Interview mit Dr. Gerd Westermayer Gesellschaft für Betriebliche

Interview mit Dr. Gerd Westermayer
Gesellschaft für Betriebliche Gesundheitsförderung (BGF-Berlin)
von Carolin Müller
Dr. Gerd Westermayer ist Gründer und
Geschäftsführer der BGF GmbH in Berlin. Im
Anschluss an sein Psychologiestudium promovierte
Gerd Westermayer mit einem neuen Modell der
Organisationsdiagnose. Mittlerweile sind mehr als
50 Veröffentlichungen von ihm zu den Themen
Organisationsentwicklung und Betriebliche
Gesundheitsfürsorge erschienen.
Was ist die Aufgabe der BGF Berlin und was bieten Sie als Gesellschaft für Betriebliche
Gesundheitsförderung Unternehmen an?
Dr. Westermayer: Die BGF Berlin wurde 1994 mit dem Ziel gegründet, Unternehmen bei der Planung,
Umsetzung und Evaluation von BGM-Systemen zu beraten und zu unterstützen. Dies passiert im Rahmen
des Paragraphen 20 SGB V, der die Krankenkassen zur Betrieblichen Gesundheitsfürsorge gesetzlich
verpflichtet. Seit Beginn kooperieren wir mit der AOK Nordost und führen in deren Auftrag Projekte und
Maßnahmen zur Gesundheitsförderung durch. Mittlerweile bieten wir unsere Dienstleistungen aber für
alle Unternehmen an, unabhängig davon mit welcher Krankenkasse sie kooperieren. Für Unternehmen ist
die Zusammenarbeit mit einer Krankenkasse ein großer Vorteil, da die Kassen einen Teil der Kosten
übernehmen und unsere Dienstleistungen auch in deren Portfolio integrieren. Seit 2008 wird die
Betriebliche Gesundheitsfürsorge auch steuerlich gefördert, jedes Unternehmen kann pro Mitarbeiter 500
Euro pro Jahr steuerlich für diesen Bereich absetzen.
Betriebliches Gesundheitsmanagement ist für uns eine spezielle Form der Organisationsentwicklung, die
an die Entwicklung der Unternehmen angepasst und in der Unternehmenskultur verankert sein muss. Es
gehört zu unserem Aufgabengebiet, in enger Abstimmung mit dem Unternehmen Analyseinstrumente zu
entwickeln, die den Status quo der Gesundheitsleistungen eines Unternehmens ermitteln. Basierend auf
Krankenkassendaten erstellen wir Gesundheitsberichte für Unternehmen, führen Arbeitsplatzanalysen,
Gefährdungsanalysen und Mitarbeiterbefragungen durch, bieten Workshops, Führungskräfteschulungen
sowie Unterstützung beim Wiedereingliederungsmanagement an.
Wie können Sie Unternehmen auf Managementebene bei der Planung, Umsetzung und
Evaluation von BGM-Systemen helfen?
Dr. Westermayer: Im ersten Schritt orientiert man sich an den Qualitätskriterien betrieblicher
Gesundheitsförderung, die das Europäische Netzwerk für Betriebliche Gesundheitsförderung definiert.
Bevor die verschiedenen Instrumente zum Einsatz kommen, erfolgt eine Analyse der Ist-Situation und die
Definition von Zielen in einem Steuerungskreis. Anschließend legen wir in einem Strategie-DesignWorkshop mit dem Unternehmen das Projektdesign fest und arbeiten die Jahresziele aus.
Die Einbindung des Betrieblichen Gesundheitsmanagements in ein Evaluationssystem ist zwingend
notwendig, um am Ende zu prüfen, ob die Ziele erreicht wurden. Instrumente wie die Bildung eines
Steuerkreises oder eines Gesundheitszirkels sind eine gute Möglichkeit, Mitarbeiter einzubinden und
deren Partizipation zu fördern. Entscheidend ist in jedem Fall die Kosten-Nutzen Bewertung, denn dann
wird klar, wie sich Investitionen der Firmen in die Gesundheit der Mitarbeiter auszahlen. Wenn
beispielsweise ein Unternehmen mit 8.000 Mitarbeitern seinen Krankenstand von 7,5 Prozent auf 6,5
Prozent senken möchte, entspricht das einer Kosteneinsparung von 3,76 Millionen Euro. Die Projektkosten
belaufen sich dabei auf lediglich 350.000 Euro. Der Return on Investment liegt für das Unternehmen also
bei 1:10.
Investitionen in Gesundheitsmanagement zahlen sich also durchaus aus. Wie wichtig ist in
diesem Zusammenhang das Thema Unternehmenskultur?
Dr. Westermayer: Unternehmenskultur ist das Thema der Zukunft. Die Gründe hierfür liegen einerseits
am demografischen Wandel, der sehr schnell zu einem Fachkräftemangel und zur Überalterung der
Belegschaften führt. Andererseits wissen wir durch Mitarbeiterbefragungen, dass der Motivationsfaktor
Geld ein relativ schwacher Faktor für gute Arbeit ist. Der stärkste Motivationsfaktor ist die Identifikation
mit dem Unternehmen. Eine hohe Identifikation erreicht man aber nur in einer guten
Unternehmenskultur, die Sinn stiftet und Nachhaltigkeit in Leistung und Produktivität schafft. Wenn die
Arbeitnehmer wissen, warum sie dort ihre Arbeit verrichten und wozu diese gut ist, kommen sie gerne zur
Arbeit und halten sich fit und gesund. Vielen Managern und Führungskräften ist das nicht bewusst.
Eine positive Unternehmenskultur belohnt die Mitarbeiter intrinsisch. In einer positiven Arbeitskultur
existiert ein Mechanismus, bei dem Arbeitsfreude und Selbstvertrauen die Mitarbeiter zu immer größeren
Potentialen führen. Eine hohe Identifikation, Lernmöglichkeiten und Anerkennung steigert die
Arbeitsfreude, die wiederum Endorphine produziert. Ähnlich einer Art Glücksspirale möchten die
Arbeitnehmer von den positiven Gefühlen mehr erfahren. Wenn man als Unternehmen eine solche
Glücksspirale aktivieren kann, braucht man seine Mitarbeiter nicht mehr extra zu motivieren. Man erreicht
konsequent eine hohe Produktivität, eine intensive Mitarbeiterbindung und eine langfristig erfolgreiche
Rekrutierung von High Potentials.
Der Pflege- und Gesundheitssektor leidet unter einem Mangel an qualifiziertem Personal. Die
Mitarbeiter sind besonderen Belastungen ausgesetzt. Woran liegt das und wo kann ein gutes
Gesundheitsmanagement in einem Krankenhaus ansetzen?
Dr. Westermayer: Wir haben dort immer das Grundproblem der dreistrahligen Führung: Die Ärztliche
Leitung, die Pflegedienstleitung und die Verwaltungsleitung. Die unterschiedliche Ausrichtung der
jeweiligen Tätigkeiten und die unterschiedliche Ausbildung der Mitarbeiter führen häufig zu Konflikten.
Das Hauptproblem ist der demografische Wandel, der in der Pflegebranche schon stattgefunden hat.
Geeignete Nachwuchskräfte fehlen und die Leistungsverdichtung nimmt zu. Die Überlastung der dort
arbeitenden Menschen ist die Folge, was wiederum zu einem höheren Krankenstand führt. Gleichzeitig
können die ausgefallenen Mitarbeiter nicht ersetzt werden, weil geeignetes Personal fehlt. Das Ergebnis
ist eine erhöhte Belastung der verbleibenden Mitarbeiter. Wohin diese Verschleißprozesse führen und wie
man gegen sie angehen kann, ist nicht geklärt.
Noch problematischer ist aber die Industrialisierung der Dienstleistung, die gerade im Gesundheitswesen
erfolgt. Krankenhäuser werden mit einem Bankkredit gekauft, der Kredit wird als Verlust in den Büchern
aufgenommen und das Haus so zu einem Verlustunternehmen erklärt. Die Mitarbeiter werden
aufgefordert, höhere Leistung zu bringen, um den Verlust auszugleichen. Sehr oft wird diese Entwicklung
durch einen Börsengang des Unternehmens forciert, der dazu führt, dass Managemententscheidungen
nicht mehr langfristig, sondern vollständig von Quartalsberichten abhängig gemacht werden müssen. Die
eingeführten Zielvereinbarungssysteme führen zu der Etablierung eines Wettbewerbs der Mitarbeiter
gegeneinander. Was in der freien Wirtschaft funktionieren kann, ist aber im Gesundheitssektor fatal.
Hier gibt es weder eine Lagerhaltung noch eine „just-in-time“ Produktion. Das eigentliche Produkt, die
gelingende zwischenmenschliche Kommunikation und der gute Kontakt mit dem Patienten, kann nicht
beschleunigt werden. Um eine qualitativ gute Arbeit zu leisten, braucht man Zeit. Gerade hier sind
Führungskräfte gefragt, die in der Lage sind, ihre Mitarbeiter zu motivieren und respektvoll mit ihnen zu
kommunizieren. Andernfalls gehen diese Häuser kaputt, weil die Arbeitnehmer verbraucht werden und
keine qualitativ hochwertigen Dienstleistungen erbracht werden können.
Abgesehen von den erschwerten Arbeitsbedingungen im Gesundheitssektor, worin sehen Sie
die Ursachen für einen hohen Krankenstand in Unternehmen?
Dr. Westermayer: Grundsätzlich gilt, wo Gefährdungen stärker wahrgenommen werden als Potentiale,
dort tritt ein hoher Krankenstand auf. Die Ursache für die stärkere Wahrnehmung von Gefährdungen liegt
bei den Führungskräften. Zu 80 Prozent werden Potentiale durch Führungskräfte transportiert. Die
Größen Identifikation, Anerkennung, Entscheidungsspielraum und Arbeitsklima müssen von den
Vorgesetzen kommunikativ zur Verfügung gestellt werden. Wenn dies nicht passiert, nehmen die
Vorgesetzten den Mitarbeitern die Möglichkeit, sich vor Gefährdungen zu schützen. Andererseits können
gute Führungskräfte stark ausgeprägte Gefährdungen kompensieren.
Beispielsweise haben wir in einer Gebäudereinigungsfirma eine Mitarbeiterbefragung durchgeführt. Die
Mitarbeiter dort erhielten sehr geringe Löhne. Auf die Frage, warum sie dort arbeiten, haben sie
geantwortet, dass es keinen rationalen Grund gebe. Sie würden nicht für Geld, sondern für Potentiale
arbeiten. Wenn Menschen keinen Job haben, bekommen Sie keine Identifikation, keine Anerkennung,
kein Arbeitsklima, keine Information und Beteiligung, keinen Entscheidungsspielraum und kein Lernen bei
der Arbeit. All dies sind aber überlebenswichtige Motivatoren. Denn Menschen, die ihren Job verlieren
haben einen doppelt so hohen Krankenstand, weil ihnen diese Möglichkeiten fehlen. Rund 30 Prozent der
Arbeitnehmer entwickeln im ersten Jahr der Arbeitslosigkeit eine klinische Depression. Im zweiten Jahr
sind es schon 38 Prozent. Wenn man Menschen ihre Potentiale wegnimmt, ist das so etwas wie schwere
Körperverletzung.
Welche Techniken haben Mitarbeiter entwickelt, die trotz der objektiv gefährdenden
Arbeitsbedingungen motiviert und gesund blieben?
Dr. Westermayer: Wir haben in drei Unternehmen Gesundheitszirkel durchgeführt, bei denen nur
Mitarbeiter eingeladen wurden, die in den letzten vier Jahren nicht krank waren. Als Gemeinsamkeiten
haben wir festgestellt, dass alle Arbeitnehmer Sport getrieben haben und alle eine Technik der
Arbeitsorganisation entwickelt hatten mit der sie ihre Wahrnehmung der Überlastung steuern konnten.
Wenn jemand beispielsweise unerledigte Akten auf seinem Schreibtisch liegen hat, kann das
demotivierend wirken. Wenn aber ein anderer Mitarbeiter die Akten im Schrank aufbewahrt, kann er
seine Wahrnehmung gezielt steuern. Eine unmittelbare Stresssituation reagiert auf das, was wir
wahrnehmen und nicht auf das, was ist. Stressmanagementtechniken sind letztlich nur Steuerung der
Wahrnehmung. Sport ist deswegen so gut, weil die Wahrnehmung weg von Stress auf eine rein
körperliche Befindlichkeit gelenkt wird.