Ein Maßstab für neue moralische Herausforderungen

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Detlef Horster, Ein Maßstab für neue moralische Herausforderungen
die besten Voraussetzungen mit, Piatons Naturphilosophie oder Kosmologie im Timaios einer
mathematisch-naturwissenschaftlichen Detailanalyse zu unterziehen, besonders im siebten Kapitel über „Piatons Physik der Elementardreiecke". Auch überzeugt Schäfers Kritik, dass Piaton
in seinem pythagoräisch inspirierten Apriorismus einer mathematischen Naturdeutung über
empirische Fakten hinwegsieht. An Schäfers durchweg sorgfaltiger Analyse und Bewertung der
Natur- und Staatsphilosophie Piatons und ihrer Folgen wird künftig kein Weg in der PiatonDiskussion vorbeiführen, auch weil seine pointiert vorgetragenen Thesen zum Widerspruch
reizen. Auch hierin ist Schäfer im besten Sinne ein Popperianer.
Ein Maßstab für neue moralische Herausforderungen
Von DETLEF HORSTER (Hannover)
CHRISTIAN ILLIES: PHILOSOPHISCHE ANTHROPOLOGIE IM BIOLOGISCHEN ZEITALTER. Zur Konvergenz von Moral und Natur. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 2006, 361 S.
Was haben wir und was brauchen wir in Bezug auf die Moral? Der wichtigste Grund, diese Frage
zu stellen, ist für Christian lilies folgende zu Beginn seiner Ausführungen mitgeteilte Beobachtung: „Einerseits gerät das Genom in den Bereich des Verfügbaren, so daß wir mittels der Gene
neue Lebewesen und wohl bald auch neue Menschen und Mensch-Tier-Chimären entwerfen und
bauen können. Andererseits schwindet der Unterschied zwischen Mensch und technischem
Artefakt. Vor allem Nanotechnologen entwerfen eine Vision des Menschseins, in der selbstreplizierende Kleinstroboter durch unseren Körper wandern, um Krankheiten zu besiegen und
uns ewig jung zu halten, oder in der sich Organisches mit Artifiziellem zu hochleistungsfähigen
Konglomeraten verbindet." (12) Im Lichte dieser Entwicklung müsse der Mensch neu vermessen werden. Dazu will Christian lilies mit diesem Buch einen Beitrag leisten.
Wir haben es hier zunächst mit einer anthropologischen und später mit einer darauf basierenden moralischen Fragestellung zu tun. Sojedenfalls ist die Anlage des Buches. Die Anthropologie
hat Konjunktur seit der Aufklärung. „Zwischen 1790 bis 1830 wenden sich nicht nur Kant und
Herder dem Thema zu, sondern es erscheinen allein in Deutschland rund 50 weitere Werke mit
dem Begriff Anthropologie im Titel." (17) lilies sieht diese Entwicklung als Folge dessen, dass
seit der Renaissance der Mensch als Individuum auftaucht, was mit dem Schwinden der Plausibilität
von religiös-theologischen Welt- und Menschenbildern einhergeht. Weiterhin wird der Mensch
mehr und mehr Thema der Wissenschaften (18). Die naturwissenschaftliche Anthropologie
weckte darum das Interesse, weil alles unsicher Spekulative damit überwunden scheint. Doch
das erwies sich in der Folge als Fehlschluss, denn man müsse unterscheiden zwischen
Deskriptivität und Normativität. Zwar sei es eine evolutionäre Tatsache, dass der Mensch das
Tier sei, das moralfähig ist (122), doch könne man Deskriptivität mit Normativität nicht gleichsetzen (182). Wohl aber könne - unter Berufung auf Vittorio Hösle - Deskriptivität mit
Normativität zusammenfließen (177). Wie das? Eine deskriptive Anthropologie oder Evolutionstheorie könne die Grenzen der Moralfahigkeit des Menschen aufweisen, denn es gelte weiterhin
der römische Rechtsspruch „ultra posse nemo obligatur", eine ganz wichtige Einsicht der MoralUnauthenticated
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philosophie: Niemand ist zu mehr verpflichtet, als er leisten kann (244), oder populärer: „Der
Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach." (Mt 26,41) Bei Grundlegung der Anthropologie
zur Reflexion über Moralfragen bedeutet das: „Wenn wir den Menschen besser kennen [...],
wissen wir auch, wie mit ihm Moral verwirklicht werden kann." (272) Das fuhrt lilies zu der
Annahme, dass man die Moralentwicklung in der Sozialisation und durch Erziehung unterstützen muss. Er bezieht sich unter anderen auf Kohlberg (265). Warum erörtert er aber dann nicht
das von Kohlberg zum Zweck der unterstützenden Moralerziehung entwickelte und höchst
plausible Konzept der Just-Community-Schulen? Daran hätte man die eingeforderte Unterstützungsfunktion gut darlegen können.
Auf dem Weg der Moralentwicklung gibt es drei Stationen: das Lernen von Regeln, das
Akzeptieren von Regeln und das Motiviertsein, Regeln zu folgen. Schon seit Kants Unterscheidung von „principium executionis" (Prinzip der Ausführung) und „principium diiudicationis"
(Prinzip der Beurteilung) wissen wir, dass wir zwischen der Kenntnis von moralischen Regeln
und der Motivation, nach diesen Regeln zu handeln, unterscheiden müssen. Zum Erreichen aller
drei Stationen müssen Kinder in ihrer Entwicklung unterstützt werden. - lilies zeigt unter
Bezugnahme auf die Bindungsforschung, zu welchen Folgen Fehlentwicklungen fuhren können
(249). Doch wenn man sich auf die Bindungsforschung bezieht, muss man die Resilienzforschung
ergänzend hinzuziehen, denn die unsichere frühkindliche Bindung fuhrt nicht notwendig zur
emotionalen Verwahrlosung. Die Resilienzforschung hat uns gezeigt, dass die Bindung an ältere
Geschwister, Tanten, Onkel oder Großeltern abmildernd wirken kann. Menschen bleiben nicht
unbedingt ein Leben lang Opfer ihrer Kindheit.
Nun ist es nach Ansicht von lilies schwierig, die Brücke zu schlagen zwischen der Deskriptivität
soziologischer, anthropologischer oder evolutionstheoretischer Forschungsergebnisse und einer
normativen Moralphilosophie (215). „Ist die Wirklichkeit so beschaffen, daß sie auf einen langfristigen Erfolg der Moral im philosophischen Sinne hoffen läßt?" (282) Die zentrale These von
lilies ist, dass der Mensch als Naturwesen zur Moral befähigt ist (313) und dass die Ergebnisse
deskriptiver Wissenschaft uns vor moralischer Überforderung des Menschen bewahren können.
So weit, so gut. Doch der Autor regt zur Diskussion an, und auf dem Gebiet der Moralphilosophie wird die Diskussion wohl nie zu Ende gehen. Darum müssen wir Christian lilies dankbar
für seine Anstöße sein, die zum Weiterdenken anregen.
Wenn lilies Werte und Normen differenzieren würde und nicht von moralischen Normen und
Werten spräche (zum Beispiel 240), entfielen einige seiner Probleme. Normen und Werte sind
auseinander zu halten. Ein hoher Wert ist beispielsweise das menschliche Leben oder die Gesundheit beziehungsweise die körperliche und geistige Unversehrtheit. Dem entsprechen moralische
Normen oder Regeln, die diese Werte schützen beziehungsweise realisieren sollen. Da gibt es das
moralische Verbot, dass man nicht töten soll, beziehungsweise das moralische Gebot, dass wir
Leben schützen sollen. Da gibt es das Verbot, Menschen zu quälen oder zu foltern. Wir können
demnach folgende Moraldefinition vornehmen: Moral ist die Gesamtheit der Regeln, die zur
Realisierung der Werte oder zum Wohl der Menschen beiträgt. Betrachten wir nun diesen Sinn
einer jeden moralischen Regel, sei sie sozialer oder philosophischer Art, so entfallt das Problem,
einen „Brückenschlag" zwischen „Moral im soziologischen Sinne" und „Moral im philosophischen Sinne" herzustellen (215). Denn moralische Regeln haben immer - seien sie soziologisch
ermittelt oder philosophisch erdacht - den Sinn, zum Wohl der Menschen beizutragen. Man
muss nur - anders als lilies - von der einzelnen moralischen Regel ausgehen, sie genauer betrachten und ihren mit anderen Regeln übereinstimmenden normativen Sinn ermitteln.
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Ein weiteres Problem entfallt dann auch. Es gibt nicht zwei oder mehr verschiedene Moralsysteme, die wir zu analysieren hätten, wie lilies meint (185), sondern immer nur die Konkurrenz zwischen zwei oder mehreren zu realisierenden moralischen Pflichten in einer konkreten
Lebenssituation. Wir nennen solche Situationen in der Philosophie Dilemmata. Nehmen wir die
medizinisch indizierte Abtreibungsproblematik: Wir haben auf der einen Seite die Pflicht, Leben
zu schützen, auf der anderen, für die Gesundheit der Mutter Sorge zu tragen. Beide Pflichten
sollen bei ihrer Realisierung zum Wohl beitragen. Hier ist es dann tatsächlich so, dass wir einer
dieser moralischen Pflichten nur dadurch nachkommen können, dass wir eine andere verletzen.
Das bedeutet nicht, dass die verletzte moralische Regel außer Kraft gesetzt wird. Sie gilt weiterhin.
Man konnte dieser einen moralischen Pflicht in der konkreten Situation nur deshalb nicht nachkommen, weil man einer anderen gefolgt ist. Diese Situationen sind keine Situationen, wie lilies
meint (317), in denen es nichts Richtiges gibt, sondern - wie in der griechischen Tragödie - nur
tragische Helden. In solchen Dilemma-Situationen handelt man aufjeden Fall richtig, wenn man
überhaupt handelt. Kommt man zu der Auffassung, dass die Pflichten gleich stark sind, entgeht
man dem Dilemma nicht durch Nichthandeln. Es wäre falsch, gar keiner Pflicht nachzukommen.
Um die Pflichten gegeneinander abwägen zu können, gibt es allerdings keine Regel. Jeder Fall
muss aus sich selbst heraus beurteilt werden. Man muss sich einen informierten Überblick über
die Situation verschaffen, und man braucht Urteils- und Einfühlungsvermögen, so schon der
große englische Moralphilosoph William D. Ross.
Wenn wir die von lilies zu Beginn aufgezeigte zukünftige Entwicklung betrachten, so haben
wir für gänzlich neu auftretende Probleme ebenfalls den Maßstab, dass jede Entscheidung das
Ziel haben muss, zum Wohl der Menschen beizutragen, sei es auf dem Gebiet der Embryonenforschung, der Genpatentierung, der Pränataldiagnostik oder der Nanomedizin.
Christian lilies hat mit diesem gut lesbaren und lesenswerten Buch präzise die Felder des
Deskriptiven oder Soziologischen und des Normativen oder des Philosophischen in der Ethik
vermessen und - wie zu lesen war - zum nicht enden sollenden Weiterdenken Anstöße gegeben.
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