, vom Tisch gefegt werden. Denn
auch hier gilt es wieder, ein Spannungsfeld zu se­
hen: Auf der einen Seite schützt selbstverständlich
die Gewissensfreiheit als Menschenrecht einen
Migranten davor, ein positives Bekenntnis zur ho­
mosexuellen Partnerschaft ablegen zu müssen; auf
der anderen Seite aber ist es gerade für diejenigen,
die eine längere Bleibeperspektive haben, wichtig
„Stolz empfindet eine Mehrheit der
Deutschen nicht in Bezug auf ihr
Vaterland, sondern auf ihre Verfassung.“
18
„Ein Bekenntnis ist keine Aussage
der reinen Vernunft, sondern mit
einer Haltung verbunden:
Dafür stehen wir ein, das ist uns wichtig.“
zu wissen, wo hinein sie sich integrieren sollen.
Allein auf den Universalismus der Menschen­
­
rechte, der sich mit dem Verfassungspatriotismus
verbindet, das Grundgesetz und die geltenden
Gesetze zu verweisen, reicht da nicht aus. Es muss
erklärt, beschrieben, begründet werden, dass sich
mit einer auf die Menschenrechte gegründeten
freiheitlichen und demokratischen Gesellschaft
auch eine bestimmte Haltung verbindet, die sich in
bestimmten sozialen Praktiken, in einem gleichen
Respekt gegenüber jedem Menschen unabhängig
von Geschlecht und sexueller Orientierung, in
der Wertschätzung ziviler politischer Konflikte als
Mittel der Problemlösung und vielem mehr zeigt.
Gegenüber denen, die in der deutschen Gesell­
schaft als deutsche Staatsbürger geboren sind und
die etwa als Anhänger von Pegida rassistisch den­
ken, die Demokratie verachten und Gewalt als ein
Instrument ansehen, um ihren Ansichten Geltung
zu schaffen, muss man die Mittel des Rechtsstaats
einsetzen und zugleich eine harte politische Aus­
einandersetzung führen. Zusammenfassend: Die
richtige Erkenntnis, dass Leitkultur auch als ein
Kampfbegriff genutzt wird, darf nicht den Blick
darauf verstellen, dass gerade eine freiheitliche
Gesellschaft auf Haltungen in der Bürgerschaft
und der insgesamt auf dem Staatsgebiet lebenden
Bevölkerung angewiesen ist, die der Staat mit den
Mitteln des Rechts nicht erzwingen kann. Leitkul­
tur kann also auch ganz anders verstanden wer­
den: als eine normativ auf das Grundgesetz aus­
gerichtete, in diesem Sinne leitende Kultur, die die
Bürgerschaft also auf einer affirmativen Weise mit
der Verfassung verbindet – so schließt Leitkultur
an das Konzept des Verfassungspatriotismus an.
Prof. Dr. Tine Stein, Universität Kiel
19
GRÜEN 8 I integration
die macht der
gefährlichen worte
Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt (Ludwig Wittgenstein)
von Alex Burger
Ob ich vom halb vollen oder vom halb leeren Glas spreche, macht einen gewaltigen Unterschied. Einmal rufe ich eine optimistische
Stimmung auf, einmal eine pessimistische – obwohl sich an den Fakten dadurch nichts ändert. Sprache ist nur sehr selten das Abbilden
einer objektiven Wirklichkeit. In der Regel ist sie deren Interpretation. Und wie beim Beispiel des Glases erzeugt man damit gewollt oder
ungewollt Stimmung. In politischen Debatten werden Begriffe gezielt gesetzt – und leider von den Medien oft unkritisch übernommen.
Was die Begriffe tatsächlich meinen und bewirken, welche moralische Haltung sie spiegeln, ist manchmal offensichtlich, häufig aber
auch verborgen. Begriffe machen Politik oder sie bereiten ihr den Weg. Das gilt besonders für den heftig diskutierten Bereich der Ein­
wanderung und der Integration. An einigen Beispielen, mit denen wir täglich konfrontiert sind, lässt sich dies gut zeigen. Der vermeint­
liche Klartext, der vorgegeben wird, ist oft nicht mehr so klar, wie er vorzugeben scheint.
Besorgte
BürgerInnen
AsylkritikerIn
Kritik ist in einer offenen Gesellschaft
ein wichtiges Prinzip. Zustände, Ideen,
Institutionen werden aus verschiedenen
Perspektiven beleuchtet, Argumente ab­
gewogen, um am Ende ein fundiertes,
rationales Urteil zu erhalten. In Bezug auf
das Thema Asyl würde das etwa bedeuten,
sich mit den rechtlichen Voraussetzungen
auseinander zu setzen, über das Für und
Wider des Rechts auf Asyl zu streiten oder
den Ablauf der Verfahren zu kritisieren.
Denjenigen, die in den Medien als „Asyl­
kritiker“ bezeichnet werden, geht es um
keinen einzigen dieser Aspekte. Ihnen
geht es primär darum, Einwanderung zu
verhindern, meistens aus fremdenfeindli­
chen Motiven.
Islamophobie
Eine Phobie ist ein Krankheitsbild. Wir
kennen es in Form der Klaustrophobie
(Platzangst), Arachnophobie (Angst vor
Spinnen) oder auch als Aviophobie (Flu­
gangst). Wer unter einer Phobie leidet, ist
also krank, sucht Heilung und verdient
Hilfe und Unterstützung durch die Mit­
menschen. Islamophobie wäre in dieser
Logik ein Krankheitsbild. Diejenigen, die
davon betroffen sind, wären Opfer dieser
Krankheit. Tatsächlich ist Islamophobie
kein Krankheitsbild, sondern eine selbst
gewählte Haltung; die Betroffenen sind
keine Opfer, sondern vielmehr TäterIn­
nen.
Das klingt nach Durchschnittsmenschen,
die aufgrund bestimmter Entwicklungen
– hier gemeint, aber nicht erwähnt die
Einwanderung – Fragen und Sorgen ha­
ben. Sie suchen deshalb nach Antworten
und erwarten sie von Politik und Regie­
rung. Tatsächlich handelt es sich meistens
aber nur um Verharmlosung eines grund­
legend fremdenfeindlichen Denkens. Na­türlich gibt es Anlass genug, sich wegen
der großen Zahl der Flüchtlinge Gedan­
ken und Sorgen zu machen; aber die
Überlegungen der „Besorgten Bürger“, die
an den Pegida-Aufmärschen teilnehmen,
kreisen nicht um Fragen der Aufnahme
und Integration, sondern darum, wie sich
Deutschland am effektivsten abschotten
kann.
Das
Boot
ist
voll
Das Boot ist voll
slamophobie
AsylkritikerIn
AsylkritikerIn
Besorgte
Besorgte
BürgerInnen
BürgerInnen
ChristlichChristlichAbendländisch
Abendländisc
Kultur
Kultur
Flüchtlingsanstur
Flüchtlingsansturm
Christlich-Abendländische Kultur
Das klingt nach Aufklärung, Nächstenliebe
und demokratischem Rechtsstaat. Tatsäch­
lich verbirgt sich dahinter eine Abwertung
von Menschen, die nicht aus dem „abend­
ländischen“ oder „christlichen“ Kultur-­
kreis kommen oder diese Werte nicht tei­
len. Unterschlagen wird, dass die Werte
der Aufklärung – sollten sie damit gemeint
sein – im Widerstand gegen kirchliche In­
stitutionen erkämpft wurden. Außerdem
haben sie universalistischen Charakter,
d. h. sie sind unteilbar.
Flüchtlingsansturm
Ein Ansturm ist ursprünglich eine Be­
zeichnung aus dem Kriegswesen. Es be­
zeichnet einen schnellen und kraftvollen
Angriff. Im übertragenen Sinn ist damit
eine zielgerichtete Bewegung von sehr
vielen Menschen gemeint. Wegen der ur­
sprünglichen Bedeutung wird bei „An­
sturm“ oft auch die Frage des „Standhal­
tens“ mitgedacht. Es geht also auch hier
um etwas Bedrohliches, dem es eine ent­
schlossene Verteidigung entgegen zu set­
zen gilt, um die mögliche feindliche Ab­
sicht zu brechen. Im konkreten Fall, dem
„Ansturm“ der Flüchtlinge, denen damit
auch die Absicht zur Eroberung unterstellt
wird.
Leitkultur
Das Boot ist voll
Der Platz ist begrenzt. Wenn noch mehr
Menschen in dieses Boot wollen, droht
es zu sinken. Alle sind gefährdet und die
klare Handlungsanweisung lautet: Kei­
nen mehr reinlassen. Der Staat und die
Gesellschaft werden metaphorisch als
physisches Gefäß mit objektiven Grenzen
gesehen. Alles Zwischenmenschliche und
Soziale ist ausgeblendet, „Rette sich wer
kann“ ist die Devise. Tatsächlich sinkt aber
nicht Deutschland, sondern es sinken die
Flüchtlingsboote in der Ägäis. Und auch
sind nicht die Bürgerinnen und Bürger in
Deutschland bedroht, sondern diejenigen,
die sich auf der Flucht befinden. Die Me­
tapher wirkt übrigens auch dann, wenn sie
negiert wird. Der Satz „Das Boot ist nie­
mals voll“ ist gut gemeint, aber Unsinn.
Jedes Boot ist irgendwann voll. Aber unser
Land ist eben kein Boot.
Ein sehr schillernder Begriff, der doppelt
problematisch ist. „Leit-“ kommt von
leiten und hat mit Orientierung und mit
Handlungsleitung zu tun. Es gibt die Leit­
planken, das Leitsystem, aber auch den
Leitwolf. In allen Fällen wird die Auto­
nomie des Einzelnen, seine Freiheit, ein­
geschränkt. Das kann zum Schutz (Leit­
planken), zur Entlastung (Leitsystem),
aber auch zur Entmündigung (Leitwolf)
führen. In allen Fällen ist das „Leit-“ nicht
Ergebnis einer Aushandlung, sondern be­
reits vorhanden.
Durch die Verbindung mit „Kultur“ wird
der Begriff noch schwieriger. Kultur ist
eben kein klar akzentuierter Begriff, son­
dern eine Melange aus Sitte, Brauch,
Überlieferung und eingeübten Verhal­
tensweisen. Mindestens dort, wo aus der
Kultur über bestehende Gesetze hinaus
verbindliche Regeln abgeleitet werden sol­
len, wird es problematisch; insbesondere,
wenn die Begründung aus der Religion,
dem Brauchtum, aus ethnischen oder na­
tionalen Kategorien kommt. Spätestens
dann droht ein Konflikt mit den Freiheits­
rechten und dem Grundsatz der Gleich­
behandlung als Grundprinzipien des mo­
dernen, liberalen Verfassungsstaates.
21
GRÜEN 8 I integration
wie man auf rassisten
reagiert, ohne den
verstand zu verlieren
Im Zuge der immer stärkeren Polarisie­
rung beim Thema Integration der Ge­
flüchteten werden viele Grüne – ob Voll­
zeit-Politikerin, Netzaktive oder engagiertes
Ortsverbands-Mitglied – mit Beleidigung
und gewaltverherrlichenden Beschimp­
fungen in einer völlig neuen Dimension
konfrontiert.
Das Facebook-Profil wird mit aggressiven
Hasskommentaren und Morddrohungen
zugemüllt, das Mail-Postfach quillt über
vor bitterbösen E-Mails, eigentlich fröh­
liche, grüne Veranstaltungen wie die
Neujahrsempfänge in Rosenheim und
­
Aschaffenburg werden von rechten De­
monstrantInnen gestört und belagert.
Hier heißt es, einen kühlen Kopf zu be­
wahren und im besten Fall mit kreativen
Aktionen und Ideen den Rechtspopulis­
tInnen und RassistInnen zu kontern.
22
Spende an Flüchtlinge
für Hass-Kommentar
Als im Juni 2015 das Facebook-Profil der
Fraktionsvorsitzenden im Landtag Marga­
rete Bause mit rechtspopulistischen und
fremdenfeindlichen Hasskommentaren
überflutet wird, entscheidet sich die Politi­
kerin für eine ungewöhnliche Maßnahme.
Für jeden derartigen Kommentar spendet
sie fortan zwei Euro an Pro Asyl. In kür­
zester Zeit kamen so mehrere hundert
Euro zusammen.
Das Projekt „Rechts gegen Rechts“ greift
zu ähnlichen Mitteln und etikettiert rechte
Aufmärsche kurzerhand zu Spendenläu­
fen um. Ähnlich wie bei Benefiz-Spenden­
läufen werden hier pro gelaufenem Meter
eines rechten Demonstranten Spenden
von Unternehmen und Privatpersonen für
Projekte gegen Rechts eingesammelt. So
wird die fremdenfeindliche Demo zum
unfreiwilligen Spendenlauf gegen Rechts­
extremismus.
Einen anderen Weg ist Renate Künast ge­
gangen. Sie hat als Reaktion auf hunderte
Hasskommentare nach einem TalkshowAuftritt ein eigenes „Hass-Tool“ auf ihrem
Facebook-Profil zur Verfügung gestellt.
Hier gibt Renate auf ironische Weise
Tipps, wie Kommentatoren noch schneller
und einfacher Hasskommentare schreiben
können.
Der Leitfaden für Hass-Kommentare ist
aber nur die neueste kreative Idee von Re­
nate. Ihre Schlagfertigkeit ist schon seit
ihrer Zeit als erste grüne Landwirtschafts­
ministerin Deutschlands gefragt, in der sie
mit viel Gegenwind umgehen musste.
Grund genug bei Renate nachzufragen
und weitere Tipps einzuholen.
23
GRUEN7 I INTEGRATION
„Wir müssen kreativ und beharrlich sein
bei unserer Reaktion auf rechte Störer“
Renate Künast Hass-Tool
Hallo,
Sie wollen mir einen Hass-Kommentar schicken? Sich mal so richtig auskotzen? Vielleicht weil ich in einer Talkshow nicht das
erzählt habe, was Sie hören wollten? Oder weil Ihnen meine Politik nicht passt? Oder weil Sie meine Frisur nicht mögen?
Sie wissen aber noch nicht genau, was Sie schreiben sollen? Oder Sie haben eine ausgeprägte Rechtschreibschwäche? Dann gebe
ich Ihnen hier ein paar Hinweise, die Ihnen das Schreiben und mir das Lesen erleichtern:
1. Grußformel
Die meisten Hass-Kommentare kommen ganz ohne Anrede aus. Tun Sie sich keinen Zwang an. Manche schreiben auch „Frau
Künast!“ und manche bringen den immer wieder neuen Witz und nennen mich „Frau Knast“. Alles ist möglich. Sie können
mich aber jederzeit auch mit „Sehr geehrte Frau Künast“ anreden.
2. Inhalt
Hauen Sie einen raus. Seien Sie kreativ. Hier ein paar Dinge, die fast noch niemand geschrieben hat:
- „Pfui!!!!“, „Unerträglich!!!!!“, „Peinlich!!!!!!“, „Sie sollten sich schämen!!!!!!!“
- „Wenn ich die schon sehe!“
- „Früher habe ich mal die Grünen gewählt, spätestens jetzt sind sie unwählbar!“
- „Es wird bald Prozesse für Politiker (sic!) wie dich geben!“
- „Noch schlimmer als die Roth!“
- „Nie wieder Grün!“
- „Und das von meinen Steuergeldern!“
- „Dumm wie Brot!“
- „Zieh die Schuhe aus!“
- „Armes Deutschland“
- „Lern erst mal Türkisch!“
- „Volksverräterin!“
-„Wie war das noch mit Lincoln und Washington?“
Es gibt natürlich noch viel mehr Möglichkeiten. Schauen Sie sich die Kommentare Ihrer Vorgängerinnen und Vorgänger an.
Kopieren Sie es einfach. Hauptsache, es geht Ihnen danach besser.
3. Stil
Sparen Sie nicht an Ausrufezeichen. Schreiben Sie einzelne Worte, Sätze oder gleich den gesamten Kommentar ruhig
in Versalien.
4. Soziales
Sie werden bestimmt einige Likes bekommen. Je früher Sie posten, desto wahrscheinlicher ist das. Sehen Sie das als Bestätigung
und liken Sie dafür die Hass-Kommentare der anderen. Solche Gruppenerfahrungen bei gleichzeitiger Einsamkeit daheim kann
ich Ihnen dank meines facebook-Profils kostenlos anbieten.
24
Dein Hass-Tool auf Facebook hat
in einigen Medien hohe Wellen
geschlagen. Was hat Dich dazu
veranlasst und wie sind die Reaktionen darauf?
Renate Künast: Die rechten Hasskom­
mentatoren schicken uns AfD-Irrsinn
oder versuchen Leute systematisch runter
zu machen. Alles ohne Kinderstube, mit
zahlreichen Rechtschreibfehlern, wüten­
der Großschreibung und vielen !!!!!!!! Da
schreibt jemand, er könne meine Posts
nicht ertragen, ist aber überfordert mit der
simplen Aufgabe, mir einfach nicht zu fol­
gen. So etwas schreit doch nach Persiflage.
Die Reaktionen für unseren „Leitfaden“
waren durchweg BEGEISTERT, zumal wir
uns ja nicht auf deren Niveau herab bege­
ben!!!!! Dein Hass-Tool ist eine sehr
überspitzte Reaktion auf die vielen Hasskommentare auf deiner
Facebook-Seite. Was würdest Du
Personen raten, die beispielsweise aufgrund ihres Engagements für Flüchtlinge im Internet
und im echten Leben angegriffen und beleidigt werden? Wie
sollte man auf Hasskommentare
reagieren?
Überspitzt ist gar nichts. Ich war noch zu­
rückhaltend. Hier heißt es, klare Kante zu
zeigen. Strafanträge und -anzeigen stellen,
wo es angemessen ist. Die lokale Politik,
Polizei und Vereine auffordern, klar sicht­
bar zu sein und für Schutz zu sorgen. Sich
gegenseitig unterstützen. Und Facebook
muss endlich die „Hate Speech“-Leute
sperren statt derer, die den Hass doku­
mentieren. Gerade in den letzten Wochen
sind einige Veranstaltungen mit
grünen
SpitzenpolitikerInnen
von rechten Populisten bedroht
und gestört worden. In Deiner
Zeit als Bundeslandwirtschaftsministerin hattest Du öfter harte Konflikte mit Landwirten auf
offener Bühne auszufechten.
Ist das vergleichbar und wie reagiert man auf Störer am besten?
Also was jetzt passiert, ist damit nun wirk­
lich nicht zu vergleichen. Heute geht es ja
in der Regel um Rechtsextreme und Ras­
sisten, die ihre Bühne bei anderen suchen
oder bewusst Veranstaltungen sprengen
wollen. Mal muss der Redner deren Vor­
gehen auseinandernehmen. Mal könnte
der ganze Saal mit Sprechchören antwor­
ten. Wir müssen kreativ sein. Beharrlicher
sind wir auf jeden Fall! Wie kann man mit Personen im
privaten oder geschäftlichen
Umfeld umgehen, die gezielt
Ausländer beleidigen und Unwahrheiten verbreiten und dies
auch oft auf einem sehr suggestiven Niveau tun, ohne zu deutlich zu werden?
Es gibt dafür natürlich kein allgemeines
Rezept. Aber wer es drauf hat, sollte die
Debatte aufnehmen, hinterfragen, Belege
fordern und den anderen auffordern,
nicht suggestiv drum herum zu reden.
Fordert sie auf, sich öffentlich zu beken­
nen zur Würde, zur Gleichheit aller Men­
schen. Und wenn sie etwas Rassistisches
sagen, sollen wir es öffentlich so benen­
nen. Vor allem aber: Unterstützen wir uns
gegenseitig!
Was tun, wenn Nazis
Veranstaltungen stören?
Einige Tipps:
www.gruene-bayern.de/
was-tun-wenn-nazisveranstaltungen-stoeren
25
GRÜEN 8 I integration
wir schaffen das,
inshallah
von Hamun Tanin
Hier im Paradies der voralpinen Berge stehe ich und
blicke über die Täler hinter den Balkan auf ein
Kind, schreiend, weinend. Der Tod lauert ihm auf,
aber lässt es fliehen, nimmt es nicht mit, noch nicht.
Der Tod in Kabul hat mich als Kind vor 24 Jahren
ziehen lassen. So stehe ich heute als geflohener Bay­
er im Paradies, mit einer Narbe im Herzen und ei­
ner neuen Heimat.
Was für ein schönes stolzes Leben die bayerischen
Ureinwohner hier leben, umgeben von Seen, Wäl­
dern, Bergen, Schlössern. „Leben und leben lassen“
ist die Devise im Freistaat. Ein wunderbares Mit­
einander angefüllt mit Volkskultur, Heimatliebe
und Seilschaften.
Diese bayerische Chaoslandschaft fühlt sich an wie
ein Gemälde des Unruhegeists Hieronymus Bosch.
Doch bei aller Umtriebigkeit und Spießigkeit hat
sich hier in Bayern eine alte, fast schon vergessene
Lebensart erhalten können: Die Gemütlichkeit!
Sich Zeit lassen und das zuträglich Behagliche bis
zum letzten Schluck auskosten. Eine Manier, die
nur allzu sympathisch und vertraut ist. Überhaupt
erinnert mich so einiges an die alte Heimat. Drogen
fürs Volk gibt‘s hier und dort, wer nun auf die Un­
terscheidung zwischen Opium und Bier besteht,
zeigt Kleingeist. Volkskultur und Heimatliebe ste­
hen hoch im Kurs, Frauen sollen Haushalt und Kin­
der führen, der Mann seinen Mann stehen, man
muss nur mitmachen, schon ist man daheim.
Dieser Bavarian Way of Life ist schützenswert, auch
wenn ihn keiner auf eine rote Liste schreibt. Wir
26
müssen unsere Leitkultur einzementieren, gegen
Veränderung, gegen Entwicklung, gegen alles Neue.
Die Verfassungsschrift muss geändert werden, da­
mit sich nichts mehr weiterentwickelt. Mia san mia
und wollen genau so bleiben.
Fangen wir also an mit dem Bekenntnis von Zuag­
roasten zur deutschen oder besser zur bayerischen
Sprache. Ein Vorschlag für das Vokabelheft: Spezl­
wirtschaft und Hundling. Das müssten die Flücht­
linge ja ganz schnell verstehen mit ihrem kulturel­
len Hintergrund. Die Pflicht zur Pflege bayerischer
Moralprinzipien müsste auch festgeschrieben wer­
den. Geldverdienen mit Modelbauautos und Ver­
wandtenbeschäftigung als Pflichtfach in allen Integ­
rationsklassen wäre ein guter Anfang.
Auf Kurs gebracht werden müssen aber nicht nur
frisch Angekommene. Ein kritischer Blick ins baye­
rische Kulturgut tut ebenfalls not. Am hinterhältigs­
ten ist der Angriff von König Ludwig II. auf das
Abendland mit seiner verrückten Schwäche für die
orientalische Lebensart. Der Maurische Kiosk mit
seiner goldenen Kuppel und das Marokkanische
Haus samt Minarett im Schlosspark Linderhof ge­
hören einfach nicht in unser schönes bayerisches
Voralpenland. Und wo wir schon dabei sind, ein
Chinesischer Turm im Englischen Garten, wo gibt’s
denn sowas?
Schaut hin, wo’s bröckelt, unser bayerisches Abend­
land, und schreit laut auf. Denn: Wir schaffen das
– den Erhalt der bayerischen Leitkultur mein ich,
Inshallah.
Impressum
Grüen – das Magazin von Bündnis 90 / Die Grünen in Bayern
Herausgeber:
Konzept und Gestaltung:
Fotonachweis:
Bündnis 90 / Die Grünen, Landesverband Bayern
R. Botzenhardt | buxdesign
istock: Titel, S. 4-5, S. 6-7, S. 25, S. 27
Sigi Hagl und Eike Hallitzky (Landesvorsitzende)
www.buxdesign.de
Ruth Botzenhardt: S. 4-5, S. 20, Daniela Wüst: S. 8-11
Sendlinger Str.47, 80331 München
Satz:
shutterstock: S. 23, 25, photocase: S.14 / 15
Tel: 089 / 21 15 97-0, Fax:-24
buxproduktion | München
Anzeigen und Förderabos:
www.gruene-bayern.de
www.buxproduktion.de
Christopher Reiter, Tel: 089 / 21 15 97-22
Redaktion:
e-mail: [email protected]
Daniela Wüst (verantwortlich), Alex Burger,
Wir freuen uns über
Ina Machold, Christopher Reiter, Thomas Rose,
Rückmeldungen zum Heft:
Hamun Tanin, Birgit Zipfel
[email protected]
27
Mein Girokonto
mag grünen Strom
Gut zu wissen, dass mein Geld ausschließlich in sozial
und ökologisch arbeitende Unternehmen investiert
wird — von der Kita bis zum Solarpark.
www. gls.de
Filiale München, Bruderstr. 5a