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SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Wissen/Aula
Gerüchte und Halbwahrheiten
Wie funktionieren Verschwörungstheorien?
Von Michael Butter
Sendung: Sonntag, 27. März 2016, 8.30 Uhr
Redaktion: Ralf Caspary
Produktion: SWR 2015
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MANUSKRIPT
Ansage:
Mit dem Thema: "Gerüchte und Halbwahrheiten – Wie funktionieren
Verschwörungstheorien?"
Die Mondlandung, die Ukraine-Krise, der Terroranschlag auf die Redaktion der
französischen Satirezeitschrift Charlie Hebdo, die Terroranschläge 9/11 – diese
Ereignisse haben eins gemeinsam: Um sie ranken sich zahlreiche Mutmaßungen,
Fiktionen und Gerüchte, sie werden von Verschwörungstheorien verformt und
überwölbt. "Verschwörungstheorien können zur Radikalisierung von Extremisten
beitragen, Spannungen zwischen Nationen befeuern und das Vertrauen in
demokratische Institutionen und Medien unterlaufen", sagt der Anglist Professor
Michael Butter von der Universität Tübingen, der ein Forschungsnetzwerk leitet, das
das Phänomen interdisziplinär analysiert.
INTERVIEW:
Caspary:
Herrn Butter begrüße ich nun zum AULA-Gespräch. Guten Morgen, Herr Butter.
Butter:
Guten Morgen, Herr Caspary.
Caspary:
Was ist Ihre Lieblings-Verschwörungstheorie?
Butter:
Das ist die Mondlandungs-Verschwörungstheorie, die besagt, dass die Amerikaner
nie auf dem Mond gewesen sind oder zumindest nicht 1969, sondern dass diese
Mondlandung, die unsere Eltern und Großeltern im Fernsehen gesehen haben, in
einem Filmstudio in Hollywood inszeniert worden ist. Eine großartige Idee und die
erste Verschwörungstheorie, der ich bewusst begegnet bin, und zwar zum 30.
Jahrestag der Mondlandung, als ich ein Auslandssemester in England verbracht
habe. In der Uni-Zeitung stand ein Artikel darüber, und für einen kurzen Moment bin
ich der Verschwörungstheorie sogar anheimgefallen.
Caspary:
Lassen Sie uns sammeln. Ich nenne Ihnen einige Theorien, die
Verschwörungstheorien sein können oder auch nicht sind, damit die Definition klarer
wird. Auf einer Internetseite wird behauptet, dass die Erde doch eine Scheibe ist.
Butter:
Das würde aus meiner Sicht erst zu einer Verschwörungstheorie, wenn jemand diese
Lüge aus irgendwelchen dunklen Motiven in die Welt gesetzt hat, also wenn jemand
ureigenste Interessen damit verfolgt, diese Fehlinformation zu verbreiten.
2
Caspary:
Die Stadt Bielefeld gibt es angeblich gar nicht.
Butter:
Das ist aus meiner Sicht auch keine Verschwörungstheorie. Denn welchen Sinn
sollte es haben, die Existenz von Bielefeld zu leugnen?
Caspary:
Unter dem Begriff "Chemtrails" kursiert das Gerücht, es gäbe Menschen, die Wolken
mit Chemikalien impfen, und die wollen uns schaden.
Butter:
Das ist eine Verschwörungstheorie, denn die "Chemtrail-Theorie" besagt ja, dass
eine bestimmte Gruppe – manchmal die Illuminaten, manchmal die Amerikaner oder
auch die Ein-Welt-Regierung – uns über diese Chemtrails kontrollieren und deshalb
entsprechend sinistre Motive verfolgen. Das ist eine Verschwörungstheorie.
Caspary:
Das Masern-Virus gibt es überhaupt nicht.
Butter:
Das kommt darauf an, welche Version Sie sich anschauen. Wenn wirklich jemand
dunkle Motive verfolgt, einen größeren Plan, also z.B. die Idee, durch die Impfung
möchte jemand Autismus in der Bevölkerung verbreiten, wie das manchmal
behauptet wird, oder alles dient nur dazu, die Pharma-Industrie zu bereichern, dann
kommen wir an eine Verschwörungstheorie ran. Wenn irgendwelche Ärzte sich nur
irren und deshalb Fehlinformationen verbreiten, dann wäre das keine
Verschwörungstheorie, sondern einfach nur falsch.
Caspary:
Elektronische Geräte haben eingebaute Schwachstellen, so dass sie nach Ablauf der
Garantie sofort kaputt gehen. Die Verschwörung dahinter ist: Die Wirtschaft verdient
mächtig daran.
Butter:
Wenn wir von Verschwörungstheorien sprechen, deuten wir ja immer an, dass sie
nicht stimmen. Bei dem, was Sie gerade skizziert haben, würde ich sagen, das
könnte stimmen, vermutlich werden die Dinge heute so gebaut. Die Frage ist nur, ob
da wirklich ein allumfassender Plan dahinter steckt, ob sich alle Wirtschaftsbosse
irgendwann einmal in einem Raum zusammengefunden haben und beschlossen
haben, wir bauen unsere Geräte jetzt nur noch so, dass sie 24 oder 36 Monate
halten und dann schnell zerfallen, damit wir möglichst viel Geld machen. Dann hätten
wir eine astreine Verschwörungstheorie. Ansonsten geschehen schlimme Dinge ja
auch einfach ohne vorherige Verabredung.
Caspary:
Es zeigen sich also zwei Strukturelemente: Die Verschwörungstheorie muss falsch
sein, sie sollte die Realität, so wie sie ist, nicht abbilden, und zum zweiten steckt
dahinter wirklich eine Verschwörung, eine Gruppe von Menschen, die mit dieser
Theorie ein bestimmtes Ziel verfolgt.
3
Butter:
Genau, diese beiden Elemente zeichnen Verschwörungstheorien und die
Verwendung des Begriffs "Verschwörungstheorie" aus. Denn das impliziert ja von
vorneherein, dass an dem Gedankengebäude, das so benannt wird, nichts dran ist.
Wenn ich jemanden einen Verschwörungstheoretiker nenne oder eine Idee als
Verschwörungstheorie diffamiere, heißt das, ich muss mich mit den Details gar nicht
mehr auseinandersetzen, denn sie kann überhaupt nicht stimmen. Das andere
Element ist aber auch ganz wichtig, wir brauchen wirklich eine Gruppe von Leuten,
die im Geheimen agiert und die ein dunkles Ziel verfolgt, eben die Verschwörer.
Ansonsten ist der Tatbestand der Verschwörung nicht gegeben. Solche Ideen wie
Elvis Presley lebt im Geheimen doch noch irgendwo- das ist keine
Verschwörungstheorie, auch wenn das im populären Gebrauch manchmal so
bezeichnet wird.
Caspary:
Warum nennt man das eigentlich Verschwörungs-Theorie und nicht -Ideologie, denn
es ist ja ein Gedankengebäude, das dahinter steht? Theorie klingt ja wissenschaftlich
fundiert, aber das ist eigentlich ein falscher Anstrich.
Butter:
Das ist eine interessante Frage. Ich glaube, man kann sie aus zwei Richtungen
reflektieren. Zum einen kann man sagen, Theorie klingt wissenschaftlich fundiert,
deshalb sollten diese falschen Gedankengebäude, die letztendlich auch nicht
falsifizierbar sind, nicht Theorie heißen. Gleichzeitig transportiert der Begriff
Verschwörungstheorie aber auch, glaube ich, eher einen Alltagsgebrauch von
Theorie, nämlich das eine ist die Theorie, und das andere ist das, was wirklich wahr
ist. Das heißt, das ist ein völlig anderer Theorie-Gebrauch.
Caspary:
Können Sie sagen, wie solche Verschwörungstheorien in Umlauf kommen, wie die
sozusagen eine relativ große Gruppe von Menschen gedanklich entzünden, so dass
diese daran glauben?
Butter:
Verschwörungstheorien bieten Erklärungs- und Deutungsmuster für eine komplexe
Welt an. Verschwörungstheorien schließen Chaos und Kontingenz aus. Kontingenz
heißt Zufall, Dinge passieren einfach, komplexe soziale Systeme, wo die
unterschiedlichsten Akteure beteiligt sind, bringen einfach Effekte hervor, die
niemand beabsichtigt hat und für die deshalb letztendlich niemand verantwortlich
gemacht werden kann. Verschwörungstheorien sagen, da sind Individuen, die haben
Absichten, und die können diese Absichten eins zu eins in die Tat umsetzen, Und
deshalb können wir auch für alles vermeintlich Schlimme, was auf der Welt passiert,
den oder die Schuldigen identifizieren. Das ist die Wirkmächtigkeit von
Verschwörungstheorien, solche Erklärungen anzubieten.
Caspary:
Kann man sagen, dass wir evolutionsbiologisch auf Verschwörungstheorien geeicht
sind, weil wir überall Muster und das Sinnhafte sehen wollen?
4
Butter:
Diese Frage geht über meine Expertise als Kulturwissenschaftler hinaus. Als
Küchenpsychologe würde ich dem aber zustimmen, dass es ein sehr menschliches
Bedürfnis ist, Schuldige zu identifizieren und dass wir im Alltagsleben nicht unbedingt
die Theorie verfolgen, dass Effekte durch komplexe Systeme entstehen, ohne dass
jemand dahinter steckt.
Caspary:
Verschwörungstheorien bieten also für das Komplexe ein einfaches
Erklärungsmodell, sie machen die Schuldigen dingfest, also Akteure, die angeblich
dahinter stehen. Das ist sehr wichtig, denn wir haben ja auch Phänomene, bei denen
wir keine Akteure haben. Hat Verschwörungstheorie etwas mit der Moderne zu tun?
Moderne ist ja soziologisch gesehen Zunahme von Komplexität.
Butter:
Verschwörungstheorien haben auf jeden Fall etwas mit der Moderne zu tun,
insbesondere wenn man Verschwörungstheorien so definiert, wie wir das in den
letzten Minuten getan haben. Und darüber hinausgehend: Person A denkt, dass sich
Person B und Person C gegen ihn oder Person D verabredet haben. Wenn wir das
so definieren, gibt es Verschwörungstheorien immer und überall. Dann ist das eine
anthropologische Konstante. Wenn es aber wirklich um eine Gruppe von
Verschwörern geht, die über einen längeren Zeitraum ein bestimmtes Ziel verfolgt,
dann entstehen Verschwörungstheorien mit der europäischen Aufklärung. Weil sie
nämlich in dem Moment ein Sinnangebot machen, wo alte religiöse Deutungsmuster
nicht mehr unbedingt greifen. Verschwörungstheorien erlauben es, ein religiöses
Deutungsmuster: es gibt einen göttlichen Heilsplan, nach dem sich Weltgeschichte
entfaltet und im Hintergrund ist es Gott, der die Fäden in der Hand hält, zu
säkularisieren, zu verweltlichen. Denn jetzt sind es auf einmal die Verschwörer, die
hinter allem stecken, es herrscht immer noch kein Chaos, es herrscht immer noch
kein Zufall, es ist immer noch alles geplant worden, nur ist es nicht mehr der göttliche
Schöpfungsplan, sondern es sind jetzt die Verschwörer, die im Hintergrund die
Strippen ziehen.
Caspary:
Gibt es die erste Welle in der Europäischen Aufklärung – Ende des 18.
Jahrhunderts?
Butter:
Ein bisschen früher schon. Das ist etwas, das man verfolgen kann im Grunde vom
späten 17. bis Ende des 18. Jahrhunderts hinweg, wie diese
Verschwörungsszenarien in allen europäischen Ländern, in Frankreich, in England,
aber auch in Deutschland und Italien immer komplexer werden, bis wir dann Ende
des 18. Jahrhunderts – und da haben Sie völlig recht – im Grunde die erste wirklich
moderne Verschwörungstheorie bekommen, die sich um die Französische
Revolution rankt, wo sehr sehr viele Intellektuelle in ganz Europa überzeugt sind,
dass hinter der Französischen Revolution eigentlich der Geheimbund der Illuminaten
steckt, der zu diesem Zeitpunkt schon längst verboten worden war. Diese
Verschwörungstheorie wurde in einer ganzen Reihe von Pamphleten und
Veröffentlichungen in die Welt hinausposaunt und das Ganze wanderte von da über
den Atlantik in die USA.
5
Caspary:
Was hatte diese Verschwörungstheorie für einen Sinn? Einfach die Französische
Revolution ein bisschen kleiner zu machen als sie war?
Butter:
Vielleicht etwas, was man sich nicht erklären konnte, wirklich zu erklären. Und – je
nach Version – den Illuminaten unterschiedliche Motive zuzuschreiben. Manchmal ist
das die Gottlosigkeit, weil die Religion nach der Revolution natürlich nicht mehr den
bisherigen Stellenwert in Frankreich hatte, manchmal geht es um materielle Motive.
Es ist das Erklärungsmuster, das wir hier sehen: Verschwörungstheorien deuten
einfach die Welt.
Caspary:
Eine moderne Verschwörungstheorie besagt , 9/11 geht auf das Konto des
Israelischen Geheimdienstes?
Butter:
Da gibt es viele verschiedene Versionen.
Caspary:
Letztendlich aber sind das Erklärungsmuster für unerklärliche Dinge?
Butter:
Genau. Ein Erklärungsmuster für etwas, das so groß ist, dass wir uns das eigentlich
nicht erklären können. Die Idee, dass 19 arabische Terroristen, gesteuert aus
Afghanistan, in der Lage sind, die mächtigste Nation der Welt so zu treffen, ist wohl
eine Idee, die vielen Menschen nicht wirklich einleuchtet. Verschwörungstheorien, die
entweder den israelischen Geheimdienst oder die amerikanische Regierung selbst
oder sonst irgendwen als Strippenzieher dahinter sehen, waren deshalb lange Zeit
sehr populär und sind es heute noch.
Caspary:
Betreffen Verschwörungstheorien in der Regel Katastrophen?
Butter:
Das ist ein Anlass für Verschwörungstheorien. Der amerikanische
Politikwissenschaftler Michael Barkun unterscheidet zwischen EreignisVerschwörungstheorien und System-Verschwörungstheorien. EreignisVerschwörungstheorien machen sich genau an solchen Momenten fest, wie Sie die
gerade genannt haben: ein Flugzeugabsturz, eine Naturkatastrophe, 9/11, die
Mondlandung usw., man sucht für etwas, das man nicht einordnen kann, die
Erklärung in der Verschwörung. Gleichzeitig gibt es System-Verschwörungstheorien,
die bestimmte Gruppen der Verschwörung beschuldigen, ohne dass unbedingt ein
konkretes Ereignis zum Anlass genommen wird. Man denke an
Verschwörungstheorien, die sich an Juden richten oder die sich gegen Araber richten
in der heutigen Zeit, oder die sich gegen Illuminaten oder Freimaurer richten, einfach
weil die eine gewisse Geheimhaltung betrieben haben, die den Leuten sehr suspekt
war.
6
Caspary:
Lassen Sie uns bei den Juden anknüpfen. Im Mittelalter kursierte die Mär, Juden
würden Brunnen vergiften. Ist das eine Verschwörungstheorie schon vor der
europäischen Aufklärung?
Butter:
Ich würde sagen, das ist vielleicht ein Vorläufer einer Verschwörungstheorie, einfach
weil der große Masterplan im Hintergrund die meiste Zeit fehlt. Man schreibt einfach
einer Gruppe, die man sowieso suspekt und problematisch findet, unlautere Motive
zu, aber man schreibt ihnen noch nicht den großen Plan zu, das Ziel, das sie
erreichen wollen. Und die Art und Weise, wie diese Behauptungen bewiesen werden,
das ist doch etwas anders als das mit der Aufklärung und später der Fall ist. Denn
was mit der Aufklärung im Grunde hervortritt, ist eine Art der Entlarvung von
vermeintlichen Verschwörungen, die letztendlich immer darauf angelegt ist,
bestimmte Texte oder Zeichen zu interpretieren. Das sehen wir alle, wenn wir ins
Internet und auf die entsprechenden Seiten klicken, wo jemand zeigt, dass Barack
Obamas Reptilienhaut auf bestimmten Aufnahmen zum Vorschein kommt, weil er
einer der Außerirdischen in Reptilienform ist, die die Welt regieren. Das ist eine im
angloamerikanischen Raum recht verbreitete Verschwörungstheorie, die sich vor
allem auf einem Verschwörungstheoretiker namens David Icke zurückführen lässt.
D,h. wir haben hier eine bestimmte Art der Weltinterpretation, der
Zeicheninterpretation könnte man sagen, und man leitet dann seine
Schlussfolgerungen ab und bildet ein einigermaßen logisches Gebäude, zumindest
aus Sicht des Verschwörungstheoretikers, und veröffentlicht das. Das ist im
Mittelalter bei den Juden noch überhaupt nicht der Fall. Da sagt man einfach, wir
wissen aus der Bibel, die Juden sind böse, und deshalb machen die das. Da werden
aber keine konkreten Texte in dem Sinn interpretiert, wie das dann ab der Aufklärung
der Fall ist.
Caspary:
Es geht um das Lesen von Zeichen, das Interpretieren von Zeichen, vielleicht auch
ein Überschuss an Interpretationswahnsinn. Der Philosoph und Bestseller-Autor
Umberto Eco, der kürzlich gestorben ist, war Semiotiker und insofern ist er doch
eigentlich ein Theoretiker der Verschwörungstheorie gewesen.
Butter:
Ja. Man könnte sagen, ein Meta-Verschwörungstheoretiker, weil sich Umberto Eco in
einer Vielzahl seiner Romane, nicht so sehr in "Im Namen der Rose", aber umso
mehr in "Das Foucaultsche Pendel" und dann vor einigen Jahren auch im "Friedhof
von Prag" mit dem Entstehen und auch dem Funktionieren von
Verschwörungstheorien sehr intensiv auseinander gesetzt hat.
Caspary:
Weil er Semiotiker war und Zeichen erforscht hat.
Butter:
Genau. Und er hat sich für Verschwörungstheorien wirklich interessiert.
7
Caspary:
Welche Verschwörungstheorie fasste – neben der Französischen Revolution – in
Deutschland als erste Fuß?
Butter:
Das ist sehr schwierig zu sagen, weil in dem Moment, wo die Büchse der Pandora
einmal geöffnet worden ist, es ganz viele unterschiedliche Verschwörungstheorien
gibt, die sich um die unterschiedlichsten Ereignisse drehen. Was ich sehr spannend
fand, weil das meine eigene Arbeit als Amerikanist berührt hat und weil es da
gewisse transatlantische Verbindungen gibt, das ist das enorme Misstrauen
gegenüber dem Katholizismus in vielen Ländern Europas im 19. Jahrhundert, aber
auch z.B. in den Vereinigten Staaten. In den Vereinigten Staaten gibt es das z.B. in
der Version, dass man der festen Überzeugung ist, dass der Papst in Verbindung mit
dem Fürsten Metternich den Strom der katholischen Einwanderer, die zu der Zeit vor
allem aus Irland kamen, steuert, weil er nämlich die USA in einen Bürgerkrieg
stürzen möchte, weil das leuchtende demokratische Vorbild, das die USA den
unterdrückten Völkern Europas geben, die Mächtigen Europas doch zutiefst
beunruhigt. Und das gibt es in unterschiedlichen Versionen auch in manchen
europäischen Ländern. In England z.B., wo man den Katholizismus auch sehr
skeptisch beäugt, aber z.B. auch in Frankreich, einem eigentlich katholischen Land,
gibt es ein enormes Misstrauen gegenüber dem Jesuitenorden, der angeblich dabei
ist, die Regierung im Geheimen zu unterminieren.
Caspary:
Was muss in sozialer Hinsicht da sein, dass eine Verschwörungstheorie Fuß fasst,
sich in die Köpfe sozusagen hineinfrisst und verbreitet wird? Braucht man dazu z.B.
ein funktionierendes Zeitungswesen?
Butter:
Das hat natürlich auch mit medialen Bedingungen zu tun. Ein Bielefelder Historiker
hat vor ca. zwei Jahren das Argument gebracht, dass Verschwörungstheorien
überhaupt erst in dem Moment entstehen können, wo eine lesende Öffentlichkeit da
ist, wo Texte auch anonym zirkulieren können und deshalb einen größeren
Adressantenkreis erreichen als vorher. Das, finde ich, ist eine sehr überzeugende
These. Die Geschichte von Verschwörungstheorien kann man im Grunde immer
wieder auch als Mediengeschichte schreiben. Da denken wir natürlich einerseits an
das Internet, das Verschwörungstheorien und ihre Verbreitung unglaublich sichtbar
gemacht hat. Wir können aber z.B. auch an die 80er-Jahre in den USA denken, wo
nämlich die Gegner der Sklaverei aus den Nordstaaten im Grunde die Südstaaten
mit einer Menge an Pamphleten überschütten, in denen gegen die Sklaverei agitiert
wird. Die können das machen, weil neue Drucktechniken erfunden worden sind, mit
denen sie ihre Pamphlete viel billiger produzieren können als vorher. Statt 5.000
haben sie auf einmal 50.000 pro Jahr, die sie verteilen. Die Sklaverei-Befürworter
verstehen das nicht. Deshalb denken sie, dass im Hintergrund die britische
Regierung stehen muss und die Gegner der Sklaverei sponsort und diesen Druck
ermöglicht. Interessanter ist sicherlich aus unserer Perspektive heutzutage das
Internet und die Frage, was macht das Internet mit Verschwörungstheorien.
Caspary:
Eigentlich müssten sie ja stärker als zuvor blühen.
8
Butter:
Das ist eine sehr schwer zu beantwortende Frage. Verschwörungstheorien sind
meiner Ansicht nach durch das Internet ein wenig populärer geworden, aber nicht
sehr viel populärer. Sie sind vor allem sichtbarer geworden. Denn überlegen Sie sich
mal: Wenn vor 30 Jahren jemand beweisen wollte, dass die Mondlandung nicht
stattgefunden hat, dann hat er, und da gibt es Fälle, die in der Forschung ganz gut
belegt sind, im Selbstverlag ein Buch geschrieben, hat das kopiert, vielleicht noch auf
Matrizen abgezogen, hat das an Leute, vielleicht auch an Zeitungen geschickt, die
das ignoriert haben, und hat natürlich nur eine begrenzte Leserschaft erreicht.
Heutzutage verbreitet man das über Facebook oder einen Blog oder sonst etwas,
und man hat, wenn man Glück hat, innerhalb von Minuten eine viel größere
Leserschaft als jemals zuvor. Von daher ist das Interesse an Verschwörungstheorien,
das unsere Gesellschaft momentan hat und das natürlich auch die Medien
momentan haben, erst mal auf die größere Sichtbarkeit von Verschwörungstheorien
zurückzuführen. Ich würde sagen, es gab vor 30 Jahren schon sehr viele
Verschwörungstheoretiker, die sind nur nicht so aufgefallen. Aber Sichtbarkeit führt
natürlich auch dazu, dass das Ganze so eine Art Katalysator-Effekt hat. Denn
nehmen wir wieder das Beispiel von jemandem, der vielleicht vor 30 Jahren einen
diffusen Verdacht hatte, dass mit der Mondlandung irgendetwas nicht stimmen
könnte, der ist vielleicht in seinem ganzen Leben niemals einer wirklich
ausformulierten Verschwörungstheorie zur Mondlandung begegnet. Wenn sie
heutzutage bei google eingeben "Was passiert wirklich in der Ukraine?", dann sind
Sie innerhalb von Sekunden auf einem Dutzend Web-Seiten, die Ihnen die
unterschiedlichsten Verschwörungstheorien dazu anbieten. Das kann natürlich dazu
führen, und tut es sicherlich auch in manchen Fällen, dass Sie von einem Zweifler,
der einen vagen Verdacht hatte, wirklich zu einem Verschwörungstheoretiker
werden. In diesem Sinne trägt natürlich das Internet schon dazu bei, dass
Verschwörungstheorien häufiger werden.
Caspary:
Sind Verschwörungstheorien auf irgendeine Art und Weise gefährlich, oder können
Sie gefährlich werden? Sie haben gerade die Ukraine als Beispiel angeführt, zu der
ja viele verschiedene Theorien, auch Verschwörungstheorien kursieren, mit denen
man sich die Welt zurechtlegt, mit denen man ja auch Lügen in Umlauf bringt.
Können die gefährlich werden?
Butter:
Natürlich können sie gefährlich werden. Wir wissen leider noch nicht soviel über
Verschwörungstheorien, dass wir immer sagen könnten, wann genau sie gefährlich
werden. Aber meiner Ansicht nach vor allem in folgenden Fällen:
Verschwörungstheorien können relativ unproblematisch sein, wenn sie sich im
Grunde gegen Mächtige richten. Wenn sie also behaupten, dass Barack Obama ein
Außerirdischer ist, es könnte da natürlich zu Attentaten kommen. Diese Fälle gibt es
natürlich auch, wo Leute gedacht haben, sie müssten gegen die eigene Regierung
vorgehen. Das ist sehr tragisch, man denke an Timothy McVeigh in den 90er-Jahren
mit dem Anschlag auf das Federal Building in Oklahoma City, oder Anders Breivik in
Norwegen, der ja noch sein verschwörungstheoretisches Manifest im Internet
hochgeladen hat, bevor er losgezogen ist. Das sind allerdings Ausnahmefälle. Viel
problematischer sind allerdings die Fälle, wo sich die Verschwörungstheorien nicht
gegen Mächtige richten, sondern gegen Schwache und Marginalisierte, gegen
9
Außenseiter, gegen Flüchtlinge z.B., gegen Juden in der Vergangenheit, wo
Verschwörungstheorien ,allgemein gesagt, ein rassistisches oder antisemitisches
Substrat haben und von daher zu Gewalt führen, die viel systemischer und
struktureller angelegt ist und von daher viel mehr Opfer fordern kann.
Caspary:
Es gibt eine aktuelle Verschwörungstheorie: "Unabhängige Medien", also auch wir,
"sind allesamt Lügenpresse", also wir berichten bewusst falsch, wir lügen. Dahinter
steckt eine Verschwörung von Chefredakteuren oder Politikern, die uns dazu
benutzen, ihre Welt zu präsentieren. Ist das eine Verschwörungstheorie?
Butter:
Wenn das Ganze bewusst und auf Anordnung geschieht, weil dadurch irgendetwas
verheimlicht werden soll oder die öffentliche Wahrnehmung in einer bestimmten Art
und Weise geformt werden soll, dann steckt dahinter eine Verschwörungstheorie.
Aber das betrifft ja nicht nur Sie, das betrifft auch mich. Immer wenn ich ein Interview
gebe zu Verschwörungstheorien, kriege ich danach ein paar Emails, die sagen
entweder: "Sie sind total doof und haben nichts verstanden." Oder: "Sie sind ja selbst
Teil der Verschwörung und werden bezahlt von X Y."
Caspary:
Wie muss man psychologisch ticken, um so eine Verschwörungstheorie zu glauben
und wirklich pamphlethaft zu verbreiten?
Butter:
Ich glaube, hier muss man differenzieren, und zwar historisch differenzieren. Das
Spannende ist nämlich, dass es über weite Strecken der europäischen und
amerikanischen Geschichte hinweg völlig normal war, Verschwörungstheoretiker zu
sein. Die Verschwörungstheorien über die Französische Revolution, über die Gegner
der Sklaverei usw., die wurden nicht von irgendwelchen "Irren" am Rande der
Gesellschaft verbreitet, sondern die wurden von Eliten und vom Mainstream
verbreitet. Die waren also fest in der Gesellschaft integriert, weil man davon ausging,
so funktioniert Geschichte. Individuen können ihren Willen eins zu eins in die Tat
umsetzen. Von daher gibt es große Verschwörungen. Das war die Avantgarde des
Denkens, die damals an Verschwörungstheorien glaubte. Das ändert sich in den
USA im Verlauf der frühen 50er-, späten 60er-Jahre. In den meisten west- und
zentraleuropäischen Ländern ein wenig früher. Da wandern nämlich
Verschwörungstheorien an den Rand der Gesellschaft. Seitdem dienen sie vor allem
Menschen, die sich marginalisiert fühlen, oder die Angst haben, marginalisiert zu
werden, oder die sich von Marginalisierung bedroht sehen, ihre eigene Lage zu
erklären. In dem Moment werden Verschwörungstheorien teilweise für die Leute
attraktiv, denen man ein psychologisches Problem attestieren würde. Nur darauf darf
man das nicht reduzieren, denn alle Umfragen sagen, es ist doch ein relativ großer
Teil der amerikanischen Gesellschaft z.B. – ein Drittel bis zur Hälfte der Bevölkerung,
der zumindest an eine Verschwörungstheorie glaubt. Wenn man die als psychisch
krank abtun würde, verliert diese Kategorie völlig ihre Erklärungskraft. Also:
Marginalisierung, eine psychologische Kategorie, ist, glaube ich, eine viel sinnvollere
in diesem Fall.
10
Caspary:
Sie haben einen Forschungsverbund ins Leben gerufen, das das Thema
Verschwörungstheorien von allen möglichen Seiten beforscht. Wurde es vorher nicht
beforscht?
Butter:
Das ist halbrichtig. Wir setzen mit unserer Forschung fort, was in den letzten 20
Jahren geschehen ist, vor allem wollen wir aber die verschiedenen Seiten in den
Dialog miteinander bringen. Was nämlich in der Erforschung zu den verschiedenen
Theorien passiert ist, ist Folgendes: Diese Forschung ist in den letzten 20 Jahren
explodiert. Da gibt es die unterschiedlichsten Disziplinen: von der Anthropologie, der
Ethnologie, der Psychologie, die analytische Philosophie, die verschiedenen
Literatur- und Kulturwissenschaften, die Religionswissenschaft, die
Geschichtswissenschaft – die beschäftigen sich alle mit Verschwörungstheorien aus
unterschiedlichen Perspektiven mit unterschiedlichen Methoden und kommen
teilweise zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen. Das ist einerseits schade, und
andererseits ist es spannend. Problematisch ist es vor allem, weil sie sich nicht
miteinander austauschen und teilweise überhaupt nicht zur Kenntnis nehmen, was
denn andere Disziplinen so an Kenntnissen bisher produziert haben. Und ein Ziel
dieses Forschungsverbundes ist es, eben diesen Dialog herzustellen, dass z.B.
quantitativ arbeitende Psychologen ins Gespräch kommen mit qualitativ arbeitenden
Ethnologen und Religionswissenschaftlern und sich über ihre Erkenntnisse
austauschen, da man dann vielleicht erklären kann, warum man zu unterschiedlichen
Ergebnissen kommt. Oder man sagt, in dem Fall hat vielleicht der recht, in dem Fall
hat vielleicht der andere recht.
Caspary:
Das klingt sehr interessant. Wann liegen die ersten Ergebnisse vor? Was meinen
Sie?
Butter:
Wir beginnen im April mit der Arbeit. Das Ganze wird sich über vier Jahre erstrecken,
und die ersten Synthesen sind sicherlich in den ersten ein, zwei Jahren zu erwarten.
Das ist der erste Schritt: im Grunde eine Synthesenbildung, eine Bestandsaufnahme,
nicht nur über die Disziplinen hinweg, sondern auch über die Sprachgrenzen hinweg.
Ich weiß, dass es relativ viel Forschung auf Ungarisch, Slowakisch oder Rumänisch
gibt, die ich aber nicht rezipieren kann. Von daher freue ich mich darauf, mit den
Kolleginnen und Kollegen aus diesen Ländern zu sprechen und zu erfahren, was die
über Verschwörungstheorien rausgefunden haben.
Caspary:
Was ist für Sie eine richtig schlechte Verschwörungstheorie, die jeder sofort
durchschaut und die nur noch ein paar Leute am Leben erhalten?
Butter:
Ich finde schon diese Echsen-Verschwörungstheorie unglaublich schlecht. Obama
als Echse, Angela Merkel als Echse – die Idee ist, dass es eine Weltregierung der
Außerirdischen gibt, die als Menschen erscheinen. Auf Youtube wird viel
Videomaterial analysiert. Da verzieht mal jemand das Gesicht oder schneidet eine
Grimasse, und sofort ist die Interpretation, naja, da hat im Moment das Hologramm
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nicht richtig funktioniert. Die meisten Verschwörungstheorien überzeugen mich nicht.
Ich finde sie alle spannend, weil sie meiner Ansicht nach symbolisch zu lesen sind,
d.h. Verschwörungstheorien weisen uns eigentlich hin auf Probleme, die unsere
Gesellschaft hat, auf ein Demokratiedefizit, das vielleicht bestehen kann, auf Krisen
der repräsentativen Demokratie. Von daher sind Verschwörungstheorien Symptome,
aber sie sind nicht im wörtlichen Sinn wahr.
Caspary:
Und sie verweisen auf Menschen, die marginalisiert sind, die eine Kompensation
brauchen. Die müsste man doch eigentlich in der Gesellschaft besser abholen.
Butter:
Genau. Deshalb darf man nicht im wörtlichen Sinn glauben, was sie sagen, aber man
darf es auch nicht ignorieren, sondern man muss zuhören und die richtigen Schlüsse
ziehen.
Caspary:
Wir hoffen, dieses Gespräch trägt dazu bei. Vielen Dank dafür.
Butter:
Vielen Dank, Herr Caspary.
*****
Michael Butter studierte Englisch, Deutsch und Geschichte an der Universität
Freiburg, wo er sich auch habilitierte. Er lehrte zunächst als Assistant Professor an
der Universität Bonn, bevor er Lehrtätigkeiten in Freiburg und Wuppertal annahm.
Seit 2014 ist er Professor of American Studies an der Universität Tübingen.
Bücher (Auswahl):
– Bewunderer, Verehrer, Zuschauer: Die Helden und ihr Publikum. (zus. mit Ronald
G. Asch) ergon Verlag, 2016.
– Conspiracy Theories in the United States and the Middle East: A Comparative
Approach. (zus. mit Maurus Reinkowski) Verlag de Gruyter, 2014.
– 9/11: Kein Tag, der die Welt veränderte. (zus. mit Birte Christ und Patrick Keller).
Schöningh-Verlag, 2011.
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