taz.die tageszeitung

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Seine letzte Reise
Der langjährige Außenminister Hans-Dietrich Genscher
(FDP) ist mit 89 Jahren gestorben SEITE 4, 5
AUSGABE BERLIN | NR. 10983 | 13. WOCHE | 38. JAHRGANG
SONNABEND/SONNTAG, 2./3. APRIL 2016 | WWW.TAZ.DE
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FO R SCH U NG
Feiern
Fummeln
Forschen
Flüchtlinge
Auf der Suche
nach allem
Im Cern in der Schweiz
werden wieder die
Teilchen beschleunigt.
Tausende Wissenschaftler
wollen auf diesem Weg
herausfinden, wie unser
Universum entstand
und wie es überhaupt
funktioniert Sachkunde SEITE 27–29
2. APRIL 20
16
oder
der
Die Lust an
Differenz
Jetzt ist es endlich da, das
taz.lab. Bernd Begemann
wird rocken, alle werden
diskutieren und dann gibt
es auch noch Malen nach
Wahlen. Die wichtigsten
Infos und Tipps kurz vor
knapp SEITE 22, 23
DER STÄ R KSTE SATZ
„Wenn die Leute
vom IS je Bach,
Brahms oder
was auch immer
hören, wird sich
etwas in ihnen
bewegen.“
GEMEINSCHAFT Reisen, Arbeiten,
Lieben – im Alltag ist Europa
längst zusammengewachsen.
Die Generation Erasmus fragt
sich, warum dann die EU an der
Flüchtlingsfrage zerfällt
Der Cellist und Dirigent KARIM WASFI
erklärt, wie er im Irak den Krieg mit Musik
bekämpfen will. Er spielt an Orten, an
denen zuvor Terroranschläge stattgefunden
haben SEITE 24, 25
Gesellschaft SEITE 17–19
taz.berlin
Foto: dpa (oben)
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GRETCHENFRAGE Was
glauben Sie denn? Wie
die Unis mit Religion
umgehen SEITE 41, 44, 45
02
TAZ.AM WOCH EN EN DE
Kompass
SON NABEN D/SON NTAG, 2. /3. APRI L 2016
Aus dem Inhalt
Politik
Staatsmann Zum Tod von
Hans-Dietrich Genscher
Seite 4, 5
Kiwi Warum die CDU in
Baden-Württemberg sich
den Grünen unterordnet
Seite 7
Reportage
LGBT Die Verfassung des
Kosovo ist fortschrittlich.
Homosexuelle müssen
sich trotzdem noch verstecken Seite 8, 9
Argumente
Essay Wie die Afroitaliener ihre Geschichte
entdecken Seite 11
Kultur
Interview Der Zeichner
Craig Thompson über
Midlifecrisis, Politik und
seinen ersten Comic für
Kinder Seite 12
Lyrik Warum Granaz
Moussavi trotz ihrer
modernen Sprache in der
Tradition iranischer DichterInnen steht Seite 14
Frankreich
demonstriert wieder
Gesellschaft
Titel Ist die Einheit Europas eine Fiktion? Ehemalige Erasmus-Studierende
zeichnen ihr Bild der EU
Seite 17–19
Stoff Eine Stoffdesignerin
verliert ihr Augenlicht.
Nun stickt sie in Blindenschrift Botschaften auf
Kissenbezüge Seite 21
Gespräch „Ich schlage
Tod mit Schönheit“, sagt
Karim Wasfi, Dirigent des
irakischen Nationalorchesters. Warum er gerne an Orten des Terrors
spielt Seite 24, 25
Sachkunde
Cern Wie Wissenschaftler
mit dem größten Teilchenbeschleuniger der
Welt den Ursprung unseres Universums ergründen wollen Seite 27-29
Medien
Propaganda Der IS verbreitet Hochglanzmagazine. Wie ein gefährliches
Medium ein breites Publikum anspricht Seite 33
Reise
Räuber Vergrault der
Wolf Urlauber oder ist
er die Chance auf neue
Gäste? Seite 34
Leibesübungen
Fußball Das Wiedererstarken des Hauptstadtclubs Hertha BSC Seite 39
TAZ.LAB SEITE 22, 23
AUS DER TAZ SEITE 31
TV-PROGRAMM SEITE 32
LESERBRIEFE SEITE 37
DIE WAHRHEIT SEITE 40
LEKTIONEN
5 Dinge, die wir
diese Woche
gelernt haben
1. Frauke Petry kann Englisch
Es ist selten, dass der Auslandssender Deutsche Welle im Inland für Aufmerksamkeit sorgt.
Ein Interview aus der Sendung
„Conflict Zone“ wurde erst in
den sozialen Netzwerken geteilt und ist dann von dort in
die traditionellen Medien geschwappt. Der englische Journalist Tim Sebastian macht darin das, was ein Journalist tun
sollte. Er stellt harte Fragen, hakt
nach und lässt sich nicht durch
Gegenfragen aus dem Konzept
bringen. Petry hat immerhin
bewiesen, dass sie gut Englisch
spricht. Viele andere Politiker
G
ut, dass die Terroranschläge in Brüssel so
kurz vor den Osterferien
stattfanden. Viele Brüsseler nutzten die Ferienzeit, um
an Belgiens Stränden auf andere
Gedanken zu kommen. Sie kehrten danach mit widersprüchlichen Gefühlen zurück.
Eines davon: Angst. Französische Neonazis wollen an diesem
Samstag in Molenbeek demonstrieren, Heimat der meisten
mutmaßlichen Attentäter von
Brüssel und Paris. Unter der Parole „Dschihadisten raus!“ ruft
die rechtsextremistische „Génération identitaire“ zum Aufmarsch. Antirassisten und Linke
rufen zur Gegendemonstration.
Molenbeeks Bürgermeisterin
Françoise Schepmans hat nun
ein Versammlungsverbot ausgesprochen, und auf Facebook
ruft „Génération identitaire“
dazu auf, doch nicht nach Molenbeek zu fahren. Aber man sei
nicht fertig mit Molenbeek „und
wir verlangen Rechenschaft für
unsere ermordeten Brüder und
Schwestern“, warnt die Gruppe.
hätten sich auf so ein Interview
gar nicht erst eingelassen.
2. Das FBI kann sich selber
helfen
Es war ein Kampf ums Prinzip,
den das FBI und Apple ausfochten. Wie wichtig ist der Datenschutz? Die US-Bundespolizei
versuchte wochenlang vergeblich, an die Daten auf einem
iPhone zu kommen, das einer
der mutmaßlichen islamistischen Terroristen benutzte, die
im Dezember in Kalifornien
14 Menschen töteten (und selbst
erschossen wurden). Aber das
FBI schaffte es nicht, den Verschlüsselungscode zu knacken,
und Apple wollte nicht dabei
helfen, weil dann auch die Geräte Unbeteiligter nicht mehr sicher wären. Jetzt behauptet das
FBI, dass es auch ohne Apples
Hilfe die Daten auslesen konnte.
Ein Beweis dafür wurde nicht geliefert.
Lyon am Donnerstag, Demonstranten vs. Polizei. In ganz Frankreich protestierten Hunderttausende
gegen eine geplante Lockerung des Arbeitsrechts. Ob Präsident François Hollande das Gesetz durchbekommt? Seine Umfragewerte sind ohnehin im Keller. Und in dieser Woche musste er schon seine Pläne
für eine Verfassungsänderung begraben, die die Ausbürgerung von Terroristen erlauben sollte.
Foto: Laurent Cipriani/ap
3. Gehälter können begrenzt
werden
Deutsche Topmanager sind
Topverdiener. Ganz oben in
der Liste der DAX-Chefgehälter stand im vergangenen Jahr
Daimler-Chef Dieter Zetsche.
Er bekam 14,37 Millionen Euro
von seinem Arbeitgeber. Dass
die Politik durchaus etwas g
­ egen
solch hohe Gehälter unternehmen könnte, zeigt Israel. In dieser Woche verabschiedete die
Knesset ein Gesetz, das die Gehälter von Bankmanagern deckelt. Bankchefs dürfen zukünftig höchstens 35-mal so viel verdienen wie der am schlechtesten
bezahlte ihrer Mitarbeiter. Momentan sind das umgerechnet
584.000 Euro im Jahr. Davon
sollte man auch noch einigermaßen leben können.
4. Journalisten können streiken
In Zeitungen und Onlinemedien
wird häufiger über Streiks berichtet. Dass Journalisten selbst
streiken, kommt nicht so häufig
vor. Die Redakteure von Zeit Online haben nun für Anfang April
einen Warnstreik angekündigt.
Sie wollen genauso viel verdienen wie ihre Kollegen bei der
Print-Zeit. Die taz ist in dieser
Hinsicht gerechter. Hier verdienen alle gleich wenig.
5. Ein Hundename kann gefährlich sein
Der Hundebesitzer aus San
Francisco wollte eigentlich nur
den Hundesitter bezahlen, per
Banküberweisung. Als Verwendungszweck notierte er schlicht
den Namen des Pitbull-Mischlings. Dash. Weil der sich so
ähnlich schreibt wie das arabische Kürzel für den „Islamischen Staat“ (Daesh), stoppten
aufmerksame Bankmitarbeiter
die Buchung. IS dumm gelaufen.
SEBASTIAN ERB
Das Zitat
„Da sticht die Türkei
nicht besonders
negativ heraus“
SPD-VIZE RALF STEGNER RECHTFERTIGT DEN
UMGANG DER BUNDESREGIERUNG MIT
ANKARA DAMIT, DASS AUCH MIT
SAUDI-ARABIEN UND IRAN VERHANDELT
WERDE
Foto: dpa
STADTGESPRÄCH
„Ich bin am Leben“
DER TERROR HAT DAS LEBENSGEFÜH L DER BELGISCH EN HAUPTSTADT VERÄN DERT.
MAN SI EHT DAS GEFÜH L DES DI FFUSEN UN BEHAGENS N ICHT, ABER ES IST DA
Wie das geht, zeigten die Hooligans, die am vergangenen
Sonntag die Trauer auf dem Börsenplatz störten, ohne dass die
Polizei eingriff. Nach einer Umfrage meiden jetzt drei von zehn
Brüsselern öffentliche Plätze.
Der Tourismus befindet sich
im freien Fall, Sehenswürdigkeiten verzeichnen einen Besucherrückgang um zwei Drittel.
Ständig machen neue Terrorwarnungen die Runde. In einem offenen Brief warnen 100
Sicherheitsverantwortliche des
Flughafens Brüssels, es würden
mindestens 50 IS-Sympathisanten dort arbeiten, mit Zugang
sogar zu Cockpits von Flugzeugen. Der Flughafen ist nach wie
vor geschlossen.
Sichtbarer noch als die Angst
ist eine allgemeine diffuse Empörung. Man fühlt sich unzureichend geschützt, man hält
FRANÇOIS MISSER
AUS BRÜSSEL
die Sicherheitsorgane für unterfinanziert, man sieht die Integrationspolitik als gescheitert
an. Man sieht die Politiker über
verschärfte Sicherheitsmaßnahmen diskutieren und fragt sich,
warum die Maßnahmen nicht
schon früher ergriffen wurden.
Die Antwort darauf fällt relativ
leicht. So lehnt Brüssels Flughafenbehörde Eingangskontrol-
len, die potenziellen Attentätern
den Zugang zum Gebäude verwehren würden, ab. Nun streikt
die Flughafenpolizei aus Protest
gegen diese Ablehnung.
Während nicht einmal der öffentliche Nahverkehr in Brüssel
wieder hundertprozentig läuft
– es gibt einen Notfahrplan –,
beginnt die Zeit der Trauerfeiern und Beerdigungen. Am Freitag sollten die ersten sechs Terroropfer beigesetzt werden. Und
der Börsenplatz ist nach wie vor
Versammlungsort für öffentliches Trauern um die Opfer, von
denen man inzwischen weiß,
dass sie aus allen Kontinenten
kommen und dass dieser Terror
die ganze Menschheit trifft. „Argentina abraza a Bélgica“ steht
auf einer Mauer mit Kreide geschrieben. „Je suis BXL et je suis
Cameroun STOP à la violence“
steht auf einem Flugblatt, das
an derselben Mauer klebt. „Iranians are against terrorism anywhere in the world“ ist mitten
im Blumenmeer zu lesen.
Auf dem Vorplatz des Börsengebäudes hängt ein Banner
„Nicht im Namen des Islam!“
umgeben von den Flaggen von
Kongo, Kosovo, Marokko, Mauretanien und Nepal sowie denen
von Tibet und vom ehemaligen
Südvietnam. Nostalgiker für ein
Europa, das in dieser Form noch
nie existiert hat, haben die weinende EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini mit Dornenkrone als eine Art Jesus verewigt,
mit der Osterbotschaft „Auferstehung der Europäischen Republik“.
Der Börsenplatz wird somit
zur Pilgerstätte. Aber nicht alle
Botschaften sind so überhöht.
Der belgische Surrealismus lebt.
„La vie est belge!“, hat jemand
auf eine Wand gedichtet. Und
jemand anders hat einen Spiegel aufgehängt, über dem „Ich
bin am Leben“ steht. Immer wieder gucken Leute da neugierig
hinein – und sehen sich selbst.
Die Drei
SON NABEN D/SON NTAG, 2. /3. APRI L 2016
TAZ.AM WOCH EN EN DE
03
Als dieses Foto im Dezember 2015 im Flüchtlingscamp Moira aufgenommen wurde, war es noch kein gefängnisartiges Lager Foto: Nikos Pilos/laif
Flüchtlinge, die nun in Griechenland ankommen, sollen in die Türkei zurück. So das Abkommen
zwischen der EU und der Türkei. Hilfsorganisationen macht dies zu Helfershelfern einer inhumanen Politik
KRIEG
Der schmutzige Deal
AUS LESBOS
THEODORA MAVROPOULOS
S
chon von Weitem ist das
große Lagerfeuer am
Strand von Lesbos bei
der Hafenstadt Myti­
lini zu sehen. Musik schallt aus
den Lautsprecherboxen eines
nah geparkten Autos. Auf zwei
großen Grills liegen Folienkar­
toffeln und Fleisch. Spanisch,
Deutsch, Arabisch und immer
wieder Englisch ist zu hören.
Die Leute sind jung, im Durch­
schnitt höchstens 30 Jahre.
Was wie eine Strandparty aus­
sieht, ist ein Treffpunkt der un­
terschiedlichen Hilfsorganisa­
tionen auf Lesbos, jener griechi­
schen Insel, auf der die meisten
Flüchtlinge ankommen bei ih­
rem Versuch, in die Europäische
Union zu gelangen. Mehrmals in
der Woche besprechen sich die
HelferInnen, tauschen sich aus,
berichten von traurigen und tra­
gischen Erlebnissen, versuchen
sie so zu verarbeiten.
Auch Nefeli Bami steht am La­
gerfeuer, hält einen Plastikteller
mit Kartoffeln und Hühnchen
in der Hand und unterhält sich
mit einem Rettungsschwimmer.
Die 31-Jährige ist Koordinatorin
der Uferwache der UN-Hilfs­
organisation UNHCR und seit
gut fünf Monaten auf der Insel.
„Die Lage hier hat sich komplett
verändert“, sagt Bami. Es klingt
nüchtern, aber ihr Körper ver­
rät die Erregung; sie schüttelt
den Kopf.
Sie schauten nicht weg
Bis vor einigen Wochen liefen
sie und weitere UNHCR-Mitar­
beiterInnen täglich die Strände
ab, um nach Flüchtlingsbooten
Ausschau zu halten und dann so
gut wie möglich Erste Hilfe zu
organisieren. Es lief reibungslos,
Wer jetzt
nach Griechenland
flüchtet, hat kaum
eine Chance:
Schon am Montag
sollen nach
­derzeitiger Planung die ersten
Abschiebungen
vorgenommen
werden
so Bami: Sie standen in Kontakt
mit Organisationen, die für De­
cken, heißen Tee und Nahrung
zuständig waren, mit den Ret­
tungsschwimmern und mit
den Ärzten, die für die psycho­
logische Betreuung der Flüch­
tenden da waren. Auch Über­
setzer, Informanten und ein
Shuttle zu den Camps waren or­
ganisiert. „Der griechische Staat
und die EU haben sich da schön
zurückgelehnt“, sagt Bami. „Ob­
wohl das Problem des immer
stärkeren Flüchtlingszustroms
offensichtlich war, wurde alles
den NGOs und den freien Hel­
ferinnen überlassen.“
Bami lacht auf. Es ist jenes zu
hohe Lachen, das zeigt, dass nun
nichts Gutes mehr zu berichten
ist: Vor etwa zwei Monaten habe
die griechische Küstenwache da­
mit begonnen, die Flüchtlings­
boote aus hoher See in den Ha­
fen zu geleiten. Zwar kamen dort
dann wieder die Organisationen
und Freiwilligen zum Zuge. „Mi­
nisterpräsident Alexis Tsipras
konnte so aber sagen, dass der
Staat sich für die Rettung der
Flüchtlinge einsetzte – ein di­
plomatischer Schachzug.“ Wie­
der schüttelt Bami den Kopf. Das
sei ja noch okay gewesen, denn
die HelferInnen hätten Zugang
zu den Flüchtlingen gehabt.
Doch dann wurde der Deal
zwischen der EU und der Türkei
beschlossen. Das Abkommen
sieht vor, dass alle Flüchtlinge,
die seit dem 20. März in Grie­
chenland angekommen sind,
zurück in die Türkei geschickt
werden. Für jeden illegal einge­
reisten und folglich abgeschobe­
nen Syrer soll die EU einen Syrer
aus der Türkei aufnehmen, der
dann auf legalem Weg einreist
– bis zu einer bisherigen Ober­
grenze von 72.000 Menschen.
„Europa kann Hilfesuchende
doch nicht einfach so abschie­
ben“, sagt Bami. Das verstoße ge­
gen die eigentlichen Werte der
Europäischen Union. Bisher
konnten die Flüchtlinge nach
ihrer Registrierung in einem
Hotspot nach Athen weiterrei­
sen und von da nach Nordeu­
ropa. Jetzt soll jeder Flüchtling
seinen Asylantrag im Hotspot
stellen, der von der Asylbehörde
direkt vor Ort geprüft wird. Wer
nicht genehmigt wird, kommt
weg. Doch werden die Anträge
momentan gar nicht bearbei­
tet, weil die Behörden abwar­
ten, bis die Türkei als sicheres
Herkunftsland eingestuft wird.
Erst dann kann man die Flücht­
linge legal abschieben.
Dennoch fängt die griechi­
sche Küstenwache, seitdem der
Beschluss offiziell in Kraft ist,
die Flüchtlingsboote ab und
bringt die Menschen direkt nach
Moria. „Der Hotspot ist zum Ge­
fängnis geworden“, so Bami. Das
einstige offene Camp dürfen die
Flüchtlinge jetzt nicht mehr ver­
lassen.
Viele der Flüchtenden wüss­
ten gar nicht, wie ihnen ge­
schehe, berichtet Bami. Sie hät­
ten sich ein freies Land erhofft,
nach Frieden und normalen
Lebensbedingungen gesehnt.
Jetzt säßen sie hinter Zäunen
und bekämen keine Informa­
tionen, wie lange sie dort aus­
harren müssten.
Die griechischen Behörden
scheinen es auch nicht zu wis­
sen. Griechenland ist nicht aus­
reichend auf die Durchführung
des Abkommens vorbereitet –
die 2.000 Plätze des geschlos­
senen Camps in Moria reichen
nicht. Schon jetzt sind weit über
2.500 Flüchtlinge dort. Die Es­
sensversorgung ist kaum noch
gewährleistet.
Die Menschen leben dort zu­
sammengepfercht. Das erzeuge
logischerweise Spannung, so
Bami. Immer wieder kommt es
zu Demonstrationen, die aber
nichts bewirken. Es sei schreck­
lich zu sehen, wie Familien und
schwangere Frauen in die Camps
abgeführt werden. „Da werden
Kinder eingesperrt.“ Auch eine
92-jährige Frau lebt dort.
Schon am Montag sollen nach
derzeitiger Planung die ersten
Abschiebungen in die Türkei
vorgenommen werden. Das Par­
lament in Athen wird deshalb
vorab im Schnellverfahren die
nötigen Vorgaben zur Umset­
zung des Flüchtlingspakts der
EU mit der Türkei ratifizieren.
Der Gesetzentwurf wurde dem
Parlament am Donnerstag vor­
gelegt, berichtete das Staatsfern­
sehen ERT. Darin geht es un­
ter anderem um die Rechtmä­
ßigkeit der Rückführung von
Flüchtlingen und Migranten in
die Türkei.
Nun sollen sie wegschauen
Das UNHCR hat sich nach dem
EU-Türkei-Beschluss etwas zu­
rückgezogen. Zuvor übernahm
es auch den Transport der
Flüchtlinge nach ihrer Ankunft
in die Camps. „Das können wir
jetzt nicht mehr tun. Da macht
man sich mitverantwortlich,
Flüchtlinge ins Gefängnis zu ste­
cken“, sagt Bami. Das U
­ NHCR ist
in Moria nun nur beratend tä­
tig. Man kläre die Flüchtlinge
über ihre Rechte auf. Doch das
sei, da die Lage so chaotisch sei,
nicht ausreichend machbar.
„Was soll man den Menschen
sagen?“, Bami zuckt hilflos mit
den Schultern. „Vielleicht schickt
man dich in die Türkei, ja, auch
wenn du Kurde bist, denn Eu­
ropa hat beschlossen, dass die
Türkei ein sicheres Land ist.“
Sie senkt den Kopf. Es sei sehr
hart, den Menschen so etwas sa­
gen zu müssen.
Das UNHCR werde in den
kommenden Tagen versuchen,
wenigstens Schwangere, Kranke,
Alte und Minderjährige unter
Berufung auf mangelnde ärzt­
liche Versorgungsmöglichkei­
ten vor Ort aus dem Camp zu
befreien, berichtet sie.
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