Oh, wie schön ist Panama

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kann weiter touren. Seite 11
Wer definiert eigentlich, was Satire und
was Beleidigung ist? Seite 15
Unterstützt die Bundesregierung
den US-Drohnenkrieg? Seite 5
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Dienstag, 5. April 2016
71. Jahrgang/Nr. 79
Berlinausgabe 1,70 €
www.neues-deutschland.de
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STANDPUNKT
Unkultur des
Asozialen
Oh, wie schön ist Panama
IWF sieht keine
Einigung mit Athen
Enthüllungen ermöglichen Einblick in die anonyme Welt der Briefkastenfirmen
Lagarde bestreitet aber Drohungen
gegen Griechenland
Tom Strohschneider über »Panama
Papers« und das Gemeinwesen
Eine Minderheit ohnehin schon
einkommensstarker Integrationsverweigerer versucht, zu Lasten des Gemeinwesens und auf
Kosten anderer noch reicher zu
werden. Nicht zum ersten Mal
wird das nun mit zahllosen Dokumenten belegt – und wieder
hört man die Absicht, nun aber
wirklich einmal ernsthaft gegen
legalen Abgabenbetrug, Geldwäsche, verbotene Steuerhinterziehung vorzugehen. Dass dies auch
wirksam passiert, wird man nicht
hoffen können.
Dabei wäre ein großer Sprung
nach vorn so wichtig: Was hier
geschieht, als Kavaliersdelikt verniedlicht, als legale Möglichkeiten
der Steuervermeidung staatlich
auch noch gefördert, als privater
Bereicherungssport betrieben –
das unterminiert die Res publica,
die öffentlichen Angelegenheiten.
Treiber dafür ist eine Unkultur des
Asozialen, die sich dem Grundgedanken des demokratischen Gemeinwesens entzieht – dass nämlich Lasten je nach Stärke der
Einzelnen geteilt werden. Deshalb
braucht es auch eine Kulturrevolution: Es muss endlich Schluss
sein mit der Verachtung des Öffentlichen, die auch in einer breiteren Öffentlichkeit längst in den
Köpfen Spuren hinterlassen hat,
die aber nur jene leichtherzig betreiben können, die es sich privat
auch leisten können. Eine jahrelange öffentliche Debatte, die
nach dem schwachen Staat, nach
weniger Öffentlichem ruft, ist
mitschuldig an Zuständen, die einer Parallelgesellschaft erlaubt,
auf nicht selten kriminelle, in jedem Fall aber antisoziale Weise
reicher zu werden.
UNTEN LINKS
Um Panama wird jetzt viel Wind
gemacht. In großer Zahl sind dort
Briefkastenfirmen entdeckt worden. Einerseits verständlich: Es
sind ja nicht zufällig kleine Länder, die aus ihrer Platznot eine
Tugend machen und die größten
Briefkastenfirmensiedlungen errichten. Verwerflich andererseits,
dass westliche Präsidenten und,
noch viel schlimmer, dass die allerbesten Freunde östlicher Präsidenten sich ihre Post hinschicken
lassen, ohne die postmateriellen
Interessen ihrer eigenen Länder
zu bedenken. Firmen, die Briefkästen statt Büros unterhalten,
scheinen überdies soziale Mindeststandards zu ignorieren. Doch
Recherchen ergaben: Platzmangel
in diesen Firmen ist kein Problem.
Natürlich ist alles etwas kleiner als
normalerweise in Büros üblich,
aber die Mitarbeiter kommen
auch äußerst selten zur Arbeit.
Und weil heute kaum noch jemand echte Briefe schreibt, bleibt
in den Briefkastenfirmen immer
noch genug Platz. Oft wahrscheinlich mehr als in manchem
echten Büro. uka
ISSN 0323-4940
Washington. Der Internationale Währungsfonds (IWF) hat Berichte zurückgewiesen,
wonach die Organisation überlege, wie sie
Griechenland im Schuldenstreit in die Knie
zwingen könne. Solche Spekulationen seien
»einfach absurd«, schrieb IWF-Direktorin
Christine Lagarde in einem Brief an den griechischen Ministerpräsidenten Alexis Tsipras.
Sie betonte aber, eine Einigung bei den Verhandlungen mit Athen sei noch nicht in Sicht.
Lagarde regierte auf ein Schreiben von Tsipras, in dem dieser eine Klarstellung der IWFPosition verlangt hatte. Hintergrund ist die
Veröffentlichung des angeblichen Protokolls
eines abgehörten Telefonats zwischen IWFVertretern durch die Enthüllungsplattform
Wikileaks. Darin soll es um die weitere Verhandlungsstrategie gegangen sein.
Am Montag sollten Vertreter der internationalen Kreditgeber in Athen eintreffen, um
die Umsetzung des 84 Milliarden Euro schweren, dritten Hilfspaketes zu überprüfen. Von
der Prüfmission hängt ab, ob weitere Kredite
freigegeben werden. Agenturen/nd
Proteste gegen
Abtreibungsgesetz
Rechtskonservative Regierung und
Kirche planen Verschärfung
Foto: Fotolia/Calado
Berlin. Es war ein Datenleck der Superlative:
ein Datenvolumen von 2,6 Terabyte, mehr als
elf Millionen Dokumente im Zusammenhang
mit 214 000 Briefkastenfirmen. Ein Jahr lang
saßen 400 Journalisten aus fast 80 Ländern,
die dem Internationalen Konsortium für Investigative Journalisten (ICIJ) in Washington
angehören, an der Auswertung der »Panama
Papers«. Was sie herausfanden, hat es in sich:
Den steuersparenden Weg der von der Kanzlei Mossack Fonseca betreuten Briefkastenfirmen in Finanzoasen wie Panama und den Britischen Jungferninseln schlugen auch 140
hochrangige Politiker aus aller Welt ein. Dazu
gehören laut den ersten Veröffentlichungen
am Sonntagabend zwölf amtierende oder ehemalige Staats- und Regierungschefs wie Mauricio Macri (Argentinien), Petro Poroschenko
(Ukraine), König Salman (Saudi-Arabien),
Nawaz Sharif (Pakistan) und Sigmundur
Gunnlaugsson (Island). Auch Spitzensportler
und Funktionäre wie Lionel Messi und Michel
Platini wurden genannt.
Briefkastenfirmen in Offshore-Finanzzentren bieten den Nutzern die Möglichkeit, anonym Geldgeschäfte zu betreiben. Dadurch
wird es ihnen auch erleichtert, in ihren Heimatländern Einkünfte zu verschweigen und
Steuern zu hinterziehen. Banken wirken als
Vermittler.
Der Bremer Finanzwissenschaftler Rudolf
Hickel sagte gegenüber »nd«, die Enthüllungen hätten ihn nicht überrascht, das Ausmaß
der Praktiken hingegen schon. Es sei ein weiterer Beleg dafür, dass Geldwäsche und Steuerhinterziehung Vermögender quasi »generalstabsmäßig in großem Stile organisiert«
würden. Hickel sprach sich für ein Verbot reiner Briefkastenfirmen aus. Auch müssten den
hiesigen Finanzämtern mehr Möglichkeiten
eingeräumt werden, gegen solch dubiose
Praktiken vorzugehen. nd Seiten 2, 3 und 19
EU startet Massenabschiebungen
202 Geflüchtete wurden am Montag aus Griechenland in die Türkei verbracht
Der Irrsinn hat System: Während Griechenland die ersten
202 Bootsflüchtlinge in die Türkei zurückschickte, wurden die
ersten legal eingereisten Syrer
in Deutschland begrüßt.
Von Fabian Lambeck
Das EU-Türkei-Abkommen zur
Flüchtlingsabwehr tritt in seine
entscheidende Phase. Erste Leidtragende der Vereinbarung waren am Montag 202 Menschen aus
Pakistan, Bangladesch und afrikanischen Staaten, die von den
griechischen Inseln Chios und
Lesbos per Schiff zurück in die
Türkei geschickt wurden. Die Betroffenen hatten keinen Asylantrag in Griechenland gestellt, wie
das Ministerium für Bürgerschutz am Montag mitteilte. Dazu gab man ihnen offenbar auch
keine Gelegenheit: So kritisierte
das
UN-Flüchtlingshilfswerk
UNHCR am Montag, dass viele
Menschen in Griechenland Asyl
beantragen wollten. Wegen Personalmangels und der chaotischen Situation vor Ort sei aber
unklar, ob sie eine Chance dazu
hätten, so ein Sprecher.
Die Abschiebungen sind Teil
des vor zweieinhalb Wochen besiegelten Deals zwischen Ankara
und Brüssel, der die illegale Einreise über die Ägis beenden soll.
Für jeden aus Griechenland abgeschobenen Syrer darf jeweils
ein Syrer aus der Türkei legal in
der EU aufgenommen werden.
Damit übereifrige UNHCR-Mitarbeiter diese Vereinbarung nicht
torpedieren, ist ihnen offenbar
untersagt worden, Kontakt zu den
Betroffenen aufzunehmen, die in
den griechischen Hotspots kaserniert sind. Auch anderen Hilfsund Menschenrechtsorganisationen wurde der Zugang zu den
inhaftierten
Schutzsuchenden
verwehrt. Selbst Medienvertreter
dürfen die Abschiebe-Hotspots
wie Camp Moria auf Lesbos nicht
betreten.
Bei Pro Asyl befürchtet man
wohl nicht zu Unrecht, dass Massenausweisungen stattfinden, ohne dass die Betroffenen Zugang zu
einem rechtsstaatlichen Asylver-
»Das ist ein rechtswidriger Akt der
Unmenschlichkeit.«
Günter Burkhardt,
Pro Asyl
fahren gehabt hätten. Dazu gehört auch, dass gegen negative
Entscheidungen ein Rechtsbehelf
eingelegt werden kann. »Das ist ein
rechtswidriger Akt der Unmenschlichkeit«, sagte Geschäftsführer Günter Burkhardt am Montag in Frankfurt am Main. In Griechenland existiere kein rechtstaatliches Asylverfahren. Zudem
sei die Türkei kein sicherer Drittstaat, der Flüchtlinge schützt.
Ab Montag sollte ursprünglich
auch Menschen zurückgeführt
werden, deren Asylantrag gar
nicht erst inhaltlich geprüft, sondern der schon zuvor unzulässig
abgelehnt wurde. Mit dem Argument, dass die Flüchtenden auch
in der Türkei sicher seien. Dies beträfe insbesondere Syrer. Zunächst war allerdings unklar, ob
unter den Abgeschobenen auch
Syrer waren.
Während die ersten Flüchtlinge mit Passagierschiffen zurück in
die Türkei gebracht wurden, erreichten die ersten der maximal
15 000 Syrer, die Deutschland gemäß Deal aufnehmen muss, am
Montag das Durchgangslager im
niedersächsischen
Friedland.
Zwei Flugzeuge aus der Türkei mit
insgesamt 32 Flüchtlingen landeten am Montag in Hannover.
Von dort wurden die Familien mit
Bussen
ins
Durchgangslager
Friedland gebracht, von wo aus sie
im Land verteilt werden sollen.
Mit Agenturen
Seiten 6 und 7
Warschau. Tausende Menschen haben am
Sonntag vor dem polnischen Parlament gegen eine geplante Verschärfung der Abtreibungsgesetze protestiert. Zahlreiche Demonstranten, darunter viele Frauen, hielten
Kleiderbügel aus Draht in die Höhe, als drastisches Symbol für brutale Abtreibungsmethoden in früheren Zeiten, als verzweifelte
Frauen auf lebensgefährliche Art selbst abtrieben. Zu der Demonstration in Warschau
hatte die linke Partei Razem aufgerufen. Auf
Transparenten wurden die Befürworter des
Gesetzesentwurfs als »Taliban« bezeichnet
und Polen als eine »Hölle für Frauen«.
Die rechtskonservative Regierungspartei
Recht und Gerechtigkeit (PiS) und die katholische Kirche unterstützen den Entwurf für
die Verschärfung des Abtreibungsrechts. In
allen Kirchengemeinden wurde am Sonntag
ein Schreiben an die Gläubigen verlesen, in
dem die Bischöfe ihre Unterstützung für die
Änderung bekräftigten. Das in Polen geltende Abtreibungsrecht ist bereits sehr restriktiv. AFP/nd
Kommentar Seite 4
LINKE-Mitarbeiterin
in Irak inhaftiert
Hamburger Fraktionsangestellte soll
die syrische Grenze überquert haben
Berlin. Eine Mitarbeiterin der Hamburger
Linksfraktion wird in Nordirak festgehalten.
Der Vorwurf: Beriwan Al Zin soll illegal die
Grenze nach Syrien überquert haben. Die Frau
hatte sich nach Fraktionsangaben über die humanitäre und politische Lage in der Krisenregion informieren wollen. Sie wurde bereits
am 22. März inhaftiert und habe dann tagelang weder telefonieren dürfen noch Kontakt
zu einem Rechtsanwalt gehabt. »Eine solche
Praxis verstößt gegen das Wiener Übereinkommen über diplomatische Beziehungen«,
wird der Abgeordnete Martin Dolzer, bei dem
die Frau beschäftigt ist, in der »Hamburger
Morgenpost« zitiert. Es geht der Mitarbeiterin
»den Umständen entsprechend gut«.
Die Region im Norden Iraks wird von einer kurdischen Regierung autonom verwaltet. Dolzer forderte die Bundesregierung auf,
ihre Verantwortung gegenüber seiner Mitarbeiterin über Beziehungen zur kurdischen
Regierung unter Präsident Masud Barzani
wahrzunehmen und die sofortige Freilassung zu erwirken. nd