DAS τό ένί είναι, τό άγαθώ είναι etc. etc. UND DAS τό τί

FRIEDRICH BASSENGE
DAS τό ένί είναι, τό άγαθώ είναι etc. etc.
UND DAS τό τί ήν είναι BEI ARISTOTELES
I.
II.
III.
IV.
V.
VI.
VII.
Übersicht
Einleitung
Dae „zum Menschen gehörige Sein" und das τηε
Die grammatische Deutung des τηε
Dae missing link : τό τί ήν (τό) άνθρώπω είναι
Das Imperfektum ήν : Stand des Problema
Das Imperfektum ήν: Prüfung des Problems
a) Philosophische Fragen
b) Grammatische Fragen
c) Der Aristotelische Sprachgebrauch
Das Pronomen τί
„Das — was war es? — Sein" oder „das jeweils zugehörige Sein"
Die Überschrift, die wir den nachstehenden Bemerkungen gegeben
haben, ist nicht neu. Sie stand vor gut 130 Jahren über einem Aufsatz
TRENDELENBURGS 1 , der für die Diskussion über das Aristotelische
τί ήν είναι (nachfolgend τηε abgekürzt) grundlegende Bedeutung
erlangt hat. Die Hauptgedanken TRENDLENBURGS sind zunächst
von SCHWEGLER 2 weitergeführt und dann von BONITZ 8 abgerundet
und gewissermaßen kodifiziert worden. Wenn inzwischen auch eine
andere g r a m m a t i s c h e Deutung des τηε aufgekommen und wohl
herrschend geworden ist, so ist dabei doch die Richtung im wesentlichen eingehalten worden, die TRENDELENBURG der s a c h l i c h e n
Interpretation gewiesen hatte. Ebendeshalb geben wir unseren Betrachtungen die alte Überschrift. Es erscheint nämlich an der Zeit,
wieder einmal nachzuprüfen, ob die von TRENDELENBURG gewiesene
, Richtung — vor allem hinsichtlich der Interpretation des ήν — wirklich die richtige war.
Grammatische und sachliche Deutung hängen hier natürlich aufs
engste zusammen. Aber noch andere Fragen komplizieren das Problem,
1
Rheinisches Museum f. Philol. 2, 1828, 4 8 7 - 4 8 3 .
» Die Metaphysik des Aristoteles, Tübingen 1 8 4 7 - 4 8 , IV 369 ff.
* Index Aristotelicus 764 a 60 ff.
Unauthenticated
Download Date | 3/29/16 11:44 AM
Das τί ήν εϊναι bei Aristoteles
15
vor allem die Fragen, die mit der Gliederung unserer Überschrift
zusammenhängen. Das -π¡ε steht dort ja erst an zweiter Stelle; an
erster Stelle finden sich Ausdrücke, die aus einem substantivierten
είναι und aus einem Nomen im Dativ bestehen. Es fragt sich hierbei
nicht nur, in welchem sachlichen Verhältnis die beiden Glieder der
Überschrift zueinander stehen, sondern auch, ob etwa der Ausdruck
τηε überhaupt aus Ausdrücken des ersten Typs — durch Zwischenglieder oder unmittelbar — entstanden sei.
Wenn man diesen Problemkomplex erschöpfen wollte, müßte man
ein ganzes Buch schreiben. Dabei wäre auch die Aristotelische
T h e o r i e des τηε genauer zu verfolgen. Ein Zeitschriftenaufsatz kann
sich nur beschränktere Ziele setzen. Für uns wird es sich hauptsächlich darum handeln, die verschiedenen Schichten des Problems
und die Schwierigkeiten der bisherigen Lösungsversuche voll ins
Bewußtsein zu heben. Am Schluß werden wir einen neuen Lösungsversuch zur Diskussion stellen, der sich in gewissem Sinne selbst
anzubieten scheint, wenn man jenen Schwierigkeiten entgehen will.
Auch auf dem Gebiete solcher Erörterungen darf man freilich —
nach der Forderung des ersten Kapitels der Nikomachischen Ethik —
keine größere Genauigkeit verlangen, „als es die Natur der Sache
zuläßt". Und in der Natur der Sache liegt es hier, daß man eher zu
einer exakten Widerlegung als zu einem exakten positiven Beweis
kommen kann. Denn Aristoteles hat uns zwar eine Theorie des τηε
hinterlassen; er hat uns gesagt, worauf dieser Begriff anzuwenden
ist (obgleich auch das nicht so ganz eindeutig); er hat uns aber im
unklaren darüber gelassen, was der Begriff in sich selbst beaagt.
Gäbe es hier klare Beweise, so stünden wir heute nicht mehr vor
einem Problem.
I. Das „ z u m Menschen g e h ö r i g e S e i n " und das τηε
Wir müssen zunächst einiges über das Verhältnis der beiden Glieder
unserer Überschrift sagen. Das sind wir nicht nur TRENDELENBURG
und der Überschrift selber schuldig ; das gibt uns vielmehr auch einerseits den nötigsten philosophischen Rahmen und andererseits eine
sehr wichtige Perspektive für alle philologischen Erörterungen. Denn
SCHWEGLER und BONITZ — um dies schon hier anzudeuten — haben
eine präzise genetische Deutung des τηε gegeben, indem sie diesen
Ausdruck aus den Ausdrücken des ersten Typs abzuleiten versuchten :
eine Lösung, die gewissermaßen ebenso komplex ist wie das Problem
Unauthenticated
Download Date | 3/29/16 11:44 AM
16
FRIEDRICH BASSENOE
selbst. Sie setzt voraus, daß zwischen den Ausdrücken der beiden
Typen ein entsprechender sachlicher Zusammenhang besteht.
Natürlich wäre ein solcher sachlicher Zusammenhang weder ein Beweis für die Ableitbarkeit überhaupt, noch gar gerade für die von
BONITZ gegebene Ableitung; immerhin würde er den Versuch einer
solchen Ableitung sehr dringend machen. Jede Ableitung schließt
aber eine gewisse philologische Deutung ein.
Als Paradigma für die Ausdrücke des ersten Gliedes unserer Überschrift wählen wir τό άνθρώπω είναι, weil dieses Beispiel bei Aristoteles
selbst die größte Rolle spielt. Die grammatische Deutung dieser Ausdrücke ist seit TRENDELENBURG und SCHWEGLER (S. 369f.) — doch
wohl endgültig — geklärt : nämlich im Sinne eines possessiven Dativs.
Freilich ist zu betonen, daß die übliche Übersetzung mit „MenschSein" dieser feststehenden grammatischen Deutung geradezu widerspricht. Denn „das Mensch-Sein" bezeichnet für den deutschen
Leser den S a c h v e r h a l t , daß jemand ein Mensch ist, also das Dasein
als Mensch, während Aristoteles — modern gesprochen — ein „Sosein"
des Menschen oder am Menschen meint. Wir sagen deshalb : das „zum
Menschen gehörige Sein". ZELLER sprach in ähnlichem Sinne von dem
„dem Menschen eigentümlichen Sein" 1 , doch klingt das zu sehr nach
ίδιον. ARPES Einwand 2 gegen ZELLER, Aristoteles spräche „nicht
ganz vage von ,dem' (welchem?) Sein des Menschen, sondern von dem
Menschsein des Menschen", geht fehl, denn das dem Menschen eigentümliche oder zu ihm gehörige Sein meint ebenso wie τό τηε etwas viel
Präziseres als das pure Menschsein: nämlich das, als was der Mensch
zu definieren ist.
Eine Prüfung der entscheidenden Stellen der Metaphysik läßt keinen
Zweifel daran übrig, daß zwischen beiden Ausdrücken der engste
sachliche Zusammenhang besteht. So heißt es in der Widerlegung der
Gegner des Widerspruchssatzes, sie höben „das Wesen und damit das
τηε schlechthin auf. Sie sind nämlich gezwungen zu erklären, alles
sei nur .hinzugekommen' und ein zum Menschen oder zum Lebewesen
unmittelbar (δπερ) gehöriges Sein gebe es überhaupt nicht" (1007 a 20).
Im Kapitel Η 3 wird gleichfalls vom τηε sofort auf ein besonderes
Sein „umgeschaltet" : „. . . denn das τηε besteht an der Gestalt und der
Verwirklichung. So sind die Seele und das zur Seele gehörige Sein dasselbe, das zum Menschen gehörige Sein und der Mensch aber nicht
dasselbe, wenn man nicht schon die Seele allein als Mensoh bezeichnen
1
Die Philosophie der Griechen, II 2», Leipzig 1879, 208.
* Dae τί ήν etvai bei Aristoteles, Diss. Hamburg 1937, 18.
Unauthenticated
Download Date | 3/29/16 11:44 AM
Das τί ήν είναι bei Aristoteles
17
kann" (1043 b 1). Entscheidend sind aber vor allem die Kapitel Z4
und 6. In Kapitel Ζ 4 beginnt die grundsätzliche Erörterung des τηε,
indem zunächst etwas „vom Begriffe her" (λογικώς) gesagt wird:
„nämlich daß das τηε des Einzelnen das ist, als was es von ihm selbst
her bezeichnet wird. (Denn das zum Du gehörige Sein ist nicht etwa das
zum Musikalischen gehörige Sein; du bist ja nicht von dir selbst her
musikalisch; es kommt aber darauf an, was du von dir selbst her bist.)
Aber auch das kommt nicht alles in Betracht. Denn das ist nicht das
τηε, was ein Ding in einer solchen Weise von ihm selbst her ist, wie
die Fläche ein Weißes ist; das zur Fläche gehörige Sein ist ja nicht
etwa das zum Weißen gehörige Sein. Aber es ist auch nicht das aus
beiden Bestehende: das zur .weißen Fläche' gehörige Sein — weil
nämlich .Fläche' darin vorkommt. Also ist für das Einzelne der
Begriff des τηε derjenige Begriff, in dem das Ding nicht selbst vorkommt, während er es doch bezeichnet" (1029 b 13). Wir sprechen
hier vom „Einzelnen" und nicht — wie üblich — von „jedem Ding",
weil εκαστον hier offenbar dasselbe heißt wie im 6. Kapitel (wo man
es früher sogar mit „Einzelding" zu übersetzen pflegte; vgl. hierzu
A R P E , S. 41). Im 6. Kapitel wird zunächst eine Untersuchung darüber
angekündigt, „ob das Einzelne und das τηε dasselbe oder Verschiedenes
sind" (1031 a 15). Das Ergebnis lautet, „daß bei allen Dingen, die als
ein Erstes und von ihnen selbst her bezeichnet werden, das zum
Einzelnen gehörige Sein und das Einzelne selbst ein und dasselbe
sind" (1032 a 5). Und fünf Zeilen später wird das Kapitel mit der
Bemerkung abgeschlossen: „Damit hätten wir dargelegt, inwiefern
das τηε und das Einzelne dasselbe sind und inwiefern nicht" ( 1032 a 10).
Diese Zitate dürften zum Nachweis eines allerengsten Zusammenhanges zwischen τηε und dem „zum Menschen gehörigen Sein"
genügen ; aus dem Vergleich der beiden letzten Zitate ergibt sich, daß
das „zum Einzelnen gehörige Sein" und das τηε identisch sind.
Nun muß man freilich beachten, welcher Rang dem τηε bei Aristoteles
zukommt. Es wird im Buch Ζ als Prätendent auf die Charakterisierung als
Wesen (ουσία) eingeführt und im Laufe der Erörterung als solches erwiesen;
es ist nur bei den Dingen gegeben, „deren Begriff eine Definition ist" (1030 a β),
und fällt sachlich im wesentlichen mit der Gestalt (είδος) zusammen. Unter
diesen Umständen kommt es nicht in Frage, daß Aristoteles allen Dingen, die
in der Metaphysik vor einem substantivierton είναι im Dativ genannt werden,
als Trägern der jeweiligen Benennung ein τηε zugesprochen hätte. Wenn in Ζ 4
an der oben zitierten Stelle das „zum Du gohörige Sein" eingeführt wird, so
geschieht dies nicht im Sinne eines Beispiels für ein echtes τηε, denn Du ist für
Aristoteles natürlich nicht definierbar. (So auch ARPE, S. 38, ANM. 68.) Erst
recht gilt dies etwa für τό τηδε τη οίκίοί είναι (1039 b 25) oder für Σωκράτει είναι
(1032 a 8). Man kann also keineswegs sagen, daß alle Ausdrücke von der Form
2
Z e i t s c h r i f t „ l ' l i i l o l o ß u s " 1/2
Unauthenticated
Download Date | 3/29/16 11:44 AM
18
Friedrich Bassenok
είναι e. dat. Einzelfälle eines τηε bezeichnen müßten. Bei gewissen Ausdrücken
trifft dies aber eicher zu — insbesondere bei dem „zum Menschen gehörigen
Sein" an den oben zitierten Stellen 1007 a 20 und 1043 b 1. An der ersten dieser
beiden Stellen darf man eicher das δπερ als Hinweis auf einen solchen Sinn des
Ausdrucks verstehen. Die zweite Stelle ist in unserem Zusammenhang insofern
von besonderem Interesse, als dort zwar Seele und zur Seele gehöriges Sein
identifiziert werden, nicht aber Mensch und zum Menschen gehöriges Sein —
weil hier als Gestalt und τηε des Menschen die Seele erscheint. Wir haben hier
also den lehrreichen Fall, daß ein zu X (Mensch) gehöriges Sein zwar an einem X
existiert, aber nicht eigentlich den Namen X, sondern den Namen Y (Seele)
verdient — „wenn man nicht", so fügt Aristoteles logischerweise hinzu, „die Seele
allein schon als Mensch bezeichnen kann". Diese Stelle ist übrigens eine gute
Illustration zum Kapitel Ζ 6: Mensch und Seele sind beide „Einzelnes" im Sinne
der dortigen Erörterung; der Mensch ist mit dem bei ihm „zum Einzelnen gehörigen Sein" nicht identisch, weil er nicht nur dieses Sein — die Seele
sondern auch noch Körper ist. Trotzdem bleibt es dabei, daß das „zum Menschen
gehörige Sein" ein spezielles τηε bezeichnet, mag sein besserer Name auch vielleicht
„zur menschlichen (oder vernunfthabenden) Seele gehöriges Sein" lauten. K e i n
spezielles τηε ist aber das „zum Einzelnen gehörige Sein" des Kapitels Ζ β;
Seele und Mensch sind vielmehr Arten des dort gemeinten „Einzelnen" ; das zum
Einzelnen gehörige Sein ist also das zum jeweiligen Einzelnen gehörige Sein
und wird — wie wir schon feststellten — synonym mit τηε gebraucht.
Auch beim τηε selbst finden wir bisweilen ein Nomen im Dativ stehen, für
das dasselbe gilt wie für deus Einzelne oder das Du beim „zum Einzelnen" oder
„zum Du gehörigen Sein". Das häufigste derartige Nomen — oder Pronomen —
ist höchst auffallenderweise wiederum — das Einzelne 1 Wir finden es zunächst
an der oben aus Ζ 4 zitierton Stelle zweimal (1029 b 13,20), dann aber noch ein
drittes Mal 1032 b 2 (hier nach verschiedenen Handschriften im Genetiv).
Etwas anders liegen die Fälle, in denen ein Pronomen wie έκατέρω, έκείνω oder
αύτω in Verbindung mit τηε erscheint (Met. 1046 a 33 und 1031 b 7, de anim.
intercessu 708 a 12). Hier wird zwar anscheinend auf ein spezielles Nomen verwiesen, aber eben nur durch ein Pronomen, so daß der Ausdruck die Sache selbst
nicht nennt, um deren τηε es sich handelt (Aristoteles spricht etwa vom „beiderseitigen" oder von „seinem" τηε). Im ersten Falle dürfte dieser Anschein sogar
trügen und das Pronomen gar nicht zu τηε gehören; im zweiten Falle bezieht
es sich wieder auf — das Einzelne (diesmal als Gegenstand von Wissenschaften).
Es gibt nur sehr wenige Fälle, in denen ein echtes Nomen mit dem Dativ bei τηε
steht. Ein solcher Fall ist τό τηε Καλλία (1022 a 27). Dabei kann aber nur von
einem τηε die Rede sein, das an Kallias besteht, nicht aber von einem, das Kallias
hieße (vgl. Arpe, S. 38, Anm. 58). Denn der Einzelmensch ist für Aristoteles
ja als dieser einzelne kein Wesen, weil er nicht definierbar ist. Er hat zwar ein
Wesen, aber das heißt anders : etwa Mensch oder Seele. Ähnliches gilt für den
„weißen Menschen" (vgl. 1029 b 27). Besonders beachtlich ist dieser Gebrauch
bei τηε τφ τοιωδΐ σώματι (de anima 412 b 11 und metaph. 1035 b 10): die
Seele als das τηε, das an dem und dem Körper besteht — aber ganz sicher
nicht „Körper" heißt I In de caelo 277 b 30 — 278 a 4 werden zwar definierbare
Nomina im Dativ beigefügt, aber gleich zwei : τό τηε σφαίρα ή κύκλ<ι> — so daß
eine Abkürzung von τό σφαίρα είναι ή τό κύκλω είναι vorliegen dürfte. Das τ£ ήν
είναι Ϊππω in 1031 b 30 ist mindestens sehr fraglich.
Unauthenticated
Download Date | 3/29/16 11:44 AM
Das τΐ ήν είναι bei Arietotelea
19
Soviel an dieser Stelle. Auf eine Reihe dieser Beispiele werden wir
noch zurückkommen müssen. Das bisher Gesagte dürfte zum Nachweis
dafür genügen, daß der Versuch einer Ableitung des τηε aus den Ausdrücken des ersten Typs nicht nur gerechtfertigt, sondern geradezu
gefordert erscheint. Einer Deutung des τηε, die zugleich sein sachliches
und vielleicht sogar genetisches Verhältnis zu jenen Dativ-Ausdrücken
klärt, muß der Vorzug vor jeder Deutung eingeräumt werden, die das
nicht leistet.
II. Die grammatische Deutung des τηε
Es gibt zwei grundsätzlich verschiedene grammatische Deutungen
des τηε: die Deutung als substantivierte Frage und die Deutung als
substantiviertes εϊναι mit zwischengeschobener näherer Bestimmung.
Die erste Deutung liegt schon bei SCHWEQLER vor, sie ist besonders
klar von BONITZ entwickelt worden und wird z.B. auch von Ross 1
und A R P E ( S . 18) vertreten. Die zweite Deutung taucht, soviel ich
sehe, zuerst bei CARL H E Y D E R 2 auf, ist in jüngerer Zeit mit vollem
Bewußtsein von M O S E R 3 vertreten worden, wird aber anscheinend
von einer ganzen Reihe neuerer Autoren geteilt, ohne daß sie sich
bewußt oder wenigstens ausdrücklich von der ersten Deutung distanzieren. Ich nenne ζ. B. N A T O R P 4 , STENZEL 8 , JAEGER® und HOFFMANN 7 .
Wir erörtern zunächst die erste Deutung. BONITZ sagt im Index
Arist. 764 a 50: „ad eam quaestionem, τηε, quod respondetur, praeposito articulo τί>, τό τηε, substantivi naturam induit, pariter atque in
formula τό τί έστι". Die Frage nach einem nackten είναι ist bei
Aristoteles nirgends zu finden und käme jedenfalls in unserem Zusammenhang, in dem es um Definitionen geht, überhaupt nicht in
Betracht. Wohl aber findet sich gerade dort, wo ein τηε in Rede steht,
häufig die Frage nach dem zu einem „Einzelnen" gehörigen Sein.
Die BoNiTZsche Deutung wird deshalb notwendigerweise zu dem Versuch einer Ableitung des τηε aus den Dativ-Ausdrücken geführt.
Gelingt diese Ableitung nicht, so hängt die Deutung völlig in der Luft.
1
Metaphysics, Oxford 1924, Komm, zu 983 a 27.
« Kritische Darstellung und Vergleichung der Aristotelischen und Hegelschen Dialektik I, Erlangen 1846, 253.
J
Zur Lehre der Definition bei Aristoteles, Innsbruck 1935, 24 f.
4
Platone Ideenlehre, Leipzig 1903, 2.
* Zahl und Gestalt bei Piaton und Aristoteles 2 , Leipzig 1933, 131.
• Aristoteles*, Berlin 1955, 408.
' Geschichte der antiken Philosophie, in Dsssonts Lehrbuch der Geschichte
der Philosophie, Berlin 1925, 158 Anm. 1.
2*
Unauthenticated
Download Date | 3/29/16 11:44 AM
20
FRIEDRICH BASSENGE
und Ross bringen ein und denselben Beleg für ihre Ableitung ;
Ross sagt a. a. 0. : „The phrase is a generalization from such phrases as
τί ήν αύτω (sc. τω αϊματι) τό αϊματι είναι (Ρ. Α. 649 b 22)."
Diese Deutung hat den großen Vorzug, daß sie die beiden Glieder
unserer Überschrift miteinander verbindet. Sie steht vor drei Schwierigkeiten.
Zunächst müßte sie aufklären, weshalb vor είναι der bestimmte
Artikel fehlt. Das ist für Aristoteles ganz ungewöhnlich und um so
auffallender, als insbesondere die Dativ-Ausdrücke fast immer den
bestimmten Artikel haben. Ich finde nirgends den Versuch einer solchen
Aufklärung. Der Hinweis auf ein etwaiges Bedürfnis zur Abkürzung
würde kaum ausreichen. Es ist also verständlich, daß H E Y D E R gerade
aus diesem Bedenken heraus zu seiner abweichenden Deutung gekommen ist.
Zweitens müßte die BoNiTZsche Theorie aufklären, wie es zu dem
Imperfekt ήν gekommen ist. Wenn das Paradebeispiel 649 b 22 in
Ordnung wäre und wenn es eine genügende Zahl weiterer Beispiele
gäbe, so würde man diese Frage als geklärt ansehen können. Wir werden
aber sehen, daß daa Paradebeispiel n i c h t in Ordnung ist, — und
sonst steht überall daa Präsens. (Musterfall : τί έστιν τό ίματίω είναι ;
1029 b 28). Man hat zwar die Frage zu beantworten gesucht, welchen
Sinn das Imperfekt in unserem Ausdruck haben dürfte; das haben
T R E N D E L E N B U R G und S C H W E G L E R getan — und entsprechend referiert
auch Ross. Damit ist doch aber die Frage nicht beantwortet, wie
denn das Imperfekt in den Ausdruck hineingekommen ist, weshalb
es also hier immer und anderwärts niemals erscheint. Ich sehe nicht
einmal einen Versuch zu dem Beweis, daß der Sinn des Imperfekts,
für den man sich bei τηε entscheidet, auch im „Paradebeispiel" festzustellen ist.
Drittens haben wir schon betont, daß es die Frage nach dem nackten
είναι bei Aristoteles nicht gibt. Die Generalisation, von der Ross
spricht, hat sich also sicher nicht auf dem Wege vollzogen, daß sich
aus Fragen wie der im Paradebeispiel eine generalisierte Frage entwickelt
hätte, die dann nachträglich substantiviert worden wäre. Vielmehr
müßten sich die Dinge umgekehrt entwickelt haben: schon spezielle
Fragen wie die des Paradebeispiels müßten substantiviert worden
sein, so daß sich τηε als Generalisierung solcher spezieller Substantivierungen ergäbe. Mit anderen Worten: es müßten sich Ausdrücke
des Typs τό τί ήν τό άνθρώπω είναι als Vorformen zu τό τηε nachweisen lassen. Solche Ausdrücke sind sozusagen das missing link der
BoNiTZschen Deszendenztheorie, mit dem sie steht und fällt. Fällt:
ΒΟΝΓΓΖ
Unauthenticated
Download Date | 3/29/16 11:44 AM
D a s τί ήν εϊναι bei Aristoteles
21
denn ohne diesen Nachweis hängt sie völlig in der Luft. Steht: denn
alle bisherigen Schwierigkeiten würden gegenüber dem Faktum des
Nachweises eines echten missing link in den Hintergrund treten.
Ob es zu finden ist, werden wir in Abschnitt III erörtern.
Wir müssen uns zunächst der zweiten grammatischen Deutung
unseres Ausdrucks zuwenden. Diese Deutung — als substantiviertes
εϊναι mit zwischengeschobener näherer Bestimmung — hat gegenüber der ersten einen wichtigen Vorzug, nämlich die grammatische
Analogie, die sich auf dieser Grundlage zwischen den Dativ-Ausdrücken und τηε ergibt. In der Tat ist mit dem engen Zusammenhang,
den wir in Abschnitt I skizziert haben, die Vorstellung nur schwer
verträglich, daß — sagen wir gleich : die eine Art Ausdruck im Index
Aristotelicus unter είναι und die andere unter τί rangieren muß.
Wenn wir uns an die Ausgestaltung halten, die diese Grundauffassung
bei ihren obenerwähnten bisherigen Vertretern gefunden hat, so ergeben sich aber auch hier eine Reihe von ernsthaften Schwierigkeiten.
Zunächst geht es dabei um den grammatischen Gesamtcharakter
der Zwischenschiebung, der im wesentlichen durch das Wort τί bestimmt wird. H E Y D E R übersetzt „das: sein, was war", MOSER ganz
ähnlich: „das Sein am Ding, was es immer schon war". MOSER macht
sich selbst den Einwand, daß es statt τί eigentlich 6 τι heißen müßte.
Im Grunde würde nach den angeführten Übersetzungen aber doch ein
eingeschobener definiter Relativsatz vorliegen, so daß statt τί geradezu
6 zu erwarten wäre. Unverkennbar ist in diesem Punkte die erste
Deutung im Vorteil, denn τί ist eben zunächst ein Fragepronomen. Die
Annahme eines eingeschobenen Fragesatzes wäre also grammatisch die
befriedigendste, läßt sioh aber mit der HEYDER—MosERschen Übersetzung nicht vereinbaren.
Die zweite Schwierigkeit liegt in der Frage, wie es denn zu dieser
Einschiebung gekommen sein soll. Die Partei H E Y D E R — M O S E R
könnte zwar — im Unterschied von der Partei BONITZ — anscheinend
auf eine Ableitung des τηε überhaupt verzichten und eine von den
Dativ-Ausdrücken unabhängige Entstehung annehmen. Eine solche
Annahme wäre aber nicht recht plausibel. Zu dem allgemeinen Gesichtspunkt, daß die Dativ-Ausdrücke ständig im Gefolge des τηε
auftauchen, käme hier der besondere, daß die angenommene grammatische Analogie der Ausdrücke — beiderseits substantiviertes
είναι mit näherer Bestimmung — eine voneinander unabhängige
Entstehung der beiden Ausdrucksformen um so schwerer verständlich
erscheinen ließe. Nach der HEYDER—MosERschen Auffassung liegt
ja das Schwergewicht innerhalb des Ausdrucks τηε gar nicht mehr
Unauthenticated
Download Date | 3/29/16 11:44 AM
22
Fribdbich Bassbnqe
auf dem εϊναι, sondern auf dem ήν. Weshalb tritt dieser „Witz" der
Sache nur beim generellen Ausdruck auf? In den speziellen Ausdrücken
wäre er doch ebenso wichtig! Mit anderen Worten: wenn die zweite
Deutung auch nur einigermaßen plausibel erscheinen soll, so müßte
auch sie ein missing link vom Typ τό τί ήν άνθρώπω είναι nachweisen. Dieser Ausdruck wäre zu übersetzen mit „das zum Menschen
gehörige Sein, wa« es (immer schon?) war".
Wir kommen also zu dem Ergebnis, daß die beiden behandelten
Deutungen, um akzeptabel zu erscheinen, den Nachweis eines missing
link voraussetzen. Gelingt dieser Nachweis, so wird man sich trotz
aller sonstigen Bedenken für eine der beiden Theorien entscheiden
können. Findet sich im missing link vor άνθρώπω der bestimmte
Artikel, so wird die erste Deutung, im anderen Falle aber die zweite
den Vorzug verdienen.
I I I . D a s m i s s i n g link: t ¿ τί ήν (τό) άνθρώπ<ρ είναι
Machen wir una noch einmal klar, wie man eich die Entstehung dee τηε nach
der ersten und im Grunde auch nach der zweiten Deutung vorzustellen hätte.
Den Ausgangspunkt müßten die Dativ-Ausdrücke gebildet haben. Diese Ausdrücke — so sahen wir — betreifen bisweilen eine Sache „von ihr selbst her",
von ihrem „Wesen" her, von dem her, was sie definiert. Das sind die Fälle des
„speziellen τηε"; die fraglichen Ausdrücke fungieren als N a m e n für ein solohes
τηε — ohne aber anzugeben, wie die Definition lautet, worin also das τηε
besteht („zweifüßiges Lebewesen" oder dgl.). Ein zweifelsfreies Beispiel ist
τό άνΟρώπω είναι. Für gewisse andere Dativ-Ausdrücke gilt dies nicht; Beispiel:
τό col είναι. Solche Auedrücke können immer noch eine Sache bezeichnen, die
ein Wesen und eine Definition hat („Du" bist ja einMensch I), fassen sie aber nicht
von diesem Wesen, von ihrem τηε her und können deshalb nicht als Namen für
ein spezielles τηε dienen. Nun müßte sich das Bedürfnis ergeben haben, f ü r die
Dativ-Ausdrücke der ersten Art — also für die „Namen" — noch einen umständlicheren Ausdruck zu schaffen — vielleicht gerade, um sie als Namen zu charakterisieren. Aus diesen umständlicheren Auedrücken vom Typ τό τί ήν (τό) άνί>ρώπω είναι hätte sich dann durch Generalisierung das τηε entwickelt, und zwar
einfach dadurch, daß ein Teil wegfiel: nämlich der Name der Sache (άνΟρώπω
usw.) und gegebenenfalls auch der bestimmte Artikel innerhalb dos Ausdruoks
(sicher eine etwas merkwürdige Form der Generalisierung). Die verbliebene
Formel τηε würde dann in gewissem Sinne ein präzisiertes είναι darstellen —
was eicher zutrifft — und nun sekundär in derselben Weise wie das είναι in
den Dativ-Ausdrücken fungieren können. Der ganzen Formel könnten also Nomina oder Pronomina im Dativ (oder Genetiv) beigefügt werden, ohne daß die
dadurch entstehende Gesamtbezeichnung die fragliche Sache „von ihr selbst
her", aleo von ihrem τηε her bezeichnete. So iet der Ausdruck τό τηε Καλλία
zwar die Bezeichnung eines speziellen τηε, aber nicht von diesem selbst her
und deshalb nicht sein Namo; der Name wäre τί> άνΟρώπω είναι oder τό τηε
άνΟρώπω. Das missing link der besprochenen Deutungen könnte natürlich nicht
Unauthenticated
Download Date | 3/29/16 11:44 AM
Das τί ήν είναι bei Aristotelos
23
in eolohen Sekundärbildungen bestehen, die die Fixierung der Formel τηε
bereite voraussetzen. Es müßte sich dabei schon um Auedrücke des in der Überschrift zu diesem Abschnitte bezeichneten Typs handeln, also um Ausdrücke,
die als Namen für ein spezielles τηε dienen könnten. Aber auch der Nachweis,
daß ein solcher Ausdruck irgendeinmal vorkommt, würde nicht genügen.
Denn ein solcher Ausdruck brauchte ja kein missing link, also keine Zwischenstufe zwischen einem Dativ-Ausdruck und τηε darzustellen, sondern könnte
ebenfalls eine Sekundärbildung darstellen. Man müßte also den Charakter als
Zwischenstufe noch zusätzlich plausibel machen — etwa durch ein Vorkommen
in besonders frühen Texten, mindestens durch eine gewisse Häufigkeit des
Vorkommens.
Die allerprimitivste Voraussetzung wäre freilich, daß man ü b e r h a u p t solche Ausdrücke auffinden könnte. Daß wenigstens diese
allerprimitivste Voraussetzung gegeben ist, scheint eine weitverbreitete Auffassung zu sein — verständlicherweise: denn sonst würden ja
eben die besprochenen Deutungen völlig in der Luft hängen. So stellt
ZELLER (S. 208) ganz unbefangen die Frage, was denn τά τηε άνθρώπω
eigentlich bedeute, und so schreibt A R P E (S. 18) gleich verallgemeinernd ,,τΐ ήν ... είναι" und sein Lehrer K A P P (ARPE, S. 19) „τηε
c. d a t . " . Soweit ein Nachweis für erforderlich erachtet wird, verweist
man ausschließlich auf den Index Aristotelicus. Dort finden wir
764 a 60ff. den Satz: „ea res, de cuius natura substantial! agitur,
plerumque casu dativo . . . postponitur, veluti τό τί ήν είναι έκάστω
Μζ 4. 1029 b 13, 20 al, interdum inter vocabula ήν et είναι interponitur τό τί ήν αύτω είναι Ζπ 8. 708 a 12". Dieser Satz ist in gewissem
Sinne richtig, hilft uns aber nicht weiter, da er sich auch auf Sekundärbildungen beziehen läßt. Und alle im Index angeführten Stellen sind
eindeutig von dieser Art. Soweit es sich um Metaphysik-Stellen handelt,
braucht man nur die eigene Übersetzung von BONITZ (Berlin 1890)
aufzuschlagen: die Stellen 1029 b 13, 20, 1031 b7 und 1045 a33 übersetzt er mit : Wesenswae „für jedes Ding" ; „sein" Wesenswas ; Wesenswae „für ein jedes von beiden". Sucht man über die Nachweise des
Index hinaus nach weiteren Beispielen für „τηε o. dat.", so stößt
man etwa auf die sonstigen Fälle, die wir schon im Abschnitt I erwähnt haben. Weitere habe ich nicht finden können, und e i n z e l n e ,
die man etwa noch findet, würden kaum etwas beweisen können.
Kein einziger der in der Metaphysik enthaltenen oder sonst beigebrachten Fälle hat den Typ, den man für das missing link verlangen
müßte. Ein einziger sicherer Fall zeigt definierbare „res" im Dativ —
aber eben gleich zwei, durch „oder" verbunden, so daß es sich auch
dort eindeutig um eine Sekundärbildung handelt. Für gewisse Fälle
trifft aber nicht einmal zu, daß die im Dativ beigefügten Wörter —
Unauthenticated
Download Date | 3/29/16 11:44 AM
24
FRIEDRICH BASSENGE
auch nur pronominal — die Sache bezeichneten, de cuius natura
substantial! agitur, denn „der und der Körper", zu dem nach 412 b 11
und 1035 b 16 ein τηε gehört, kann als ΰλη keine substantia haben.
Aus alledem muß man doch wohl den Schluß ziehen : das missing link,
ARPES „τί ήν ... είναι", KAPPS ,,τηε c. dat.", existiert nicht, —
und ZELLERS ,,τό τηε άνθρώπω" ist, wenn das Ganze als Name verstanden werden soll, ein Märchen.
Man wird vielleicht einwenden : dieser Schluß sei voreilig, weil er von
den kritisierten Theorien einen schärferen Beweis fordere, „als die
Natur der Sache zuläßt". Da die Zwischenbildung verloren gegangen
sein könnte, dürfe man nur eine gewisse Wahrscheinlichkeit verlangen.
Demgegenüber meine ich, daß die beiden untersuchten Deutungen
nicht nur unbelegt geblieben sind, sondern auch jeder inneren Wahrscheinlichkeit ermangeln. Insbesondere gilt dies für die Entstehungsgeschichte, die ihre innere Voraussetzung ist und zu Beginn dieses Abschnittes skizziert wurde. Denn wenn sich einmal aus den Urformen (den
Dativ-Ausdrücken) die Zwischenformen (das missing link) entwickelt
hätten: wie sollte es zu erklären sein, daß uns keine eindeutigen
Zwischenformen erhalten geblieben sind, wir s t a t t d e s s e n aber den
U r f o r m e n auch beim reifen A r i s t o t e l e s auf S c h r i t t u n d
T r i t t begegnen? Weshalb tauchen die alten Dativ-Ausdrücke
überall in der Hauptuntersuchung der Metaphysik auf, wo von τηε
die Rede ist und spezielle Beispiele gegeben werden sollen? Wenn das
Bedürfnis nach einer schärferen Profilierung des Ausdrucks zu den
fraglichen Zwischenbildungen geführt hätte (doch wohl der einzige
Grund, der in Betracht kommt): weshalb wendet Aristoteles dann
diese schärfer profilierten Ausdrücke gerade dort nicht an, wo es nun
wirklich „drauf ankommt"? Weshalb gebraucht er dort für dae generelle und das spezielle τηε Ausdrücke von einer (nach jenen Theorien!)
so verschiedenen Entwicklungsstufe, daß wir im 19. Jahrhundert
noch einerseits „Essenz", „Wesenswas" oder ähnlich und andererseits „Mensch-Sein", „Du-Sein" usw. übersetzten — wodurch dem
Leser der Zusammenhang der beiden Ausdrücke vollständig verschleiert wurde? Dergleichen hätte er doch wohl vermieden . . .
Das besagt aber doch: für Aristoteles bestand überhaupt gar kein
Bedürfnis nach solchen d u r c h ein τί ήν e r w e i t e r t e n Dativ-Ausdrücken, aus denen dann unser τηε durch Generalisierung hätte
entstehen können (und zwar gleichgültig, wie nun diese Erweiterung
τί ήν zu verstehen ist). Wo er wirklich schärfer profilieren wollte,
hatte er andere, weniger mißverständliche Möglichkeiten: etwa die
Beifügung eines δπερ, die wir 1007 a22 finden (siehe oben Abschnitt I).
Unauthenticated
Download Date | 3/29/16 11:44 AM
Dae τί ήν είναι bei Aristoteles
25
Aus alledem ziehe ich den Schluß, daß sich τηε n i c h t a u f d e m
U m w e g ü b e r ein m i s s i n g l i n k a u s d e n k u r z e n D a t i v - A u s d r i i c k e n e n t w i c k e l t h a b e n k a n n . Was wird aber aus dem oben
so stark betonten inneren Zusammenhang der beiden Ausdrucksarten?
Wir hatten aus diesem Zusammenhang gefolgert, daß der Versuch
einer Ableitung des τηε aus den Dativ-Ausdrücken geradezu geboten
sei. Zwingen uns die bisherigen Befunde und Überlegungen, diesen
Versuch als endgültig gescheitert zu betrachten? Muß man nun nach
einer Deutung des τηε suchen, die sein ständiges Gefolge — die DativAusdrücke — unberücksichtigt läßt? Müssen wir uns vielleicht (mit
der heute wohl herrschenden Meinung) auf die HEYDER—MosERsche
Deutung zurückziehen — unter ausdrücklichem Verzicht auf eine
Ableitung, die wir doch als die Voraussetzung ihrer Glaubhaftigkeit
bezeichnet hatten?
Ich bin anderer Auffassung. Noch bleibt der Versuch einer u n m i t t e l b a r e n Ableitung des τηε aus den Dativ-Ausdrücken übrig.
Der Versuch würde nicht durch den Aufweis eines missing link belegt
zu werden b r a u o h e n — und gar nicht auf diesem Wege belegt werden
k ö n n e n , da er ein missing link ja gerade leugnet. Er müßte also auf
Belege in diesem Sinne überhaupt verzichten und seine Plausibilität
in anderer Weise dartun. Einem solchen Versuch steht vor allem die
von TRENDELENBURG aufgebrachte Deutung des Imperfektes ΉΝ
entgegen, die — soviel ich sehe — bis heute im w e s e n t l i c h e n f a s t
unwidersprochen geblieben ist. Ich betone: im wesentlichen — weil
sich freilich inzwischen eine zweite Nuance herausgebildet hat, die
man aber eben nur als Nuance werten kann. Und ich betone: fast —
weil es immerhin schon einige wenige Opponenten gegeben hat:
UEBERWEG—HEINZE und die Gruppe NATORP—KAPP—ARPE, auf
die wir noch eingehend zu sprechen kommen. Diese Opponenten sind
aber kaum beachtet worden. Noch heute beherrscht die TRENDELENBURGsche Deutung des ήν — in dieser oder jener Nuance — ganz
allgemein die ganze s a c h l i c h e Auffassung des τηε, so daß man darüber die Verschiedenheit der grammatischen Interpretation der
Gesamtformel zumeist geradezu mit Recht aus den Augen gelassen
hat. Mit diesem problematischen Imperfektum müssen wir uns also
nunmehr etwas genauer befassen.
IV. D a s I m p e r f e k t u m ήν: S t a n d d e s P r o b l e m s
SCHWEGLER hatte in Band IV seiner Ausgabe der Metaphysik drei
mögliche Deutungen des Imperfektums ήν unterschieden (S. 372fi".).
Unauthenticated
Download Date | 3/29/16 11:44 AM
26
FRIEDRICH BASSENOE
Dieselbe Aufzählung gibt in unseren Tagen Ross im Kommentar
zu 983 a 27, und zwar in ausdrücklicher Anknüpfung an SCHWEGLER.
Um den Stand der Frage zu beleuchten, brauchen wir uns im wesentlichen nur auf diese beiden Erörterungen zu beziehen. Seit SCHWEGLER
ist nur eine neue Deutung hinzugekommen, die wir als vierte behandeln werden.
1. An erster Stelle nennt Ross das „'philosophical imperfect',
referring to something stated earlier in the argument". SCHWEGLER
charakterisiert diese Möglichkeit unter b) folgendermaßen: „Das
Imperfekt steht brachylogisch statt des mit einer Zurückdeutung
auf die Vergangenheit verbundenen Präsens. Statt 'es ist, wie sich
gezeigt hat' (εστίν, ώσπερ δέδεικται) sagt Aristoteles häufig ήν".
Auch TRENDELENBURG kannte diesen Sprachgebrauch ; er rügt
ausdrücklich, daß BUDAEUS nur Beispiele bringe, „in denen das
Gegenwärtige in das Imperfektum gesetzt wird, insofern davon schon
die Rede war" (S. 478). Der Musterfall ist bei SCHWEGLER und Ross
1071 b3: έπεί S' ήσαν τρεις ούσίαι — „da es drei Prinzipe gibt, wie
unsere Untersuchung gezeigt hat" (SCHWEGLER) oder „since there
are, as we saw, three kinds of substance" (Ross). SCHWEGLER verweist
auch auf de anima 424 a31 und rhetorica 1415 a 13. Auf diese und
andere Beispiele kommen wir noch ausführlich zu sprechen; die
Argumente, die gegen eine Deutung unserer Formel vom „philosophischen Imperfektum" her vorgebracht worden sind, werden wir im
Abschnitt VII behandeln. In jüngster Zeit hat JOHANNES E R I C H
H E Y D E τό τηε in diesem Sinne verstanden, nämlich im Sinne von
„Sein, was es ist" — wobei zu ergänzen sei: „was" (ich würde vorziehen: wie) „wir immer wieder in gemeinsamer Aussprache e r ö r t e r t
haben"1.
2. An zweiter Stelle nennt Ross die Möglichkeit, daß das Imperfekt
die Dauer bezeichne. Ebenso spricht SCHWEGLER unter c) vom „Begriff der Dauer, des beharrlichen wesentlichen Seins. BERNHARDY,
Syntax: 'Das allgemeine ήν ist ganz gewöhnlich im präsentischen
Sinn der D a u e r ' . . . Was ein Ding dauernd (auch im Wechsel seiner
πάθη . . . ) w a r , das i s t es". Als Beispiele werden in beiden Erörterungen angeführt: de caelo 278 a l l (τό αίσθητόν άπαν έν τη ΰλη ύπηρχεν),
rhetorica 1363 a 9 (ου πάντες έφίενται, τοϋτ* άγαθόν ήν) und Platon,
Theaet. 156 Α (άρχή ήδε αύτών, ώς τό παν κίνησις ήν). SCHWEGLER
verweist außerdem noch auf oeconomica 1344 a 23 (των δέ κτημάτων
1
„Raffsatz und Widersinn" in der Festschrift zum 80. Geburtstag von
Ernst Otto, Berlin 1968, 273.
Unauthenticated
Download Date | 3/29/16 11:44 AM
D a s τί ήν είναι bei A r i s t o t e l e s
27
πρώτον μέν καΐ άναγκαιότατον τό βέλτιστον και ήγεμονικώτατον· τούτο
8' ήν ÄvO-ρωπος).
3. Als letzte Möglichkeit führt Ross an: „The imperfect may be
held to be an expression of Aristotle's doctrine of the existence of
form before its embodiment in a particular matter, for which cf.
Ζ 1 0 3 2 b 11, 1 0 3 4 b 1 2 . " SCHWEGLER spricht unter a) vom „begrifflichen (idealen) und beziehungsweise auch zeitlichen Vorhersein der
Idee (oder des reinen Urbildes) vor ihrer empirischen, stofflichen
Verwirklichung. Das τί ήν elvat eines Dinges ist das, was dieses Ding
in der Idee (oder auch im Verstände des Künstlers, vgl. Met. VII, 7,
9ff.)" — das ist die erste der von Ross angezogenen Stellen — „kurz
als είδος άνευ ύλης w a r , ehe es der Materie sich einbildete oder
eingebildet wurde: denn die Form, die nicht w i r d , sondern zeitlos
i s t , w a r vor dem konkreten Einzelding, das in der Zeit w i r d " .
S C H W E G L E R zitiert anschließend die entscheidende Stelle bei T R E N DELENBURG S. 4 7 9 : „Beim künstlerischen Schaffen ist das Urbild
im Geiste des Künstlers vor dem Nachbild im Stoff", der Begriff vor
der Darstellung. Aristoteles spricht dieses Frühersein ausdrücklich aus
(Met. VII, 7 , 1 4 . 9 , 1 2 . 1 0 , 3 7 ) . " (Die zweite dieser Stellen ist identisch
mit der zweiten Bezugsstelle bei Ross.) T R E N D E L E N B U R G — und
mit ihm SCHWEGLER — fährt fort: „Dieses Sein des Begriffes v o r
dem Dasein ist durch das ήν im τό τί ήν εϊναι auegedrückt, und
dasselbe erhält dadurch zugleich die Bedeutung dessen, was sein
soll. Vom künstlerischen Schaffen, vom bewußten Vorbilden aus
ging sodann jene Ausdruckeweise auf alle Gestaltungen über, die als
Ganzes eine Notwendigkeit in sich tragen." S C H W E G L E R erläutert
S. 374 ergänzend: „Es ist dabei nicht zunächst an ein Zeitverhältnis
zu denken: daa Imperfektum bedeutet nur jene ideale Priorität des
Grundes, die Aristoteles unter πρότερον τη φύσει versteht." Ross
bringt keine Beispiele für Fälle, in denen das Imperfekt außerhalb
unserer Formel in diesem Sinne stehen soll; die im obigen Zitat enthaltenen Nachweise betreffen nur Stellen, in denen Aristoteles überhaupt von einer Priorität des είδος spricht. S C H W E G L E R will sich
anscheinend auf 1041 b6 und 1045 a 33 beziehen; denn im Anschluß
an den zuletzt zitierten Satz sagt er: „Vgl. Metaphysik VII, 17. 12:
warum ist diese gegebene Materie ein Haus? weil sie dasjenige ist,
δ ήν οικία εϊναι. VIII, 6. 10: die Ursache, daß die potentielle Kugel
zur aktuellen wird, ist der Begriff: τοϋτ' ήν τό τί ήν εϊναι αύτη."
Auf diese Zitate werden wir ebenfalls noch zu sprechen kommen;
beim zweiten heißt das letzte Wort im Urtext anders, nämlich έκατέρω.
Eine nähere Begründung dafür, weshalb sich beide Referenten für
Unauthenticated
Download Date | 3/29/16 11:44 AM
28
FRIEDRICH BASSENGE
diese dritte Auffassung des Imperfekt entscheiden, geben sie nicht.
Da sie das philosophische Imperfektum ablehnen zu müssen glauben,
fragen sie nur noch, welche der beiden restlichen Deutungen philosophisch die wahrscheinlichere sei. Ross sagt: „The only difference
between the two explanations is that the third takes more explicit
account of Aristotle's doctrine than the second. In this way it may
more fully represent Aristotle's meaning." 1
4 . Zu diesen drei Lesarten hat A R P E das „Imperfekt der gedanklichen Voraussetzung" hinzugefügt (S. 17, Anm. 20). K A P P hatte in
seiner (wohl ungedruckten) Habilitationsschrift an der bei A R P E
S. 19 zitierten Stelle gesagt: ,,τηε c. dat. ist die auf eine möglichst
einfache und unmißverständliche Formel gebrachte Frage nach der
Definition." A R P E baut diese These durch die Behauptung aus, „daß
der Tatbestand, dem die Frage gilt, die als tatsächlich vollzogen
genommene und als richtig anerkannte Prädizierung eines Wortes,
wie ζ. Β. άνθρωπος, von einem faktischen Subjekt, wie ζ. B. Sokrates,
ist: hier können wir ohne Schwierigkeit mitfragen: τί ήν αυτοί τό
άνθρώπω εϊναι. Damit ist . . . das Imperfektum erklärt, denn das
vorherige Vorhandensein der Prädizierung ist die gedankliche Voraussetzung f ü r die Fragestellung nach dem Menschen". Das „Imperfektum der gedanklichen Voraussetzung" geht über K A P P auf N A T O R P
zurück — der seinerseits wahrscheinlich von den im Abschnitt VII
zitierten Sätzen U E B E R W E G S angeregt worden ist. N A T O R P behauptet
(a. a. O., S. 2), τό τηε wolle sagen: „was es für das jedesmalige Subjekt
in allen vorkommenden Fällen Identisches 'war' oder bedeutete, wenn
ihm das und das als Prädikat beigelegt wurde. Es ist möglich, daß
in dem Praeteritum ,war' sich noch etwas Tieferes birgt, zunächst
aber sagt es nichts Tieferes als daß der Terminus, dessen Definition
gegeben werden soll, durch den Gebrauch schon bekannt und auch
seine Bedeutung als tatsächlich identisch vorausgesetzt ist und daß
jetzt diese Identität seiner Bedeutung besonders herausgehoben und
1
Es scheint mir nutzlos, in diesem Zusammenhang den angeblichen Satz
des Antisthenee anzuführen: λόγος έστίν 6 τό τί ήν ή ίατι δηλών. Diogenes
Laertios, der ihn VI, 1, 3 anführt, kann in seinem Bericht gerade von der Kenntnis des Aristotelischen Formel beeinflußt sein. Nimmt man aber den Bericht für
bare Münze, so könnte das ήν beim Antiplatoniker Antisthenee (ώ Πλάτων,
ίππον μέν δρω, Ιππότητα δέ ούχ ¿ρω 1) jedenfalls nicht im Sinne einer Priorität
des είδος auegelegt werden, sondern nur im Sinne eines normalen präteritiven
Imperfekts: die Definition klärt das Wae (substantivierte Frage!) „von Dingen,
die in Vergangenheit existierten oder in der Gegenwart noch existieren"
(PRASCBTER, Die Philosophie des Altertums, Basel-Stuttgart 1957, 162 f., vgl.
auoh ARPK S. 14).
Unauthenticated
Download Date | 3/29/16 11:44 AM
Das τί ήν είναι bei Aristoteles
29
zum Bewußtsein gebracht werden soll." NATORP ist zwar selbst kein
Anhänger der „substantivierten Frage" und behauptete auch nicht,
daß es die Frage „τί ήν . . . είναι;" schon vor Entstehung der Formel
gegeben habe; aber im Grunde zogen K A P P und A R P E , als sie dies
behaupteten, nur eine notwendige Konsequenz aus NATORPS Ansatz,
es handele sich um einen „Terminus, dessen Definition gegeben werden
soll".
V. D a s I m p e r f e k t u m ήν: P r ü f u n g des Problems
Das Problem unseres Imperfektums, wie es sich in der Beleuchtung
von SCHWEQLER, Ross und A R P E darstellt, hat drei Seiten, die der
Prüfung bedürfen: es geht dabei einerseits um philosophische Fragen,
andrerseits um allgemeine Fragen der griechischen Grammatik und
drittens um Fragen des speziellen Aristotelischen Sprachgebrauchs.
a) P h i l o s o p h i s c h e F r a g o r i
Wenn wir von oinor philosophischen Soito dos Problems sprechen, so kann
es sioh gegenwärtig nicht um die philosophische Haltbarkeit der Interpretation
der gesamten Formel handeln, sondern nur um Bedenken, die vom Philosophischen
her einer bestimmten Deutung g e r a d e d e s I m p e r f e k t u m s ήν entgegenstehen. Die herrschende Auslegung unserer Formel h a t sehr bestimmte Elemente
ihrer philosophischen Aristoteles-Interpretation in die grammatische Deutung
der Formel und insbesondere des Imperfektes ήν hineingetragen, so daß hier
wenigstens angedeutet werden muß, inwiefern es auch mit diesen philosophischen Voraussetzungen einigermaßen fraglich aussieht. Wir werden uns unsererseits bemühen, uns gut aristotelisch „an die Phänomene zu halten" und nichts
von außen in sie hineinzutragen. Erst am Schluß unserer Untersuchung werden
wir uns kurz mit der philosophischen Seite unserer Deutung — genauer: mit
der Bedeutung des richtig verstandenen τηε im Kähmen des Aristotelischen
Systems — beschäftigen.
1. Gegen eine Deutung des ήν im Sinno des „philosophischen Imperfektums"
können keinerlei philosophische Bedenken bestehen, weil sie nämlich gerade
diejenige Deutung ist, die k e i n e philosophische Interpretation einschließt. Sie
ist unter den drei ScHWEGLEnschen „Möglichkeiten" im Grunde die einzige rein
philologische Deutung, denn „philosophisch" ist dieses Imperfektum nur im
Sinne eines philosophischen S p r a c h g o b r a u o h s .
2. Man meint, das Imperfektum ήν könne „die Dauer", das „beharrliche
wesentliche Sein" bezeichnen; „was oin Ding dauernd (auch im Wechsel seiner
πάθη . . .) w a r , das i s t es" (SCHWEOLER S. 373). Im gleichen Sinne spricht
MOSER vom „Sein, das es immer schon war" (S. 24f.). Aber die „immerwährende
Dauer" aller είδη ist eine Platonische und koine Aristotelische Konzeption. Die
είδη im σύνολον, um die es doch in der ganzen Hauptuntorsuchung der Metaphysik geht, sind nicht ewig, sondern haben ebendieselbe Dauer wie das σύνολον
selbst (und die Ολη als ΰλη dieses σύνολον). Zwar gibt es bei dieson είδη kein
Entstehen und Vorgehen (ebensowenig wio für die Ολη); aber das besagt nicht,
daß sie ewig existierten, eondorn besagt nur, daß sie — ohne „Entstehen" —
Unauthenticated
Download Date | 3/29/16 11:44 AM
30
F R I E D R I C H BASSENOK
in einem bestimmten Augenblick plötzlich da sind und — ohne „Vergehen" —
in einem anderen bestimmten Augenblick plötzlich nicht mehr da sind. Echtes
Entstehen und Vergehen gibt es nur am σύνολον; wenn Steine zusammengefügt werden, dann kann man das Entstandene von einem bestimmten Grad
der Vollendung an „Haus" nennen; dann ist das „zum Hause gehörige Sein"
plötzlich da — und besteht so lange, wie man überhaupt von einem Hause sprechen kann; der Verfall des Hauses betrifft ebenfalls das σύνολον; aber von einem
bestimmten Grad der „Vollendung" des Verfalles an kann man überhaupt nicht
mehr von einem „ H a u s " sprechen — und dann ist es plötzlich nicht mehr da.
(Vgl. Ross, Komm, zu 1033 b δ - β ; Ross bezieht sich auf 1039 b 26, 1043 b 14
und 1044 b 21 ; vielleicht darf man schon 1002 a 30 heranziehen.) Mit der ewigen
Dauer, die das Imperfekt bezeichnen soll, ist es also „nicht weit her". Und
wenn SCHWEGLER in diesem Zusammenhang auf die Unveränderlichkeit der
ούσία (mit den Worten „auch im Wechsel seiner πάθη") anspielt, so hat es
damit zwar seine Richtigkeit; daß aber ausgerechnet diese Unveränderlichkeit
durch das Imperfektum ausgedrückt werden könne, braucht wenigstens so lange
nicht diskutiert zu werden, als es keine ausdrücklichen Anhänger des „Imperfektums der Unveränderlichkeit" gibt.
3. SCHWEGLER selbst war ja mit TRENDELENBURG ein Vertreter des Imperfektums der Priorität: das ήν soll „das Sein des Begriffs vor dem Dasein" ausdrücken. So auch noch Ross. Gegen diese „platonisierende Erklärung" haben
U B B E R W E G (vgl. das Zitat im Abschnitt VII) und A R P E (S. lß) mit Recht Einspruch erhoben. Das Vorwegsein der ουσία ¿ίνευ Ολης, von der TRENDELENBURG
ausgeht, gibt es nach Aristoteles im natürlichen Werden überhaupt nicht, im
künstlerischen Schaffen aber auch nur τρόπον τινά — „in gewissem Sinne"
(1032 b 11). Im e i g e n t l i c h e n Sinne gibt es für ihn auch im Falle der Kunst
kein Wesen „vor" oder auch nur „neben" dem σύνολον: έπΐ μέν οδν τινών τό
τόδε τι ούκ ϊστι παρά τήν συνί)ετήν οΰσίαν, otov οικίας τό είδος, es sei denn, man
lasse die Kunst als solches Wesen gelten — εί μή ή τέχνη — (1070 a 13—15),
und das kann man eben nicht im eigentlichen Sinne. Die ούσία, die Aristoteles als die eigentliche betrachtet, ist diejenige, die er 1042 a 29 als abstraktes
Moment des σύνολον bezeichnet, und d i e s e ούσία kann ja keinesfalls vor
dem σύνολον existieren. A R P E hat unter Bezugnahme auf 1043 b 17 gesagt:
nehme man die T R E N D E L E N B U R G s c h e Deutung ernst und bleibe man innerhalb der Aristotelischen Weltanschauung, so könne „mit dem τί ήν είναι im
Falle eines bestimmten Menschen nur nach seinem — Vater gefragt werden,
was aber sprachlich nicht herauszubringen und sachlich absurd ist" (S. lß).
Aber bei genauerem Zusehen muß man auch das noch einschränken. Man muß
nämlich einerseits beachten, daß beim Einzelwesen u n m i t t e l b a r πρότερον
τφ χρόνψ nur ή Ολη ist (1049 b 20). Zwar ist n o c h früher als diese Ολη die bewegende Ursache — also bei Naturdingen „der Vater" (vgl. 1049 b 23). Aber
für die bewegende Ursache schärft Aristoteles gerade im Falle der Kunst ein,
daß sie a l s v e r w i r k l i c h e n d e z u g l e i c h m i t (also nicht „vor") d e m i s t
— oder nicht ist — , d e s s e n U r s a c h e sie i s t : ζ. B. dieser Heilende zugleich mit
diesem Menschen, der gesund gemacht wird, und dieser Baukünstler zugleich
mit diesem Haus, das gebaut wird — δτι τά μέν ένεργοϋντα καΐ τά καθ' Ικαστον
άμα ϊστι καΐ ούκ ϊστι καί ών αίτια, οίον 6 Ιατρεύων τωδε τω ΰγιαζομίνφ καΐ βδε 6
οίκοδόμος τωδε τω οίκοδομουμένω (1014 a 20). Zeitlich früher als das Haue ist
also nur jemand, der vorläufig erst dem V e r m ö g e n nach der Erbauer dieses
Unauthenticated
Download Date | 3/29/16 11:44 AM
Das τί ήν είναι bei Aristoteles
31
Hauses ist. Entsprechend heißt es auch 1070 a 21 ganz allgemein: τά μέν ouv
κινοϋντα αίτια ώς προγεγενημένα βντα, τά δ ' ώ ς 6 λόγος άμα. Und nur ein z e i t l i c h e s Frühersem könnte sioh dooh wohl in oinem tempue imperfectum ausdrücken! S on wico LEU freilich eoheint zu spüren, daß man mit einer zeitlichen
Priorität nicht durchkommt und dekretiert deshalb: „Es ist dabei nicht zunächst an ein Zeitverhältnis zu denken: das Imperfektum bedeutet nur jene
ideale Priorität des Grundes, die Aristoteles unter πρότερον τη φύσει versteht"
(S. 374). Da kann man wohl sagen: arme Grammatik!
4. Auf eine philosophische Erörterung des „Imperfektums der gedanklichen
Voraussetzung" können wir hier verzichten, da angesichts der geringen philosophischen Bedeutung, die diese Konzeption erlangt hat, dasjenige genügen
dürfte, was wir unter b) und späterhin im Abschnitt VII sagen werden.
b) G r a m m a t i s c h e F r a g e n
1. Das „philosophische Imperfektum" ist natürlich kein Sprachgebrauch,
den sioh die Philosophen ohne Anknüpfung an die Redeweise des Alltags zurechtgemacht hätten. Auch im Alltag galt — um B U D A B U S ZU zitieren 1 : ,,ήν
etiam pro έστί accipitur". Schon Alexander Aphrod. bezeichnet einen solchen
Gebrauch als üblich: συνήθης δέ ή τοιαύτη έστί χρήσις. I m übrigen sagt er
an der fraglichen Stolle — nämlich Scholia in Arist. 256 a 34 — nicht mehr, als
daß in τηε überhaupt τφ . . . ήν οΰχ ώς παρελθόντος χρόνου δηλωτικω κέχρηται νϋν,
άλλ' άντί τοϋ έστί (gleichwertig mit έστί) ; das wird dann nur noch an einem Beispiel
wiederholt. B U D A B U S ist noch heute deshalb interessant, weil er von Aristophanes
über ein Platon-Zitat hinweg sofort auf Aristoteles zu sprechen kommt. Etwas
Ähnliches gilt zwar auch für das Μέγα λεξικόν της έλληνικής γλώσσης8, das von
.Aristophanes sogar unmittelbar auf unsere Formel übergeht. Mutatis mutandis
kann man aber immer noch dasselbe sagen, was T R E N D E L E N B U R G (S. 4 7 8 Anm. 1 )
in die Worte f a ß t : „Bei den neueren Grammatikern geht die aristotelische
Sprache fast leer aus. Aus ihren Eigentümlichkeiten ist besonders für die griechische Syntax und selbst für die Etymologie eine ergiebige Nachlese zu halten.
Die reichhaltige, verdienstvolle Grammatik von M A T T H I A führt den Aristoteles
kaum an zehn Stellen an, während der Plato so vollständig berücksichtigt ist."
Noch heute muß man von Glück reden, daß das philosophische Imperfektum
schon klar genug bei Piaton festzustellen ist; sonst würden wir über diesen
Gebrauch auch bei K Ü H N E R und SCHWYZER nichts finden.
Das philosophische Imperfektum (wir behalten diesen handlichen Ausdruck
von Ross bei — trotz der Bedenken, die sich aus dem Gesagten herleiten ließen)
steht, wie es S C H W E O L E R ausdrückte, „brachylogisch s t a t t des mit einer Zurückdeutung auf die Vergangenheit verbundenen Präsens". Seine sedes materiae
ist also noch in den heutigen Grammatiken — kurz gesagt: der Abschnitt
„Imperfekt statt Präsens". K Ü H N K R — G E R T I I S „Ausführliche Grammatik der
griechischen Sprache"' erklärt einleitend: „Das Imperfekt schoint bisweilen
1
Commentarli linguae graecao, Basel 1 5 3 0 , 1 2 0 , 3 3 — 1 2 7 , 3 1 , vgl. auch
die von T R E N D E L E N B U R G zitierte Pariser Ausgabe von 1 5 4 8 ,
die für mich nicht greifbar ist, scheint Ergänzungen zu enthalten.
» Bd. I I I , Athen 1 9 3 9 , S. 2 2 7 3 / 4 .
» Satzlehre, 1. Bd., »Leipzig 1898 = «Hannover 1955, 145f.
223,43 —224,36;
Unauthenticated
Download Date | 3/29/16 11:44 AM
32
F R I E D B I C H BASSENQE
s t a t t des Präsens zu stehen, indem die durch dasselbe ausgedrückte Handlung
in der Gegenwart fortbesteht." Das klingt so, ale ob der Grieche das Imperfekt
gesetzt hätte, wenn und weil etwas Identisches „war" u n d „ist". So hatte j a
auch in BERNHARD YS Syntax gestanden: „das allgemeine ήν ist ganz gewöhnlich
im präsentischen Sinn der Dauer" — und SOHWEGLER hatte daraus das „Imperfekt der Dauer" gemacht. Die richtige Deutung gibt S C H W Y Z E R 1 : „Naturgegebene, geographische, ethnologische u. a. Tatbestände, die an keine Zeit
gebunden sind oder doch von der Vergangenheit in die Gegenwart des Sprechenden hineinreichen, werden in der Erzählung gewöhnlich als vergangen gesehen,
wenn sie mit einem Vorgang der Vergangenheit in Verbindung stehen (attractio
temporis)." B U D A E Ü S und das ΜΛ bringen — wie erwähnt — hierzu Stellen aus
Aristophanes, und zwar Stellen, in denen es heißt: τουτί τί ήν. Zusätzlich möchte
ich auf die besonders hübsche Stelle Zeile 39f. der Frösche hinweisen: die Frage
είπέ μοι, τουτί τί ήν; wird dort wegen ausweichender Antworten zunächst
mit τί ϊστιν; und dann — fordernd — mit τί> τί wiederholt. K Ü H N E R und
SCHWYZER verweisen auf eine gleichartige Stelle bei Sophokles (OC 117): δρα·
τις Äp' ήν. ποϋ ναίει; K Ü H N E R übersetzt: „Wer w a r das, von dem der σκοπός
sprach?" und weist mit Recht darauf hin, daß wir hier auch im Deutschen überall „war" sagen können. Wir kennen eben auch im Deutschen diese attractio
temporis. So können wir die in diesem Zusammenhang auch von A R P E angeführte
Stelle aus Phaidros 230 A gleich deutsch zitieren: „ W a r das nicht der Baum,
zu dem du une führen wolltest?" Oder das Platon-Zitat aus Symp. 198 D—E,
das bei B U D A E U S zwischen Aristophanes und Aristoteles steht: „Das w a r aber,
wie es scheint, gar nicht die rechte Art zu loben, (sondern man muß nur recht
schöne Dinge sagen; stimmen sie auch nicht,) so w a r das nicht weiter schlimm"
(die Stelle in Klammern gekürzt!). Schon B U D A E Ü S machte darauf aufmerksam,
d a ß die Lateiner diesen Gebrauch nachgeahmt haben; K Ü H N E R verweist auf
C i c e r o , d e officiis, 1 4 0 , 1 4 3 : itaque quae erant prudeniia propria, suo loco dicta
aunt. Auf weitere Fälle der attractio temporis, die von K Ü H N E R und SCHWYZER
angeführt werden, brauchen wir nicht einzugehen; wir erwähnen nur noch die
echten Fälle des philosophischen Imperfektums, die K Ü H N E R aus Piaton folgendermaßen zitiert und erklärt: „Civ. 406e Sp', ήν 8' έγώ, δτι ήν τι αύτω έργον 6 εΐ
μή πράττοι οΰκ έλυσιτέλει (STALLB.: δτι έστίν αύτω, ώς άρτι έλέγομεν, ίργον τι).
436 c είσόμεθα, δτι ού ταύτόν ήν, άλλά πλείω, i. e. δτι où ταύτόν έστιν, ώσπερ φόμεθα.
Vgl. 609 b." Wir sehen, daß K Ü H N E R (im ersten Falle mit STALLBAUM) bei Piaton
genau dieselbe Erklärung gibt, wie sie SCHWEQLER und Ross bei Aristoteles gaben.
Die Erklärung ist s a c h l i c h unangreifbar; wenn man aber die sprachliche
Entstehung erläutern will, wird man besser umschreiben: δτι ή ν αύτω, ώς ¿ίρτι
έλέγομεν. Dann haben wir die Entwicklungsstufe klar vor Augen, die Cicero
rezipiert hat, und das philosophische Imperfektum kann nicht mehr als eine
Art confusio temporum erscheinen, sondern enthüllt sich als das, was es ist:
als eine e l l i p t i s c h e a t t r a c t i o t e m p o r i s . Dieser Charakter wird nur dadurch
verdunkelt, daß gerade das attrahens weggefallen und das attractum stehengeblieben ist. Für uns Deutsche ist das wahre Verhältnis aber sehr leicht durchschaubar, weil wir ganz ebenso verfahren können.
2. Wir kommen zum „Imperfekt der Dauer". Der Fall liegt einfach, denn die
Grammatik belehrt uns darüber, daß es ein solches Imperfektum im Griechi1
Griechische Grammatik, I I 2, München 1950, 279f.
Unauthenticated
Download Date | 3/29/16 11:44 AM
DAS τΐ ήν είναι bei Aristoteles
33
echen nioht gibt. Zwar lesen wir auch bei Sciiwyzer (II 2, 276) : „Mit dein Ind.
Praes. konkurriert das Imperfektum in der Erzählung und bei Tatbeständen,
d i e a u s d e r V e r g a n g e n h e i t in dio G e g e n w a r t h i n e i n r e i c h e n . " Das
Imperfektum b e z e i c h n e t dann aber natürlich nicht dieses Hineinreichen oder
gar die Dauer, auf der das Hineinreichen beruht. Vielmehr führt dieses Hineinreichen nur dazu, daß beide Tempora in Betracht kommen, je nachdem, von
welcher Seite aus wir an die fragliche Tatsache herangeführt werden. Normalerweise wird dae Praesens gebraucht; wird die Tatsache aber im Rahmen einer
Erzählung über Vergangenes berührt, so erscheint das Imperfektum: weil
dann nämlich nicht interessiert, daß sie in die Gegenwart hineinreicht, weil
— so könnte man geradezu sagen — die „Dauer" als solche gerade n i c h t
interessiert! Wir befinden uns bei diesem „Hineinreichen" also immer noch
beim Fall der „attractio temporis", und Schweqler hat ganz recht, wenn
er (S. 373) die Rhetorik-Stelle 1415 a 13, wie er sie liest und deutet — nämlich:
„wovon die Rede w a r u n d i s t " —, in diesen Rahmen (d.h. in den Rahmen
des philosophischen Imperfektums) hineinstellt. Nur ist damit leider das
grammatische Problem des Imperfektums der „ewigen Dauer" bereits erschöpft.
Sohwyzer stellt denn auch von vornherein (S. 275) eindeutig fest: „Ebensowenig
bezeichnet das Imperfekt an sich eine längere Zeitdauer."
3. Und weiterhin das „Imperfektum der Priorität" ! Zunächst einmal dürfte
die Annahme absurd sein, daß der Grieche die Existenz eines gegenwärtig bestehenden Dinges deshalb mit dem Imperfektum charakterisiert hätte, weil dieses
Ding zeitlich — und nun gar τη φύσει! — „früher" als ein anderes „war". Nicht
einmal das Plusquamperfektinn hatte ja im Griechischen eine solche ordnende
Funktion. So sagt auch Aristoteles niemals, daß etwas ,,πρότερον ήν". Grammatisoh käme nur das normale imperfectum praeteritum in Betracht. Allenfalls wäre hiernach denkbar, daß Aristoteles von einem Ding gesprochen hätte,
das „schon war, als ein andres noch nicht war". Dabei würde er aber die Frage,
ob die Dinge jetzt noch existieren, völlig beiseite geschoben haben. Und o h n e
einen solchen Vergleich und die nähere Bestimmung durch ein „schon" (etwa
ήδη) würde das imperfectum praeteritum natürlich direkt ausdrücken, daß
das fragliche Ding nicht mehr existiert: wovon ich im normalen praeteritiven
Sprachgebrauch ohne nähere Bestimmung sage, „es war", von dem sage ich
damit zugleich, daß es nicht „ist". Offenbar gerade deshalb sagte Antisthenes
(wenn man Diogenes Laertios glauben darf) an der S. 28 Anm. 1 zitierten Stelle
auch ausdrücklich : ήν ή έστι. Es ist also grammatisch unmöglich, das ήν in τηε
mit Mose» zu übersetzen mit „(das os) i m m e r s c h o n w a r " . Und ebenso ist
es grammatisch unmöglich, in das τηε mit Ernst Hoffmann (a. a. O., S. 158)
hineinzugeheimnissen: „,das Sein' (der Substanz) ,als das, was es war' (sc.
noch bevor es durch Abstraktion in Momente aufgelöst wurde), und als das, was
es bleibt (auch während alles Accidentielle an der Substanz wechselt)"; im
übrigen sehe man sich die angegebene Belegstelle 1029 b 20 auf diese Erläuterung
hin einmal in Ruhe an. Allee in allem: es ist grammatisoh unmöglich, das ήν
in unserer Formol so zu lesen, wie es die Lohre vom „Imperfektum der Priorität"
wahrhaben möchte — ganz abgesehen von den philosophischen Bedenken
einerseits und dem fehlenden Aristotelischen Sprachgebrauch andererseits.
4. Was ist schließlich zum „Imperfekt der gedanklichen Voraussetzung"
zu sagenT Etwa dies: Es wäre durchaus d e n k b a r , daß die Griechen ein solches
Imperfektum — als eine Art Erweiterung der erörterten attractio temporis —
3 Zeitschrift „Philologue" 1/2
Unauthenticated
Download Date | 3/29/16 11:44 AM
34
FRIEDRICH BASSENGB
auegebildet hätten; in diesem Falle wäre es auch d e n k b a r gewesen, daß sie die
großartige Frage: „Was sagen wir eigentlich damit, wenn wir etwas ,gut' oder
.Mensch' nennen?" — in der Form gestellt hätten : τΐ ήν . . . ; Aber die Entdecker
dieses Imperfektums haben einen Beweis für seine Üblichkeit nicht angetreten,
und was die erwähnte großartige Frage betrifft, so hat es sich wohl herumgesprochen, daß Sokrates und seine Schüler τί έστι; gefragt haben. So bleibt,
hier nur noch auf das zu verweisen, was wir später über den angeblichen Aristotelischen Gebrauch eines solchen Imperfektums bemerken werden.
c) D e r A r i s t o t e l i s c h e S p r a c h g e b r a u c h
Wir gehen nunmehr zum Aristotelischen Sprachgebrauch — und
zwar in erster Linie zur Metaphysik — über. Prüft man die Fälle,
in denen die Metaphysik ήν a u ß e r h a l b unserer Formel gebraucht,
so ist ihre Zahl verhältnismäßig klein: es sind nicht einmal hundert!
Weitaus am häufigsten handelt es sich dabei um den gewöhnlichen
Irrealis — nämlich in etwa zwei Dutzend Fällen, die natürlicherweise
fast immer Doppelfälle sind. Allerdings dürften auch gewisse Fälle,
in denen ein Wenn-Satz fehlt, als elliptische Irrealis-Ausdrücke
gelten müssen; vgl. das unter Ziffer 4 über 1013 b l 4 Gesagte. Als im
Irrealis stehend möchte ich auch den ganzen Passus 1068 a 34—b4
von άνάγκη bis γιγνόμενον betrachten ; Ross scheint ein gewöhnliches
Praeteritum anzunehmen. An der Grenze zwischen Irrealis und Praeteritum steht ferner die Konstruktion 989 b 6—9. Zweifelsfreie Fälle
eines imperfectum praeteritum gibt es auffallenderweise fast überhaupt
nicht; außer dem verbesserten Anaxagoras-Zitat 1069 b23 wüßte
ich nur 1078 b25 zu nennen: „die Dialektik war damals noch nicht
so weit, daß man vermocht hätte . . .". Wenn Aristoteles in der
Rekapitulation des Kapitels Η 1 (1042 a20) sagt, άναγκαϊον καΐ περί
μέρους ήν tSeïv, so ist dies ein Beispiel für die Feststellung von BuDAEUS S. 127: ήν etiam pro licebat ponitur. Alle anderen Fälle erweisen sich bei näherem Zusehen als verdächtig, irgendwie zum philosophischen Imperfektum zu gehören; wir werden sie also noch zu
erörtern haben.
1. Wenn wir uns nunmehr dem philosophischen Imperfekt zuwenden, so tun wir gut daran, vom klarsten und für unser Problem
wichtigsten Beispiel auszugehen, das es gibt, nämlich 1006 b 30 :
... ζωον είναι δίπουν (τοϋτα γάρ ήν δ έσήμαινε τό άν&ρωπος) · — denn
dies „war" es ja, was „Mensch" bezeichnen sollte. Es kann nicht der
geringste Zweifel darüber bestehen, worauf das ήν hier zurückweist,
nämlich auf 1006 a 31 : έτι εί τό άνθρωπος σημαίνει Ιν, έστω τοΰτο
τό ζωον δίπουν. Hier wurde eine Voraussetzung mit έστω festgelegt,
und auf diese Voraussetzung wird später mit ήν zurückgegriffen.
Unauthenticated
Download Date | 3/29/16 11:44 AM
Dae τί ήν cZvai boi Aristoteles
35
Wir befinden uns in der Erörterung der Unleugbarkeit des Widerspruchssatzes; Aristoteles sagt, daß man sie nur beweisen könne,
wenn man den Gesprächspartner dazu bringe, irgend etwas vorauszusetzen, und worüber man sich als Voraussetzung geeinigt hat, das
sollte so sein, das „war" so. Eine Seite später (1007 a 25) heißt es ganz
entsprechend: êv γάρ ήν δ έσήμαινε και ήν τοϋτό τίνος ουσία —
was es bezeichnet, sollte ja eines sein (war ja eines), und es sollte
Wesen von etwas sein. Auch die Stelle 1025 a 30 (τοϋτο δ' ήν Αίγινα)
möchte ich für einen Fall des philosophischen Imperfekts ansprechen,
obgleich im Vordersatz ein echtes Imperfekt der Vergangenheit
vorkommt — 6 γάρ χειμών αίτιος του μή δπου ίίπλει έλθειν — und
eine entsprechende Auffassung des ήν deshalb immerhin möglich
bleibt. Aber vier Zeilen vorher war schon gesagt, daß der Segler gerade
nach Aigina verschlagen wurde, und hierauf, auf diese Voraussetzung
des Gedankengangs nimmt das ήν Bezug; es würde auch dann stehen,
wenn die ganze Geschichte im Präsens stünde.
Ebenso klar wie der Fall 1006 b 30 sind die drei Fälle des Kapitels
Θ 4. Dort heißt es auf den Zeilen 1047 b 19—22: τό δέ γε Β άνάγκη
είναι, άλλ' ήν άδύνατον. έστω δή άδύνατον. ει δή άδύνατον είναι τό Β, άνάγκη καί τό Α είναι, άλλ' ήν άρα τό πρώτον άδύνατον- και τό δεύτερον
άρα. Den letzten Satz übersetzt Ross einwandfrei mit „But the first
w a s s u p p o s e d t o be impossible" — weil er sich nämlich eindeutig
auf das έστω άδύνατον zwei Zeilen vorher bezieht. Auch den zweiten Satz
übersetzt Ross entsprechend: But we supposed Β to be impossible.
Aber vorher findet sich k e i n e solche Voraussetzung; sie wird erst
im nächsten Satz gemacht. Ich vermute deshalb eine Ellipse, die
folgendermaßen aufzulösen wäre : Wenn es (sc. B) nun aber unmöglich
sein „sollte" (d. h. als solches vorauszusetzen war)? Und dann folgt
ganz logisch: Es soll unmöglich sein! — Schließlich heißt es 1047 b 29:
έάν ή τό Α καί δτε καί ώς ήν δυνατόν είναι ... — if A is real both at
the time when and in the way in which it w a s s u p p o s e d capable
of being (Ross).
Es ist verständlich, daß sich dieser Wortgebrauch nicht auf die Fälle
beschränkt, in denen die Voraussetzung, auf die sich Aristoteles
bezieht, gerade wenige Zeilen vorher ausdrücklich aufgestellt wurde.
Bisweilen bezieht sich das ήν auf eine Voraussetzung der von Aristoteles gerade kritisierten Lehre. So 1065 a 11 : τοΰτο δ' ήν κατά συμβεβηκός
— but this was supposed to be accidental (Ross). Analog möchte ich
das ήν eine Zeile vorher auffassen. Auf Piatons Nicht-Eines bezieht
sich 1001b 23: εϊπερ τό μή êv ή άνισότης καί ή αύτη φύσις ήν —
da es doch „Ungleichheit" und (in beiden in Rede stehenden Fällen)
3*
Unauthenticated
Download Date | 3/29/16 11:44 AM
36
F R I E D R I C H BASSENGE
dieselbe Natur sein sollte. Auf Zeile 1083 b 36 fragt Aristoteles, woraus
denn die Eins entstanden sein sollte, da doch nach Piaton die unbestimmte Zwei nur das sein sollte, was verdoppelt: ή γάρ άόριστος δυάς
δυοποιός ήν. Kurz vorher wurde von dieser Zwei gesagt, daß sie
verdoppeln sollte, was sie „empfing": του γάρ ληφθέντος ήν δυοποιός
(Í082 a 15).
Dae philosophische Imperfekt bezieht sich aber nicht nur auf Voraussetzungen, sondern auch auf sonstige Erwähnungen (ζ. B. 1004 a 33,
wo von einem Problem gesagt wird: τούτο 8' ήν Iv των èv τοις άπορήμασιν,
d.h. in BuchB), v o r a l l e m a b e r auf F e s t s t e l l u n g e n . Ein besonders schöner Fall ist 1058a 11 : ή γάρ έναντιότης ήν διαφορά τελεία — womit auf 1055a 16 verwiesen wird: δτι μέν οδν ή έναντιότης έστί διαφορά
τέλειος, έκ τούτων δήλον. Der Fall ist deshalb besonders lehrreich, weil
im Satz unmittelbar vor dem Zitat 1058a 11 auf das ganze Kapitel (14)
verwiesen wird, in dem sich die Zeile 1055a 16 findet — und zwar in
der bezeichnenden Form: . . . δτι τά εναντία έν ταύτω γένει, δέδεικται.
Wir erinnern uns an S C H W E Q L E R S Feststellung: „Statt . . . έστίν,
ώσπερ δέδεικται . . . sagt Aristoteles häufig ήν." Aristoteles dürfte
nun bei solchen „Rückverweisungen" durchaus nicht immer an eine
bestimmte Stelle seiner Vorlesungen denken. Wo er dies nicht tut,
könnte man ήν auch übersetzen mit „es ist, wie wir gelernt haben"
oder fast mit „es ist bekanntlich". So wird in 1026 a 34 gesagt, man
spreche vom Seienden in mehreren Bedeutungen, ών êv μέν ήν τό
κατά συμβεβηκύς. Ross übersetzt: of which one was seen to be accidental — und sagt in seinem Kommentar: The reference is to Δ 7. Nun,
Aristoteles selbst dürfte hierbei kaum gerade auf jene Stelle seines
philosophischen Wörterbuchs (das ja gar nicht zur MetaphysikVorlesung gehört haben wird), sondern viel eher auf die allgemeine
Bekanntheit dieses Bestandteils seiner Lehre (nämlich im Lykeion)
verweisen wollen. Etwas anderes gilt bei dem R o s s — S C H W E G L E R schen Musterbeispiel des philosophischen Imperfektums in 1071b 3:
έπεί δ' ήσαν τρεις ούσίαι — since there are, as we saw, three kinds of
substance (Ross). Hier befinden wir uns im Buche A — also wahrscheinlich in einem Vortrag, der außerhalb der normalen Vorlesungen
gehalten wurde —, und hier liegt eine eindeutige Bezugnähme auf
eine frühere Stelle dieses Buches vor, nämlich auf 1069 a 30. Bisweilen kann es zweifelhaft erscheinen, ob ήν auf eine Voraussetzung
besprochener Theorien oder auf die eigene Theorie des Aristoteles
verweisen will. Das gilt im gleichen Buche für 1072 a 16. Aber auch
bei 1041 a 19 scheinen mir beide Deutungen möglich zu sein. Aristoteles fragt dort nach der Ursache dafür, warum ein Mensch ein Mensch
Unauthenticated
Download Date | 3/29/16 11:44 AM
Dae τΐ ήν είναι boi Aristoteles
37
sei, und antwortet vorweg: αύτό δέ ότι αυτό — weil eben ein Ding
es selbst ist; dann fährt er fort: πλήν εϊ τις λέγοι βτι άδιαίρετον
πρός αύτό εκαστον, τούτο δ' ήν τό ένΐ είναι. Ross setzt seine Übersetzung dieser ganzen Stelle von πλήν ab in Anführungszeichen und
läßt Aristoteles sich damit von dieser Definition des ένΐ είναι distanzieren; die Auffassung des Einen.als des Unzerlegbaren ist aber
gut aristotelisch, und der Übergang in den Indikativ eprioht eher
für die andere Interpretation. Bisweilen scheint ήν etwas zu bezeichnen, was nicht nur vorausgesetzt oder bewiesen oder im Lykeion
ausgemachte Sache war, sondern was überhaupt nicht zu bezweifeln
ist. So wird in 1040 b 1 gesagt, der Begriff sei etwas Gemeinsames,
άλλ' ήν των καθ' έκαστα ό ήλιος. Man möchte hier fast einen ironischen
Ton heraushören: aber die Sonne gehört denn doch bekanntlich zu
den Einzeldingen!
Ehe wir die Fälle — aus der Metaphysik und aus anderen Texten — erörtern,
die von SOHWBOLER und anderen ausdrücklich für ein Imperfektum der Dauer
oder der Präexietenz in Anspruch genommen worden sind (das sind aleo dio
eigentlich streitigen Stellen), wollen wir noch einige Fälle außerhalb der Metaphysik erwähnen, die in die Debatte geworfen worden sind.
1
W A I T Z nennt bei Erörterung des τηε als Beispiele, die zeigen, quomodo
explicandum sit tempus imporfoetum in formula τηε, unter anderen zwei, die
bei SCHWEQLER als Fälle dea philosophischen Imperfektums wiederkehren. Es
handelt sich dabei um rhot. 1416 a 13 (das ist das erste Beispiel, das W A I T Z
anführt) und um de anima 424 a 31. An der Rhetorik-Stelle bespricht Aristoteles
den stilistischen Wert der Voranstellung des entscheidenden Begriffs in Sätzen
wie „άνδρα μοι ίννεπε μοϋσα"; er sieht ihn darin, daß man gleich wisse, οδ
ήν ό λόγος, und daß die Überlegung nicht schwanke: denn das Unbestimmto
führe irre. SOHWBGLER erläutert das ήν mit: wovon die Rede war und ist. Das
läuft ungefähr auf die oben angeführte Erläuterung hinaus, mit der K Ü H N E R
die Besprechung dos philosophischen Imperfekts einleitet. Daa Besondere dieser
Stelle liogt darin, daß in ihr doch eigentlich gar nicht zurückgeblickt, sondorn
eher vorausgeblickt wird; man müßte also im Grunde sagen: wovon die Redo
ist und sein wird ! Es kommt hinzu, daß die Lesart ήν hier sehr streitig int·.
Zwar konnten sich SCIIWEGLER und W A I T Z auf B E K K E R und die meisten Handschriften stützen ; heute gilt aber die Lesart ή ale die wahrscheinlichere. So kann
man jenen Relativsatz zwar als etwas benutzen, was er bei Aristoteles keineswegs ist — nämlich als Umschreibung einer bestimmten Art des philosophischen
Imperfekts —, aber sachlich hilft er uns nicht weiter, weil er vielleicht überhaupt
andere gelautet hat. — Dagogon ist die Anima-Stelle sehr wichtig. I n ihr wird
erklärt, daß das Verhältnis, als das sich die Sinneswahrnehmung ergeben hat —
τούτο 8* ήν ή αίσ&ησις — durch überstarke Eindrücke zorstört wird. Als solches
Verhältnis (wohl zwiechon Wahrnehmenden» und Wahrgenommenem, wio
B U S S E in seiner Übersetzung, Loipzig 1022, S. 108 orläutert) war es erst zwei
Sätzo vorher bestimmt wordon; B U S S E gibt deshalb zu Recht das Imporfekt
1
Aristotelis Organon, Bd. II, Leipzig 1846, S. 400.
Unauthenticated
Download Date | 3/29/16 11:44 AM
38
Friedrich Bassenok
mit „wie gesagt" wieder. Waitz fährt fort: „unde patet quomodo intelligendum
sit et explicandum quod legitur 419 a 9 τούτο γάρ ήν αύτό (sic Trdlbo., αΰτω
Βκκ.) τό χρώματι είναι τό κινητικοί είναι του κατ' ένέργειαν διαφανούς, et
quae his sunt similia". Aber es bedarf kaum jener anderen Stelle, um deutlich
zu machen, wie ήν liier zu verstehen ist; das ήν ist nämlich eine eindeutige
Zurück Verweisung auf die entsprechende Definition der Farbe in 418 BL;
Busse übersetzt deshalb: „ d a s h a t s i c h j a als das Wesen der Farbe e r g e b e n ,
daß sie die bewegende Kraft des in Wirklichkeit Durchsichtigen ist." Ebenso
schön ist schließlich die Stelle 741 a 15 aus der Entstehung der Tiere, die Waitz
anführt : εΐ οδν τό &{>$EV έστί τό της τοιαύτης ποιητικόν ψυχής, δπου κεχώρισται τό
θήλυ καΐ τό ά^εν, άδύνατον τό θήλυ αύτό έξ αύτοϋ γεννδν ζφον. τό γάρ είρημένον ήν τό
Λ^εν είναι. Diese Stelle ist deshalb besonders bemerkenswert, weil wir hier das
Moment des Zurückblickens, daa im philosophischen Imperfektum enthalten ist,
nicht nur durch das übliche τοϋτο (auf das wir noch zu sprechen kommen), sondern
durch ein ausdrückliches τό γάρ είρημένον charakterisiert finden. Das είρημένον
dürfte hier τό της τοιαύτης ποιητικόν ψυχής sein. — Das sind alle Stellen, die
Waitz in diesem Zusammenhang anführt — bis auf eine weitere Rhetorik-Stelle,
die wir als „streitige" noch später zu erörtern haben. Sehen wir von dieser und
von der anderen, bereits erwähnten Rhetorik-Stelle ab, so verweist Waitz
also ausschließlich auf eindeutige Fälle des philosophischen Imperfektums.
Sonach müßte man eigentlich Waitz als Vertreter einer Auslegung unserer Formel
im Sinne dieses Imperfektums bezeichnen können. Naoh der Zitierung von
τοϋτο 8'ήν ή αϊσθησις erläutert er auch ausdrücklich: sie enim constitutus est
sensus et definitus — und damit müßte er, von den Befunden aus, seinen Satz
schließen. Er setzt ihn aber folgendermaßen fort: et, quum recte definitus sit,
haec semper est eins natura! Daß dieses Zugeständnis an die Trendelenburo«che Auffaesung völlig in der Luft hängt, bedarf keiner weiteren Erörterung.
Die Abirrung in einen philosophischen Lieblingsgedanken und eine philosophische Lieblingsinterpretation der Zeit liegt hier offen zutage.
Von 1846 wollen wir nur noch kurz auf 1956 überspringen — und dann der
Belege genug sein lassen. Wir müssen auf ein gewisses Zitat, daa aus der jüngsten
Vergangenheit stammt, noch „im Vorübergehen" zu sprechen kommen, weil
uns darin (von Inobmar Döring in einer Besprechung der neuen Turiner Ausgabe
des Organon, Gnomon 28, 1950, 207) etwas höchst Interessantes versprochen
wird: „In 146 b 3 — 4 we can see the phrase τό τί ήν είναι in statu nascondi:
τό είναι δπερ τό πρός τί πως ϊχειν (the being-in-a-certain-relation-to-something) ταύτόν ήν έκάστφ των πρός τι (was shown to be identical with every
relative term)." Wieso ausgerechnet in diesom Satz das τηε in statu nascondi
stecken soll, ist mir nicht klar. Der Geburtsort ist ja auch kaum im sechsten
Buch der Topik zu suchen (wo wir uns in 146 b befinden), da uns schon im
vierten Kapitel des ersten Buches das „Lebewesen" völlig erwachsen entgegentritt. Auch scheint mir die Ubersetzung vor allem in der ersten Hälfte des zitierten Textes nicht haltbar zu sein. R o l f e s übersetzt (2. Aufl., Leipzig 1922):
da für jedes Relative das Sein dasselbe ist wie: sich zu etwas in bestimmter
Weise verhalten". Da« scheint mir prinzipiell richtiger zu sein; gerade wenn man
hier an die Dativ-Ausdrücke und das τηε denkt, wird man geneigt sein, έκάστφ
των zu τό είναι zu ziehen. Inobmar Döring hat aber dann völlig recht, wenn er
mit dem „status nascondi" weiter nichts sagen will, als daß hier das ήν ebenso
zu verstehen ist wie in unserer Formel, und zwar eben im Sinne eines philosophi-
Unauthenticated
Download Date | 3/29/16 11:44 AM
Das τ£ ήν είναι boi Aristoteles
39
sehen Imperfektums. Als solches spricht er ήν eindeutig dadurch an, d a ß er es
mit „was shown to b e " übersetzt. Wir befinden uns in der Erörterung der
Definition von Relativa ; die Verweisung wird sich also auf die Erörterung der
Relativa im vierten Kapitel dos vierten Buches beziehen.
Damit hätten wir wohl die Fälle des philosophischen Imperfektums, die
in der Diskussion über das τηε eine Rolle gespielt haben, im wesentlichen gen a n n t ; auf die Beispiele AKPES und TRKNDELENBURQS werden wir im Abschnitt V I I
zu sprechen kommen. Wir müssen hier natürlich darauf verzichten, einen auch
nur kurzen Uberblick über das Auftreten des philosophischen Imperfektums
außerhalb der Metaphysik zu geben. Betont sei aber, daß es besonders in den
naturwissenschaftlichen Schriften häufig anzutreffen ist. Seine Bedeutung ist
natürlich auch von solchen Forschern und Übersetzern boachtet worden, die
es nicht in unserer Formel wiederfinden möchten. Ich will hier nur auf drei
dieser Forscher kurz hinweisen, nämlich auf PRANTL, BONITZ und ROLTES.
PRANTL hat in seiner Übersetzung der „Vier Biioher über da« Himmelsgewölbe"
(Leipzig 1857) die f ü r ihn oindeutigon Fülle des philosophischen Imperfektums
mit „war uns" übersetzt und hat jeweils in Klammern hinzugefügt, auf welche
Stelle Aristoteles dabei offenbar verweist. So heißt es ζ. Β. in der Übersetzung
von I 7 auf S. 51 : „ . . . hingegen war uns j a [C. 1] Körper dasjenige, was allseitig Ausdehnung h a t . . ." und auf S. 53:
denn es lag uns zugrunde [C.6],
daß in kleinerer Zeit die größere es t u e . . ." („lag zugrunde" f ü r ΰπέκειτο; vgl.
hierzu auch 1033 b 1 !) — ferner in I 9 auf Seite 67: „. . . ein andres aber gab es uns
j a nicht [C. 7]." — ΒΟΝΓΓΖ erwähnt das philosophische Imperfektum im Index
nur einmal sehr kurz und nur mit fünf Belegen aus den Ersten Analytiken (33 a 4,
3 7 a 9 , 37 b 10, 38a35, 41 a30), m a c h t dabei aber auf einen wichtigen Umstand aufmerksam, der im übrigen nooh nicht bemerkt worden ist : nämlich darauf, daß —
wie m a n sagen könnte — in den typischsten Fällen des philosophischen Imperfektums vor ήν ein τοδτο auftaucht. E r sagt allerdings nicht mehr als: ,,τοϋτο
ήν i. e. hoc significabat". ROLFES übersetzt (Erste Analytiken, Leipzig 1921)
das erste BoNiTZsche Beispiel mit „bedeutet", die mittleren drei — in Nachfolge
von PRANTL — mit „war u n s " oder „galt uns" ; im letzten Fall umschreibt er
mit „verstanden wir".
Wir müssen jetzt auf den von BONITZ bemerkten Umstand etwas
näher eingehen. Wenn wir die bisher zitierten Stellen überblicken,
so finden wir (in der Reihenfolge unserer Zitierung) an folgenden
Stellen ein τούτο vor ήν: 1006 b 30, 1007 a 25, 1025 a 30, 1065 a l l ,
1004 a 33, 4041 a 19, 424 a 31 und 419 a 9; wir werden es (von
den streitigen "Fällen abgesehen) ζ. B. noch in 640 a 33 finden. In
741 a 15 ist es durch τό είρημένον ersetzt. Fragt man, an welchen
zitierten Stellen das τοϋτο fehlt, so sind das die vier Fälle in Θ 4
(analytische Deduktion unter Verwendung von ,,A" und „B"), die
drei Stellen der Verweisung auf Piatonisohe Annahmen, die in Erinnerung gebrachte Definition in 10ß8a 11 und die vier Fälle der Verweisung auf Dinge, die mindestens im Lykeion allgemein bekannt
waren. Fragen wir nach der inhaltlichen Bewandtnis, die es mit dem
τοϋτο hat, so ergibt sich folgendes: Sehen wir von zwei untypischen
Unauthenticated
Download Date | 3/29/16 11:44 AM
40
FRIEDRICH BASSKNGK
Fällen ab (von der Verweisung auf ein Problem des Buches Β in
1004 a 33 und auf Aigina als Landeort in dem — immerhin nicht
eindeutigen — Fall 1025 a 30), so verweist unser τούτο immer auf
ein πέρας, ein definiens : in 1006 b 30 auf die Bestimmung des Menschen
als „zweifüßiges Lebewesen", in 1065 a 11 auf die Bestimmung des
συμβεβηκός als „letztes Verursachtes", in 1041 a 19 auf die Bestimmung des Einen als des „Unzerlegbaren", in 424 a 31 auf die Bestimmung der Sinneswahrnehmung als eines „Verhältnisses", in
419 a 9 auf die Bestimmung der Farbe als „bewegende Kraft des der
Wirklichkeit nach Durchsichtigen" und in 741 a 15 auf die Bestimmung des Männlichen als „SeelenschafFenden". Auch 1007 a 25 gehört
in gewissem Sinne hierher : dort nimmt nämlich τοϋτο das kurz vorangegangene δ Έσήμαινε (BONITZ' „hoc significabat" !) wieder auf, und
das Subjekt zu diesem έσήμαινε ist τι (ίπερ άνθρώπω είναι; der
ganze Satz erinnert an die Stelle eine Seite vorher (1006 b 30): ζωον
είναι δίπουν (τοϋτο γάρ ήν δ έσήμαινε τό άνθρωπος). Das gilt nun aber
auch f ü r Fälle des philosophischen Imperfektums, in denen τοϋτο
fehlt — und deshalb fehlen kann, weil die definitorische Bestimmung
im selben Satze angeführt wird: nämlich die Bestimmung des NichtEinen als „Ungleichheit" (Piaton) in 101b 23, der unbestimmten Zwei
als „Verdoppelndes" (Piaton) in 1083b36 und 1082al5, die Bestimmung des Gegensatzes als „vollendeten Unterschied" in 1058a 11 und
des Seins des Relativen als „sich zu etwas in bestimmter Weise verhalten" in 146 b 3. Hier haben wir offenbar die inhaltliche Klammer
der typischen und f ü r unser Problem entscheidenden Fälle des philosophischen ήν vor uns. Soweit τοϋτο dabei steht, können wir sagen,
es sei das in ein Demonstrativum verwandelte τί: d i e A n t w o r t
auf die F r a g e τ ί έ σ τ ι ; k a n n s p ä t e r h i n a u f g e n o m m e n werden
d u r c h τοϋτο. Wenn SCH WEGLER das philosophische ή ν umschrieb
mit „es ist, wie sich gezeigt hat", so können wir insbesondere τοϋτο ήν . .
jetzt genauer umschreiben mit : das ist es ja, was sich als Antwort auf
die Frage τί έστι ergeben hatte. So erklärt sich, weshalb echte Untersuchungsfragen niemals τί ήν, sondern immer τί έστι heißen (vgl.
z . B . 1029 b 28, 995 a 18) und auch in Rückblicken in Verbindung
mit τί immer nur έστι erscheint (vgl. z. B. 1037 a 21, 1052 b 3,
1065 a 3).
2. Wir gehen nunmehr zu den „streitigen" Fällen über, also zu denen,
die als Belege f ü r den Aristotelischen Gebrauch von ήν im Sinne
des ewigen oder des früheren Seins vorgebracht worden sind, — und
zwar zunächst zum „Imperfektum der ewigen Dauer". Die Belege,
die SCHWEOLER und Ross bringen, haben wir bereits unter IV 2
Unauthenticated
Download Date | 3/29/16 11:44 AM
Dae τί ήν είναι bei Aristoteles
41
wörtlich zitiert. Es handelt sich dabei um ein Beispiel aus de caelo,
das uns insofern nicht viel nützt, als es darin ύπηρχεν und nicht ήν
heißt, und um ein weiteres, das uns insofern ebenfalls nicht viel nützt,
als es bei Piaton und nicht bei Aristoteles steht. Die beiden einzigen
Stellen, in denen wirklich ήν und daa ήν wirklich bei Aristoteles steht,
sind Fälle des τοϋτο ήν ! Die Rhetorik-Stelle sagt : was alle erstreben,
das „war" gut. Schon ARVE hat (S. 16, Anm. 17) gegen Ross eingewandt, daß damit „wohl nur 1362 a 23 aufgenommen" werde.
Daran kann kaum überhaupt ein Zweifel bestehen. Das ganze Kapitel,
in dem die Rhetorik-Stelle 1363 a 9 steht (I 6), handelt vom Guten,
und am Anfang des Kapitels werden die möglichen (oder notwendigen)
Bestimmungen des Guten zusammengetragen — darunter auch οΰ
έφίεται πάντα (1362 a 23). Der Satz, i n d e m dies geschieht, beginnt
bezeichnenderweise mit έστω δή άγαθόν — also mit demselben Wort,
das in 1006 a 31 dem ήν von 1006 b 30 korrespondierte. Wenn die
Rückverweisung nicht ganz klar wäre, könnte man auch hier an eine
allgemein bekannte Lehre denken; vgl. den ersten Satz und das
Kapitel X 2 der Nikomachischen Ethik. Übrigens steht 1363 a 9
auch in der Aufzählung von WAITZ, die ja — wie wir sahen — auch
im übrigen lauter philosophische Imperfekta enthält. Die ÖkonomikStelle lautet bei GOHLKE 1 : „Unter den Besitztümern ist das notwendigste und wertvollste zugleich das wirtschaftlichste, nämlich der Mensch
selbst." GOLHKE erinnert dabei an Politik 1259 b 18ff., doch ist dort
nicht einfach dasselbe gesagt, und eine Verweisung auf die Politik
ist ohnehin nicht sehr wahrscheinlich. Andrerseits ist es vom Inhalt
her keineswegs naheliegend (von den grammatischen Bedenken ganz
zu schweigen), daß das Imperfektum hier eine „ewige Dauer" bezeichnen könnte. Eher könnte ein iteratives Imperfektum vorliegen:
„erweist sich erfahrungsgemäß der Mensch". Ich neige auch hier zur
Annahme eines philosophischen Imperfektums, und zwar in dem
Sinne: τοϋτο ήν = „ist, wie wir erfahren haben . . ."; doch ist hier
sachlich kaum ein Unterschied zwischen iterativem und philosophischem Imperfektum zu spüren. Jedenfalls hat Ross recht daran
getan, dieses S c H W E G L E R s c h e Beispiel in seine Belege für ein Imperfektum der Dauer nicht mit aufzunehmen. Aber mit der RossS c H W E G L E R s c h e n Stelle aus de caelo sieht es nicht besser aus. Wenn
dort Aristoteles behauptet, daß das sinnlich Wahrnehmbare immer
„an Stoff bestand", so kommt vom Inhaltlichen her schon deshalb
kein „Imperfektum der ewigen Dauer" in Betracht, weil ja die meisten
1
Aristoteles, Über Hauswirtschaft., Paderborn 1947.
Unauthenticated
Download Date | 3/29/16 11:44 AM
42
F R I E D R I C H BASSKNOE
σύνολα entstehen und vergehen. In dem Kapitel, in dem wir uns hier
befinden (I 9), wird aber zunächst einmal das allgemeine Verhältnis
zwischen είδος und ύλη, wie es aus Physik und Metaphysik bekannt
ist, referiert und daran anschließend die Nutzanwendung für den
„Himmel" gezogen. Wenn wir nun noch in Betracht ziehen, daß
in de caelo — wie oben erwähnt — das philosophische Imperfektum
sehr häufig vorkommt, so spricht doch wohl alles dafür, daß auch das
Imperfektum bei ύπηρχεν besagt : wie wir erfahren haben. — Schließlich ist die letzte Belegstelle — Theaet. 156 A — schon von A R P E
(S. 16, Anm. 17 — siehe das Zitat im Abschnitt VII) als Rückverweisung gedeutet worden. Allerdings liegt sicher keine Rückverweisung auf Theaetets Verwunderung vor, wie A R P E annehmen möchte.
Wir befinden uns in der Erörterung des Satzes des Protagoras. Die
Belegstelle heißt bei SCHLEIERMACHER: „Der Anfang aber, an welchem
auch, was wir vorhin sagten, alles hängt, ist bei ihnen der, daß alles
Bewegung i s t . . . " („ist" für ήν!). Wir müssen also wohl suohen, wo
die Behauptung über die Bewegung erörtert wurde. Das geschah
aber 152 D E : „ . . . d u r c h Bewegung und Veränderung und Vermischung w i r d alles untereinander nur, wovon wir sagen, daß es i s t ,
indem wir es damit nicht richtig bezeichnen". Damit dürfte auch dieser
Fall — obgleich er uns eigentlich „nichts angeht" — geklärt sein.
Piaton verweist hier mit ήν in gleicher Weise auf Protagoreische Voraussetzungen, wie Aristoteles in 1001 b 23, 1083 b 36 und 1082 a 15
auf Platonische. — Wir wollen aber ein übriges tun und in die Diskussion eine Stelle einbeziehen, die bisher noch keine Rolle gespielt
hat und auch oben noch nicht erwähnt wurde. Es ist die einzige
Metaphysik-Stelle, die man prima facie im Sinne eines „Imperfektums
der Dauer" auslegen könnte. Bemerkenswerterweise handelt sie
ebenfalls von der Bewegung. Sie steht 1071 b 7: άεί γάρ ήν. Man wird
sagen: hier steht ja ausdrücklich άεί dabei! Ich antworte: es steht
aber auch ausdrücklich γάρ dabei — womit doch eine Bekanntheit ausgedrückt wird. Aber davon abgesehen: könnte denn durch das άεί
bewiesen werden, daß nun auch das Imperfektum d a z u d i e n e ,
gerade auch den Fortbestand der Bewegung in Gegenwart und Zukunft m i t z u b e z e i c h n e n — selbst w e n n es grammatisch denkbar
wäre? Da dies nun aber nicht denkbar ist, kommen nur zwei andere
Erklärungen in Betracht. Entweder handelt es sich um ein gewöhnliches Praeteritum; dieses Praeteritum würde die ewige Existenz
der Bewegung in der Vergangenheit b e z e i c h n e n — wobei dieses
Faktum auch über Gegenwart und Zukunft „sapienti sat" andeuten
würde. So können wir auch im Deutschen sagen: „Bewegung war
Unauthenticated
Download Date | 3/29/16 11:44 AM
D a s τΐ ήν είναι bei Aristoteles
43
immer" — und damit durchblicken lassen (ohne es zu sagen!), daß
sie auch in Zukunft sein werde. Nach dem, was wir bisher gesehen
haben, ist es aber weit wahrscheinlicher, daß auch hier ein philosophisches Imperfektum vorliegt, das entweder auf einen im Lykeion allgemein bekannten Bestandteil der Aristotelischen Lehre oder speziell
auf Physik VIII, 1 — 3 verweist. Hierfür spricht auch, daß die Stelle
vier Zeilen nach dem Ross-ScHWEGLERschen Musterfall für das
philosophische Imperfektum steht.
3. Wir kommen nunmehr zu den zwei Fällen, in denen nach SCHWEGLER das ήν ein Ausdruck für das f r ü h e r e Sein des εϊδος ist. Dies sind
zugleich die letzten problematischen Metaphysik-Stellen, die uns zu
erörtern blieben.
Zuerst wollen wir die Stelle 1045 a 31 betrachten. Sie lautet: ού&έν
γάρ έστιν αίτιον έτερον του τήν δυνάμει σφαΐραν ενεργεία εϊναι σφαΐραν, άλλά
τουτ* ήν τό τί ήν είναι έκατέρω. Ross übersetzt: „For there is no other
cause of the potential sphere's becoming actually a sphere, but this
was the essence of either." Er erläutert das in einer besonderen Fußnote : i. e. it was the essence of the potential ball to become an actual
ball, and of the actual ball to be produced from a potential ball.
Ich stimme mit Ross darin überein, daß das τούτο auf αίτιον zu
beziehen ist — also untypisch im Sinne unserer obigen Erörterungen
erscheint. Aber ich glaube nicht, daß man bei Aristoteles zwischen
einer „essence" (τηε) der potentiellen und einer „essence" der aktuellen Kugel unterscheiden kann 1 . Aristoteles will — so scheint mir —
gerade das Gegenteil sagen. Ich ziehe also έκατέρω der Sache nach zu
αίτιον und übersetze: „Es gibt keine verschiedenen Ursachen dafür,
daß eine Kugel dem Vermögen nach und daß sie auch der Verwirklichung nach existiert, vielmehr ,war' das τηε Ursache f ü r beides."
So allein kommt ein gut aristotelischer Gedanke heraus, der in den
Zusammenhang paßt. Das ήν würde dann auf frühere Feststellungen
verweisen — im Grunde auf alle Stellen, in denen überhaupt das τηε
als allgemeine Ursache angesprochen wird: z.B. auf 1041 a28, wo das
τηε sowohl als Zweckursache wie auch als Bewegungsursache bezeichnet wird. Wir erwähnen gerade diese Stelle, weil einige Sätze
später der zweite Musterfall SCHWEGLERS ZU finden ist, sozusagen das
1
Dieselbe Meinung v o r t r i t t EKNST TÜGBNDHAT a u f S. 221, A n m . 1 seiner
D i s s e r t a t i o n ü b e r „ D i e Zwiospältigkoit des Soins bei A r i s t o t e l e s " ( F r e i b u r g i. B r .
1956), die m i r erst bei D r u c k l e g u n g dieses A u f s a t z e s b e k a n n t w i r d . Sein Ausweg — die S t r e i c h u n g des letzten W o r t e s (das in allen H a n d s c h r i f t e n e n t h a l t e n
ist!) — k ä m e n u r als u l t i m a r a t i o in B e t r a c h t . Die oben gegebene I n t e r p r e t a t i o n
m a c h t die Streiohung entbehrlich.
Unauthenticated
Download Date | 3/29/16 11:44 AM
44
FRIEDRICH BASSENQE
Glanzstück der ganzen Lehre, nämlich 1041 b 6. Schon in 1041 a 26 —
also zwei Zeilen vor der soeben angezogenen Stelle — wurde gefragt:
warum sind diese Dinge da (nämlich Ziegel und Steine) ein Haus?
Nun wird diese Frage wiederholt und die Antwort gegeben: βτι
υπάρχει δ ήν οικία είναι — weil (daran) das vorhanden ist, was das
zum Hause gehörige Sein ,war'. Hier haben wir's ; hier ist's mit Händen
zu greifen, das ήν des Früherseins — so mag man jubeln. Erinnern
wir uns der Worte T K E N D E L E N B U R G S : „Beim künstlerischen Schaffen
ist das Urbild im Geiste des Künstlers vor dem Nachbild im Stoff, der
Begriff der Darstellung. Aristoteles spricht dieses Frühersein ausdrücklich aus. Dieses Sein des Begriffes v o r dem Dasein ist durch
das ήν im τό τηε ausgedrückt, und dasselbe erhält dadurch zugleich
die Bedeutung dessen, was sein soll. Vom künstlerischen Schaffen,
vom bewußten Vorbilden aus ging jedoch diese Ausdrucksweise auf
alle Gestaltungen über, die als Ganzes eine Notwendigkeit in sich
tragen" (S. 479). Wer wollte bestreiten, daß „das Haus ohne Stoff"
v o r dem „Haus im Stoff" w a r ! Aber ist damit bewiesen, daß das ήν
in der jetzt erörterten Stelle oder gar in unserer Formel dieses Frühersein a u s d r ü c k e n soll? Keineswegs. Zunächst einmal ist das ήν an
dieser Stelle nicht einmal völlig sicher; eine der besten Handschriften
(Ab) Iäßt δ ήν weg. Aber immerhin: w a h r s c h e i n l i c h hat es dagestanden. Völlig sicher ist vorher ύπάρχει. Gerade aber d a s dürfte
nicht dastehen: stattdessen müßte es vielmehr ύπηρχεν heißen, wenn
ήν die Priorität bezeichnen sollte. Denn der künstlerische Gedanke
„ohne Stoff" i s t sicher nicht mehr vorhanden; wenn ήν das Frühersein dieses Gedankens zum Ausdruck brächte, so müßte ύπάρχειν
erst recht im Imperfekt stehen. Und dann steht das ήν ja kurz vorher
in demselben Kapitel schon in dem Satz τούτο 8' ήν τό ένΐ εϊναι
(1041 a 19). Hier gab es doch wohl kein „Frühersein" eines είδος
„ohne Stoff". Will man im Ernst annehmen, daß das ήν dort eine
andere Funktion hat als hier? Und warum sollte dann das ήν in unserer
Formel gerade aus diesem Gebrauch und nicht aus jenem abzuleiten
sein? Oder soll etwa der grammatische Gebrauch aus Sätzen, in denen
an das künstlerische Schaffen zu denken ist, auf Sätze übergegriffen
haben, wo dies nicht der Fall ist? Ich glaube: auch mit diesem „Glanzstück" ist es doch wohl nichts! Auch hier wird das philosophische
Imperfektum vorliegen, also eine Verweisung auf das, was sich schon
gezeigt hat. Soweit Aristoteles auf eine Stelle in der MetaphysikVorlesung verweisen will, käme als nächstfrühere, an der „das zum
Haus gehörige Sein" erwähnt wird, 1039 b 25 in Betracht. Dort ist es
ein Sein, das weder entsteht noch vergeht, sondern plötzlich da ist
Unauthenticated
Download Date | 3/29/16 11:44 AM
Das τΐ ήν είναι bei Aristotoles
45
und plötzlich wieder verschwindet. Dabei wäre aber sicher weniger an
das είδος im Kopfe des Baumeisters zu denken, sondern an das είδος, das
in dem Augenblick im Stoff da ist, in dem das Haus fertig ist. Hiermit
stünde es im Einklang, daß das Kapitel Ζ 17, in dem wir uns an der
Stelle 1041 a 19 befinden, nicht speziell das Entstehen „durch Kunst",
sondern die allgemeine Funktion des εϊδος oder τηε als „Warum"
ins Auge faßt. Deshalb finden wir dort auch τό ένΐ είναι.
Zum Schluß noch ein Wort zu dem einzigen Fall, den man bisher
für ήν in einer Frage nach einem είναι mit dem Nomen im Dativ
vorgebracht hat. In der Metaphysik gibt es keinen; der „Paradefall"
von BONITZ, R O S S und allen anderen „war" (philosophisches Imperfekt!) partes animalium 649 b 22, gewöhnlich zitiert: τί ήν αύτω
τό α! ματ ι. είναι; (vgl. Index Arist. 764a50ff. 1 , Ross Komm, zu
983 a 27 ; Ross fügt nach αύτω erklärend ein : sc. αίματι). Wir erinnern uns der Bedeutung des Problems : die traditionelle Auffassung setzte einerseits voraus, daß es Fragen von der Form τί ήν τό
άνθρώπω είναι ; und andererseits eine Substantivierung solcher Fragen
in Gestalt des missing link gebe. Ja, die These von dem Vorhandensein
der Frage mit ήν wird auch noch von K A P P und A R P E vertreten,
auf deren etwas abweichende Interpretation wir alsbald zu sprechen
kommen (vgl. A R P E , S. 18: „die Frage τί ήν . . . εϊναι" und S. 19
das Zitat aus K A P P ,,τί ήν εϊναι c. dat. ist die . . . Frage . . ."). Das
missing link hat sich als Märchen erwiesen; wie steht es mit dem
„link", an das es angeknüpft werden sollte?
Wenn man 649 b 22 nachsieht, ist m a n schon ein wenig überrascht, keinen
S a t z , sondern allenfalls einen S a t z t e i l des zitierten Wortlaute zu finden. Die
Überraschung steigert sich, wenn man sich den ganzen Satz und den Zusammenhang, in dem er steht, genauer ansieht. Bei BEKKER lautet er : τούτων δέ δωρισμένων φανερόν δτι τό αίμα ώδΐ μέν έστι θερμόν, οΐόν τι ήν αύτω τό αϊματι εϊναι,
καθάπερ εί όνόματι σημαΐνοιμεν, τό ζέον Οδωρ οΟτω λέγεται. Theodoras Gaza übersetzt* :
his ita praefinitis apertum iam est sanguinem quodam modo calidum esse, videlicet eo, quale est ei sanguini esse, perinde quasi aquam ferventem nomine uno
eigniflcemus. Aristoteles f ä h r t fort : τό δ' ύποκείμενον χαΐ 8 ποτε δν αΐμά έστιν, οϋ
θερμόν- και καθ' αυτό ϊστι μέν ώς θερμόν έστίν, έστι β'ώς οβ. έν μέν γαρ τω λόγω
υπάρξει αύτοΰ ή θερμότης, ώσπερ έν τω τοϋ λευκοϋ ανθρώπου τό λευκόν ή δέ κατά
πάθος τδ αίμα, ού καθ' αυτό θερμόν. Die ganze Stelle steht kurz nach den Einführungssätzen des Kapitels Β 3, in denen festgelegt wird, daß jetzt das Verhältnis des Blutes zum Feuchten und Trockenen behandelt werden solle. Da
die Dinge hier ¿μοίως liegon wie beim Verhältnis des Blutes zum Warmen und
Kalten, wird in dem soeben zitierten Passus noch einmal die Hauptthese des
1
BONITZ führt dort zwar noch a n : τί ήν εϊναι κύκλω al., aber wo dies „al."
zu findon ist, das ist sein Geheimnis geblieben.
» Opera omnia I I I , Berlin 1831, S. 320.
Unauthenticated
Download Date | 3/29/16 11:44 AM
46
F R I E D R I C H BASSKNGK
vorangegangenen Kapitels — in dem nämlich von diesem Verhältnis die Rede
war — in Erinnerung gebracht. Vor allem ist 649a 15 zu vergleichen: Èvia δέ
των τοιούτων οΰ8' έστιν άπλώς ειπείν 8τι θερμόν ή μή θερμόν. 6 μέν γάρ ποτε τυγχάνει
δν τό ύποκεΐμενον, ού θερμόν, συνδυαζόμενον δέ θερμόν, οίον εί τις θεΐτο βνομα ΰδατι ή
σιδήρφ θερμοί, τούτον γάρ τόν τρόπον τό αίμα θερμόν έστιν. καΐ ποιεί δέ φανερόν έν τοις
τοιούτοις δτι τό ψυχρόν φύσις τις άλλ* ού στέρησίς έστιν, έν οσοις τό ύποκείμενον κατά
πάθος θερμόν έστιν. Unzweifelhaft ist es das τούτον γάρ τόν τρόπον der Zeile 649 a 17,
was mit dem ώδΐ 649b 22ff. wieder aufgenommen wird. So verweist auch P E C K 1
zu dem Satz 649 a 18 — „ t h a t is the mode in which blood is h o t " — völlig richtig
auf unsere Stelle 649 b 21 ff. P E C K ist freilich, soviel ich sehe, der einzige, der
den fraglichen Satzteil nun doch zu einem Fragesatz macht; er muß ihn also
in Parenthese setzen und lesen: [οίον τΐ ήν αύτω τό αϊματι είναι;]: ,,β. g.
what is the essential definition of bloodî" Ich halte diese Deutung für unmöglich, denn sowohl 649 a 21 wie 649 b 28 wird eingeschärft, daß Blut nur κατά
πάθος und nicht καθ' αυτό warm sei — das „e. g." ist also durchaus fehl am
Platze. Aber sei's d r u m : jedenfalls wird hier auch nach P E C K nicht etwa eine
Untersuchung nach der „essential definition of blood" mit der Frage ,,τΐ ήν ... ;"
eingeleitet, sondern es wird mit dieser Frage auf das Ergebnis einer früheren
Untersuchung zurückgegriffen, so daß der Charakter des ήν als philosophisches
Imperfektum völlig klar wäre. INGEMAR D U R I N O 2 will lesen otov ήν αύτω τό
αϊματι είναι und findet darin „a variant of the wellknown τό τί ήν είναι . . .
By αύτω the abstract character of the expression is strengthened. The alteration
in PSUYZ otov τι (interpreted by B E K X E R as otóv τι) is probably influenced
by the more familiar τό τί ήν είναι." Er übersetzt: „ I t is plain that blood is
something hot in so far as the notion of blood is concerned . . ." Hiergegen habe
ich wieder wie gegen P E C K einzuwenden, daß Blut doch nur dem πάθος und
nicht dem τ( ήν είναι nach warm ist; im übrigen ist mir die Deutung weder
grammatisch noch sachlich klar. Wenn man von einer Variante des τί ήν είναι
sollte sprechen können, s o m ü ß t e es doch wohl heißen: τό τί ήν τό αϊματι είναι.
Dann hätten wir das missing link. Was wir haben, ist aber .offenbar nur ein
Fall der Dativ-Ausdrücke, wobei das vorangestellte ήν auf die frühere Festlegung dieses „Seins" — das gerade kein echtes τό' τί ήν είναι ist — verweist.
So unklar nun der Text unserer Stelle auch ist, so ergibt sich doch aus dem Zusammenhang, daß der Sinn etwa folgender sein m u ß : „(Aus allen unseren Erörterungen ist klar geworden, daß Blut insofern warm ist,) als Warmes und Blut
nach dem früher Gesagten zusammenhängen, (denn seine Bezeichnung würde
derjenigen für „kochendes Wasser" entsprechen, wenn wir hierfür einen besonderen Namen hätten. Das Substrat aber — und damit das, was nur in unbestimmter Weise seiend Blut ist — ist nicht warm. Und von sich selbst her ist
Blut in gewissem Sinne warm und in gewissem Sinne wiederum nicht. Im Begriff ist bei ihm die Wärme so enthalten, wie das Weiße im Begriff des „weißen
Menschen" : insofern Blut nur einer Affektion nach warm ist, ist es dies nicht
von sich selbst her)." Diesem Sinn würde es am besten entsprechen, wenn man
lesen könnte: otov τε ήν αύτω τω αϊματι εΤναι. Dann würde als Subjekt des
Nebensatzes θερμόν zu denken sein, und er würde besagen: „als Warmes geeignet ,war\ an diesem Blut zu sein". Ist τε mit D Ü R I N G zu streichen (oder durch
1
Parte of animals, London 1965.
* Aristotle's De partibus animalium, Göteborg 1943.
Unauthenticated
Download Date | 3/29/16 11:44 AM
Das τί ήν είναι bei Aristoteles
47
ein τι zu ersetzen, da« dann vielleicht nur der Verstärkung des οίον dienen
sollte — vgl. Od. 9, 348) und ist τό für τω zu lesen, so müßte αίμα Subjekt sein
und αύτφ m ü ß t e sich auf Οερμόν beziehen, damit der geforderte Sinn herauskommt.
Doch können wir dieser Frage nicht näher nachgehen. Uns muß die
Feststellung genügen: nicht nur das missing link, sondern auch daa
link, an dem es aufgehängt werden sollte — nämlich die Untersuchungsfrage τί ήν . . . είναι ; — ist ein Märchen.
4. Der letzte, der dieses Märchen nacherzählt hat, war A R P E , der
Vertreter des „Imperfektums der gedanklichen Voraussetzung". Er
gibt für den Aristotelischen Gebrauch dieses Imperfektes außerhalb
der Formel τηε und der — vorstehend als „Märchen" erwiesenen —
Fragen τί ή ν . . . είναι ; einen einzigen Beleg, den er selbst „ein sehr
einfaches Beispiel" nennt (S. 19, Anm. 21), nämlich Phys. 195 a 12 — 14:
δ γάρ παρόν αίτιον τοϋδε. τοϋτο και άπόν αίτιώμεθα ένίοτε του έναντίου, οίον
τήν άπουσίαν του κυβερνήτου της του πλοίου ανατροπής, οΰ ήν ή παρουσία
αιτία της σωτηρίας. Das Beispiel — es findet sich übrigens auch im
Buch Δ der Metaphysik 1013 b 12 (14) — scheint mir in der Tat „sehr
einfach" zji sein. Der letzte Halbsatz ist nämlich entweder (und das
würde ich annehmen) ein elliptischer Bedingungssatz im Irrealis (zu ergänzen wäre: „wenn sie gegeben gewesen wäre") oder eine Erzählung
im imperfectum praeteritum (zu ergänzen wäre gedanklich: „in
anderen Fällen"). Nun enthält allerdings jeder irreale Bedingungssatz
eine „gedankliche Voraussetzung" — aber doch wohl keine solche,
wie sie für die Erklärung des Imperfektums in τηε gebraucht würde!
Damit wären wir am Schluß unserer Erörterung über das Imperfektum ήν angelangt. Schritt für Schritt ist deutlicher geworden, daß der
von T R E N D E L E N B U R G gewiesene Weg zur Interpretation des ήν ein
Irrweg war. Als diejenige Interpretation, für die bei näherem Zusehen
alle Zeichen sprechen, scheint sich die Deutung im Sinne eines philosophischen Imperfektums zu ergeben. Den Schlußstrich unter diese
Frage können wir erst ziehen, wenn wir auch den letzten kritischen
Punkt unserer Formel untersucht haben.
Schluß folgt.
Berlin
Unauthenticated
Download Date | 3/29/16 11:44 AM