SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE SWR2 Wissen/Aula Gerüchte und Halbwahrheiten Wie funktionieren Verschwörungstheorien? Von Michael Butter Sendung: Sonntag, 27. März 2016, 8.30 Uhr Redaktion: Ralf Caspary Produktion: SWR 2015 Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Service: SWR2 Wissen/Aula können Sie auch als Live-Stream hören im SWR2 Webradio unter www.swr2.de oder als Podcast nachhören: http://www1.swr.de/podcast/xml/swr2/aula.xml Die Manuskripte von SWR2 Wissen/Aula gibt es auch als E-Books für mobile Endgeräte im sogenannten EPUB-Format. Sie benötigen ein geeignetes Endgerät und eine entsprechende "App" oder Software zum Lesen der Dokumente. Für das iPhone oder das iPad gibt es z.B. die kostenlose App "iBooks", für die Android-Plattform den in der Basisversion kostenlosen Moon-Reader. Für Webbrowser wie z.B. Firefox gibt es auch sogenannte Addons oder Plugins zum Betrachten von E-Books: Mitschnitte aller Sendungen der Redaktion SWR2 Wissen sind auf CD erhältlich beim SWR Mitschnittdienst in Baden-Baden zum Preis von 12,50 Euro. Bestellungen über Telefon: 07221/929-26030 Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert. Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2.de MANUSKRIPT Ansage: Mit dem Thema: "Gerüchte und Halbwahrheiten – Wie funktionieren Verschwörungstheorien?" Die Mondlandung, die Ukraine-Krise, der Terroranschlag auf die Redaktion der französischen Satirezeitschrift Charlie Hebdo, die Terroranschläge 9/11 – diese Ereignisse haben eins gemeinsam: Um sie ranken sich zahlreiche Mutmaßungen, Fiktionen und Gerüchte, sie werden von Verschwörungstheorien verformt und überwölbt. "Verschwörungstheorien können zur Radikalisierung von Extremisten beitragen, Spannungen zwischen Nationen befeuern und das Vertrauen in demokratische Institutionen und Medien unterlaufen", sagt der Anglist Professor Michael Butter von der Universität Tübingen, der ein Forschungsnetzwerk leitet, das das Phänomen interdisziplinär analysiert. INTERVIEW: Caspary: Herrn Butter begrüße ich nun zum AULA-Gespräch. Guten Morgen, Herr Butter. Butter: Guten Morgen, Herr Caspary. Caspary: Was ist Ihre Lieblings-Verschwörungstheorie? Butter: Das ist die Mondlandungs-Verschwörungstheorie, die besagt, dass die Amerikaner nie auf dem Mond gewesen sind oder zumindest nicht 1969, sondern dass diese Mondlandung, die unsere Eltern und Großeltern im Fernsehen gesehen haben, in einem Filmstudio in Hollywood inszeniert worden ist. Eine großartige Idee und die erste Verschwörungstheorie, der ich bewusst begegnet bin, und zwar zum 30. Jahrestag der Mondlandung, als ich ein Auslandssemester in England verbracht habe. In der Uni-Zeitung stand ein Artikel darüber, und für einen kurzen Moment bin ich der Verschwörungstheorie sogar anheimgefallen. Caspary: Lassen Sie uns sammeln. Ich nenne Ihnen einige Theorien, die Verschwörungstheorien sein können oder auch nicht sind, damit die Definition klarer wird. Auf einer Internetseite wird behauptet, dass die Erde doch eine Scheibe ist. Butter: Das würde aus meiner Sicht erst zu einer Verschwörungstheorie, wenn jemand diese Lüge aus irgendwelchen dunklen Motiven in die Welt gesetzt hat, also wenn jemand ureigenste Interessen damit verfolgt, diese Fehlinformation zu verbreiten. 2 Caspary: Die Stadt Bielefeld gibt es angeblich gar nicht. Butter: Das ist aus meiner Sicht auch keine Verschwörungstheorie. Denn welchen Sinn sollte es haben, die Existenz von Bielefeld zu leugnen? Caspary: Unter dem Begriff "Chemtrails" kursiert das Gerücht, es gäbe Menschen, die Wolken mit Chemikalien impfen, und die wollen uns schaden. Butter: Das ist eine Verschwörungstheorie, denn die "Chemtrail-Theorie" besagt ja, dass eine bestimmte Gruppe – manchmal die Illuminaten, manchmal die Amerikaner oder auch die Ein-Welt-Regierung – uns über diese Chemtrails kontrollieren und deshalb entsprechend sinistre Motive verfolgen. Das ist eine Verschwörungstheorie. Caspary: Das Masern-Virus gibt es überhaupt nicht. Butter: Das kommt darauf an, welche Version Sie sich anschauen. Wenn wirklich jemand dunkle Motive verfolgt, einen größeren Plan, also z.B. die Idee, durch die Impfung möchte jemand Autismus in der Bevölkerung verbreiten, wie das manchmal behauptet wird, oder alles dient nur dazu, die Pharma-Industrie zu bereichern, dann kommen wir an eine Verschwörungstheorie ran. Wenn irgendwelche Ärzte sich nur irren und deshalb Fehlinformationen verbreiten, dann wäre das keine Verschwörungstheorie, sondern einfach nur falsch. Caspary: Elektronische Geräte haben eingebaute Schwachstellen, so dass sie nach Ablauf der Garantie sofort kaputt gehen. Die Verschwörung dahinter ist: Die Wirtschaft verdient mächtig daran. Butter: Wenn wir von Verschwörungstheorien sprechen, deuten wir ja immer an, dass sie nicht stimmen. Bei dem, was Sie gerade skizziert haben, würde ich sagen, das könnte stimmen, vermutlich werden die Dinge heute so gebaut. Die Frage ist nur, ob da wirklich ein allumfassender Plan dahinter steckt, ob sich alle Wirtschaftsbosse irgendwann einmal in einem Raum zusammengefunden haben und beschlossen haben, wir bauen unsere Geräte jetzt nur noch so, dass sie 24 oder 36 Monate halten und dann schnell zerfallen, damit wir möglichst viel Geld machen. Dann hätten wir eine astreine Verschwörungstheorie. Ansonsten geschehen schlimme Dinge ja auch einfach ohne vorherige Verabredung. Caspary: Es zeigen sich also zwei Strukturelemente: Die Verschwörungstheorie muss falsch sein, sie sollte die Realität, so wie sie ist, nicht abbilden, und zum zweiten steckt dahinter wirklich eine Verschwörung, eine Gruppe von Menschen, die mit dieser Theorie ein bestimmtes Ziel verfolgt. 3 Butter: Genau, diese beiden Elemente zeichnen Verschwörungstheorien und die Verwendung des Begriffs "Verschwörungstheorie" aus. Denn das impliziert ja von vorneherein, dass an dem Gedankengebäude, das so benannt wird, nichts dran ist. Wenn ich jemanden einen Verschwörungstheoretiker nenne oder eine Idee als Verschwörungstheorie diffamiere, heißt das, ich muss mich mit den Details gar nicht mehr auseinandersetzen, denn sie kann überhaupt nicht stimmen. Das andere Element ist aber auch ganz wichtig, wir brauchen wirklich eine Gruppe von Leuten, die im Geheimen agiert und die ein dunkles Ziel verfolgt, eben die Verschwörer. Ansonsten ist der Tatbestand der Verschwörung nicht gegeben. Solche Ideen wie Elvis Presley lebt im Geheimen doch noch irgendwo- das ist keine Verschwörungstheorie, auch wenn das im populären Gebrauch manchmal so bezeichnet wird. Caspary: Warum nennt man das eigentlich Verschwörungs-Theorie und nicht -Ideologie, denn es ist ja ein Gedankengebäude, das dahinter steht? Theorie klingt ja wissenschaftlich fundiert, aber das ist eigentlich ein falscher Anstrich. Butter: Das ist eine interessante Frage. Ich glaube, man kann sie aus zwei Richtungen reflektieren. Zum einen kann man sagen, Theorie klingt wissenschaftlich fundiert, deshalb sollten diese falschen Gedankengebäude, die letztendlich auch nicht falsifizierbar sind, nicht Theorie heißen. Gleichzeitig transportiert der Begriff Verschwörungstheorie aber auch, glaube ich, eher einen Alltagsgebrauch von Theorie, nämlich das eine ist die Theorie, und das andere ist das, was wirklich wahr ist. Das heißt, das ist ein völlig anderer Theorie-Gebrauch. Caspary: Können Sie sagen, wie solche Verschwörungstheorien in Umlauf kommen, wie die sozusagen eine relativ große Gruppe von Menschen gedanklich entzünden, so dass diese daran glauben? Butter: Verschwörungstheorien bieten Erklärungs- und Deutungsmuster für eine komplexe Welt an. Verschwörungstheorien schließen Chaos und Kontingenz aus. Kontingenz heißt Zufall, Dinge passieren einfach, komplexe soziale Systeme, wo die unterschiedlichsten Akteure beteiligt sind, bringen einfach Effekte hervor, die niemand beabsichtigt hat und für die deshalb letztendlich niemand verantwortlich gemacht werden kann. Verschwörungstheorien sagen, da sind Individuen, die haben Absichten, und die können diese Absichten eins zu eins in die Tat umsetzen, Und deshalb können wir auch für alles vermeintlich Schlimme, was auf der Welt passiert, den oder die Schuldigen identifizieren. Das ist die Wirkmächtigkeit von Verschwörungstheorien, solche Erklärungen anzubieten. Caspary: Kann man sagen, dass wir evolutionsbiologisch auf Verschwörungstheorien geeicht sind, weil wir überall Muster und das Sinnhafte sehen wollen? 4 Butter: Diese Frage geht über meine Expertise als Kulturwissenschaftler hinaus. Als Küchenpsychologe würde ich dem aber zustimmen, dass es ein sehr menschliches Bedürfnis ist, Schuldige zu identifizieren und dass wir im Alltagsleben nicht unbedingt die Theorie verfolgen, dass Effekte durch komplexe Systeme entstehen, ohne dass jemand dahinter steckt. Caspary: Verschwörungstheorien bieten also für das Komplexe ein einfaches Erklärungsmodell, sie machen die Schuldigen dingfest, also Akteure, die angeblich dahinter stehen. Das ist sehr wichtig, denn wir haben ja auch Phänomene, bei denen wir keine Akteure haben. Hat Verschwörungstheorie etwas mit der Moderne zu tun? Moderne ist ja soziologisch gesehen Zunahme von Komplexität. Butter: Verschwörungstheorien haben auf jeden Fall etwas mit der Moderne zu tun, insbesondere wenn man Verschwörungstheorien so definiert, wie wir das in den letzten Minuten getan haben. Und darüber hinausgehend: Person A denkt, dass sich Person B und Person C gegen ihn oder Person D verabredet haben. Wenn wir das so definieren, gibt es Verschwörungstheorien immer und überall. Dann ist das eine anthropologische Konstante. Wenn es aber wirklich um eine Gruppe von Verschwörern geht, die über einen längeren Zeitraum ein bestimmtes Ziel verfolgt, dann entstehen Verschwörungstheorien mit der europäischen Aufklärung. Weil sie nämlich in dem Moment ein Sinnangebot machen, wo alte religiöse Deutungsmuster nicht mehr unbedingt greifen. Verschwörungstheorien erlauben es, ein religiöses Deutungsmuster: es gibt einen göttlichen Heilsplan, nach dem sich Weltgeschichte entfaltet und im Hintergrund ist es Gott, der die Fäden in der Hand hält, zu säkularisieren, zu verweltlichen. Denn jetzt sind es auf einmal die Verschwörer, die hinter allem stecken, es herrscht immer noch kein Chaos, es herrscht immer noch kein Zufall, es ist immer noch alles geplant worden, nur ist es nicht mehr der göttliche Schöpfungsplan, sondern es sind jetzt die Verschwörer, die im Hintergrund die Strippen ziehen. Caspary: Gibt es die erste Welle in der Europäischen Aufklärung – Ende des 18. Jahrhunderts? Butter: Ein bisschen früher schon. Das ist etwas, das man verfolgen kann im Grunde vom späten 17. bis Ende des 18. Jahrhunderts hinweg, wie diese Verschwörungsszenarien in allen europäischen Ländern, in Frankreich, in England, aber auch in Deutschland und Italien immer komplexer werden, bis wir dann Ende des 18. Jahrhunderts – und da haben Sie völlig recht – im Grunde die erste wirklich moderne Verschwörungstheorie bekommen, die sich um die Französische Revolution rankt, wo sehr sehr viele Intellektuelle in ganz Europa überzeugt sind, dass hinter der Französischen Revolution eigentlich der Geheimbund der Illuminaten steckt, der zu diesem Zeitpunkt schon längst verboten worden war. Diese Verschwörungstheorie wurde in einer ganzen Reihe von Pamphleten und Veröffentlichungen in die Welt hinausposaunt und das Ganze wanderte von da über den Atlantik in die USA. 5 Caspary: Was hatte diese Verschwörungstheorie für einen Sinn? Einfach die Französische Revolution ein bisschen kleiner zu machen als sie war? Butter: Vielleicht etwas, was man sich nicht erklären konnte, wirklich zu erklären. Und – je nach Version – den Illuminaten unterschiedliche Motive zuzuschreiben. Manchmal ist das die Gottlosigkeit, weil die Religion nach der Revolution natürlich nicht mehr den bisherigen Stellenwert in Frankreich hatte, manchmal geht es um materielle Motive. Es ist das Erklärungsmuster, das wir hier sehen: Verschwörungstheorien deuten einfach die Welt. Caspary: Eine moderne Verschwörungstheorie besagt , 9/11 geht auf das Konto des Israelischen Geheimdienstes? Butter: Da gibt es viele verschiedene Versionen. Caspary: Letztendlich aber sind das Erklärungsmuster für unerklärliche Dinge? Butter: Genau. Ein Erklärungsmuster für etwas, das so groß ist, dass wir uns das eigentlich nicht erklären können. Die Idee, dass 19 arabische Terroristen, gesteuert aus Afghanistan, in der Lage sind, die mächtigste Nation der Welt so zu treffen, ist wohl eine Idee, die vielen Menschen nicht wirklich einleuchtet. Verschwörungstheorien, die entweder den israelischen Geheimdienst oder die amerikanische Regierung selbst oder sonst irgendwen als Strippenzieher dahinter sehen, waren deshalb lange Zeit sehr populär und sind es heute noch. Caspary: Betreffen Verschwörungstheorien in der Regel Katastrophen? Butter: Das ist ein Anlass für Verschwörungstheorien. Der amerikanische Politikwissenschaftler Michael Barkun unterscheidet zwischen EreignisVerschwörungstheorien und System-Verschwörungstheorien. EreignisVerschwörungstheorien machen sich genau an solchen Momenten fest, wie Sie die gerade genannt haben: ein Flugzeugabsturz, eine Naturkatastrophe, 9/11, die Mondlandung usw., man sucht für etwas, das man nicht einordnen kann, die Erklärung in der Verschwörung. Gleichzeitig gibt es System-Verschwörungstheorien, die bestimmte Gruppen der Verschwörung beschuldigen, ohne dass unbedingt ein konkretes Ereignis zum Anlass genommen wird. Man denke an Verschwörungstheorien, die sich an Juden richten oder die sich gegen Araber richten in der heutigen Zeit, oder die sich gegen Illuminaten oder Freimaurer richten, einfach weil die eine gewisse Geheimhaltung betrieben haben, die den Leuten sehr suspekt war. 6 Caspary: Lassen Sie uns bei den Juden anknüpfen. Im Mittelalter kursierte die Mär, Juden würden Brunnen vergiften. Ist das eine Verschwörungstheorie schon vor der europäischen Aufklärung? Butter: Ich würde sagen, das ist vielleicht ein Vorläufer einer Verschwörungstheorie, einfach weil der große Masterplan im Hintergrund die meiste Zeit fehlt. Man schreibt einfach einer Gruppe, die man sowieso suspekt und problematisch findet, unlautere Motive zu, aber man schreibt ihnen noch nicht den großen Plan zu, das Ziel, das sie erreichen wollen. Und die Art und Weise, wie diese Behauptungen bewiesen werden, das ist doch etwas anders als das mit der Aufklärung und später der Fall ist. Denn was mit der Aufklärung im Grunde hervortritt, ist eine Art der Entlarvung von vermeintlichen Verschwörungen, die letztendlich immer darauf angelegt ist, bestimmte Texte oder Zeichen zu interpretieren. Das sehen wir alle, wenn wir ins Internet und auf die entsprechenden Seiten klicken, wo jemand zeigt, dass Barack Obamas Reptilienhaut auf bestimmten Aufnahmen zum Vorschein kommt, weil er einer der Außerirdischen in Reptilienform ist, die die Welt regieren. Das ist eine im angloamerikanischen Raum recht verbreitete Verschwörungstheorie, die sich vor allem auf einem Verschwörungstheoretiker namens David Icke zurückführen lässt. D,h. wir haben hier eine bestimmte Art der Weltinterpretation, der Zeicheninterpretation könnte man sagen, und man leitet dann seine Schlussfolgerungen ab und bildet ein einigermaßen logisches Gebäude, zumindest aus Sicht des Verschwörungstheoretikers, und veröffentlicht das. Das ist im Mittelalter bei den Juden noch überhaupt nicht der Fall. Da sagt man einfach, wir wissen aus der Bibel, die Juden sind böse, und deshalb machen die das. Da werden aber keine konkreten Texte in dem Sinn interpretiert, wie das dann ab der Aufklärung der Fall ist. Caspary: Es geht um das Lesen von Zeichen, das Interpretieren von Zeichen, vielleicht auch ein Überschuss an Interpretationswahnsinn. Der Philosoph und Bestseller-Autor Umberto Eco, der kürzlich gestorben ist, war Semiotiker und insofern ist er doch eigentlich ein Theoretiker der Verschwörungstheorie gewesen. Butter: Ja. Man könnte sagen, ein Meta-Verschwörungstheoretiker, weil sich Umberto Eco in einer Vielzahl seiner Romane, nicht so sehr in "Im Namen der Rose", aber umso mehr in "Das Foucaultsche Pendel" und dann vor einigen Jahren auch im "Friedhof von Prag" mit dem Entstehen und auch dem Funktionieren von Verschwörungstheorien sehr intensiv auseinander gesetzt hat. Caspary: Weil er Semiotiker war und Zeichen erforscht hat. Butter: Genau. Und er hat sich für Verschwörungstheorien wirklich interessiert. 7 Caspary: Welche Verschwörungstheorie fasste – neben der Französischen Revolution – in Deutschland als erste Fuß? Butter: Das ist sehr schwierig zu sagen, weil in dem Moment, wo die Büchse der Pandora einmal geöffnet worden ist, es ganz viele unterschiedliche Verschwörungstheorien gibt, die sich um die unterschiedlichsten Ereignisse drehen. Was ich sehr spannend fand, weil das meine eigene Arbeit als Amerikanist berührt hat und weil es da gewisse transatlantische Verbindungen gibt, das ist das enorme Misstrauen gegenüber dem Katholizismus in vielen Ländern Europas im 19. Jahrhundert, aber auch z.B. in den Vereinigten Staaten. In den Vereinigten Staaten gibt es das z.B. in der Version, dass man der festen Überzeugung ist, dass der Papst in Verbindung mit dem Fürsten Metternich den Strom der katholischen Einwanderer, die zu der Zeit vor allem aus Irland kamen, steuert, weil er nämlich die USA in einen Bürgerkrieg stürzen möchte, weil das leuchtende demokratische Vorbild, das die USA den unterdrückten Völkern Europas geben, die Mächtigen Europas doch zutiefst beunruhigt. Und das gibt es in unterschiedlichen Versionen auch in manchen europäischen Ländern. In England z.B., wo man den Katholizismus auch sehr skeptisch beäugt, aber z.B. auch in Frankreich, einem eigentlich katholischen Land, gibt es ein enormes Misstrauen gegenüber dem Jesuitenorden, der angeblich dabei ist, die Regierung im Geheimen zu unterminieren. Caspary: Was muss in sozialer Hinsicht da sein, dass eine Verschwörungstheorie Fuß fasst, sich in die Köpfe sozusagen hineinfrisst und verbreitet wird? Braucht man dazu z.B. ein funktionierendes Zeitungswesen? Butter: Das hat natürlich auch mit medialen Bedingungen zu tun. Ein Bielefelder Historiker hat vor ca. zwei Jahren das Argument gebracht, dass Verschwörungstheorien überhaupt erst in dem Moment entstehen können, wo eine lesende Öffentlichkeit da ist, wo Texte auch anonym zirkulieren können und deshalb einen größeren Adressantenkreis erreichen als vorher. Das, finde ich, ist eine sehr überzeugende These. Die Geschichte von Verschwörungstheorien kann man im Grunde immer wieder auch als Mediengeschichte schreiben. Da denken wir natürlich einerseits an das Internet, das Verschwörungstheorien und ihre Verbreitung unglaublich sichtbar gemacht hat. Wir können aber z.B. auch an die 80er-Jahre in den USA denken, wo nämlich die Gegner der Sklaverei aus den Nordstaaten im Grunde die Südstaaten mit einer Menge an Pamphleten überschütten, in denen gegen die Sklaverei agitiert wird. Die können das machen, weil neue Drucktechniken erfunden worden sind, mit denen sie ihre Pamphlete viel billiger produzieren können als vorher. Statt 5.000 haben sie auf einmal 50.000 pro Jahr, die sie verteilen. Die Sklaverei-Befürworter verstehen das nicht. Deshalb denken sie, dass im Hintergrund die britische Regierung stehen muss und die Gegner der Sklaverei sponsort und diesen Druck ermöglicht. Interessanter ist sicherlich aus unserer Perspektive heutzutage das Internet und die Frage, was macht das Internet mit Verschwörungstheorien. Caspary: Eigentlich müssten sie ja stärker als zuvor blühen. 8 Butter: Das ist eine sehr schwer zu beantwortende Frage. Verschwörungstheorien sind meiner Ansicht nach durch das Internet ein wenig populärer geworden, aber nicht sehr viel populärer. Sie sind vor allem sichtbarer geworden. Denn überlegen Sie sich mal: Wenn vor 30 Jahren jemand beweisen wollte, dass die Mondlandung nicht stattgefunden hat, dann hat er, und da gibt es Fälle, die in der Forschung ganz gut belegt sind, im Selbstverlag ein Buch geschrieben, hat das kopiert, vielleicht noch auf Matrizen abgezogen, hat das an Leute, vielleicht auch an Zeitungen geschickt, die das ignoriert haben, und hat natürlich nur eine begrenzte Leserschaft erreicht. Heutzutage verbreitet man das über Facebook oder einen Blog oder sonst etwas, und man hat, wenn man Glück hat, innerhalb von Minuten eine viel größere Leserschaft als jemals zuvor. Von daher ist das Interesse an Verschwörungstheorien, das unsere Gesellschaft momentan hat und das natürlich auch die Medien momentan haben, erst mal auf die größere Sichtbarkeit von Verschwörungstheorien zurückzuführen. Ich würde sagen, es gab vor 30 Jahren schon sehr viele Verschwörungstheoretiker, die sind nur nicht so aufgefallen. Aber Sichtbarkeit führt natürlich auch dazu, dass das Ganze so eine Art Katalysator-Effekt hat. Denn nehmen wir wieder das Beispiel von jemandem, der vielleicht vor 30 Jahren einen diffusen Verdacht hatte, dass mit der Mondlandung irgendetwas nicht stimmen könnte, der ist vielleicht in seinem ganzen Leben niemals einer wirklich ausformulierten Verschwörungstheorie zur Mondlandung begegnet. Wenn sie heutzutage bei google eingeben "Was passiert wirklich in der Ukraine?", dann sind Sie innerhalb von Sekunden auf einem Dutzend Web-Seiten, die Ihnen die unterschiedlichsten Verschwörungstheorien dazu anbieten. Das kann natürlich dazu führen, und tut es sicherlich auch in manchen Fällen, dass Sie von einem Zweifler, der einen vagen Verdacht hatte, wirklich zu einem Verschwörungstheoretiker werden. In diesem Sinne trägt natürlich das Internet schon dazu bei, dass Verschwörungstheorien häufiger werden. Caspary: Sind Verschwörungstheorien auf irgendeine Art und Weise gefährlich, oder können Sie gefährlich werden? Sie haben gerade die Ukraine als Beispiel angeführt, zu der ja viele verschiedene Theorien, auch Verschwörungstheorien kursieren, mit denen man sich die Welt zurechtlegt, mit denen man ja auch Lügen in Umlauf bringt. Können die gefährlich werden? Butter: Natürlich können sie gefährlich werden. Wir wissen leider noch nicht soviel über Verschwörungstheorien, dass wir immer sagen könnten, wann genau sie gefährlich werden. Aber meiner Ansicht nach vor allem in folgenden Fällen: Verschwörungstheorien können relativ unproblematisch sein, wenn sie sich im Grunde gegen Mächtige richten. Wenn sie also behaupten, dass Barack Obama ein Außerirdischer ist, es könnte da natürlich zu Attentaten kommen. Diese Fälle gibt es natürlich auch, wo Leute gedacht haben, sie müssten gegen die eigene Regierung vorgehen. Das ist sehr tragisch, man denke an Timothy McVeigh in den 90er-Jahren mit dem Anschlag auf das Federal Building in Oklahoma City, oder Anders Breivik in Norwegen, der ja noch sein verschwörungstheoretisches Manifest im Internet hochgeladen hat, bevor er losgezogen ist. Das sind allerdings Ausnahmefälle. Viel problematischer sind allerdings die Fälle, wo sich die Verschwörungstheorien nicht gegen Mächtige richten, sondern gegen Schwache und Marginalisierte, gegen 9 Außenseiter, gegen Flüchtlinge z.B., gegen Juden in der Vergangenheit, wo Verschwörungstheorien ,allgemein gesagt, ein rassistisches oder antisemitisches Substrat haben und von daher zu Gewalt führen, die viel systemischer und struktureller angelegt ist und von daher viel mehr Opfer fordern kann. Caspary: Es gibt eine aktuelle Verschwörungstheorie: "Unabhängige Medien", also auch wir, "sind allesamt Lügenpresse", also wir berichten bewusst falsch, wir lügen. Dahinter steckt eine Verschwörung von Chefredakteuren oder Politikern, die uns dazu benutzen, ihre Welt zu präsentieren. Ist das eine Verschwörungstheorie? Butter: Wenn das Ganze bewusst und auf Anordnung geschieht, weil dadurch irgendetwas verheimlicht werden soll oder die öffentliche Wahrnehmung in einer bestimmten Art und Weise geformt werden soll, dann steckt dahinter eine Verschwörungstheorie. Aber das betrifft ja nicht nur Sie, das betrifft auch mich. Immer wenn ich ein Interview gebe zu Verschwörungstheorien, kriege ich danach ein paar Emails, die sagen entweder: "Sie sind total doof und haben nichts verstanden." Oder: "Sie sind ja selbst Teil der Verschwörung und werden bezahlt von X Y." Caspary: Wie muss man psychologisch ticken, um so eine Verschwörungstheorie zu glauben und wirklich pamphlethaft zu verbreiten? Butter: Ich glaube, hier muss man differenzieren, und zwar historisch differenzieren. Das Spannende ist nämlich, dass es über weite Strecken der europäischen und amerikanischen Geschichte hinweg völlig normal war, Verschwörungstheoretiker zu sein. Die Verschwörungstheorien über die Französische Revolution, über die Gegner der Sklaverei usw., die wurden nicht von irgendwelchen "Irren" am Rande der Gesellschaft verbreitet, sondern die wurden von Eliten und vom Mainstream verbreitet. Die waren also fest in der Gesellschaft integriert, weil man davon ausging, so funktioniert Geschichte. Individuen können ihren Willen eins zu eins in die Tat umsetzen. Von daher gibt es große Verschwörungen. Das war die Avantgarde des Denkens, die damals an Verschwörungstheorien glaubte. Das ändert sich in den USA im Verlauf der frühen 50er-, späten 60er-Jahre. In den meisten west- und zentraleuropäischen Ländern ein wenig früher. Da wandern nämlich Verschwörungstheorien an den Rand der Gesellschaft. Seitdem dienen sie vor allem Menschen, die sich marginalisiert fühlen, oder die Angst haben, marginalisiert zu werden, oder die sich von Marginalisierung bedroht sehen, ihre eigene Lage zu erklären. In dem Moment werden Verschwörungstheorien teilweise für die Leute attraktiv, denen man ein psychologisches Problem attestieren würde. Nur darauf darf man das nicht reduzieren, denn alle Umfragen sagen, es ist doch ein relativ großer Teil der amerikanischen Gesellschaft z.B. – ein Drittel bis zur Hälfte der Bevölkerung, der zumindest an eine Verschwörungstheorie glaubt. Wenn man die als psychisch krank abtun würde, verliert diese Kategorie völlig ihre Erklärungskraft. Also: Marginalisierung, eine psychologische Kategorie, ist, glaube ich, eine viel sinnvollere in diesem Fall. 10 Caspary: Sie haben einen Forschungsverbund ins Leben gerufen, das das Thema Verschwörungstheorien von allen möglichen Seiten beforscht. Wurde es vorher nicht beforscht? Butter: Das ist halbrichtig. Wir setzen mit unserer Forschung fort, was in den letzten 20 Jahren geschehen ist, vor allem wollen wir aber die verschiedenen Seiten in den Dialog miteinander bringen. Was nämlich in der Erforschung zu den verschiedenen Theorien passiert ist, ist Folgendes: Diese Forschung ist in den letzten 20 Jahren explodiert. Da gibt es die unterschiedlichsten Disziplinen: von der Anthropologie, der Ethnologie, der Psychologie, die analytische Philosophie, die verschiedenen Literatur- und Kulturwissenschaften, die Religionswissenschaft, die Geschichtswissenschaft – die beschäftigen sich alle mit Verschwörungstheorien aus unterschiedlichen Perspektiven mit unterschiedlichen Methoden und kommen teilweise zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen. Das ist einerseits schade, und andererseits ist es spannend. Problematisch ist es vor allem, weil sie sich nicht miteinander austauschen und teilweise überhaupt nicht zur Kenntnis nehmen, was denn andere Disziplinen so an Kenntnissen bisher produziert haben. Und ein Ziel dieses Forschungsverbundes ist es, eben diesen Dialog herzustellen, dass z.B. quantitativ arbeitende Psychologen ins Gespräch kommen mit qualitativ arbeitenden Ethnologen und Religionswissenschaftlern und sich über ihre Erkenntnisse austauschen, da man dann vielleicht erklären kann, warum man zu unterschiedlichen Ergebnissen kommt. Oder man sagt, in dem Fall hat vielleicht der recht, in dem Fall hat vielleicht der andere recht. Caspary: Das klingt sehr interessant. Wann liegen die ersten Ergebnisse vor? Was meinen Sie? Butter: Wir beginnen im April mit der Arbeit. Das Ganze wird sich über vier Jahre erstrecken, und die ersten Synthesen sind sicherlich in den ersten ein, zwei Jahren zu erwarten. Das ist der erste Schritt: im Grunde eine Synthesenbildung, eine Bestandsaufnahme, nicht nur über die Disziplinen hinweg, sondern auch über die Sprachgrenzen hinweg. Ich weiß, dass es relativ viel Forschung auf Ungarisch, Slowakisch oder Rumänisch gibt, die ich aber nicht rezipieren kann. Von daher freue ich mich darauf, mit den Kolleginnen und Kollegen aus diesen Ländern zu sprechen und zu erfahren, was die über Verschwörungstheorien rausgefunden haben. Caspary: Was ist für Sie eine richtig schlechte Verschwörungstheorie, die jeder sofort durchschaut und die nur noch ein paar Leute am Leben erhalten? Butter: Ich finde schon diese Echsen-Verschwörungstheorie unglaublich schlecht. Obama als Echse, Angela Merkel als Echse – die Idee ist, dass es eine Weltregierung der Außerirdischen gibt, die als Menschen erscheinen. Auf Youtube wird viel Videomaterial analysiert. Da verzieht mal jemand das Gesicht oder schneidet eine Grimasse, und sofort ist die Interpretation, naja, da hat im Moment das Hologramm 11 nicht richtig funktioniert. Die meisten Verschwörungstheorien überzeugen mich nicht. Ich finde sie alle spannend, weil sie meiner Ansicht nach symbolisch zu lesen sind, d.h. Verschwörungstheorien weisen uns eigentlich hin auf Probleme, die unsere Gesellschaft hat, auf ein Demokratiedefizit, das vielleicht bestehen kann, auf Krisen der repräsentativen Demokratie. Von daher sind Verschwörungstheorien Symptome, aber sie sind nicht im wörtlichen Sinn wahr. Caspary: Und sie verweisen auf Menschen, die marginalisiert sind, die eine Kompensation brauchen. Die müsste man doch eigentlich in der Gesellschaft besser abholen. Butter: Genau. Deshalb darf man nicht im wörtlichen Sinn glauben, was sie sagen, aber man darf es auch nicht ignorieren, sondern man muss zuhören und die richtigen Schlüsse ziehen. Caspary: Wir hoffen, dieses Gespräch trägt dazu bei. Vielen Dank dafür. Butter: Vielen Dank, Herr Caspary. ***** Michael Butter studierte Englisch, Deutsch und Geschichte an der Universität Freiburg, wo er sich auch habilitierte. Er lehrte zunächst als Assistant Professor an der Universität Bonn, bevor er Lehrtätigkeiten in Freiburg und Wuppertal annahm. Seit 2014 ist er Professor of American Studies an der Universität Tübingen. Bücher (Auswahl): – Bewunderer, Verehrer, Zuschauer: Die Helden und ihr Publikum. (zus. mit Ronald G. Asch) ergon Verlag, 2016. – Conspiracy Theories in the United States and the Middle East: A Comparative Approach. (zus. mit Maurus Reinkowski) Verlag de Gruyter, 2014. – 9/11: Kein Tag, der die Welt veränderte. (zus. mit Birte Christ und Patrick Keller). Schöningh-Verlag, 2011. 12
© Copyright 2025 ExpyDoc