FRANKFU RT ER A L LG EM E I NE Z E I TU NG Feuilleton F R E I TAG , 1 5 . A P R I L 2 0 1 6 · N R . 8 8 · S E I T E 9 Unbe-Hagen Finger weg von unseren Helden Woher wollen die Deutschen wissen, was typisch polnisch ist? Wir wissen nur, was unter deutscher Besatzung typisch war bei uns. Von Łukasz Kamiński WARSCHAU, im April ergangenen Monat nahm ich an der ergreifenden Eröffnungsfeier eines Museums in Markowa, in Südostpolen, teil. Es ist den Polen gewidmet, die während der deutschen Okkupation Juden gerettet haben, und nach der Familie Ulma benannt, die zusammen mit den von ihr versteckten Juden im März 1944 von deutschen Polizisten ermordet wurde. Über dieses Ereignis wurde in vielen Medien berichtet, Vertreter höchster staatlicher Organe nahmen daran teil. Außer dem polnischen Präsidenten ergriff das Wort auch die Botschafterin Israels, eine aufgezeichnete Botschaft eines in Markowa geretteten Juden wurde präsentiert. Die meisten Polen hörten zum ersten Mal die Geschichte von Józef und Wiktoria Ulma und ihren Kindern Stanisław, Basia, Władzia, Franek, Antek, Marysia sowie des siebten Kindes, dessen Geburt während der Exekution begann. Das älteste war damals acht Jahre alt. Zum ersten Mal wurden auch die Namen der Geretteten genannt: Saul Goldmann und seine vier Söhne (genannt die Szalls), Golda Grünfeld und ihre Schwester Lea Didner mit ihrer kleinen Tochter. In Dutzenden von Kommentaren wurde das Heldentum der Familie Ulma gewürdigt, man wies auf Werte wie Nächstenliebe und Opferbereitschaft hin. Man sprach über die Bedeutung der Wahrheit und darüber, dass die Geschichte des Holocausts Mahnung für die heutige sowie für zukünftige Generationen sein solle. Man erinnerte an die Tatsache, dass in der Bibel im Haus der Ulmas die Geschichte vom barmherzigen Samariter angestrichen war, und man zitierte die Worte Christi: „Niemand hat größere Liebe denn die, dass er sein Leben lässt für seine Freunde.“ Der Leser des Artikels von Joseph Croitoru („War die heldenhafte Familie Ulma etwa typisch?“, F.A.Z. vom 6. April) konnte hingegen erfahren, dass wir es in Wirklichkeit mit einer Parteiveranstaltung der neuen polnischen Regierung zu tun hatten, die „eine historische Debatte entfacht“ habe. Entgegen den Behauptungen des Autors wurde die Fertigstellung des Museums nicht durch das Ergebnis der letzten Wahlen beschleunigt, sondern durch eine Entscheidung der Kulturministerin der vorherigen Regierung, die der Initiative finanzielle und organisatorische Unterstützung angedeihen ließ. Ich habe die Kommentare in Presse und Internet aufmerksam verfolgt, konnte jedoch keine „Entfachung“ der seit Jahren anhaltenden Debatte über die polnisch-jüdischen Beziehungen während des Krieges entdecken. Es gibt viele Fragen, die das heutige Polen spalten; aber mit Sicherheit gehört dazu nicht das Bedürfnis, an die Helden zu erinnern, die Juden gerettet haben. Die in der Überschrift des Artikels von Croitoru enthaltene Frage kann man entweder als absurd oder als rhetorisch betrachten. Es ist offensichtlich, dass die Haltung der Ulmas, die für die Rettung von Juden ihr Leben ließen, nicht typisch war. Heroische Haltungen sind nie typisch! Ebenso wenig war auch die Tätigkeit Irena Sendlers typisch, die zweieinhalbtausend jüdische Kinder vor den deutschen Mördern rettete, indem sie sie hauptsächlich in polnischen Familien und katholischen Klöstern unterbrachte. Ebenfalls nicht typisch war das Schicksal des Kuriers der polnischen Untergrundregierung Jan Karski, der die Tragödie der polnischen Juden 1943 unter anderem Präsident Roosevelt darlegte, was leider keine wirkliche Reaktion auslöste. Die Haltung der Ulmas und Tausender ähnlicher Familien war nicht typisch, wie man auch die Haltung derer nicht als typisch betrachten kann, die versteckte Juden und ihnen helfende Polen erpressten und den Deutschen auslieferten. Auf diese Tat stand nach dem Recht des polnischen Untergrundstaats seit 1943 die Todesstrafe. Dieses Urteil vollstreckte der polnische Untergrund auch an dem Polizisten, der die Ulmas denunziert hatte. Das Museum in Markowa ist nicht ins Leben gerufen worden, um zu suggerieren, die Haltung der Ulmas sei typisch gewesen. Ganz im Gegenteil – es soll darauf hinweisen, welche Ausnahme ihr Opfer darstellte, unter anderem auch, um die Ulmas und ähnlich handelnde Menschen als Vorbild für unsere Zeitgenossen und zukünftige Generationen zu zeigen. Ich bin überzeugt davon, dass der Besuch des Museums für diejenigen, die es aufsuchen, unabhängig von ihrer Nationalität vor allem grundlegende Fragen über die Natur des Menschen und über das Wesen von Gut und Böse aufwerfen wird. Typisch war im von den Deutschen besetzten Polen etwas anderes. Schon in den ersten Wochen wurden Massenexekutionen typisch, vor allem an den Vertretern der polnischen Eliten. Im Februar 1940 V sagte Generalgouverneur Hans Frank in einem Interview mit einer deutschen Zeitung: „In Prag waren große rote Plakate angeschlagen, auf denen zu lesen war, dass heute sieben Tschechen erschossen worden sind. Da sagte ich mir: Wenn ich für je sieben erschossene Polen ein Plakat aushängen lassen wollte, dann würden die Wälder Polens nicht ausreichen, das Papier herzustellen für solche Plakate.“ Typisch war in den dem Dritten Reich einverleibten Gebieten die Aussiedlung der polnischen Bevölkerung, die mehr als 800 000 Personen betraf. Typisch waren Razzien auf den Straßen, von denen aus die Festgenommenen ins Gefängnis oder ins Konzentrationslager kamen und im besten Fall zur Zwangsarbeit geschickt wurden. Typisch war die Zerstörung von Dörfern, bei denen die Häuser abgebrannt und die Bewohner ermordet wurden. In der Gegend von Zamość wurde nicht nur die Aussiedlung der Polen typisch, sondern auch der Raub polnischer Kinder zum Zweck der Germanisierung. Typisch waren die Zerstörung des gesamten Bildungssystems, Raub und Vernichtung kultureller Werke, die wirtschaftliche Ausbeutung des Landes. Und typisch war schließlich auch die Bestrafung derer, die den Juden halfen, für die die Deutschen die komplette Ausrottung vorgesehen hatten, wobei sie sich als Ort für die „Endlösung“ die polnische Erde ausgesucht hatten. Nach den Anordnungen der Besatzungsmacht stand auf die Unterstützung von Juden durch Polen die Todesstrafe. All diese Phänomene waren typisch, weil sie nach den Richtlinien Hitlers ausgeführt wurden. Noch vor dem Überfall auf Polen kündigte er den auf dem Obersalzberg versammelten Generälen an, das Ziel der Invasion sei nicht „das Erreichen einer bestimmten Linie“, sondern „die physische Vernichtung des Gegners“, und er erklärte, er habe, vorläufig erst im Osten, Totenkopfverbände rekrutiert und befohlen, ohne jedes Mitleid Männer, Frauen und Kinder polnischer Herkunft und polnischer Sprache zu töten, da nur auf diese Art und Weise der Lebensraum erobert werden könne, den die Deutschen bräuchten. Dass die Polen Opfer der deutschen (und auch der sowjetischen) Besatzung waren, ist eine historische Tatsache. Und es sind keine besonderen Untersuchungen nötig, um „die polnische Opferrolle zu zementieren“, wie in dem erwähnten Artikel ein Historiker suggeriert. Die Leidensgeschichte der Polen schmälert nicht den Holocaust und das Leiden der Juden. Das Institut für Nationales Gedenken (IPN) und viele andere Institutionen in Polen untersuchen die Schicksale der Polen, die Juden gerettet haben, nicht um irgendeinen ideologischen Bedarf zu decken. Wir sind der Meinung, dass dies unsere grundlegende Verpflichtung ist gegenüber den Helden, die ihr Leben riskiert und es daher verdient haben, dass ihre Namen im Gedächtnis der Nachfahren erhalten bleiben. Die Polen sind stolz auf ihre Geschichte, darauf, dass sie sich als Erste Hitler entgegengestellt und bis zum letzten Kriegstag gegen die Deutschen gekämpft haben, was enorme Opfer kostete. Wir erinnern uns daran, dass wir als Einzige im besetzten Europa einen Untergrundstaat geschaffen haben. Er verfügte nicht nur über militärische Strukturen, sondern auch über eine zivile Verwaltung, der auch der Rat für die Unterstützung der Juden, die Źegota, unterstellt war. as heißt nicht, dass keine Diskussion über die schwierigen Aspekte dieser Zeit geführt wird, vor allem über die polnisch-jüdischen Beziehungen. Diese Diskussion wurde erst nach dem Fall des kommunistischen Systems möglich. Leider wird sie immer mehr von Radikalen dominiert, was einen echten Dialog erschwert. Die Erinnerung an die Polen, die Juden retteten, macht die Beispiele von Verrat und sogar Verbrechen nicht ungeschehen, genau wie umgekehrt das schändliche Verhalten mancher Polen das Heldentum anderer nicht ungeschehen macht. Die Behauptung, man hätte mehr Juden retten können, ist ebenso richtig wie diejenige, die darauf hinweist, dass man von niemandem verlangen kann, das Leben der eigenen Familie zu riskieren. Diese Art der Diskussion trägt nicht nur wenig dazu bei, die Vergangenheit zu verstehen, sondern sie entfernt uns auch von dem, was in dieser Debatte das Wichtigste ist: die fundamentalen Fragen nach dem Verhalten der Menschen in schwerster Zeit. Es gibt in Polen Streit darüber, wie viele Polen während des Krieges sich für die Hilfe für Juden engagiert haben. Dieser Streit rührt daher, dass während der Besatzung niemand solche Statistiken geführt hat und dieses Thema danach viele Jahre lang nicht untersucht wurde. Unabhängig von dieser Diskussion, ist jedoch eines sicher: Es waren entschieden mehr als die Mitglieder der deutschen Widerstandsbewegung gegen Hitler, über deren Geschichte man in vielen Museen und Gedenkstätten etwas erfahren kann. Die polnischen Helden, die das eigene Leben aufs Spiel gesetzt haben, um ihre Nächsten zu retten, haben es verdient, dass man an sie erinnert. Statt den Sinn des ihnen gewidmeten Museums in Frage zu stellen, sollte man lieber darüber nachdenken, warum es erst so spät entstanden ist. D Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall. Łukasz Kamiński ist Präsident des Instituts für Nationales Gedenken in Warschau. findet sich immer. So hieß es bisher geradezu floskelhaft, Iwennrgendeiner eine Kommune ihren Kunsthäu- Der Mörder im Kopf des Mörders: Samuel Finzi als Peter Kürten, überblendet mit Peter Lorres Monolog aus „M“ Fotos Belle Epoque Das Geheimnis der Browning Gordian Maugg erzählt die private Geschichte eines Filmklassikers: „Fritz Lang“ Die beste Anekdote über die Entstehung des Kinoklassikers „M – eine Stadt sucht einen Mörder“ lässt sich Gordian Maugg in seinem Film über Fritz Lang entgehen. Sein Hauptdarsteller Peter Lorre, hat Lang später erzählt, konnte nicht pfeifen, deshalb habe er das Motiv aus Griegs „Peer Gynt“, das zur Erkennungsmelodie von „M“ wurde, selbst eingespielt. In Mauggs „Fritz Lang“ dagegen sieht man den Titelhelden nie die Lippen spitzen, obwohl Heino Ferch, der ihn spielt, bei früheren Auftritten bewiesen hat, dass er zum Pfeifen durchaus in der Lage ist. Aber vielleicht war ja auch das nur ein Trick der Synchronisation. Die zweitbeste Anekdote aus Langs Karriere hat Maugg allerdings aufgegriffen. Im Grunde baut er seinen Film um sie herum. Es geht um Mord – oder Selbstmord. Am 25. September 1920 stirbt Fritz Langs erste Ehefrau Elisabeth Rosenthal in der Berliner Wohnung des Ehepaars in der Tharandter Straße 1 durch einen Schuss aus Langs Browning. Der herbeigerufene Arzt diagnostiziert einen Brustschuss, die Polizei spricht von einem Unglücksfall und stellt die Ermittlungen ein. Lang und Elisabeth sind an diesem Tag allerdings nicht allein in ihrer Wohnung in Wilmersdorf. Mit dabei ist Langs Mitarbeiterin und spätere zweite Ehefrau Thea von Harbou, die zusammen mit ihrem Geliebten die Polizei alarmiert. Was genau an jenem 25. September passiert ist, hat außer den Beteiligten nie jemand erfahren. Auch Gordian Maugg weiß es nicht. Aber er zeigt es in wünschenswerter oder, je nach Gusto, unerwünschter Deutlichkeit. Im Schlafzimmer, auf dem Ehebett, sind Fritz und Thea mit dem beschäftigt, was man den Akt der Liebe nennt, als Elisabeth hereinplatzt. Es gibt einen Wortwechsel, und Lang zieht seine Offizierspistole. Dann wird das Bild schwarz. Die Tote im Badezimmer, von der alle einschlägigen Biographien reden, zeigt Maugg nicht mehr. Doch er deutet mit der Kamera auf den Täter, und er spricht bildlich aus, was die Biographen bloß suggerieren; dass es die Geschehnisse vom September 1920 waren, die Lang in die entscheidende Krise und Wandlung seines Regisseurslebens geworfen haben, den Übergang vom Stumm- zum Tonfilm. Mauggs „Fritz Lang“ setzt knapp zehn Jahre später ein. Im Frühjahr 1930 treibt Lang durch ein privates und berufliches Tief. Die Liebe zu Thea von Harbou (Johanna Gastdorf) ist seit langem erkaltet, der Science-fiction-Stummfilm „Frau im Mond“, für den er noch einmal alle Regis- ter des Monumentalkinos gezogen hat, läuft nur mit halbem Erfolg, und Langs Produzent Seymour Nebenzahl braucht dringend ein neues Projekt, damit der Rubel weiter rollt. Aber Lang hat keine Idee. Um sich abzulenken, lässt er sich auf den Straßenstrich ins Berliner Scheunenviertel fahren, wo sich die Rollkommandos der SA mit Kommunisten prügeln, doch auch der Sex mit einer käuflichen Walküre entzündet kein Licht in seinem Kopf. Da liest er, von seinem Chauffeur am grauen Ufer des nächsten Morgens abgesetzt, in der Zeitung von der Jagd auf einen Frauenmörder in Düsseldorf. Wäre „Fritz Lang“ eine normale Filmbiographie, könnte man an dieser Stelle aussteigen und sich ein anderes Kino zur Abendunterhaltung suchen. Denn der Rest ist ja bekannt: Lang und Harbou beginnen zu recherchieren, sammeln Zeitungsartikel über Serienmörder und schreiben gemeinsam das Drehbuch zu „M“, dem ersten großen deutschen Tonfilm, dem Meisterwerk der Filmgeschichte. Aber Maugg will nicht den Bildungsbürger in uns bedienen, oder nicht nur ihn. Er will richtiges Kino machen, Thrillerkino, und zugleich in die Bilderwelt der Zeit eintauchen, von der er erzählt. Deshalb lässt er seinen Film mit einem Polizeiverhör von Peter Kürten (Samuel Finzi) beginnen, der eine Tat gesteht, deren grausige Details zur gleichen Zeit vor unseren Augen ablaufen. Und deshalb setzt er zwischen die eleganten Schwarzweißbilder von „Fritz Lang“ Mit Monokel: Heino Ferch als Fritz Lang Originalaufnahmen aus Wochenschauen der zwanziger und frühen dreißiger Jahre, Szenen vom Tag- und Nachtleben in den Städten, von Elendsvierteln und Straßenschlachten und von der Suche nach dem Düsseldorfer Mörder. Der dokumentarische Stil beglaubigt die Fiktion, doch er schützt sie auch: Stereotypen strahlen heller in Schwarzweiß. Kürten und Lang, das ist klar, werden sich begegnen. Für Maugg aber geht es darum, dass Lang bei dieser Recherche auch sich selbst begegnet. Anders als Bert Brecht und Thomas Mann, die beiden anderen großen Emigranten, ist Fritz Lang nie eine Symbolfigur der deutschen Kultur geworden. Das liegt nicht am Nationalsozialismus. Es liegt an der Rolle, die das Kino in der nationalen Selbstwahrnehmung spielt. „Metropolis“ ist nicht weniger wichtig als der „Zauberberg“. Es gilt nur weniger. Ein Mehrteiler wie „Die Manns“ wäre bei Lang undenkbar. Dabei liegt der Stoff bereit: Weltkrieg und Weimar, Hitler und Hollywood, J. Edgar Hoover und Marlene, das ganze Drama des Jahrhunderts. Nur der mythische Schimmer fehlt. Man merkt Gordian Mauggs Film die Anstrengung an, ihn rückwirkend zu konstruieren, die Geschichte der Entstehung von „M“ wie zuvor die Olympiade von 1936 („Der olympische Sommer“) und die Katastrophe von Lakehurst („Zeppelin!“) ins Licht einer großen historischen Entwicklung zu stellen. Aber die Rolle der Thea von Harbou bleibt dennoch blass, der Mörder Kürten wirkt so dämonisch wie eine Karteikarte, und das Duell zwischen dem Berliner Kommissar Ernst Gennat (Thomas Thieme), einer Berühmtheit der Weimarer Republik – er schuf die Grundlagen der deutschen Kriminologie und schrieb nach dem Fall Kürten die erste Abhandlung über Serientäter –, und dem schuldbewussten Lang gewinnt nie wirklich Kontur. Dennoch ist „Fritz Lang“ für das deutsche Kino ein Gewinn. Seit Jahren haben wir uns an Kostümschinken wie „Marlene“ und „John Rabe“ müde gesehen und in gediegenen Kulturdokumentationen gelangweilt. Maugg bringt, indem er beides miteinander kreuzt, diese ausgereizten Formen wieder in Bewegung, er zieht ein vergilbtes Bild aus dem Album der Geschichte und hält es unter sein Vergrößerungsglas, bis es ganz fremd zurückschaut. Natürlich reicht nichts davon an „M“ heran, dieses Wunderwerk filmischen Erzählens. Aber auch eine bekannte Melodie kann man immer wieder neu einspielen. Man muss nur richtig pfeifen ANDREAS KILB können. sern neues Sparziele verordnete. Und so war es dann auch. Immer fand sich jemand, der sich trotz der finanziellen und damit auch künstlerischen Einbußen um die Leitung eines Theaters bewarb, als idealistischer Retter, harter Sanierer, phantasievoller Erneuerer, selbstgefälliger Märtyrer oder einfach nur, weil er (seltener: sie) unbedingt Intendant werden wollte. Ein Tod auf Raten wurde prophezeit und oft auch eingeleitet, doch irgendwie ging es weiter, die Ensembles wurden halt kleiner, Spielpläne schütterer, Ausstattungen bescheidener, Gäste seltener, Aufführungen belangloser, nicht alle, aber etliche; eine Entwicklung, die den Politikern, Stadtkämmerern, Finanzkommissaren recht zu geben schien: Geht doch! Und sie meist nicht lange ruhen ließ: Prompt folgte die nächste Sparrunde. Dass das Ende der Fahnenstange erreicht, dass die Zitrone ausgepresst sei, wurde immer wieder beklagt, und dann waren doch noch ein paar Zentimeter oder Tropfen übrig. Bisher. Jetzt ist der kritische Punkt erreicht. Erstmals findet sich niemand mehr, der es trotzdem macht. Das negative Exempel wird nicht zufällig von einer Stadt statuiert, die, vom Strukturwandel gebeutelt, aber auch von Derivatgeschäften und Managementfehlern angeschlagen, eine der höchsten Pro-Kopf-Verschuldungen aufweist. In Hagen hat der Rat gerade beschlossen, von 2018 an den Zuschuss für das Theater um anderthalb Millionen auf 13,5 Millionen Euro zu senken, woraufhin beide verbliebenen Kandidaten für die Intendanz – einer von ihnen ist Jürgen Pottebaum, als Marketing-Leiter mit den Gegebenheiten bestens vertraut –, ihre Bewerbungen zurückzogen, weil sie die Pläne nicht für realisierbar halten. Und nun? Der langjährige Intendant Norbert Hilchenbach geht zum Ende der nächsten Spielzeit in den Ruhestand. Auch Generalmusikdirektor Florian Ludwig hört im Sommer 2017 auf. Doch während für diesen gerade ein Nachfolger ausgesucht wurde, dem Vernehmen nach Joseph L. Trafton, zur Zeit erster Kapellmeister am Nationaltheater Mannheim, gibt es (vorerst) noch niemanden, der mit ihm einen Spielplan entwerfen und erarbeiten könnte. Wenn überhaupt noch einmal Spielpläne aufgestellt werden! Ohne Einschnitte beim künstlerischen Personal lässt sich die Sparvorgabe nicht umsetzen. Eine „Projektgruppe“ wurde gegründet, die den gordischen Knoten lösen soll. Denn schließlich hat der Rat außer der Mittelkürzung auch noch beschlossen, dass beide Sparten, Musiktheater und Tanz, in Hagen erhalten bleiben, keine betriebsbedingten Kündigungen ausgesprochen werden sollen. Wie das gehen soll? Niemand weiß es. Unbehagen in Hagen. Die Choristen, so wird in der Stadt schon gewitzelt, könnten ja ins Grünflächenamt wechseln. aro. Nach Cannes Maren Ade im Wettbewerb des Filmfestivals Mit „Toni Erdmann“ von Maren Ade hat es nach vielen Jahren wieder ein deutscher Film in den Wettbewerb des Filmfestivals von Cannes geschafft. Maren Ade ist damit eine von drei Regisseurinnen im diesjährigen Wettbewerbsprogramm. Die anderen beiden sind erfahrene Cannes-Fahrerinnen, nämlich die Engländerin Andrea Arnold, die schon zweimal den Jury-Preis gewann und einmal selbst in der Jury Dienst tat, und die Französin Nicole Garcia, die als Schauspielerin bei Alain Resnais begann und bereits drei Filme in verschiedenen Festival-Sektionen gezeigt hat. Von den siebzehn Männern, die mit ihnen konkurrieren, fährt auch kaum einer zum ersten Mal an die Côte d’Azur. Es treffen die alten Hasen Ken Loach, die Brüder Dardenne, Jim Jarmusch, Pedro Almodóvar, Olivier Assayas, Bruno Dumont, Cristian Mungiu und Sean Penn aufeinander sowie auf andere Dauergäste wie Xavier Dolan, Nicolas Winding Refn, Park Chan-wook und Brillante Mendoza. Paul Verhoeven kommt, nachdem er 1992 zum letzten Mal dabei war, im Mai ebenfalls wieder, wie auch Jeff Nichols, was erstaunlich ist, denn er hat seinen letzten Film, „Midnight Special“, kürzlich erst auf der Berlinale vorgestellt. Alain Guiraudie hatte 2013 mit „Der Fremde am See“ in einer Nebenreihe glänzend abgeschnitten und ist nun zum ersten Mal im Wettbewerb, wie auch Kleber Mendoca Filho aus Brasilien, der eine Vergangenheit als Filmkritiker hat. Außer Konkurrenz zeigt Woody Allen seinen jüngsten Blick zurück mit „Café Society“, ihm folgen ebenfalls ohne PalmenAmbitionen Steven Spielberg, Jodie Foster, der Koreaner Na Hong-jin und Shane Black. „Toni Erdmann“ ist übrigens, wie die meisten Filme, eine Koproduktion, in diesem Fall mit Österreich, das sich seinerseits über die Einladung nach Cannes freut. lue.
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