Literarische Sachbücher aus Flandern und den Niederlanden (Teil 3)

Flandern & die Niederlande
Ehrengast der Frankfurter Buchmesse 2016
Essay-Reihe: Literaturlandschaften
Anlässlich des Ehrengastauftritts Flanderns und der Niederlande auf der Frankfurter
Buchmesse werden allein 2016 über 250 Titel aus dem Niederländischen auf Deutsch
erscheinen, verteilt auf die Genres Romane und Erzählungen, Kinder- und Jugendliteratur, Sachbuch, Poesie, Theater sowie Graphic Novels. Um Ihnen den Überblick zu
erleichtern, haben wir Experten gebeten, jeweils mit einem Essay in die entsprechenden
Genres einzuführen und die Autoren, Themen und Besonderheiten Flanderns und der
Niederlande vorzustellen. Den Anfang machte Stefan Wieczorek im März mit einem
zweiteiligen Beitrag zum Thema Belletristik. Mireille Berman und Patrick Peeters,
Spezialisten bei der Niederländischen bzw. Flämischen Stiftung für Literatur, setzen die
Reihe im April zum Thema Sachbuch fort.
Teil 3: Literarische Sachbücher aus Flandern und den
Niederlanden: universal und grenzenlos
Von Mireille Berman und Patrick Peeters
Niederländischsprachige Sachbücher handeln überwiegend nicht von den Niederlanden
oder Flandern. Viele Autoren literarischer Sachbücher schreiben über Angelegenheiten,
die sich weit außerhalb ihrer Landesgrenzen abspielen oder einen so universalen
Charakter haben, dass man sie wohl kaum als typisch niederländisch oder flämisch
betrachten kann. Es stellt sich die Frage, woher die starke internationale Ausrichtung
rührt: Liegt es an der Tradition als Handelsnation, die internationalen Einflüssen
gegenüber schon immer offener gegenüber stand, oder mangelt es an einem ausgeprägten nationalen Bewusstsein? Tatsache ist, dass niederländischsprachige Sachbuchautoren internationalen Themen und Ideen gegenüber aufgeschlossen sind.
Ein anderer auffälliger Aspekt ist, dass viele niederländischsprachige Sachbücher zwar
wissenschaftlich untermauert, jedoch nicht in einem akademischen Ton gehalten sind.
Essay Reihe: Literarische Sachbücher aus Flandern & den Niederlanden, Seite 2
Historiker, Sozialwissenschaftler, Psychologen, Philosophen, Wirtschaftswissenschaftler
und Anthropologen schreiben in einem oftmals zugänglichen Stil für ein breites Publikum informierter Leser. Zwischen Schund und Doktorarbeit liegt eine breite Palette
interessanter, gut geschriebener Werke, oft aus persönlichem Blickwinkel erzählt und
politisch oder gesellschaftlich engagiert.
Wenn es um das Verfassen literarischer Sachbücher geht, können die Niederlande auf
eine längere Tradition zurückblicken als Flandern. Die meisten Verleger haben ihren Sitz
zwar in Amsterdam, aber in Flandern wird derzeit hart gearbeitet, um diese historisch
gewachsenen Unterschiede auszumerzen. Einige neue flämische Verlage haben das
literarische Sachbuch zum Schwerpunkt erklärt und verhelfen dem Genre somit dazu,
sich zum schnellst wachsenden im niederländischen Sprachgebiet zu entwickeln.
In den letzten Jahren sieht man in den Buchhandlungen immer mehr Bücher über
Philosophie, Psychologie und Ethik, was auf ein großes Leserpublikum für wissenschaftliche Zeitschriften und Zeitungsbeilagen in diesen Bereichen zurück zu führen ist. Ein Teil
dieser Titel kann als anspruchsvolles Selbsthilfebuch bezeichnet werden: Wie löst man
seine Probleme mithilfe von Socrates und wie wird man mit einer täglichen Dosis
Spinoza ein besserer Mensch? Bei anderen Büchern geht es um die intellektuelle Verwunderung über die Irrwege des Geistes. Douwe Draaisma, Professor für die Geschichte der
Psychologie, ist fasziniert von unserem Gedächtnis. Er schreibt in einem wunderbaren,
literarischen Stil übers Vergessen, Verdrängen und Träumen, wobei seine Beispiele oft
der Literatur entstammen. In seinem Werk stellt er Fragen, die sich jeder wohl mal stellt:
Warum vergisst man wichtige Dinge und merkt sich allerlei Unsinn? Warum scheint das
Leben so schnell zu vergehen, wenn man älter wird? Ohne an Nuance einzubüßen stößt
er damit bei einem großen Publikum auf Resonanz, das genau wie er verwundert
feststellen muss, wie einzigartig unser Gedächtnis ist.
An der Schnittstelle von Psychologie und Ethik üben einige Autoren scharfe Gesellschaftskritik und wollen die Debatte entfachen. Paul Verhaeghe, Psychiater und
Professor, hatte mit seinen Büchern Liefde in tijden van eenzaamheid (Liebe in Zeiten
von Einsamkeit) und Und ich? seinen Durchbruch bei einem großen Publikum. In seinem
kürzlich erschienenen Buch Autorität stellt er fest, dass heutzutage Vieles schief läuft,
wenn es um Autorität geht. Politik und Religion haben ihre Glaubwürdigkeit verloren,
Eltern kostet es immer mehr Mühe, ihre Kinder unter Kontrolle zu halten. Der Flame
bricht – ebenso wie sein niederländisches Pendant Marli Huijer, „Philosophin des
Vaterlandes” – eine Lanze für eine neue Form der Autorität.
Ferner erscheinen viele sozial engagierte, kritische Werke über die Auswüchse des Kapitalismus und des aufrückenden Konsumverhaltens. Bücher über die Bankenkrise, die
Nahrungsindustrie, die Krise der Demokratie, die Macht des Großkapitals und wie wir
eine nachhaltige Alternative dafür finden können. Einen bemerkenswerten Erfolg konnte
Joris Luyendijk mit seinem Buch Unter Bankern verzeichnen. Auf Grundlage seiner Blogartikel für The Guardian wurden Luyendijks anthropologische Impressionen der Londoner
Essay Reihe: Literarische Sachbücher aus Flandern & den Niederlanden, Seite 3
Börse in den Niederlanden mit über 300.000 verkauften Exemplaren ein gigantischer
Verkaufserfolg. Zudem erhielt es 2015 mit dem NS Publieksprijs den wichtigsten literarischen Publikumspreis des Landes. Im selben Genre schreibt Luuk van Middelaar, der in
den vergangenen zehn Jahren einen aktiven Beitrag zur Europapolitik geleistet hat, unter
anderem als rechte Hand des Vorsitzenden des Europäischen Rates Herman van Rompuy.
Van Middelaar nutzte seine Erfahrungen für ein vielfach ausgezeichnetes Buch über die
anstrengende Geburt der Europäischen Union Vom Kontinent zur Union.
Das politische Unvermögen Belgiens, innerhalb eines angemessenen Zeitraums eine
Regierung zu bilden, wurde von vielen als Krise der Demokratie bezeichnet. In Flandern
besann man sich darauf, wie man den demokratischen Gehalt der Gesellschaft erhöhen
könnte. David Van Reybrouck rief die Bürger in seinem Pamphlet Tegen verkiezingen
(Gegen das Wahlsystem) auf, ihre politische Verantwortlichkeit zu übernehmen. Die
auffälligste Idee in seinem Plädoyers ist, dass im Parlament teilweise Bürgern sitzen
sollen, die über das Los bestimmt werden.
Auch aus den Büchern des Untersuchungsjournalisten Chris de Stoop, der Themen wie
Frauenhandel und die erste belgische Selbstmordterroristin behandelt, spricht starkes
soziales Engagement. Sein jüngstes Buch Das ist mein Hof. Geschichte einer Rückkehr ist
sein persönlichstes Buch. De Stoop geht zurück in sein Elternhaus, um seine demente
Mutter zu pflegen und den Familienhof unter seine Obhut zu nehmen. Lyrische Passagen
über die Bauernlandschaft wechseln sich ab mit Kritik an der europäischen Landbaupolitik, der Vergrößerung der landwirtschaftlichen Betriebsfläche pro Hof und den
Strategien der Verfechter der „neuen Natur“. De Stoop macht nach und nach den
extremen Druck greifbar, der auf dem Familienbauernhof lastet.
Auch Geschichte bleibt ein beliebtes Genre, vor allem, wenn die große Geschichte mit
kleineren, persönlichen Geschichten verflochten wird. Ein sehr erfolgreiches Beispiel ist
Das Paradies der Armen von Suzanna Jansen, in dem sich die Autorin auf die Spuren ihrer
Familie in den Armenkolonien des neunzehnten Jahrhunderts begeben hat. Ebenso
fesselnd versteht es Geert Mak die Schicksale normaler Menschen mit der großen Geschichte zu verbinden. Mak, von Beruf Jurist, schreibt aus einer tiefen sozialen Engagement heraus immer wieder über das Verhältnis zwischen dem normalen Volk und der
herrschenden Macht. Er schrieb eine Reihe von Büchern über niederländische und europäische Geschichte sowie über die Weltgeschichte. Mit seinem internationalen Bestseller
In Europa erlebte er den Durchbruch. In Amerika! folgt er fünfzig Jahre später John Steinbeck auf seiner Reise durch die Vereinten Staaten, während er mit seinem neuesten Buch
wieder zurückkehrt in die Niederlande. In Six richtet er den Blick auf die niederländische
Elite und beschreibt das Schicksal der Amsterdamer Patrizierfamilie Six über vier Jahrhunderte.
David Van Reybrouck schrieb mit Kongo. Eine Geschichte einen Bestseller, der mit nationalen und internationalen Preisen überhäuft wurde. In großartiger Prosa beschreibt van
Reybrouck die präkoloniale, koloniale und postkoloniale Zeit bis 2010, den fünfzigsten
Essay Reihe: Literarische Sachbücher aus Flandern & den Niederlanden, Seite 4
Jahrestag der Unabhängigkeit Kongos. Für dieses monumentale Buch hat er über 500
Kongolesen in Kinshasa und im Landesinneren interviewt und sich unter die afrikanische
Diaspora in Europa und China gemischt.
In diesem Sinne trat van Reybrouck in die Fußstapfen einer grande dame des niederländischsprachigen literarischen Sachbuchs, Lieve Joris. In ihren Büchern über Afrika,
China und den Mittleren Osten gelingt es dieser Autorin, weltweite Angelegenheiten
verständlich und einfühlsam zu schildern. Ihr jüngstes Buch Op de vleugels van de draak
(Auf Drachenflügeln) handelt von der Ausbeutung Afrikas durch die Chinesen. In diesem
packenden Reisebericht wird klar, was Globalisierung für das postkoloniale Afrika bedeutet.
Der Zweite Weltkrieg ist in den Niederlanden und Flandern schon seit Jahrzehnten der
Zeitabschnitt, der am häufigsten in der Literatur vorkommt und noch stets einen moralischen Eichpunkt bildet. Einige Zeugenberichte sind sehr bekannt geworden – allen
voran natürlich das Tagebuch der Anne Frank und das Werk von Etty Hillesum – aber
auch weniger bekannte Bücher von Autoren wie Philip Mechanicus, Nico Rost und
Klaartje de Zwarte-Walvisch sind in vielen Ländern erschienen. In jüngster Zeit wird das
Bild des Zweiten Weltkriegs noch komplizierter. So schrieb die Slawistin Laura Starink mit
Meine Mutter aus Mikultschütz die Geschichte ihrer Mutter und Tanten, die in einer
Lehrerfamilie in Schlesien aufwuchsen, einem entlegenen Winkel im Dritten Reich.
Starink untersucht, wie diese Mädchen nach der Nazizeit vor den Russen flüchten mussten, und sie beschreibt, welche Folgen das für ihre Familie hatte. Damit durchbricht sie
auch das große Schweigen über diesen Teil der Geschichte.
Mit Orgelman: Felix Nussbaum bringt Mark Schaevers eine besonders gelungene
Biographie des deutschen Künstlers Felix Nussbaum, der 1944 in Auschwitz ermordet
wurde und dessen Arbeit jetzt erst seinen Platz im Kanon des 20. Jahrhunderts erobert.
Die Verkaufszahlen und Literaturpreise unterstreichen das zunehmende Interesse am
Genre Biographie, das im niederländischsprachigen Raum einen wahren Aufschwung
erlebt. Auch international wird das anerkannt: So wurde Jan Caeyers’ Biographie über
Beethoven in Deutschland mehrmals neu aufgelegt.
Geht es um niederländische oder flämische Geschichte? Nicht unbedingt. Die niederländischsprachigen Sachbücher bieten mit ihrer Vielseitigkeit, Angebotspalette und
Nuanciertheit einen Schatz an gut geschriebenen, engagierten und intelligenten
Analysen.
Zu den Autoren
Mireille Berman ist Spezialistin im Bereich Sachbuch bei der Niederländischen Stiftung
für Literatur. Patrick Peeters verantwortet in der Flämischen Stiftung für Literatur das
Stipendienprogramm und ist Spezialist für die Bereiche Poesie, Drama und Sachbuch.