Die Last der Geschichte in Arabien

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Buchbesprechung:
Die Last der Geschichte in Arabien
Von Arnold Hottinger, 08.04.2016
Warum fällt es den Arabern so schwer, demokratische Regime einzurichten? Ein
neues Buch des Historikers E.M. McMillan gibt Antworten darauf*.
Angesichts der jüngsten Versuche durch Volksaufstände Demokratien
herbeizuführen, die beinahe alle scheiterten, ist die Versuchung gross, derartigen
Vorurteilen auf den Leim zu gehen. Doch solche letztlich
rassistische Erklärungsversuche treffen nicht zu. Es sind nicht "die Araber", denen
es schwer fällt, Demokraten zu werden. Das Hindernis ist ihre Geschichte.
Geschichte als Hindernis
Dies zeigt der Historiker E.M. Mcarthy glasklar. In seinem neuen Buch schildert er in
den Einzelheiten, was seit dem Ersten Weltkrieg im Nahen Osten geschehen ist.
Doch um dies zu erklären, verweist der Historiker auch immer wieder auf die weiter
zurückliegende Vergangenheit der islamischen Welt. Manchmal bis auf die
Römerzeit und davor. Oftmals auf die Gründerzeit des Propheten und die auf ihn
folgende Epoche der Eroberung eines grossen islamischen Imperiums.
Er zeigt Zusammenhänge auf und verweist auf die Knotenpunkte, von denen aus das
Geschick der islamischen Länder und Staaten langfristig bestimmt wurde.
Die Entstehung des Khalifats
Als eine dieser entscheidenden Weichenstellungen stellt er die Herrschaftsgründung
Muawiyas heraus, des Gründers der Omayyadischen Dynastie von Damaskus (sie
herrschte 661-751 nach Christus). Muawiya (r. 661-682) stammte aus dem
aristokratischen Familienclan der Banu Omayya von Mekka, der dem Propheten
Muhammed ursprünglich feindlich entgegengestanden war. Doch nach seiner späten
Bekehrung zum Islam war dieser mächtige Clan von den unmittelbaren Nachfolgern
des Propheten, die man die Rechtgeleiteten nennt, mit wichtigen Ämtern betraut
worden.
Muawiya wurde Statthalter von Damaskus und Herr über die Provinz Scham, oder
Syrien, die das ganze östliche Mittelmeer von Lattakiya bis Gaza umfasste mit ihrem
gesamten Hinterland bis tief in die Syrische Wüste. Die Provinz war eine der Ersten,
die in der islamischen Expansion der arabischen Stämme erobert wurde. Zuvor hatte
sie zum Oströmischen Reich gehört, das wir auch das Byzantinische nennen.
Seine oströmische Basis diente dem Statthalter dazu, sich gegen den letzten der
rechtgeleiteten Nachfolger des Propheten, die aus Mekka regierten, Ali (den Vetter,
Schwiegersohn und Vertrauten Mohammeds) kriegerisch durchzusetzen. Er
verdankte es seinem "syrischen" Heer, dass er den Krieg gegen Ali überdauerte,
während Ali ermordet wurde. Muawiya übernahm die Herrschaft über das Reich
unter dem Titel "Khalifa", Nachfolger (des Propheten), den die Rechtgeleiteten
getragen hatten. Doch seine Macht beruhte auf seinem Heer.
Herrschaftsmodell für Jahrhunderte
Er begründete das Herrschaftsmodell, das andauern sollte. Der Machthaber verdankt
seine Macht der Armee, sie hält ihm die Treue, weil er sie bezahlt. Das Land, das der
Machthaber beherrscht, ist die Quelle des Reichtums, mit dem er die Armee
finanziert.
Und der Islam? Er war Quelle der Solidarität gewesen, welche die arabischen
Stämme befähigt hatte, ihre grossen Eroberungen durchzuführen, nicht nur in Syrien,
auch in Ägypten, Nordafrika, bald auch in Spanien und östlich im Irak, in Persien und
darüber hinaus in Transoxanien, heute als Zentralasien bekannt.
Der Machthaber und seine Armee
Doch schon unter Muawiya wurde es die Armee des Herrschers, die seine Macht
trug. Der Islam wurde mehr eine Legitimitätsstütze. Der Herrscher gebrauchte sie
und baute sie aus, indem er sich auf die Gottesgelehrten abstützte, die er selbst auf
gesellschaftlich führende Posten berief, zum Beispiel als Richter nach dem
Gottesgesetz der Schari'a. Andere, die ihm nicht dienen mochten, blieben frei,
solange sie nicht gegen ihn agitierten.
Dieses Modell überdauerte. Es gab Variationen. Der Herrscher konnte weite Reiche,
oder in späteren Zeiten, bloss einzelne Provinzen der islamischen Welt regieren. Die
Kalifen wurden durch Sultane ersetzt. Sultan bedeut einfach "die Macht", wie
französisch "le pouvoir" . Ohne ein Heer kam keiner aus. Es konnte passieren, dass
die Generäle des Heeres den Machthaber absetzten und selbst die Macht ergriffen.
Dann wurde einer von ihnen "Sultan". Doch ohne ein Heer blieb auch er nicht an der
Macht. Das Land, das er beherrschte, musste die Armee ernähren. Wie McMillan
betont, der beherrschte Staat wurde zum Nährboden der Armee, die Armee war nicht
da, um dem Staat zu dienen, sondern umgekehrt, der Staat diente der Armee.
Islamische Solidarität
Der Islam oder eine Variante desselben diente manchmal dazu oder half mit, einen
neuen Sultan an die Macht zu befördern, weil die Religion die Solidaritätsgrundlage
schaffen konnte, die es erlaubte, eine erfolgreiche neue Armee zu sammeln und zum
Sieg zu führen. Doch nach einer jeden Eroberung der Macht bildete sich neu das
Grundmuster vom Herrscher und seiner Armee mit Legitimierung durch die
islamischen Gottesgelehrten.
Dies dauerte ein gutes Jahrtausend lang an - bis zur Zeit der kolonialen
Machtergreifung, die schrittweise im Verlauf des 19. und des frühen 20.
Jahrhunderts erfolgte.
Fortgesetztes Modell in der Kolonialzeit
Unter den Kolonialherren war es, wie McMillan ausführlich und sehr offen darlegt,
nicht anders. Es gab nun die Metropole, deren Staathalter an Stelle des
einheimischen Sultans regierte und seine koloniale Armee, welche ihn an der Macht
hielt. Das nun von Fremden regierte Land musste weiterhin für den Unterhalt der
Armee aufkommen.
Dann folgte die Unabhängigkeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Nach ihrem Abzug
hinterliessen die Kolonialmächte "nationale" Parlamente und eine "nationale" Armee
in den neu gebildeten "Nationen", oder mindestens ihren Ansatz dazu. Die Grenzen
dieser Nationen - "Linien in der Wüste"-waren sehr willkürlich von den
Kolonialmächten gezogen worden, wie das Buch auch unbestechlich schildert. Nicht
im Hinblick auf die lokalen Bewohner, sondern als Abgrenzungen gegenüber
konkurrierenden Kolonialmächten, die ihr Stück Beute beanspruchten.
Schon nach wenigen Jahren übernahmen die Militärs die Macht von den
Parlamenten: in Syrien 1949; in Ägypten 1952; im Sudan zuerst 1958, dann wieder
1969 und zum dritten Mal 1989; im Irak 1958; in Algerien 1965; in Libyen 1969.
Wo es über den Versammlungen Könige, oder andere traditionelle Alleinherrscher
gab, Emir, Scheich, Sultan, Dey, wie immer der Titel, hatten diese manchmal
längeren Bestand als die "Republiken". Sie überdauerten in Marokko, in den
Golfstaaten, in Saudi-Arabien, in Jordanien bis heute.
Wo die Militärs die Macht ergriffen, ernannten sie einen der ihren als Präsidenten,
der die Stelle und die Funktion des Sultans einnahm. Sie bildeten dann "seine"
Armee.
Parlamente ohne eigene Macht
Pro forma gab es auch Parlamente. Sie wurden nun, zusammen mit den
Islamgelehrten, Instrumente zur Legitimierung der Macht, jedoch ihrerseits von "der
Macht" beherrscht und instrumentalisiert.
Institutionen des Staates, die Eigenständigkeit entwickelten und daher "die Macht"
herausfordern um ihr nötigen Falls die Stirne zu bieten, gab es nicht. Jedenfalls nicht
in genügendem Masse, um eine Beschränkung der Macht der Herrscher, die sich
nun gerne Präsidenten titulierten, und ihrer Armee zu erzwingen.
Der nun schon weit über tausendjährigen Kombination von Herrscher und Armee
vermochten weder die aus Europa eingeführten Parlamente, noch die Richter der
neuen aus Europa importierten Jurisprudenz, noch die Journalisten der nach
europäischem Vorbild gegründeten Zeitungen und anderen Media zu widerstehen.
Es bildete sich, wie McMillan immer erneut feststellt, ein tiefer Graben zwischen
Macht ( Machthaber plus Armee) und Bevölkerung.
Herrscher und Beherrschte
Dieser Graben bestand schon in der vorkolonialen Zeit, weil die herrschende
Kombination von Machthaber und Armee die Bevölkerung nicht benötigte, um ihre
Macht aufrecht zu erhalten, ausser als Einnahmequelle.
Doch der Graben vertiefte sich zur Zeit der Kolonialherrscher. Sie herrschten als
Fremde. Sie waren Angehörige einer fremden Kultur, und ihnen war wichtig,
innerhalb dieser eigenen Kultur fortzuleben, obwohl sie nun als Herrscher über
"Eingeborene" regierten, die einer fremden Kultur angehörten. Diese fremde Kultur,
die sie meist bloss als Unkultur sahen, suchten die Kolonialherrscher nach ihren
Vorstellungen umzuformen. Die Herrscher lebten in ihrem Cocon, die Beherrschten
anfangs in dem ihrigen.
Auf Seiten der Fremden
Mit den Jahrzehnten gab es die Assimilierten unter den Untertanen. Doch sie waren
stets nur ein kleiner Teil der Beherrschten. Sie waren so wenige, dass
Zwischenschichten aus Europa einwanderten, zum Beispiel die Griechen und
Italiener in Ägypten, auch einige Schweizer waren darunter. In Algerien waren es "les
colons" und "les petits blancs" aus Frankreich und auch aus Spanien. Sie dienten
dazu, in den beherrschten Ländern, den Kolonien, jene Arbeiten zu erledigen, die
die Herrscher als notwendig erachteten, die Beherrschten jedoch nicht zu leisten
vermochten - jedenfalls nicht zur Zufriedenheit der Machthaber.
Nach den Fremden herrschen Entfremdete
Die einheimischen Assimilierten wuchsen allmählich zu einer dünnen
"verwestlichten" Mittelschicht. Sie lernten die Sprache der Herrscher und sandten
ihre Kinder in deren Schulen, um Ausbildungen im Stil der kolonialen Macht zu
erlangen. Sie übersprangen damit den kulturellen Graben, der zwischen den
Herrschenden und den Beherrschten bestand. Sie wurden nach dem Abzug der
kolonialen Herrscher und ihrer Armeen zu deren Nachfolgern. Sie rückten in deren
Stellungen ein, und sie bildeten jene Schicht in den Ex-Kolonien, die das Werk der
Kolonialisten fortführte, soweit dieses aus den Anstrengungen bestand, die
kolonialen Gebiete zu Nationalstaaten im europäischen Sinne und später auch nach
dem Vorbild der USA umzumodeln.
Armee an die Macht
Der Graben wuchs. Die Assimilierten wurden zur Oberschicht, die regierte, und sie
stützten sich auf die Armee, um an der Macht zu bleiben. Doch schon nach einer
kurzen Übergangszeit, erkannten die Armeen, dass der Spiess sich umkehren liess.
Sie übernahmen die Macht. Ihre Generäle kommandierten, und die assimilierten
Mittel- und Oberschichten mussten nach ihren Anweisungen regieren. Sie wurden zu
regierenden Bürokraten.
Israel katalysiert
Der Prozess der Machtübernahme durch die Armeen wurde durch die Niederlagen
gegenüber Israel beschleunigt. Die militärischen Misserfolge stellten die Generäle vor
die Wahl, entweder zuzugeben, dass sie selbst und ihre Armeen nichts taugten, oder
aber die assimilierten Mittelschichten als die Verantwortlichen für die Niederlage zu
erklären.
Sie taten das zweite. Sie glaubten an ihre eigene Analyse, und diese wurde daher
zum Zwang, die bisherigen Herrschenden abzusetzen und selbst die Macht zu
übernehmen.
Erstarrte Machtkonstellation
Die in Präsidenten verwandelten Generäle regierten in vielen Fällen Jahrzehnte lang
gestützt auf ihre Armee. Manche versuchten, ihre Söhne als Nachfolger einzusetzen.
Ihre lange Stabilität erreichten sie dadurch, dass sie sich den machtvollen
Aussenmächten als Partner anboten. Anfänglich waren dies die früheren
Kolonialmächte, später fast immer die USA mit der Sowjetunion als Alternative
während des Kalten Krieges.
Dies schirmte die als Präsidenten herrschenden Generäle und ihre Armee ab gegen
äussere Eingriffe. Im Inneren waren die Machthaber allerdings der Gefahr von
Umstürzen ausgesetzt, die fast immer von der Armee ausgingen. Sie entwickelten
Polizei- und Geheimdienstmethoden, um dies zu verhindern. Im Zeichen der
Stabilität halfen die Aussenmächte ihnen dabei, solche Umbrüche abzuschrecken.
Doch konnte es auch geschehen, dass Aussenmächte ihre Interessen dadurch zu
fördern suchten, dass sie die Absetzung eines Armeemachthabers durch einen
anderen begünstigten.
Permanente Machtkonstellationen
Der Historiker McMillan schildert diese Prozesse als zusammenhängende Erzählung,
welche die entscheidenden Knotenpunkte aneinander reiht. Er zeigt auf, wie das eine
durch das andere entsteht und das gleiche Grundmuster sich dabei oberflächlich
abändert, aber als Grundfigur weiter bestehen bleibt: Macht beruhend auf Herrscher
und seiner Armee.
Im Europa der Aufklärung waren Institutionen aufgebaut worden, die von der
Gesellschaft selbst eingeführt und gefestigt wurden im Bestreben, den
Landeskindern, das heisst dieser Gesellschaft selbst, zu dienen und nützlich zu sein.
Dies war eine Europa spezifische Sonderentwicklung. In der islamischen Welt gab es
sie nicht. Nicht unter den europäischen Kolonialherrschern, weil für sie die
"Eingeborenen" keine Mitbürger waren. Sowie auch nach der Unabhängigkeit nicht
oder in viel zu geringem Masse, weil nun das altherkömmliche System in einer
zeitgemässen Variante die Herrschaft übernahm, nämlich: "globalisierungsfähige"
Machthaber, gestützt auf ihre Armee, ohne wirksame andere Institutionen, die dazu
hätten dienen können, die Bevölkerung der bisherigen "Eingeborenen" mit
einzubeziehen.
Kurzer Aufbruch des „arabischen Frühlings“
Um die Jahreswende von 2010 zu 2011 war es soweit, dass grosse Teile der von
ihren Monarchen oder Präsidenten und deren Armee beherrschten Bevölkerungen
mitreden wollten. Sie liessen sich nicht mehr durch die Geheimpolizeien
abschrecken, sondern zogen in bisher nie dagewesenen Massen auf die Strassen.
Es ging ihnen um "Würde". Das Wort besagte, sie wollten Personen werden in ihrem
Staat, die mitzählten, nicht mehr Untertanen "der Macht", die nach Gutdünken über
sie und ihr Leben verfügte.
Eine unbestimmte Vorstellung bestand, dass "Demokratie" ein Mitspracherecht,
aktive Zugehörigkeit statt passiver Unterordnung, mit sich bringen werde. Man
wusste, in Demokratien gab es Wahlen und Parlamente. Unklar war geblieben, wie
die Gesellschaft sich selbst zu organisieren habe, um als Demokratie zu
funktionieren. Vielleicht hätte der Weg dorthin sich schrittweise durch
Erfahrung geöffnet. Tunesien schlug ihn ein.
Rückfall in alte Muster
Doch in Ägypten, nach wie vor einem entscheidendem Vorbild, griff die Armee ein,
sobald sie eine Gelegenheit dazu fand, und das Niltal kehrte zur klassischen
Machtkonstellation zurück: ein General-Präsident und seine Armee. - Allerdings
vorläufig. "Die Macht" in Kairo glaubte sich nun veranlasst, dermassen
grobschlächtig und brutal gegen vermutete Rivalen und Opponenten vorzugehen,
dass sie sich immer mehr neue und immer entschlossenere Gegner schafft. Ob sie
unter diesen Umständen Bestand haben wird, bleibt offen
In anderen Ländern Bahrain, Syrien, Jemen, Libyen, stiess die Volkserhebung auf
Widerstand durch die Macht. In Libyen setzte sie sich mit ausländischer Hilfe gegen
Ghadhafi und die ihm treuen Stammes- und Familienmitlgieder sowie verbliebenen
Armeeteile durch.
Doch es sollte sich zeigen, dass die Hunderte von bewaffneten Gruppen, die der
Aufstand hervorbrachte, alle das alte Machtrezept übernahmen. Die Chefs der
Bewaffneten suchten sich Partner unter den Politikern, mit deren Hilfe sie darauf
ausgingen, alle Macht zu übernehmen. Im Bestreben erneut, in ihrem beschränkten
Bereich, "die Macht" zu werden und uneingeschränkt als solche zu herrschen. Die
grosse Zahl der Milizen führte zu Konkurrenzkämpfen. Das Land zerfiel in zahlreiche
Einzelmächte, die sich über die nächsten fünf Jahre zu grösseren, rivalisierenden
Machtbereichen zusammenschlossen und gegeneinander kämpften.
Bürgerkrieg in Syrien
Syrien zerbrach, weil die rebellischen Massen der bisherigen Machtkonstellation
nicht Herr werden konnten. Der bisherige Machthaber und "seine" Armee hielten
zusammen, weil diese Armee im Wesentlichen von einer Minderheit kontrolliert
wurde, jener der alawitischen Religionsgemeinschaft, zu welcher der Machthaber
selbst auch gehörte.
Diese Minderheit musste für ihre Machtstellung fürchten, wenn die Rebellen
gewinnen sollten. Sie hatte sogar mit Rache durch die überwiegend sunnitischen
Rebellen zu rechnen. Sie hielt deshalb unverrückbar zum bisherigen Regime, dessen
tragenden Pfeiler sie seit 1970 gebildet hatte. Dies führte zum syrischen Bürgerkrieg.
Der Machtkampf im Jemen
Wie immer in arabischen Bürgerkriegen der post-kolonialen Epoche trugen
Einmischungen von Aussenmächten auf entgegengesetzten Seiten zu ihrer
Verlängerung bei.
Im Jemen entstand auch ein Bürgerkrieg. Die bisherige Macht, ein durch die
Volksbewegung abgesetzter General-Präsident und seine Armee, lösten ihn aus. Der
Ex-Präsident und die ihm getreuen Armeeeinheiten griffen auf alte innere
Gegensätze zurück, um einer bisher im Norden eingekesselten bewaffneten
Oppositionsbewegung, jener der zaiditischen Huthi Religionsgemeinschaft, Macht
über die Hauptstadt und vorübergehend fast alle dicht bewohnten Landesteile
Jemens zu verschaffen.
Der nach der Volkserhebung eingesetzte Übergangspräsident al-Hadi, vermochte
sich nie "seine" Armee zu schaffen. Nur einige Armeeteile hielten zu ihm. Er musste
das Land verlassen. Was zum Eingreifen des Nachbarlandes, Saudi Arabien, zu
Gunsten al-Hadis und gegen die Huthi- Bewegung führte. Dies löste einen
Bürgerkieg aus, der bis heute in Jemen wütet.
Intervention und Spaltung in Irak
Bürgerkieg wurde auch das Los des Iraks. Dort war es nicht eine Volkserhebung
sondern das Eingreifen der Amerikaner mit dem angeblichen Ziel einer "Demokratie",
das den Bürgerkrieg auslöste. Er entwickelte sich aus dem Widerstand gegen die
Amerikaner, der im Zeichen der Ideologie des Islamismus auftrat und das Land
schon unter der amerikanischen Besatzung in einander blutig bekämpfende
schiitische und sunnitische Gemeinschaften spaltete. Die Kurden wirkten als Dritte
Kraft.
In Bahrain wurde die Volkserhebung niedergeschlagen, weil der dortigen Macht, dem
König und seiner Armee, saudische Truppen zu Hilfe eilten und einen
Zusammenbruch des bisherigen Regimes verhinderten. Doch die Spannungen
dauern bis heute an.
Die jihadistischen Islamisten
Dann führt McMillan die dritte Macht ein. Er verweist auf das Jahr 1979. Damals
ereignete sich der Rebellionsversuch fanatischer Wahhabiten alter Schule, die
versuchten, die Wallfahrtsmoschee in Mekka in ihre Gewalt zu bringen und sich in ihr
Wochen lang halten konnten. Ihr Ziel war, die Königsherrscaft, die sich als
"heidnisch" einstuften, zu Fall zu bringen.
Im gleichen Jahr ergriff Khomeiny im benachbarten Iran endgültig die Macht und
unterstellte sein Land einem Regime der Gottesgelehrten und deren Armee, der
Revolutionswächter. Gleichzeitig sorgte Khomeiny dafür, dass demokratische
Dekorationen und Kulissen aufgebaut wurden. Dies tat er wahrscheinlich, weil er
erkannte, dass Konzessionen an die heutige "modern und global" ausgerichtete
Umwelt unvermeidlich geworden waren.
Im gleichen Jahr 1979 brach auch der Krieg gegen das russische Besatzungsregime
in Afghanistan aus, der im Zeichen des Jihad, des Heiligen Krieges der Muslime,
geführt wurde. Die Amerikaner förderten ihn, weil er sich ja gegen die Russen
richtete. Dieser Krieg sollte zum Nährboden für kampfgeübte Jihadisten aus allen
arabischen Ländern werden, die nach dem "Sieg über die Sowjetunion" ihren Jihad in
ihren Heimatländern und auch in den nicht-islamischen Staaten, den "Grossen" und
"Kleinen Teufeln" , wie Khomeiny sie nannte, fortführen wollten.
Die Jihadisten und ihre Gesinnungsgenossen ermordeten den ägyptischen
Präsidenten Sadat 1981. Sie halfen mit, einen Bürgerkrieg in Algerien auszulösen,
der von 1991 an gegen 10 Jahre lang dauern sollte. Sie ergriffen vorübergehend die
Macht im Sudan. Sie gingen unter Osama Bin- Ladin gegen den "fernen Feind" in
Amerika vor. Sie trugen den Widerstand gegen die amerikanische Besetzung im Irak,
verstärkt durch Geheimdienstoffiziere Saddam Husseins und andere Armeeoffiziere,
die mit der gesamten irakischen Armee von den Amerikanern entlassen und auf die
Strasse gestellt worden waren. Sie haben sich dann im Schatten der Bürgerkriege in
Syrien, in Libyen und in Jemen ausgebreitet.
Ideologien der "Ungläubigkeitserklärung"
Die jihadistischen Islamisten waren in Syrien und im Irak erfolgreich und konnten ein
eigenes Herrschaftsgebiet in beiden Staaten errichten, das sie als Kalifat anpriesen.
Auch in ihrem Fall gab es den Machthaber und seine Armee. Ihr Land musste beide
finanzieren.
Ihre Ideologie war schon zur Zeit Nassers in Ägypten von Sayid Qutb entwickelt
worden, der von Nasser 1966 hingerichtet worden war. Qutb hatte seine
verweltlichten und verwestlichten Mitmuslime als Ungläubige eingestuft, gegen die
Gewalt gerechtfertigt, ja notwendig sei. Seine Lehre traf sich mit jener der
Wahhabiten in Saudi-Arabien, die ihrerseits auch die Ungläubigkeitserklärung
gegenüber weniger frommen oder anders denkenden Mitmuslimen kannten.
Das arabische Fachwort ist "takfir". Nur, dass die Wahhabiten in ihrer saudischen
Variante die saudischen Herrscher ausnahmen. Mit diesen hatten sie seit dem 18.
Jahrhundert ein Bündnis geschlossen, das ihre politische Führung anerkannte,
solange sie, die wahhabitischen Gottesgelehrten, die saudische Gesellschaft im
Inneren des Königreiches in ihrem Sinne islamisch erhalten und leiten konnten.
Wahhabiten, die dieses Bündnis mit dem Königshaus ablehnten, fanden sich auf der
gleichen ideologischen Linie wie die jihadistischen Islamisten aus dem afghanischen
Krieg, die "Afghanen", wie man sie nannte.
Eigene Territorien der Jihadisten
Es waren die arabischen Bürgerkriege, die den islamistischen Jihadisten den
Weg zur territorialen Macht öffneten. Zuvor waren sie auf blosse Anschläge
beschränkt, die sie gegen die verweltlichen und verwestlichten Herrscher ihrer
eigenen Staaten und gegen die Mächte durchführten, die stützend hinter den
Machthabern ihrer Länder standen, in erster Linie Amerika.
Zwischen den streitenden Bürgerkriegsparteien konnten die Islamisten erstmals
eigene Territorien erobern und halten. Zuerst gelang ihnen dies in Somalien, später
in Syrien und im Irak, dann auch im Jemen und in Libyen, stets als Dritte
Kraft innerhalb tobender Bürgerkriege. Die Territorien sollten in ihren eigenen Augen
und in denen Jener, die ihrer Propaganda folgten, Grundsteine für "das Kalifat"
werden, dessen Wiedererrichtung sie verhiessen.
Fehlende „Zivilgesellschaft“
Das Scheitern der nach westlichem Vorbild errichteten arabischen Nationalstaaten,
die sich als blosse Machtbereiche von Präsidenten und ihren Armeen erwiesen,
dermassen unverrückbar erstarrt, dass sie ihre Bevölkerungen schlussendlich zur
Auflehnung brachten, schuf die Freiräume für die territoriale Implantation und
Ausdehnung der gewaltbereiten islamistischen Ideologie.
Was die Demokratie angeht, so fehlte ihr der unentbehrliche Nährboden einer
"Zivilgesellschaft". Es gab sie nicht unter den Sultanen und nicht unter den
Kolonialherren. Sie kam auch nicht, oder höchstens in ungenügendem Masse, unter
den nationalen Regierungen zustande, weil diese schon sehr bald in die alten
Bahnen von Machthaber und Armee zurückfielen. Die grosse Masse der
Landeskinder blieben Untertanen. Ihr erster Versuch, ihre bisherigen Machthaber
abzuschütteln, fand 2011 statt. Das Abschütteln gelang in einigen Fällen, doch der
Aufbau einer demokratischen Gesellschaft misslang in fast allen, weil die Grundlagen
fehlten.
Diese hätten die Selbstorganisation der bisherigen Untertanen vorausgesetzt. Im
ersten Anlauf sind aber Formen des Aufbaus von Strukturen zur Selbstermächtigung
der bisherigen Untertanen (noch?) nicht zustande gekommen.
*E.M. McMillan, From the First World War to the Arab Spring, Whats really going on
in the Middle East? Palgrave Macmillan 2016