Filmdoku aus Israel: Jung, schwul, arabisch „Mal wiegt die sexuelle Identität schwerer, mal die nationale“ ▶ Seite 13 AUSGABE BERLIN | NR. 10986 | 14. WOCHE | 38. JAHRGANG H EUTE I N DER TAZ MITTWOCH, 6. APRIL 2016 | WWW.TAZ.DE € 2,10 AUSLAND | € 1,60 DEUTSCHLAND Der Bio-Papst sagt: Gentechnik kann öko sein Loveparade: Protest gegen Prozess-Stopp JUSTIZ Staatsanwaltschaft legt Beschwerde gegen Entscheidung ein DUISBURG dpa | Die Staatsan- waltschaft Duisburg will mit einer Beschwerde erreichen, dass es doch noch einen Strafprozess zur Loveparade-Katastrophe mit 21 Toten gibt. Die ablehnende Entscheidung des Landgerichts sei „nicht nachvollziehbar und rechtsfehlerhaft“, teilte die Anklagebehörde am Dienstag mit. Die Richter hatten die Ablehnung eines Strafprozesses vor allem damit begründet, dass sich die Anklage im Wesentlichen auf ein zweifelhaftes Gutachten stütze. Über die Beschwerde der Staatsanwaltschaft entscheidet nun das Oberlandesgericht Düsseldorf. Das kann Monate dauern. ▶ Inland SEITE 7 ▶ Meinung + Diskussion SEITE 12 POSTKOLONIAL „Ein fach eine neue Per spektive“: Wie Grada Kilomba den Kulturbe trieb auffrischt ▶ SEITE 15 PANAMA PAPERS Was folgt auf die Enthüllun gen über Steuerbetrug? Und wer glaubt welche Verschwörungstheorie? ▶ SEITE 2, 4, 12, 14, 20 BERLIN Weniger Müll: Mehrweg-to-go-Versuch in Kreuzberg ▶ SEITE 23 CSU bremst Altmaier Fotos oben: Promo; Karsten Thielker VERBOTEN Scheuer nennt Zusage von Kontingenten „falsch“ FLÜCHTLINGE Guten Tag, meine Damen und Herren! Da sage noch einer, die vierte Gewalt habe Saft und Kraft verloren! Schon drei Tage nach dem Beginn eines nie da gewesenen Enthüllungsmarathons von 400 Journalisten und Dutzenden Medien weltweit über die Steuerbetrugsmachenschaften in Panama und die Beteiligung von aller Länder Herren gibt es weitreichende Konsequenzen weltweit. In Island. Und vorher schon in Chile. Sage und schreibe ein ertappter Briefkastenonkel hat dort bereits seinen sofortigen Rücktritt eingereicht: der Landeschef von Transparency International. BERLIN taz | Die CSU hat die Zu- LANDWIRTSCHAFT Keine Angst: Die neue Gentech-Methode CRISPR/Cas sei eine große Chance auch für Ökobauern, erklärt der wichtigste Biolandbau-Wissenschaftler Urs Niggli ▶ Interview SEITE 3 Gentechnik? Für die meisten Bio-Bauern und Bio-Kunden ein Tabu. Urs Niggli plädiert jetzt für eine „differenziertere Betrachtung“ Foto: Dirk Eisermann/laif sage von Kanzleramtschef Peter Altmaier (CDU) zur Aufnahme von zusätzlichen Flüchtlingskontingenten aus der Türkei kritisiert. „Nach gerade mal einem Tag des Praxistests für das EUTürkei-Abkommen nun gleich neue Flüchtlingskontingente in die Diskussion zu bringen, ist der völlig falsche Ansatz“, sagte CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer der taz. Altmaier hatte in einem taz-Interview bekräftigt, dass die EU auch nach dem sogenannten 1:1-Flüchtlingsaustausch mit der Türkei weitere Menschen aufnehmen müsse. Aus der SPD kam dafür am Dienstag Zustimmung. ▶ Schwerpunkt SEITE 2 TAZ MUSS SEI N Die tageszeitung wird ermöglicht durch 15.725 GenossInnen, die in die Pressevielfalt investieren. Infos unter [email protected] oder 030 | 25 90 22 13 Aboservice: 030 | 25 90 25 90 fax 030 | 25 90 26 80 [email protected] Anzeigen: 030 | 25 90 22 38 | 90 fax 030 | 251 06 94 [email protected] Kleinanzeigen: 030 | 25 90 22 22 tazShop: 030 | 25 90 21 38 Redaktion: 030 | 259 02-0 fax 030 | 251 51 30, [email protected] taz.die tageszeitung Postfach 610229, 10923 Berlin taz im Internet: www.taz.de twitter.com/tazgezwitscher facebook.com/taz.kommune 30614 4 190254 801600 KOMMENTAR VON SABINE AM ORDE ZUR FLÜCHTLINGSPOLITIK DER BUNDESREGIERUNG D en Mann sollte man beim Wort nehmen. Kanzleramtschef Peter Altmaier, der auch Flüchtlingskoordinator der Bundesregierung ist, hat am Dienstag im taz-Interview gefordert, die EU-Länder müssten zusätzlich freiwillige Kontingente von Flüchtlingen aufnehmen. Zusätzlich heißt: jenseits der maximal 72.000 SyrerInnen, die die EU im Zuge des schmutzigen 1:1- Deals mit der Türkei aufzunehmen versprochen hat. Die Bundeskanzlerin genießt noch immer den Ruf, flüchtlingsfreundlich und humanitär zu handeln, auch wenn ihre Bundesregierung das hiesige Asylrecht weitgehend abgeräumt hat. Jetzt könnte sie diesem Ruf gerecht werden Her mit den Kontingenten! und z usagen, dass Deutschland in den kommenden Jahren ein Kontingent von jährlich 200.000 Flüchtlingen aufnehmen wird. 200.000 Menschen pro Jahr in Deutschland zu integrieren – das hält selbst der Scharfmacher der Union, Horst Seehofer, für machbar. Unzählige Male wiederholte er in der Diskussion über Obergrenzen diese Zahl, der sich sogar Teile der AfD anschlossen. Ohnehin sollte die Regierung nicht zu viel Angst vor den Rechtspopulisten haben: Gerade hat eine vergleichende Umfrage des renommierten Ifop-Instituts erneut gezeigt, dass 72 Prozent der Deutschen weiterhin der Ansicht sind, es sei schlicht und einfach „die Pflicht unseres Landes“, Verfolgte oder Notleidende aufzunehmen. Ein Vorpreschen der Deutschen muss auch den Druck auf die Türkei und die EU nicht mindern, beide Seiten der eingegangenen Verpflichtung einzuhalten – wie es in der Politik vielleicht befürchtet wird. Das wäre dann nicht der Fall, wenn die von Deutschland aufgenommenen Kontingentflüchtlinge auch aus 200.000 Menschen pro Jahr – das hält selbst Seehofer für machbar Ländern wie Jordanien und dem Libanon kämen, die wie die Türkei einen riesigen Anteil der aus dem syrischen Bürgerkrieg Geflüchteten aufgenommen haben. In ähnlicher Weise verfuhr Deutschland zum Beispiel vor acht Jahren schon einmal. Damals beschloss die Bundesregierung, irakischen Flüchtlingen aus Syrien und Jordanien eine neue Heimat zu geben. Mitarbeiter des zuständigen Bundesamts wählten gemeinsam mit dem UNHCR vor Ort die Flüchtlinge nach drei Kriterien aus: Schutzbedürftigkeit, Integrationsfähigkeit und die Frage, ob es bereits Angehörige in Deutschland gibt. Daran sollte die Bundesregierung anknüpfen. Schnellstmöglich. 02 TAZ.DI E TAGESZEITU NG PORTRAIT Schwerpunkt M IT TWOCH, 6. APRI L 2016 Flüchtlinge Die EU schiebt ab. Aber das löst das Problem nicht. Deutsche Politiker diskutieren über Aufnahme Koalition streitet über Kontingente MIGRATION Mehr Flüchtlinge legal aus der Türkei einreisen zu lassen, hat Kanzleramtsminister Peter Altmaier Ex-Chef von Transparency in Chile: Gonzalo Delaveau Foto: Archiv Intransparenter Saubermann D ie Panama Papers haben den ersten Rücktritt gefordert: Ausgerechnet der Chef von Transparency International in Chile, Gonzalo Delaveau, trat am Montagmittag zurück. Zuvor war bekannt geworden, dass Delaveau mit mindestens fünf Briefkastenfirmen in Verbindung steht. Zwei Jahre war Delaveau Chef der chilenischen Abteilung von Transparency International, deren vornehmliche Aufgabe das Anprangern von Korruption und Vorteilsnahmen durch Amtsträger in Regierungen und Unternehmen ist und deren Glaubwürdigkeit durch das makellose Image ihrer VertreterInnen entsteht. Delaveaus schneller Rücktritt ist denn auch die einzig mögliche Reaktion. Nach Angaben der chilenischen Stiftung für investigativen Journalismus (Ciper) stand Delaveau als damaliger Sozius einer chilenischen Anwaltskanzlei mindestens seit 2006 mit der panamaischen Anwaltskanzlei Mossack Fonseca in Kontakt. Zudem war er Direktor der kanadischen Bergbaufirma Andes Copper und Geschäftsträger von Vizcachitas, einem Kupferminenprojekt, gegen das sich die lokale Bevölkerung in der Kleinstadt Putaendo seit Jahren wehrt. Andes Copper unterhält Verbindungen zu mindestens fünf Offshorefirmen. Statt Aufklärung in eigener Sache zu betreiben, lobte sich der Rechtsanwalt und nun Exchef, dass er vor gut vier Jahren zusammen mit anderen Leuten dem chilenischen Ableger neues Leben eingehaucht habe, dass er vor zwei Jahren den Vorsitz nur interimsweise vom Generalsekretär der Organisation Amerikanischer Staaten, José Miguel Insulza, innehatte, nachdem dieser die Vertretung Chiles beim Internationalen Gerichtshof in Den Haag übernommen hatte. Dass seine Übergangszeit ohnehin nächste Woche abgelaufen wäre. Und dass er mit seinem vorzeitigen Rücktritt Schaden von Transparency International abwenden wolle. Auch Transparency versucht sich in Schadensbegrenzung. Da wird der Rücktritt als „Geste Gonzalo Delaveaus wertgeschätzt“. Zugleich wird jegliches Handeln gegen die Redlichkeit und Transparenz verurteilt, die im Zusammenhang mit den Panama Papers öffentlich geworden sind. JÜRGEN VOGT Schwerpunkt SEITE 4 (CDU) in der taz gefordert. SPD und Grüne sind dafür. Die CSU sieht andere EU-Staaten in der Pflicht VON ULRICH SCHULTE BERLIN taz | Die Große Koali- tion streitet über zusätzliche und freiwillige Kontingente, durch die mehr Flüchtlinge aus der Türkei nach Deutschland einreisen dürften. Die CSU lehnt solche Kontingente für Deutschland strikt ab und sieht andere EU-Staaten in der Pflicht. „Nach gerade mal einem Tag des Praxistexts für das EUTürkei-Abkommen nun gleich neue Flüchtlingskontingente in die Diskussion zu bringen ist der völlig falsche Ansatz“, sagte CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer am Dienstag der taz. Es sei immer klar gewesen, dass es beim Türkei-Deal nur gesamteuropäische Kontingente geben dürfe und keine zusätzlichen deutschen Kontingente, sagte Scheuer. „Das wird mit der CSU nicht zu machen sein. Jetzt müssen die anderen europäischen Staaten zeigen, dass sie zur europaweiten Verteilung stehen. Wir allein haben in den letzten Monaten genug geleistet. Jeder müsste spätestens nach dem 4. September 2015 wissen, was solche Signale auslösen können.“ Scheuer bezog sich damit auf Äußerungen von Peter Altmaier (CDU). Der Kanzleramtschef und Flüchtlingskoordinator der Bundesregierung hatte in einem am Montag veröffentlichten taz-Interview gesagt, dass die EU der Türkei auch nach dem EU-Türkei-Abkommen andere Flüchtlingsgruppen abnehmen müsse. Altmaier hatte wörtlich gesagt: „Entscheidend ist, dass es zusätzlich freiwillige Kontingente geben muss. Wir lassen die Türkei nicht allein.“ Aus der SPD kam Lob für Altmaier. „Ich freue mich, dass sich der Flüchtlingskoordinator der Bundesregierung für weitere freiwillige Kontingente einsetzen wird“, sagte SPD-Generalsekretärin Katarina Barley der taz. „Sowohl der Bund als auch die Länder – ausgenommen Bayern – haben von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht, um gezielt besonders schutzwürdigen Frauen, Männern und Kindern zu helfen.“ Schon lange vor der aktuellen Flüchtlingsdebatte hatte die deutsche Regierung kleine Kontingente gewährt. Zwischen „Altmaier muss vor allem mit seinen CSU-Freunden reden“ KATARINA BARLEY, SPD 2008 und 2013 durften zum Beispiel ein paar Tausend Syrer und Iraker aus Krisengebieten nach Deutschland einreisen. Barley sagte weiter, Altmaier müsse sich dafür einsetzen, dass auch andere Mitgliedstaaten der EU zu solchen humanitären Schritten bereit seien. Die SPD-Generalsekretärin teilte einen klei- nen Seitenhieb aus: „Dafür muss er vor allem mit seinen Parteifreunden von der CSU reden – allen voran Horst Seehofer.“ Der Dissens zwischen der CSU und dem CDU-Kanzleramtschef ist allerdings kleiner, als es scheint. Hintergrund ist der Plan, den die 28 EU-Regierungschefs am 18. März mit der türkischen Regierung vereinbart hatten. Irregulär in Griechenland ankommende Flüchtlinge werden wieder in die Türkei abgeschoben, um das Geschäft krimineller Schlepper auszuhebeln. Für jeden Syrer, der zurück in die Türkei muss, darf ein Syrer legal in die EU einreisen – maximal aber nur 72.000. Entscheidend ist deshalb, was jenseits dieses Deals passiert. In Syriens Nachbarstaaten warten Hunderttausende darauf, in die EU einreisen zu dürfen. Die EUTürkei-Vereinbarung eröffnet ihnen nur eine vage Perspektive. Wenn die Grenzübertritte nach Griechenland erheblich zurückgehen, dann „wird eine Regelung für die freiwillige Aufnahme aus humanitären Gründen aktiviert“, heißt es in der Pressemitteilung des Europäischen Rats. Zu dieser sollen die EU-Staaten einen „freiwilligen Beitrag“ leisten. Viel Freiwilligkeit und wenig Verpflichtendes also – und die meisten EU-Staaten weigern sich bisher, Flüchtlinge aufzunehmen. Altmaier machte mit seinen Äußerungen in der taz Druck, diese Verpflichtung ernst zu nehmen – während die CSU nun bremst. Auch die Migrationsbeauftragte der Bundesregierung, Aydan Özoğuz (SPD), plädiert für engagierte Schritte Deutschlands. Das Abkommen zwischen der EU und der Türkei markiere keinen Endpunkt, sagte sie. „Auch in Italien sind absehbar nicht alle flüchtlingspolitischen Probleme für 2016 gelöst, von den Problemen in Jordanien ganz zu schweigen. Das Flüchtlingsproblem wird sich nicht in Luft auflösen“, sagte Özoğuz. „Die EU-Mitglied staaten werden jedenfalls weiter Flüchtlinge aufnehmen müssen, auch jenseits des beschlossenen Abkommens.“ Ärgste Verwerfungen Minikontigent: Am Montag sind 32 Syrer aus der Türkei eingeflogen. Sie kamen im Notaufnahmelager Friedland unter Foto: Swen Pförtner/dpa Die Grünen sind von jeher für Kontingente. „Freiwillige Kontingente wären zumindest ein Mittel, um einige der ärgsten Verwerfungen abzumildern, die der schäbige EU-Türkei-Deal aufgerissen hat“, sagte Fraktionschefin Katrin GöringEckardt der taz. „Deutschland muss als wirtschaftlich stärkster Mitgliedstaat in Vorleistung gehen und mindestens die 28.000 Flüchtlinge aufnehmen, zu deren Übernahme es sich auf EU-Ebene bereits verpflichtet hatte.“ Die EU hatte bereits 2015 vereinbart, 160.000 Flüchtlinge europaweit zu verteilen. Umgesetzt ist das noch nicht. Deutschland hatte damals zugesagt, 28.000 Menschen zu übernehmen. Laut Göring-Eckardt müssten es deutlich mehr werden. Diese Zahl wäre allenfalls der Anfang, betonte sie. „Doch dürfen freiwillige Kontingente kein Ersatz für einen Anspruch der Flüchtlinge auf Schutz nach der Genfer Flüchtlingskonvention sein.“ Asylanträge bremsen Abschiebungen GRIECHENLAND Tausende Flüchtlinge bitten offiziell um Asyl auf Lesbos. Papst kündigt Solidaritätsbesuch an LESBOS taz | Die Abschiebun- gen von Flüchtlingen aus Griechenland in die Türkei sind am Dienstag vorübergehend ausgesetzt worden. Grund sind zahlreich gestellte Asylanträge, die zunächst bearbeitet werden müssen. Bereits am Mittwoch sollen aber weitere 250 Menschen per Schiff zurück in die Türkei gebracht werden. Am Montag waren im Rahmen des EU-Türkei-Abkommens erstmals 202 Menschen von den Inseln Lesbos und Chios abgeschoben worden. Alle waren von je einem Sicherheitsmann der griechischen Polizei oder der EU-Grenztruppe Frontex begleitet worden. Im Gegenzug nimmt die EU syrische Flüchtlinge aus der Türkei auf. 32 waren am Montag per Flugzeug in Hannover eingetroffen. Seitdem die Abschiebungen angekündigt wurden, herrscht Panik im abgeriegelten Flüchtlingslager Moria auf Lesbos. Um die direkte Rückfahrt in die Türkei zu verhindern oder wenigstens hinauszuzögern, beantragen nun immer mehr Menschen Asyl in Griechenland. Das bestätigt Zacharoula Tsirigoti, Chefin der zuständigen griechischen Polizeibehörde. Zwar wollen die meisten Flüchtlinge eigentlich auf eigene Faust weiter gen Nordeuropa reisen. Doch die Balkanroute ist seit Wochen dicht. Griechenland ist für die meisten nun die einzige Chance, in der EU zu bleiben. Daher bitten sie nun hier um Asyl. Allein am Wochenende hätten von den etwa 3.300 Flüchtlingen und Migranten, die in Moria ausharren, bereits 2.870 Asyl beantragt, so Tsirigoti. Solange das Verfahren läuft, können die Menschen nicht abgeschoben werden. Es könne zwei bis drei Wochen dauern, bis alle Anträge bearbeitet werden. Zur Unterstützung sollen am Mittwoch weitere EU-Beamte auf den Inseln eintreffen. „Ich verstehe die Verzweiflung der Menschen“, sagt Polizist Dimitris Amoutzias, Leiter der Registrierungsstelle im Lager Moria. „Ihnen wurden falsche Hoffnungen gemacht, sie zahlen wahnsinnig viel Geld, um hierherzukommen – und dann schickt man sie wieder zurück“, so der 34-Jährige. Trotz der rigiden Rückweisung durch die EU kommen auch weiterhin Flüchtlinge auf den griechischen Inseln in der Ostägäis an: Allein bis Montagmorgen setzten 7.034 Menschen von der nahe gelegenen türkischen Küste rüber. Der EU-Türkei-Beschluss, der die illegalen Überfahrten eindämmen und Schleppern das Handwerk legen sollte, greift nicht wie geplant. Alle auf Lesbos Neuankommenden werden umgehend in das Lager Moira eingewiesen. Am Dienstag hat sich ein prominenter Besucher angesagt: Papst Franziskus will den Flüchtlingen in Moria seine Solidarität zeigen – angeblich schon Mitte des Monats. THEODORA MAVROPOULOS Schwerpunkt Ernährung M IT TWOCH, 6. APRI L 2016 TAZ.DI E TAGESZEITU NG 03 Mit der neuen Gentechnikmethode CRISPR/Cas lassen sich Pflanzen leichter und genauer verändern als bisher Das ist CRISPR/Cas ■■CRISPR/Cas ist zurzeit der bekannteste Trend in der Gentechnik: Viele Wissenschaftler sind geradezu euphorisch, weil sie mit der 2012 erstmals verwendeten Methode Erbanlagen gezielter, schneller und billiger verändern können als bislang. ■■Bei älteren Gentechnikverfahren wie der Genkanone schossen die Forscher artfremde Gene in das Erbgut und zerstörten dabei mitunter auch funktionstüchtige Teile. Zudem mussten bei diesen Methoden aus technischen Gründen auch Gene eingebaut werden, die eigentlich nicht gewollt waren. ■■Bei CRISPR/Cas dagegen schneidet ein Protein das Erbgut an einer mit hoher Genauigkeit bestimmten Stelle. Anschließend bauen die Reparatursysteme der Zelle die DNA wieder zusammen – nach einer von den Wissenschaftlern erstellten Vorlage. So können Bauteile nach Wunsch abgeschaltet, entfernt oder neue geschaffen werden. Auch die Reben von Biowein könnten mit der neuen Methode besser gegen Krankheitserreger geschützt werden, sagt Niggli Foto: Helene David/Picturetank/Agentur Focus „Die neue Gentechnik hat großes Potenzial“ LANDWIRTSCHAFT Urs Niggli ist der wichtigste Wissenschaftler der Bioszene, die jede Genmanipulation ablehnt. Nun macht er eine innere Wende öffentlich: Die neue Methode CRISPR/Cas biete auch für Ökobauern große Chancen. Ist das Verrat an alten Idealen? INTERVIEW JOST MAURIN taz: Herr Niggli, Sie haben lang gegen die Gentechnik in der Landwirtschaft gekämpft. Jetzt kann man mit der Gentechmethode „CRISPR/Cas“ Pflanzen und andere Lebewesen einfacher und genauer manipulieren als mit den bisherigen Verfahren. Müssen Sie Ihre Haltung zur Gentechnik ändern? Urs Niggli: CRISPR/Cas hat großes Potenzial. Sie hat aber wie jede Technologie auch Risiken und kann falsch verwendet werden. Das sollte man für jede Anwendung einzeln bewerten, statt diese Technik generell abzulehnen. Ich weiß jetzt schon Anwendungen, die Sinn machen. Man muss schauen, wie die Risiken im Vergleich zu denen anderer Lösungen für die Probleme sind, bei denen man sie einsetzen will. Welche Anwendungen wären denn sinnvoll? Man kann zum Beispiel Gene für Krankheitsanfälligkeit ausschalten oder Resistenzgene aus der verwandten Wildpflanze wieder in moderne Sorten einführen. Das sind Eigenschaften, die zum großen Teil durch die Züchtung auf Ertrag oder Qualität in den letzten hundert Jahren verloren gegangen sind. Da könnte man tatsächlich in großem Maßstab Pestizide einsparen. Pflanzen, die sich besser gegen Krankheitserreger wehren – das wäre doch auch etwas für die Ökolandwirtschaft, oder? Ja, im Biolandbau ist zum Beispiel die Pilzkrankheit Falscher Mehltau ein ungelöstes Problem. Sie reduziert bei der Kartoffel, der Weinrebe, bei vielen Gemüsen oder beim Hopfen die Erträge und erhöht die Kosten. Wenn wir Ökobier trinken, dann wurde der Hopfen mit einem kupferhaltigen Pestizid behandelt. Das Ende der EU-Zulassung für Kupfer ist aber absehbar, weil es ein Schwermetall ist, das im Boden nicht abgebaut wird, und weil es dort Bakterien und Pilze hemmen kann. Wir arbeiten am Forschungsins titut für biologischen Landbau an Pflanzenextrakten, um Kupfer zu ersetzen, doch es ist noch ein langer Weg bis zur Vermarktung. Die Bioverbände lehnen CRISPR/Cas ab. Was sagen Sie zu deren Argument, man könnte durch traditionelle Kreuzung krankheitsresistente Sorten züchten? Das würde vermutlich 30, 40 Jahre Züchtungsarbeit und große Geldmittel voraussetzen. Ich bezweifle, dass die Gesellschaft bereit ist, das zu finanzieren. Es dauert in der Regel 20 Jahre, eine Apfelsorte zu züchten, die gegen die Schorfkrankheit resistent ist. Oft verändert sich der Erreger dann schon nach 5 Jahren so, dass er die Früchte doch wieder schädigen kann. Empfehlen Sie der Ökobranche, CRISPR/Cas zu akzeptieren? Die Biobauern entscheiden das selber, und es überwiegt eine ablehnende Skepsis. Für den Ökolandbau sind nicht nur technische Überlegungen relevant, es geht auch um die Natürlichkeit und die Authentizität der Lebensmittel. Da könnte CRISPR/ Cas bereits ein Schritt zu viel sein. Welche Folgen hätte es, bliebe die Branche bei ihrer Ablehnung von CRISPR/Cas-Pflanzen? Ich gehe davon aus, dass die Biobranche konsequent bleibt, die Technik grundsätzlich ablehnen und keiner Fall-zu Fall-Beurteilung jeder einzelnen Anwendung zustimmen wird. Das bedeutet, dass die Ökoszene ihre Anstrengungen für die eigene Züchtung vervielfachen muss. Es wäre unschön, wenn der konventionelle Bauer eine Kartoffelsorte hätte, die ohne Pestizide auskommt – und der Biobauer eine Kartoffelsorte, die er mit Kupfer spritzen muss. Die alte Gentechnik wird vor allem dazu genutzt, Pflanzen resistent gegen chemische Pestizide zu machen und konventionelle Monokulturen zu erleichtern. Warum glauben Sie, dass die neue Gentechnik nun Sinnvolleres schaffen kann? Die alte Gentechnik ist getrieben durch die großen Konzerne, denn sie ist sehr teuer – unter anderem wegen all der Sicherheitsauflagen, die zu Recht da sind. Diese Unternehmen haben eine industrielle Landwirtschaft im Blick und das Interesse, nicht nur Saatgut, sondern auch dazu passende Unkrautvernichtungsmittel zu verkaufen. CRISPR/Cas können auch kleine Züchter anwenden: Sie ist technisch ex trem einfach, und eine Anwendung kostet nur ungefähr 50 bis 60 Euro. Auch Monsanto und andere Saatgutkonzerne sind an CRISPR/Cas dran. Bauen sie mit der Methode ihre jetzt schon große Marktmacht aus? Das sehe ich nicht so. CRISPR/ Cas ist eine demokratische Methode. Mittlerweile nutzen sie ja Tausende von staatlichen Labors. Könnten nicht auch Pflanzen der neuen Gentechnik patentiert werden, sodass Züchter sie nur mit Genehmigung der Patentinhaber weiterentwickeln dürfen? Die Patentsituation ist zurzeit völlig unklar. Bei dem Einsatz, wie ich ihn mir vorstelle, wird nur ein winziger Teil des Erbguts verändert: weniger als 20 Basenpaare, von denen eine Pflanze insgesamt etwa 70 Milliarden hat. Und die Mutation ist nicht von einer natürlichen zu unterscheiden. Da dürfte es schwierig werden, eine Patentverletzung nachzuweisen. Wie sollte man Saatgut und Lebensmittel aus CRISPR/CasPflanzen kennzeichnen? Ich unterstütze das Anliegen der Bioverbände, dass die Züchtungsmethode gekennzeichnet wird. Wenn man aber „gentechnisch verändert“ draufschreibt, ist die Methode gestorben, bevor man sie kennt. Denn kaum jemand in Europa würde solche Lebensmittel kaufen. Vielleicht könnte man eine neue Kennzeichnung einführen, zum Beispiel „CRISPR/Cas“. Sollen CRISPR/Cas-Pflanzen nach den gleichen Regeln zugelassen werden wie Produkte der alten Gentechnik? Nein. Ich plädiere für ein neues, sehr differenziertes Prüfverfahren. Es wird Eigenschaften wie Krankheitsresistenzen geben, die sich durch kleinste Änderungen des Genoms etwa von einer amerikanischen Rebsorte auf eine europäische übertragen lassen und vermutlich risikoarm sind. Da sollten die Anforderungen nicht so streng sein, wie wenn zum Beispiel artfremde Gene eingeführt werden. Warum ein „Zulassungsverfahren light“ für manche CRISPR/ Cas-Pflanzen? Sonst müssten die Züchter für jedes CRISPR/Cas-Produkt bei der Zulassung ein gigantisches Dossier mit Versuchsergebnissen und Analysen vorlegen. Das werden sich dann vor allem die großen Konzerne leisten können. Die Zulassung muss transparent sein, es muss auch auf Risiken geprüft werden. Aber wenn jede CRISPR/Cas-Pflanze genauso wie eine Sorte der alten Gentechnik behandelt wird, dann wird das die vernünftigen Anwendungen und die kleinen Züchter abwürgen. Was genau bei CRISPR/Cas im Erbgut passiert, wissen wir nicht – damit besteht sehr wohl ein Risiko, oder? Das weiß man auch bei einer traditionellen Züchtung nicht. So kann auch ein Apfel ein leicht erhöhtes Allergiepotenzial haben, der aus einer Kreuzung einer modernen Sorte mit dem schorfresistenten Japanischen Wildapfel entstanden ist. Ein weiteres Gegenargument ist, dass auch die neue Methode CRISPR/Cas manchmal ungewollte Mutationen produzieren würde und deshalb ein unkalkulierbares Risiko sei. Dass wir eine Nullrisikostrategie verfolgen sollen, finde ich weltfremd. Jäger begannen vor 10.000 Jahren, die Kuh zu züchten, und sahen, dass mit Kuhmist die Gräser auf ihren Äckern viel besser wachsen. Wenn die nach dem Maßstab Nullrisiko vorgegangen wären, hätten die den Kuhmist nie aufs Feld getan. Was halten Sie denn davon, die Technik bei Bio-Tieren anzuwenden? Die Probleme in der Tierhaltung kann man komplett auf dem normalen Züchtungsweg lösen. Da sehe ich keine Notwendigkeit. Da stellen sich bei mir im Gegensatz zu den Pflanzen größere ethische Probleme. Die Biolobby kämpft dafür, dass CRISPR/Cas-Pflanzen wie Pflanzen der alten Gentechnik eingestuft werden. Ist Ihr Plädoyer für ein neues Zulassungsverfahren da nicht Verrat? Ich habe bereits vor 25 Jahren an vorderster Front gegen Gentechnik gekämpft und geholfen, dass die Schweiz ein Anwendungsmoratorium für gentechnisch veränderte Pflanzen hat. CRISPR/Cas unterscheidet sich stark von der damaligen Gentechnik und berücksichtigt zahlreiche Kritikpunkte von damals. Mit einer differenzierteren Betrachtung gebe ich meine Ideale also nicht auf. Lehnen Sie die Kampagne der Biobranche gegen CRISPR/Cas ab? Nein. Es ist klar, dass man jetzt politisch Druck machen muss, damit eine Kennzeichnungspflicht kommt und die Wahlfreiheit bestehen bleibt. Aber die Gefahr ist, dass man völlig überreagiert und irrationale Ängste schürt. Urs Niggli ■■62, ist Pflanzenwissenschaftler und seit 1990 Direktor des Forschungsinstituts für biologischen Landbau (Fibl) in der Schweiz. Die Organisation ist die wichtigste Wissenschaftsinstitution für die Ökolandwirtschaft. Zudem lehrt der Professor ökologische Agrarwissenschaften an der Uni KasselWitzenhauFoto: FIBL sen.
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