Feuilleton

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Feuilleton
F R E I TAG , 1 5 . A P R I L 2 0 1 6 · N R . 8 8 · S E I T E 9
Unbe-Hagen
Finger weg von
unseren Helden
Woher wollen die
Deutschen wissen, was
typisch polnisch ist?
Wir wissen nur, was unter deutscher Besatzung
typisch war bei uns.
Von Łukasz Kamiński
WARSCHAU, im April
ergangenen Monat nahm ich an
der ergreifenden Eröffnungsfeier
eines Museums in Markowa, in
Südostpolen, teil. Es ist den Polen
gewidmet, die während der deutschen Okkupation Juden gerettet haben, und nach
der Familie Ulma benannt, die zusammen
mit den von ihr versteckten Juden im März
1944 von deutschen Polizisten ermordet
wurde. Über dieses Ereignis wurde in vielen Medien berichtet, Vertreter höchster
staatlicher Organe nahmen daran teil. Außer dem polnischen Präsidenten ergriff
das Wort auch die Botschafterin Israels,
eine aufgezeichnete Botschaft eines in Markowa geretteten Juden wurde präsentiert.
Die meisten Polen hörten zum ersten
Mal die Geschichte von Józef und Wiktoria
Ulma und ihren Kindern Stanisław, Basia,
Władzia, Franek, Antek, Marysia sowie
des siebten Kindes, dessen Geburt während der Exekution begann. Das älteste
war damals acht Jahre alt. Zum ersten Mal
wurden auch die Namen der Geretteten genannt: Saul Goldmann und seine vier Söhne (genannt die Szalls), Golda Grünfeld
und ihre Schwester Lea Didner mit ihrer
kleinen Tochter. In Dutzenden von Kommentaren wurde das Heldentum der Familie Ulma gewürdigt, man wies auf Werte
wie Nächstenliebe und Opferbereitschaft
hin. Man sprach über die Bedeutung der
Wahrheit und darüber, dass die Geschichte
des Holocausts Mahnung für die heutige sowie für zukünftige Generationen sein solle. Man erinnerte an die Tatsache, dass in
der Bibel im Haus der Ulmas die Geschichte vom barmherzigen Samariter angestrichen war, und man zitierte die Worte Christi: „Niemand hat größere Liebe denn die,
dass er sein Leben lässt für seine Freunde.“
Der Leser des Artikels von Joseph Croitoru („War die heldenhafte Familie Ulma
etwa typisch?“, F.A.Z. vom 6. April) konnte hingegen erfahren, dass wir es in Wirklichkeit mit einer Parteiveranstaltung der
neuen polnischen Regierung zu tun hatten, die „eine historische Debatte entfacht“ habe. Entgegen den Behauptungen
des Autors wurde die Fertigstellung des
Museums nicht durch das Ergebnis der
letzten Wahlen beschleunigt, sondern
durch eine Entscheidung der Kulturministerin der vorherigen Regierung, die der Initiative finanzielle und organisatorische
Unterstützung angedeihen ließ.
Ich habe die Kommentare in Presse und
Internet aufmerksam verfolgt, konnte jedoch keine „Entfachung“ der seit Jahren
anhaltenden Debatte über die polnisch-jüdischen Beziehungen während des Krieges
entdecken. Es gibt viele Fragen, die das
heutige Polen spalten; aber mit Sicherheit
gehört dazu nicht das Bedürfnis, an die Helden zu erinnern, die Juden gerettet haben.
Die in der Überschrift des Artikels von
Croitoru enthaltene Frage kann man entweder als absurd oder als rhetorisch betrachten. Es ist offensichtlich, dass die Haltung der Ulmas, die für die Rettung von Juden ihr Leben ließen, nicht typisch war.
Heroische Haltungen sind nie typisch!
Ebenso wenig war auch die Tätigkeit Irena Sendlers typisch, die zweieinhalbtausend jüdische Kinder vor den deutschen
Mördern rettete, indem sie sie hauptsächlich in polnischen Familien und katholischen Klöstern unterbrachte. Ebenfalls
nicht typisch war das Schicksal des Kuriers der polnischen Untergrundregierung
Jan Karski, der die Tragödie der polnischen Juden 1943 unter anderem Präsident Roosevelt darlegte, was leider keine
wirkliche Reaktion auslöste.
Die Haltung der Ulmas und Tausender
ähnlicher Familien war nicht typisch, wie
man auch die Haltung derer nicht als typisch betrachten kann, die versteckte Juden und ihnen helfende Polen erpressten
und den Deutschen auslieferten. Auf diese
Tat stand nach dem Recht des polnischen
Untergrundstaats seit 1943 die Todesstrafe. Dieses Urteil vollstreckte der polnische
Untergrund auch an dem Polizisten, der
die Ulmas denunziert hatte.
Das Museum in Markowa ist nicht ins
Leben gerufen worden, um zu suggerieren, die Haltung der Ulmas sei typisch gewesen. Ganz im Gegenteil – es soll darauf
hinweisen, welche Ausnahme ihr Opfer
darstellte, unter anderem auch, um die Ulmas und ähnlich handelnde Menschen als
Vorbild für unsere Zeitgenossen und zukünftige Generationen zu zeigen. Ich bin
überzeugt davon, dass der Besuch des Museums für diejenigen, die es aufsuchen, unabhängig von ihrer Nationalität vor allem
grundlegende Fragen über die Natur des
Menschen und über das Wesen von Gut
und Böse aufwerfen wird.
Typisch war im von den Deutschen besetzten Polen etwas anderes. Schon in den
ersten Wochen wurden Massenexekutionen typisch, vor allem an den Vertretern
der polnischen Eliten. Im Februar 1940
V
sagte Generalgouverneur Hans Frank in
einem Interview mit einer deutschen Zeitung: „In Prag waren große rote Plakate angeschlagen, auf denen zu lesen war, dass
heute sieben Tschechen erschossen worden sind. Da sagte ich mir: Wenn ich für je
sieben erschossene Polen ein Plakat aushängen lassen wollte, dann würden die
Wälder Polens nicht ausreichen, das Papier herzustellen für solche Plakate.“
Typisch war in den dem Dritten Reich
einverleibten Gebieten die Aussiedlung der
polnischen Bevölkerung, die mehr als
800 000 Personen betraf. Typisch waren
Razzien auf den Straßen, von denen aus die
Festgenommenen ins Gefängnis oder ins
Konzentrationslager kamen und im besten
Fall zur Zwangsarbeit geschickt wurden. Typisch war die Zerstörung von Dörfern, bei
denen die Häuser abgebrannt und die Bewohner ermordet wurden. In der Gegend
von Zamość wurde nicht nur die Aussiedlung der Polen typisch, sondern auch der
Raub polnischer Kinder zum Zweck der
Germanisierung. Typisch waren die Zerstörung des gesamten Bildungssystems, Raub
und Vernichtung kultureller Werke, die
wirtschaftliche Ausbeutung des Landes.
Und typisch war schließlich auch die Bestrafung derer, die den Juden halfen, für die die
Deutschen die komplette Ausrottung vorgesehen hatten, wobei sie sich als Ort für die
„Endlösung“ die polnische Erde ausgesucht
hatten. Nach den Anordnungen der Besatzungsmacht stand auf die Unterstützung
von Juden durch Polen die Todesstrafe.
All diese Phänomene waren typisch,
weil sie nach den Richtlinien Hitlers ausgeführt wurden. Noch vor dem Überfall auf
Polen kündigte er den auf dem Obersalzberg versammelten Generälen an, das Ziel
der Invasion sei nicht „das Erreichen einer
bestimmten Linie“, sondern „die physische Vernichtung des Gegners“, und er erklärte, er habe, vorläufig erst im Osten, Totenkopfverbände rekrutiert und befohlen,
ohne jedes Mitleid Männer, Frauen und
Kinder polnischer Herkunft und polnischer Sprache zu töten, da nur auf diese
Art und Weise der Lebensraum erobert
werden könne, den die Deutschen bräuchten. Dass die Polen Opfer der deutschen
(und auch der sowjetischen) Besatzung waren, ist eine historische Tatsache. Und es
sind keine besonderen Untersuchungen nötig, um „die polnische Opferrolle zu zementieren“, wie in dem erwähnten Artikel ein
Historiker suggeriert. Die Leidensgeschichte der Polen schmälert nicht den Holocaust und das Leiden der Juden.
Das Institut für Nationales Gedenken
(IPN) und viele andere Institutionen in Polen untersuchen die Schicksale der Polen,
die Juden gerettet haben, nicht um irgendeinen ideologischen Bedarf zu decken. Wir
sind der Meinung, dass dies unsere grundlegende Verpflichtung ist gegenüber den
Helden, die ihr Leben riskiert und es daher
verdient haben, dass ihre Namen im Gedächtnis der Nachfahren erhalten bleiben.
Die Polen sind stolz auf ihre Geschichte, darauf, dass sie sich als Erste Hitler entgegengestellt und bis zum letzten Kriegstag gegen die Deutschen gekämpft haben,
was enorme Opfer kostete. Wir erinnern
uns daran, dass wir als Einzige im besetzten Europa einen Untergrundstaat geschaffen haben. Er verfügte nicht nur über
militärische Strukturen, sondern auch
über eine zivile Verwaltung, der auch der
Rat für die Unterstützung der Juden, die
Źegota, unterstellt war.
as heißt nicht, dass keine Diskussion über die schwierigen Aspekte dieser Zeit geführt wird,
vor allem über die polnisch-jüdischen Beziehungen. Diese Diskussion
wurde erst nach dem Fall des kommunistischen Systems möglich. Leider wird sie
immer mehr von Radikalen dominiert,
was einen echten Dialog erschwert. Die
Erinnerung an die Polen, die Juden retteten, macht die Beispiele von Verrat und
sogar Verbrechen nicht ungeschehen, genau wie umgekehrt das schändliche Verhalten mancher Polen das Heldentum anderer nicht ungeschehen macht. Die Behauptung, man hätte mehr Juden retten
können, ist ebenso richtig wie diejenige,
die darauf hinweist, dass man von niemandem verlangen kann, das Leben der eigenen Familie zu riskieren. Diese Art der
Diskussion trägt nicht nur wenig dazu
bei, die Vergangenheit zu verstehen, sondern sie entfernt uns auch von dem, was
in dieser Debatte das Wichtigste ist: die
fundamentalen Fragen nach dem Verhalten der Menschen in schwerster Zeit.
Es gibt in Polen Streit darüber, wie viele Polen während des Krieges sich für die
Hilfe für Juden engagiert haben. Dieser
Streit rührt daher, dass während der Besatzung niemand solche Statistiken geführt hat und dieses Thema danach viele
Jahre lang nicht untersucht wurde. Unabhängig von dieser Diskussion, ist jedoch
eines sicher: Es waren entschieden mehr
als die Mitglieder der deutschen Widerstandsbewegung gegen Hitler, über deren
Geschichte man in vielen Museen und Gedenkstätten etwas erfahren kann. Die polnischen Helden, die das eigene Leben
aufs Spiel gesetzt haben, um ihre Nächsten zu retten, haben es verdient, dass man
an sie erinnert. Statt den Sinn des ihnen
gewidmeten Museums in Frage zu stellen,
sollte man lieber darüber nachdenken,
warum es erst so spät entstanden ist.
D
Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall.
Łukasz Kamiński ist Präsident des Instituts für
Nationales Gedenken in Warschau.
findet sich immer. So
hieß es bisher geradezu floskelhaft,
Iwennrgendeiner
eine Kommune ihren Kunsthäu-
Der Mörder im Kopf des Mörders: Samuel Finzi als Peter Kürten, überblendet mit Peter Lorres Monolog aus „M“
Fotos Belle Epoque
Das Geheimnis der Browning
Gordian Maugg erzählt die private Geschichte eines Filmklassikers: „Fritz Lang“
Die beste Anekdote über die Entstehung
des Kinoklassikers „M – eine Stadt sucht
einen Mörder“ lässt sich Gordian Maugg
in seinem Film über Fritz Lang entgehen. Sein Hauptdarsteller Peter Lorre,
hat Lang später erzählt, konnte nicht
pfeifen, deshalb habe er das Motiv aus
Griegs „Peer Gynt“, das zur Erkennungsmelodie von „M“ wurde, selbst eingespielt. In Mauggs „Fritz Lang“ dagegen
sieht man den Titelhelden nie die Lippen spitzen, obwohl Heino Ferch, der
ihn spielt, bei früheren Auftritten bewiesen hat, dass er zum Pfeifen durchaus in
der Lage ist. Aber vielleicht war ja auch
das nur ein Trick der Synchronisation.
Die zweitbeste Anekdote aus Langs
Karriere hat Maugg allerdings aufgegriffen. Im Grunde baut er seinen Film um
sie herum. Es geht um Mord – oder
Selbstmord. Am 25. September 1920
stirbt Fritz Langs erste Ehefrau Elisabeth Rosenthal in der Berliner Wohnung
des Ehepaars in der Tharandter Straße 1
durch einen Schuss aus Langs Browning.
Der herbeigerufene Arzt diagnostiziert
einen Brustschuss, die Polizei spricht
von einem Unglücksfall und stellt die Ermittlungen ein. Lang und Elisabeth sind
an diesem Tag allerdings nicht allein in
ihrer Wohnung in Wilmersdorf. Mit dabei ist Langs Mitarbeiterin und spätere
zweite Ehefrau Thea von Harbou, die zusammen mit ihrem Geliebten die Polizei
alarmiert.
Was genau an jenem 25. September
passiert ist, hat außer den Beteiligten nie
jemand erfahren. Auch Gordian Maugg
weiß es nicht. Aber er zeigt es in wünschenswerter oder, je nach Gusto, unerwünschter Deutlichkeit. Im Schlafzimmer, auf dem Ehebett, sind Fritz und
Thea mit dem beschäftigt, was man den
Akt der Liebe nennt, als Elisabeth hereinplatzt. Es gibt einen Wortwechsel,
und Lang zieht seine Offizierspistole.
Dann wird das Bild schwarz. Die Tote im
Badezimmer, von der alle einschlägigen
Biographien reden, zeigt Maugg nicht
mehr. Doch er deutet mit der Kamera
auf den Täter, und er spricht bildlich aus,
was die Biographen bloß suggerieren;
dass es die Geschehnisse vom September 1920 waren, die Lang in die entscheidende Krise und Wandlung seines Regisseurslebens geworfen haben, den Übergang vom Stumm- zum Tonfilm.
Mauggs „Fritz Lang“ setzt knapp zehn
Jahre später ein. Im Frühjahr 1930 treibt
Lang durch ein privates und berufliches
Tief. Die Liebe zu Thea von Harbou (Johanna Gastdorf) ist seit langem erkaltet,
der Science-fiction-Stummfilm „Frau im
Mond“, für den er noch einmal alle Regis-
ter des Monumentalkinos gezogen hat,
läuft nur mit halbem Erfolg, und Langs
Produzent Seymour Nebenzahl braucht
dringend ein neues Projekt, damit der
Rubel weiter rollt.
Aber Lang hat keine Idee. Um sich abzulenken, lässt er sich auf den Straßenstrich ins Berliner Scheunenviertel fahren, wo sich die Rollkommandos der SA
mit Kommunisten prügeln, doch auch
der Sex mit einer käuflichen Walküre
entzündet kein Licht in seinem Kopf. Da
liest er, von seinem Chauffeur am grauen Ufer des nächsten Morgens abgesetzt,
in der Zeitung von der Jagd auf einen
Frauenmörder in Düsseldorf.
Wäre „Fritz Lang“ eine normale Filmbiographie, könnte man an dieser Stelle
aussteigen und sich ein anderes Kino zur
Abendunterhaltung suchen. Denn der
Rest ist ja bekannt: Lang und Harbou beginnen zu recherchieren, sammeln Zeitungsartikel über Serienmörder und
schreiben gemeinsam das Drehbuch zu
„M“, dem ersten großen deutschen Tonfilm, dem Meisterwerk der Filmgeschichte. Aber Maugg will nicht den Bildungsbürger in uns bedienen, oder nicht nur
ihn. Er will richtiges Kino machen, Thrillerkino, und zugleich in die Bilderwelt
der Zeit eintauchen, von der er erzählt.
Deshalb lässt er seinen Film mit einem Polizeiverhör von Peter Kürten
(Samuel Finzi) beginnen, der eine Tat gesteht, deren grausige Details zur gleichen Zeit vor unseren Augen ablaufen.
Und deshalb setzt er zwischen die eleganten Schwarzweißbilder von „Fritz Lang“
Mit Monokel: Heino Ferch als Fritz Lang
Originalaufnahmen aus Wochenschauen der zwanziger und frühen dreißiger
Jahre, Szenen vom Tag- und Nachtleben
in den Städten, von Elendsvierteln und
Straßenschlachten und von der Suche
nach dem Düsseldorfer Mörder. Der dokumentarische Stil beglaubigt die Fiktion, doch er schützt sie auch: Stereotypen
strahlen heller in Schwarzweiß. Kürten
und Lang, das ist klar, werden sich begegnen. Für Maugg aber geht es darum, dass
Lang bei dieser Recherche auch sich
selbst begegnet.
Anders als Bert Brecht und Thomas
Mann, die beiden anderen großen Emigranten, ist Fritz Lang nie eine Symbolfigur der deutschen Kultur geworden. Das
liegt nicht am Nationalsozialismus. Es
liegt an der Rolle, die das Kino in der nationalen Selbstwahrnehmung spielt. „Metropolis“ ist nicht weniger wichtig als der
„Zauberberg“. Es gilt nur weniger. Ein
Mehrteiler wie „Die Manns“ wäre bei
Lang undenkbar. Dabei liegt der Stoff bereit: Weltkrieg und Weimar, Hitler und
Hollywood, J. Edgar Hoover und Marlene, das ganze Drama des Jahrhunderts.
Nur der mythische Schimmer fehlt. Man
merkt Gordian Mauggs Film die Anstrengung an, ihn rückwirkend zu konstruieren, die Geschichte der Entstehung von
„M“ wie zuvor die Olympiade von 1936
(„Der olympische Sommer“) und die Katastrophe von Lakehurst („Zeppelin!“)
ins Licht einer großen historischen Entwicklung zu stellen. Aber die Rolle der
Thea von Harbou bleibt dennoch blass,
der Mörder Kürten wirkt so dämonisch
wie eine Karteikarte, und das Duell zwischen dem Berliner Kommissar Ernst
Gennat (Thomas Thieme), einer Berühmtheit der Weimarer Republik – er
schuf die Grundlagen der deutschen Kriminologie und schrieb nach dem Fall Kürten die erste Abhandlung über Serientäter –, und dem schuldbewussten Lang gewinnt nie wirklich Kontur.
Dennoch ist „Fritz Lang“ für das deutsche Kino ein Gewinn. Seit Jahren haben
wir uns an Kostümschinken wie „Marlene“ und „John Rabe“ müde gesehen und
in gediegenen Kulturdokumentationen
gelangweilt. Maugg bringt, indem er beides miteinander kreuzt, diese ausgereizten Formen wieder in Bewegung, er zieht
ein vergilbtes Bild aus dem Album der Geschichte und hält es unter sein Vergrößerungsglas, bis es ganz fremd zurückschaut. Natürlich reicht nichts davon an
„M“ heran, dieses Wunderwerk filmischen Erzählens. Aber auch eine bekannte Melodie kann man immer wieder neu
einspielen. Man muss nur richtig pfeifen
ANDREAS KILB
können.
sern neues Sparziele verordnete. Und
so war es dann auch. Immer fand sich
jemand, der sich trotz der finanziellen
und damit auch künstlerischen Einbußen um die Leitung eines Theaters bewarb, als idealistischer Retter, harter
Sanierer, phantasievoller Erneuerer,
selbstgefälliger Märtyrer oder einfach
nur, weil er (seltener: sie) unbedingt Intendant werden wollte. Ein Tod auf Raten wurde prophezeit und oft auch eingeleitet, doch irgendwie ging es weiter,
die Ensembles wurden halt kleiner,
Spielpläne schütterer, Ausstattungen
bescheidener, Gäste seltener, Aufführungen belangloser, nicht alle, aber etliche; eine Entwicklung, die den Politikern, Stadtkämmerern, Finanzkommissaren recht zu geben schien: Geht
doch! Und sie meist nicht lange ruhen
ließ: Prompt folgte die nächste Sparrunde. Dass das Ende der Fahnenstange erreicht, dass die Zitrone ausgepresst sei, wurde immer wieder beklagt, und dann waren doch noch ein
paar Zentimeter oder Tropfen übrig.
Bisher. Jetzt ist der kritische Punkt erreicht. Erstmals findet sich niemand
mehr, der es trotzdem macht. Das negative Exempel wird nicht zufällig von einer Stadt statuiert, die, vom Strukturwandel gebeutelt, aber auch von Derivatgeschäften und Managementfehlern angeschlagen, eine der höchsten
Pro-Kopf-Verschuldungen aufweist. In
Hagen hat der Rat gerade beschlossen,
von 2018 an den Zuschuss für das Theater um anderthalb Millionen auf 13,5
Millionen Euro zu senken, woraufhin
beide verbliebenen Kandidaten für die
Intendanz – einer von ihnen ist Jürgen
Pottebaum, als Marketing-Leiter mit
den Gegebenheiten bestens vertraut –,
ihre Bewerbungen zurückzogen, weil
sie die Pläne nicht für realisierbar halten. Und nun? Der langjährige Intendant Norbert Hilchenbach geht zum
Ende der nächsten Spielzeit in den Ruhestand. Auch Generalmusikdirektor
Florian Ludwig hört im Sommer 2017
auf. Doch während für diesen gerade
ein Nachfolger ausgesucht wurde, dem
Vernehmen nach Joseph L. Trafton,
zur Zeit erster Kapellmeister am Nationaltheater Mannheim, gibt es (vorerst)
noch niemanden, der mit ihm einen
Spielplan entwerfen und erarbeiten
könnte. Wenn überhaupt noch einmal
Spielpläne aufgestellt werden! Ohne
Einschnitte beim künstlerischen Personal lässt sich die Sparvorgabe nicht umsetzen. Eine „Projektgruppe“ wurde gegründet, die den gordischen Knoten lösen soll. Denn schließlich hat der Rat
außer der Mittelkürzung auch noch beschlossen, dass beide Sparten, Musiktheater und Tanz, in Hagen erhalten
bleiben, keine betriebsbedingten Kündigungen ausgesprochen werden sollen. Wie das gehen soll? Niemand
weiß es. Unbehagen in Hagen. Die
Choristen, so wird in der Stadt schon
gewitzelt, könnten ja ins Grünflächenamt wechseln.
aro.
Nach Cannes
Maren Ade im Wettbewerb
des Filmfestivals
Mit „Toni Erdmann“ von Maren Ade
hat es nach vielen Jahren wieder ein
deutscher Film in den Wettbewerb des
Filmfestivals von Cannes geschafft.
Maren Ade ist damit eine von drei Regisseurinnen im diesjährigen Wettbewerbsprogramm. Die anderen beiden
sind erfahrene Cannes-Fahrerinnen,
nämlich die Engländerin Andrea Arnold, die schon zweimal den Jury-Preis
gewann und einmal selbst in der Jury
Dienst tat, und die Französin Nicole
Garcia, die als Schauspielerin bei
Alain Resnais begann und bereits drei
Filme in verschiedenen Festival-Sektionen gezeigt hat. Von den siebzehn
Männern, die mit ihnen konkurrieren,
fährt auch kaum einer zum ersten Mal
an die Côte d’Azur. Es treffen die alten
Hasen Ken Loach, die Brüder Dardenne, Jim Jarmusch, Pedro Almodóvar, Olivier Assayas, Bruno Dumont,
Cristian Mungiu und Sean Penn aufeinander sowie auf andere Dauergäste
wie Xavier Dolan, Nicolas Winding
Refn, Park Chan-wook und Brillante
Mendoza. Paul Verhoeven kommt,
nachdem er 1992 zum letzten Mal dabei war, im Mai ebenfalls wieder, wie
auch Jeff Nichols, was erstaunlich ist,
denn er hat seinen letzten Film, „Midnight Special“, kürzlich erst auf der
Berlinale vorgestellt. Alain Guiraudie
hatte 2013 mit „Der Fremde am See“
in einer Nebenreihe glänzend abgeschnitten und ist nun zum ersten Mal
im Wettbewerb, wie auch Kleber Mendoca Filho aus Brasilien, der eine Vergangenheit als Filmkritiker hat. Außer
Konkurrenz zeigt Woody Allen seinen
jüngsten Blick zurück mit „Café Society“, ihm folgen ebenfalls ohne PalmenAmbitionen Steven Spielberg, Jodie
Foster, der Koreaner Na Hong-jin und
Shane Black. „Toni Erdmann“ ist übrigens, wie die meisten Filme, eine Koproduktion, in diesem Fall mit Österreich, das sich seinerseits über die Einladung nach Cannes freut.
lue.