Die DDR seit 1971 als Nationalstaat

Die DDR seit 1971 als Nationalstaat
von Rolf-Ulrich Kunze
I. Nationalstaat DDR?
In einer ursprünglich 1961 erschienenen, 1992 von Hans-Ulrich Wehler neu
herausgegebenen kleinen Schrift hat sich Theodor Schieder mit dem Deutschen Kaiserreich von 1871 als Nationalstaat beschäftigt.1 Schieder ging es
in seinem Essay um die Frage, welchen Charakter der preußisch-deutsche
Nationalstaat hatte und wie die Art seiner Gründung auf die politische Kultur
des Deutschen Kaiserreichs wirkte. Noch lange vor dem Siegeszug der soziologisch geprägten Terminologie der Modernisierungstheorie - für deren Beheimatung in der neuesten Geschichte dann sein Schüler Hans-Ulrich Wehler
an prominenter Stelle verantwortlich zeichnen sollte2 - stellte Schieder damit
Fragen zu den Integrationsmechanismen von Nationalstaatsgründungen am
Beispiel der von 1871, welche die Nationalismusforschung seither beschäftigen und die, wie Wehler in seiner Einleitung von 1992 betont, durchaus noch
nicht alle befriedigend beantwortet sind.3 Schieder registrierte sehr genau die
Grenzen der nationalstaatlichen Identifikationsbereitschaft zahlreicher gesellschaftlich-politischer Großgruppen wie unter anderem der Sozialdemokraten und der Katholiken, deren Zugehörigkeit zur Reichsnation lange
grundsätzlich in Frage gestellt wurde. Er untersuchte nationale Symbole und
Repräsentationsformen des Nationalen sowie die Nationalisierung der Kultur
und Wissenschaft4; damit nahm er Perspektiven des konstruktivistischen
1
Theodor SCHIEDER, Das Deutsche Kaiserreich von 1 8 7 1 als Nationalstaat, hg. und eingeleitet von Hans-Ulrich Wehler, 2. Aufl., Göttingen 1992 (zuerst 1961).
2
Vgl. u. a. Hans-Ulrich WEHLER, Historisches Denken am Ende des 20. Jahrhunderts,
1945-2000, Göttingen 2001, S. 41-60.
3
Hans-Ulrich WEHLER, Einleitung, in: SCHIEDER, Das Deutsche Kaiserreich von 1 8 7 1 (wie
Anm. 1), S. 5-11, hier S. 11.
4
Vgl. dazu vor allem Wolfgang HARDTWIG, Geschichtskultur und Wissenschaft, München
1990.
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Kulturalismus vorweg.5 Vor allem schuf er über zwanzig Jahre vor der konstruktivistischen Wende in der Geschichtswissenschaft ein Bewußtsein für
die in nationaler Hinsicht identitätsstiftende bzw. Identitäten,erfindende' Bedeutung von Kultur-, insbesondere auch der Wissenschafts- und Universitätspolitik.6
Schieders Aufmerksamkeit galt den Defiziten und Konstruktionsfehlern
des im Hinblick auf die politische Partizipation unvollendeten', autoritär
verformten Nationalstaats von 1871. - Bei der DDR stellt sich demgegenüber die Frage, ob sie überhaupt ein Nationalstaat war. In der Selbstbeschreibung machte die herrschende SED-Kaderkaste von dem Begriff aus ideologischen Gründen keinen Gebrauch - sprach aber sehr wohl ostentativ von der
DDR als sozialistischer deutscher Nation'. Im offiziellen politisch-administrativ-diplomatischen Sprachgebrauch der Bundesrepublik mußte aufgrund
ihres Selbstverständnisses als Rechtsnachfolger des Deutschen Reichs und
des Wiedervereinigungsgebots der DDR jedweder Zug eines Nationalstaats
kategorisch abgesprochen werden. Unabhängig davon, daß diese Betrachtungsweise mit zunehmender Gewöhnung an die deutsche Teilung sicherlich
nicht mehr den Mainstream der öffentlichen Meinung der Westdeutschen
beim Blick auf den anderen deutschen Staat spiegelte7, läßt sich sehr schnell
zeigen, daß in der DDR selbst seit dem VIII. Parteitag der SED 1971 verschärfte Bemühungen um eine Art der soziopolitischen Integration einsetzten, die man mit den Kategorien der Nationalismusforschung recht eindeutig
als nationbuilding beschreiben kann.8 Die SED versuchte damit, wie schon
zeitgenössische politikwissenschaftliche Analysen aus der Bundesrepublik
diagnostizierten, ein neues, historisch abgestütztes Selbstverständnis der
DDR-Gesellschaft zu etablieren und die Systemakzeptanz unter dem Schutz
der ,Mauer' zu erhöhen.9 Letztlich war auch diese eher defensive Reaktion
der Reorganisation von Herrschafitsressourcen auf das immer weniger propa5
Eine wahrhaft globale Übersicht jetzt bei Imanuel GEISS, Nation und Nationalismen. Versuche über ein Weltproblem, 1962-2007, Bremen 2007; vgl. auch Stefan BERGER, Narrating the
Nation: Die Macht der Vergangenheit, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 1-2/2008, S. 7-13.
6
SCHIEDER, Das Deutsche Kaiserreich von 1871 (wie Anm. 1), S . 64-80; zur Gründung der
Universität Straßburg ebd., S. 74-78.
7
Vgl. Peter ALTER, Nationalbewußtsein, in: Werner Weidenfeld, Karl-Rudolf Körte (Hg.),
Handwörterbuch zur deutschen Einheit, Bonn 1991, S. 486-493.
8
Zum Hintergrund bereits Ende der 1980er Jahre Hermann WEBER, Die DDR 1945-1986,
München 1988, S. 154.
9
Vgl. Kurt SONTHEIMER, Wilhelm BLEEK, Die DDR. Politik, Wirtschaft, Gesellschaft,
Hamburg 1972, S. 66-74.
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gandistisch zu leugnende Unterliegen im ,Kampf der Systeme' nur eine andere Form von mobilisierender ,Durchherrschung' und alles andere als eine
liberale Wende unter dem neuen Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker.10
War die DDR seit 1971 also auf dem Weg dahin, ein deutscher - sozialistischer - Nationalstaat zu werden? Der folgende Beitrag möchte einige der
kritischen Fragen zu den Konstruktionsmechanismen des Nationalen, die
Theodor Schieder Anfang der 1960er Jahre an das Deutsche Kaiserreich von
1871 gestellt hat, an die Entwicklung in der DDR seit 1971 stellen. Weder
lassen sich alle Kategorien Schieders auf diesen Gegenstand anwenden, noch
soll durch das Aufgreifen einiger seiner Perspektiven zum Beispiel zur Bedeutung der nationalkulturellen Repräsentation eine bestenfalls in politikwissenschaftlichen Typologien, nicht in der historischen Betrachtung mögliche
Gleichsetzung des Kaiserreichs mit der DDR impliziert werden. Sie wäre
komplett ahistorisch. Die erkenntnisleitende These, daß sich die DDR seit
Beginn der 1970er Jahre in einem - letztlich scheiternden - Nationsbildungsprozeß befand, mag letztlich auch dazu beitragen, einige Probleme des Vereinigungsprozesses wie das der ,Ostalgie' nach 1990 in anderem Licht zu sehen. Die charakteristisch westdeutsche Indifferenz gegenüber allen
.nationalen', zum Teil preußisch-deutschen Zügen im Charakter der DDR also gegenüber praktisch allen Komponenten, aus denen die,Erzählung' vom
.sozialistischen deutschen Vaterland' bestand, gehört zu den Erblasten des
Wiedervereinigungsprozesses, ganz unabhängig davon, wie man die von der
SED forcierten Bemühungen um eine ,nationale' Integration der DDR-Gesellschaft seit dem VIII. Parteitag bewertet. - Im folgenden sollen in einem
dekonstruktivistisch-metanarrativen Ansatz zunächst die ideologischen
,Spielregeln' der SED für ihre .Erfindung' der Nation DDR vorgestellt werden. Dies ist nicht nur mit Blick auf die Herrschaftsverhältnisse in der SEDDiktatur notwendig, sondern hilft auch, den ideologischen cultural code des
OOR-nationbuilding besser zu verstehen. Im Anschluß wird ein Beispiel für
eine erkennbare Nationalisierung des DDR-Lebensalltags vorgestellt, der
.Palast der Republik'. Zweifellos: Vieles wäre in diesem Zusammenhang
mentalitätsgeschichtlich zu untersuchen: von der Selbstdarstellung von OstBerlin als .Hauptstadt der DDR' bis zur .Nationalisierung der Provinz' 11 im
Foto, vom Geschichtsbild im Schulunterricht bis zum esprit de corps in der
10
Dazu im Überblick Beate IHME-TUCHEL, Die DDR, Darmstadt 2002, S. 62-73.
Grundlegend Alon CONFINO, The nation as a local metaphor. Württemberg, Imperial Germany, and national memory, 1871-1918, Chapel Hill, London 1997.
11
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Nationalen Volksarmee, von dem bescheidenen Eisenbahntourismus mit der
Deutschen Reichsbahn bis zur Panoramisierung mitteldeutscher Landschaften im Blick durch,Trabant'-Windschutzscheiben. All dies ist in diesem Rahmen nicht möglich. Hier soll es vielmehr darum gehen, exemplarisch fur die
Relevanz des Nationalisierungsparagidmas in der DDR-Geschichte zu sensibilisieren, um zu zeigen, daß und wie die DDR sich bis in den Alltag hinein
seit 1971 als sozialistische deutsche Nation präsentierte. Im Hintergrund
steht Benedict Andersons mittlerweile etabliertes Ensemble von Prüfsteinen
der Nationalisierung. 12
Jede national(ismus)geschichtliche, jede historische Argumentation kann
mißverstanden werden; daher sei hier noch einmal ausdrücklich betont: zur
Erklärung beitragen zu wollen, heißt nicht zu entschuldigen. Auch das nationbuilding nach 1971 war eine Herrschaftsstrategie der SED-Diktatur, die
ohne den Hintergrund des stets vorhandenen Repressionsapparats nicht
verständlich ist. Dieselbe DDR, die sich als sozialistische deutsche Nation'
präsentierte und mit Propaganda, Drohung und Lockung an die Identifikationsbereitschaft ihrer Bürger appellierte, zerstörte Lebensläufe und schreckte
vor keiner Außerkraftsetzung elementarer Menschenrechte zurück. Eine
,Nation' wollte die SED aus,ihrer' DDR von einem bestimmten Zeitpunkt an
machen - ein Unrechtsstaat war und blieb sie auf jeden Fall.
12
Benedict ANDERSON, Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts,
Berlin 1998 (zuerst engl. 1983); dazu Rolf-Ulrich KUNZE, Nation und Nationalismus, Darmstadt
2005, S. 74-81.
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II. Ideologische Erzählregeln für die sozialistische Nation. Die
Position der marxistisch-leninistischen Lehre und der SED
„Die sozialistische Nation ist eine von antagonistischen Widersprüchen freie, stabile Gemeinschaft freundschaftlich verbundener Klassen und Schichten, die von der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei geführt wird. Sie umfaßt das Volk der
Deutschen Demokratischen Republik und ist gekennzeichnet durch den souveränen sozialistischen Staat auf deren Territorium. Ihre ökonomische Grundlage ist die sich auf
dem gesellschaftlichen Eigentum an den Produktionsmitteln entfaltende sozialistische
Volkswirtschaft. Der Marxismus-Leninismus ist die herrschende Ideologie."
Programm der SED, 197613
In seiner berühmten Definition der Nation als „Plebiszit, das sich jeden Tag
wiederholt"14 aus dem Jahr 1882 hat Ernest Renan den Aspekt der freiwilligen, sich stets erneuernden und auf Erneuerung angewiesenen Erinnerungsgemeinschaft stark betont. In seinem Verständnis braucht jede Nation die
Arbeit an einer gemeinsamen Geschichte, die Identität und Einvernehmen
stiftet - im Erinnern wie im Vergessen, wie Renan betont.15 Nun scheint der
voluntaristische Zug der Nation für die Verhältnisse einer Diktatur zunächst
überhaupt nicht zu passen. Diktaturen gründen sich letztlich auf Repression
bzw. die Fähigkeit zu deren Ausübung, wie jeder tatsächliche und potentielle
Regimegegner schnell erfahren kann.16 Dennoch ist - wie vor allem die Forschung zur nationalsozialistischen Gesellschaft gezeigt hat17 - auch für eine
Diktatur der Faktor der Akzeptanz keineswegs ohne Bedeutung. Da Diktaturen und insbesondere ,Weltanschauungs'-Herrschaften partizipative Formen
soziopolitischer Interaktion und Integration sowie des Krisen- und Konfliktmanagements beschränken oder unterbinden (müssen), sind sie auf andere
13
Programm der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Berlin (Ost) 1976, S. 77 f.
Ernest RENAN, Que'est-ce que c'est une nation? Paris 1882; ND Paris [u. a.] 1993; dt. Was
ist eine Nation? Und andere politische Schriften, Wien 1995, S. 41-58, 57; dazu KUNZE, Nation
und Nationalismus (wie Anm. 12), S. 10-13.
15
RENAN, Was ist eine Nation? (wie Anm. 14), S. 45.
16
Vgl. Karl Wilhelm FRICKE, Opposition und Widerstand in der DDR. Ein politischer Report,
Köln 1984.
17
Vgl. unter anderem Wolfgang BENZ, Herrschaft und Gesellschaft. Die Inszenierung der
Ekstase (1988), in: Wolfgang BENZ, Herrschaft und Gesellschaft im nationalsozialistischen Staat.
Studien zur Struktur- und Mentalitätsgeschichte, Frankfurt am Main 1990, S. 9-28; Ian KERSHAW,
Der Hitler-Mythos. Führerkult und Volksmeinung, Stuttgart 1999 (zuerst Oxford 1987), zu Aspekten der Akzeptanz der DDR-Herrschaft vgl. unter anderem Stefan WOLLE, Die heile Welt der Diktatur: Alltag und Herrschaft in der DDR 1971-1989, Berlin 1998.
14
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Mechanismen der Akzeptanzerzeugung angewiesen. Eine davon ist der offizielle Nationalismus von oben. In der Aneignung des historischen Raums
durch die konsequente Projektion der ideologischen Unterscheidung von
,Us and Them', von Gut und Böse, kann dieser offizielle Nationalismus
systemstabilisierend wirken und von Systemdefiziten ablenken. Dennoch,
oder vielleicht: gerade deshalb kann diese Herrschaftsstrategie durchaus auch
bei bestimmten Gruppen ein bestimmtes Wir-Gefuhl erzeugen. 18 Auch in der
DDR praktizierte die SED zum Zweck des nationbuilding eine entschlossene
Erfindung der Nation und griff dabei nach der Geschichte. 19 Der inhärente
Geschichtsbezug der Herrschaftsideologie, des Marxismus-Leninismus, legte
das sogar nahe.20 Allerdings versteht sich dieser Geschichtsbezug nicht von
selbst, sondern lediglich im Rückgriff auf die Herrschaftsideologie in der
Interpretation der herrschenden Kader.
In der SED-Diktatur entschied die Akzentuierung des Selbstverständnisses der Herrschaftselite und ihres Apparats zu jedem Zeitpunkt über die offizielle Version der Geschichte. Auf dem IX. Parteitag der SED im Mai 1976
erklärte sich die SED selbstbewußt zum Fortschrittsziel der deutschen Geschichte: „Sie [die SED, d. Verf.] ist die Erbin alles Progressiven in der Geschichte des deutschen Volkes."21 So historisch legitimiert, sah sich die Partei
als „bewußte [n] und organisierte [n] Vortrupp der Arbeiterklasse und des
18
Vgl. zum Beispiel die Außenperspektiven von 1964 und 1981: Marion GRÄFIN
DÖNHOFF, Rudolf Walter LEONHARDT, Theo SOMMER, Reise in ein fernes Land. Bericht über Kultur, Wirtschaft und Politik in der DDR, Hamburg 1964; Timothy Garton ASH, „Und willst du
nicht mein Bruder sein ...". Die DDR heute, Hamburg 1981. Ash griff in seinem Reisebericht
die von der Gräfin Dönhoff, Leonhardt und Theo Sommer Anfang der 1960er Jahre formulierte
These von der DDR als ,rotem Preußen' auf; retrospektiv zu Aspekten der DDR-Selbstwahrnehmung unter anderem Christoph DIECKMANN, Time is on my side. Ein deutsches Heimatbuch,
Berlin 1995; Wolfgang ENGLER, Die Ostdeutschen. Kunde von einem verlorenen Land, Berlin
1999.
19
Vgl. DDR-Handbuch, hg. vom Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen,
2. Aufl., Köln 1979, S. 753 f., sub voce ,Nationale Geschichtsbetrachtung'; Peter J. LAPP, Traditionspflege in der DDR, Berlin 1988 (unter anderem zu den Themen ,Bauernkrieg', ,1848' und
.Preußen'); Hans-Peter HARSTICK, Marxistisches Geschichtsbild und nationale Tradition, Hannover
1988; Georgi VERBEECK, Kontinuität und Wandel im DDR-Geschichtsbild, in: Aus Politik und
Zeitgeschichte Β 11 1990, S. 30-42; Otto DANN, Nation und Nationalismus in Deutschland,
1770-1990, München 1993, S. 320 f.; Bundeszentrale fur politische Bildung (Hg.), Der Wandel
des Preußenbildes in den DDR-Medien, Bonn 1996.
20
Vgl. Philosophisches Wörterbuch, Bd. 2, hg. von Georg Klaus, Manfred Buhr, Leipzig
1975, S. 833-839, sub voce .Nation'.
21
IX. Parteitag der SED, Berlin (Ost), 18. bis 22. Mai 1976. Programm der Sozialistischen
Einheitspartei Deutschlands, Berlin (Ost) 1976, S. 5.
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werktätigen Volkes"22 im sozialistischen Vaterland' DDR. Teleologische Postulate von dieser Dimension sind - abgesehen von ihrem sehr konkreten
Charakter als Herrschaftsakt - jedoch abstrakt und allgemein. Sie legen fest,
welches grobe Thema eine zu erzählende Geschichte hat - die Sinnerfüllung
deutscher Geschichte und des Fortschritts' in der SED als der gestaltenden
Kraft der DDR - und wer autorisiert ist, sie zu erzählen - allein die SED.
Daher können sie fur das nationbuilding lediglich einen Rahmen bzw. eine
- je nach Herrschaftsrelevanz mehr oder weniger verbindliche - Art von
Mentalitätsthema abgeben. Entscheidend ist vielmehr die gelingende Übersetzung in eine eigene Erzählung vom sozialistischen Vaterland' DDR.23 Für
die Geschichte der SED ließ sich die Geschichte der DDR in einigen Sätzen
zusammenfassen, die vor allem den Herrschaftsanspruch der Diktatur des
Proletariats herausstellten - für die Erfindung der DDR als historisch legitimem Nationalstaat im Kontext der deutschen Geschichte reichten diese Formeln nicht:
„Der welthistorische Sieg der Sowjetunion über den Hitlerfaschismus öffnete den Weg
dafür, daß unter Führung der SED die Arbeiterklasse im Bündnis mit den anderen Werktätigen in der Deutschen Demokratischen Republik eine grundlegende Wende in der
Geschichte des deutschen Volkes, die Wende zum Sozialismus, vollziehen konnte. (...)
In Gestalt der Deutschen Demokratischen Republik errichtete und festigte die Arbeiterklasse im Bündnis mit der werktätigen Bauernschaft und anderen Schichten ihre politische Herrschaft, schuf sie den sozialistischen Staat der Arbeiter und Bauern als eine
Form der Diktatur des Proletariats, die die Interessen des ganzen Volkes vertritt und
verwirklicht. Unter Führung der SED legten die Arbeiterklasse und die anderen Werktätigen die Grundlagen zum Sozialismus, führten die sozialistischen Produktionsverhältnisse zum Siege und nahmen die Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft in Angriff. Die sozialistischen Macht- und Eigentumsverhältnisse sind das
Fundament daftir, daß in unserem Lande das werktätige Volk erstmals Herr seiner Geschichte geworden ist. Auf diesem Fundament wird das große humanistische Ziel, für
das die revolutionäre Arbeiterbewegung die Kommunisten von Anfang an kämpften eine Welt des Friedens, der Arbeit, der Freiheit, der Gleichheit und Brüderlichkeit
verwirklicht."24
22
Ebd. (wie Anm. 21).
Vgl. Hyacinthe ONDOA, Literatur und politische Imagination: zur Konstruktion der ostdeutschen Identität in der DDR-Erzählliteratur vor und nach der Wende, Leipzig 2005.
24
AUTORENKOLLEKTIV, Geschichte der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. Abriß,
Berlin (Ost) 1978, S. 6 f.
23
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Die Erzählung von der sozialistischen Nation' in der DDR hat also, folgt
man ihrer zirkelschlüssigen Logik der self fulfilling prophecy, immer zwei
Erzählebenen: die der ,ehernen' Gesetze des dialektischen und historischen
Materialismus als der wissenschaftlichen Geschichtsauffassung' des Marxismus-Leninismus und die der Realgeschichte des DDR-Sozialismus, welche
die ,Gesetze' zur Anschauung bringt und dadurch die Führung der SED bekräftigt:
„Diese höchst anspruchsvollen, historisch bedeutsamen Aufgaben sind nur unter Führung einer marxistisch-leninistischen Partei der Arbeiterklasse zu bewältigen, die sich
jederzeit von der wissenschaftlichen Einsicht in die Entwicklungsgesetze der Gesellschaft leiten läßt, sie auf die konkreten Bedingungen ihres Handelns anwendet, sich
immer fester mit der Arbeiterklasse und allen anderen Werktätigen verbindet und deren
Interessen und Bedürfnisse zum Hauptinhalt ihrer gesamten Politik und Tätigkeit
macht."25
So wie die Geschichte im Marx'schen Sinn die Geschichte von Klassenkämpfen ist, so ist auch die herrschaftsideologische Aneignung der
Geschichte ,Kampf: „Kämpfer werden dafür gebraucht, die die Ideen des
Marxismus-Leninismus und die Erfahrungen der revolutionären Arbeiterbewegung in sich aufgenommen haben, die Zusammenhänge ihres gesellschaftlichen Tuns überschauen und die progressiven Traditionen der Kämpfe
vergangener Generationen bewußt in die sozialistische Gegenwart und
kommunistische Zukunft tragen."26 Ihr Thema ist das des revolutionären Zusammenhangs:
„Die siegreiche sozialistische Revolution in der Deutschen Demokratischen Republik
stand im untrennbaren Zusammenhang mit dem revolutionären Weltprozeß. Sie war Bestandteil der Herausbildung des sozialistischen Weltsystems und unmittelbar verflochten
mit der Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft in der Sowjetunion, den
sozialistischen Revolutionen in anderen Ländern, dem Klassenkampf zwischen Sozialismus und dem Imperialismus in der Welt."27
Die nationalstaatliche Identität der DDR als sozialistisches Vaterland' war
also somit zunächst ein klassisches Problem des partei-offiziellen Lehrbuchs
.Dialektischer und historischer Materialismus'.28 Dieses Problem ist nicht zu
25
Ebd. (wieAnm. 24), S. 7.
Ebd. (wie Anm. 24).
27
Ebd. (wieAnm. 24).
28
Dialektischer und historischer Materialismus. Lehrbuch für das marxistisch-leninistische
Grundlagenstudium, hg. von Frank Fiedler [u.a.], Berlin (Ost) 1987.
26
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unterschätzen, denn der programmatische proletarische Internationalismus
gehört in Abgrenzung vom,bürgerlichen Nationalismus' zu den Hauptmerkmalen kommunistischer ideologischer Identität. Bereits Lenin beschäftigte
sich 1913 in seiner Schrift ,Kritische Bemerkungen zur nationalen Frage'
intensiv mit dieser Frage.29 Die dogmatische Aufgabe bestand nun darin,
argumentativ eine vom bürgerlichen Nationalismus verschiedene, spezifisch
sozialistische nationale Identitätskonstruktion zu ermöglichen. Argumentationspraktisch lief das auf eine Schwarz-Weiß-Unterscheidung zwischen
.schlechtem' bürgerlichem und ,gutem' sozialistischem Nationalismus hinaus, wobei die SED-Ideologen streng darauf achteten, bereits den Begriff
Nationalismus' stigmatisierend allein für alle nicht-,fortschrittlichen' und
sozialistischen Formen nationaler Identität zu gebrauchen.30 Auch der Begriff
Nationalstaat' war für die bürgerlich-kapitalistischen Epochen reserviert; die
DDR mußte im Gegensatz dazu als sozialistische Nation profiliert werden.
Zur Wahrung der Kohärenz des marxistisch-leninistischen Geschichtsbilds
waren die ideologischen Erzählregeln in der Besetzung der Begrifflichkeit
besonders streng, wenn es um das Begriffsfeld Nation, Nationalstaat, Nationalismus ging: ,,Nationale[s] Bewußtsein" definiert das Lehrwerk des dialektischen und historischen Materialismus als „das Bewußtsein, eine Nation zu
bilden, das zu einer aktiven Kraft im Entwicklungsprozeß der Nationen wird.
Nationales Selbstbewußtsein hat immer Klassencharakter."31 Der Nationalstaat ist daher als bürgerlicher Nationalstaat' zu kennzeichnen: „Im Ergebnis
jener Klassenkämpfe, die in der bürgerlichen Revolution ihren Höhepunkt
erreichten, entstand der bürgerliche Nationalstaat."32 Er ist die äußere Form
der kapitalistischen Nation: „Der Klassencharakter der kapitalistischen Nation ist durch den unversöhnlich feindlichen, sich insbesondere im Imperialismus verschärfenden Gegensatz zwischen Proletariat und Bourgeoisie,
durch die ökonomische, politische und ideologische Herrschaft der Bourgeoisie über die Nation geprägt."33 Klassenfragen sind die entscheidenden
Geschichtsfaktoren, nicht nationale Fragen. Der Klassencharakter der Nation
schließt auch ihre konstruktivistisch-voluntaristische Erklärung als vorgestellte Gemeinschaft bzw. als ,Erfindung' aus:
29
Wladimir I. LENIN, Kritische Bemerkungen zur nationalen Frage, Berlin (Ost) [u. a.] 1980
(zuerst 1913).
30
31
32
33
Vgl. Philosophisches Wörterbuch, Bd. 2, S. 839, (wie Anm. 20), sub voce ^Nationalismus'.
Dialektischer und historischer Materialismus (wie Anm. 28), S. 363.
Ebd. (wie Anm. 28).
Ebd. (wie Anm. 28).
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„Den verschiedenen bürgerlichen Theorien von der Nation ist ungeachtet ihrer Unterschiede im einzelnen gemeinsam, daß sie von idealistischen Positionen ausgehen. Sie
leugnen die bestimmenden materiellen Entstehungsursachen und Existenzgrundlagen
der kapitalistischen Nation, insbesondere die durch die kapitalistische Produktionsweise
bedingte Gemeinsamkeit des Wirtschaftslebens. Zudem geben sie die kapitalistische
Nation als außergeschichtliche, unveränderliche Erscheinung aus."34
Ganz konsequent ist die dogmatische Ablehnung des konstruktivistischen
Nationsverständnisses zumindest dann nicht, wenn es um die dekonstruktivistische Kritik des bürgerlichen Nationalismus geht. Schon die eben zitierte,
durchaus zutreffende Anmerkung zu der Eigenart nationalistischen Denkens,
die Nation fur ,ewig' zu erklären, belegt ein bemerkenswertes dekonstruktivistisches Potential des marxistisch-leninistischen Nationsbegriffs. Dieses verstärkt sich noch bei der marxistisch-leninistischen Beschreibung und
Kritik der ,Volksgemeinschafts'-Ideologie 35 , auch wenn man die monokausale Argumentation mit der Verschleierung der Klassengegensätze' ablehnt:
„Die idealistisch-psychologisierenden Auffassungen von der Nation haben den Zweck,
durch die Propagierung eines, einheitlichen nationalen Willens' usw. über den objektiven Gegensatz der Klasseninteressen, der seinen Ausdruck in gegensätzlichen Ideologien findet, hinwegzutäuschen, das Bewußtsein der Arbeiterklasse durch nationalistische Losungen zu ersetzen, die Illusion vom Klassenfrieden innerhalb der
kapitalistischen Nation zu nähren und zugleich Barrieren zwischen den Arbeitern verschiedener Nationen zu errichten, nationale Feindschaft zwischen ihnen zu schüren. Auf
diese Weise hoffen die bürgerlichen Ideologen, die Arbeiterklasse und die anderen
Werktätigen vom revolutionären Kampf gegen die Bourgeoisie abzulenken."36
Die Problemlösung der marxistisch-leninistischen Dogmatik zur nationalen
Frage liegt systemkonform darin zu fragen, wer nationale Identität entwickelt:
„Der nationale Wille spielt in der Geschichte der Nationen eine Rolle, zum Beispiel der
Wille zur nationalen Selbstbestimmung. Dabei kommt es stets darauf an, welche Klasse
Träger dieses Willens ist, welche Klasseninteressen sich in ihm ausdrücken und wie sie
sich zu den Erfordernissen der Höherentwicklung der Nation verhalten. Wie groß die
34
Ebd. (wieAnm. 28), S. 365.
Vgl. Hans-Ulrich THAMER, Nation als Volksgemeinschaft. Völkische Vorstellungen, Nationalsozialismus und Gemeinschaftideologie, in: Jörg-Dieter Gauger, Klaus Weigelt (Hg.), Soziales
Denken in Deutschland zwischen Tradition und Innovation, Bonn 1990, S. 112-127.
36
Dialektischer und historischer Materialismus (wie Anm. 28), S. 365.
35
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Bedeutung ideeller Faktoren im Leben der Nationen auch sein mag, sie müssen aus den
materiellen Existenzbedingungen der Nation, in letzter Instanz aus ihrer ökonomischen
Entwicklung und aus den grundlegenden materiellen Interessen der Klassen erklärt
werden."57
Bürgerlicher Nationalismus erzeuge und konsolidiere demzufolge den bürgerlichen Nationalstaat. „Der Nationalstaat schafft günstige Bedingungen für
die Entwicklung des Kapitalismus, ist daher das fur die kapitalistische Periode Typische, Normale."38 In der Zuspitzung der Klassengegensätze zum Imperialismus könne dann der Befreiungsnationalismus seine historische Rolle
spielen, begrifflich verbucht als,antiimperialistische nationale Befreiungsbewegung'. Ihr Nationalismus sei im marxistisch-leninistischen Sinn wünschenswert39, historisch folgerichtig und biete zudem seit 1917 die Möglichkeit eines revolutionären Brückenschlags zum,Mutterland aller Werktätigen'
und Mutterland der Revolution:
„Gestützt auf die Macht der Sowjetunion, des gesamten sozialistischen Weltsystems und
die Solidarität der internationalen Arbeiterklasse in den entwickelten kapitalistischen
Ländern führte die nationale Befreiungsbewegung zum Zusammenbruch des imperialistischen Kolonialsystems. Für die befreiten Länder erwächst damit die Möglichkeit
einer schnellen nationalen Konsolidierung, vor allem dann, wenn sie den Weg der sozialistischen Entwicklung einschlagen."40
Dieser Aspekt einer unablässig betonten, den öffentlichen Raum beherrschenden nationalrevolutionären internationalistischen Solidaritätspropaganda wurde zu einem unverzichtbaren Element der nationalen' DDR-Identität41:
„In der internationalen Politik der Arbeiterklasse sind somit zwei Seiten organisch miteinander verbunden: eine innere und eine äußere. Die innere Seite internationalistischer
Politik und Pflicht besteht im Kampf um den Sturz der Bourgeoisie, fur den Sozialismus
im eigenen Lande. Ihre äußere Seite ist die Unterstützung diese Kampfes in den anderen
Ländern, die Solidarität im Kampf gegen den Klassenfeind. Im proletarischen Internationalismus bilden Nationales und Internationales, nationale und internationale Interessen der Arbeiterklasse eine unzertrennbare Einheit."42
37
Ebd. (wie Anm. 28).
Ebd. (wie Anm. 28).
3
' Vgl. DDR-Handbuch (wie Anm. 19), S. 750 f., sub voce .Nationale Demokratie (nationaldemokratische Staaten)'.
40
Dialektischer und historischer Materialismus (wie Anm. 28), S. 366.
41
DDR-Handbuch (wie Anm. 19), S. 546f., sub voce .Internationalismus, Proletarischer'.
42
Dialektischer und historischer Materialismus (wie Anm. 28), S. 368.
38
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Der Internationale der kapitalistischen Nationalisten stellte der MarxismusLeninismus die jeweils nationale Interpretation des Internationalismus gegenüber. Den jeweiligen Spielraum der nationalen Ausgestaltung bestimmte
das Verhältnis zur Sowjetunion: „Entscheidender Prüfstein für die Treue zum
proletarischen Internationalismus ist für die deutsche revolutionäre Arbeiterbewegung seit der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution die Haltung zur
Sowjetunion, die stets ihre weltgeschichtliche Rolle als Pionier des Menschheitsfortschritts erfüllte."43 Der sich an diesem Eichmaß nachjustierende
Klassenstandpunkt' erlaubt auch die konsequente Entlarvung postnationaler
Konzepte:
„Der Kosmopolitismus ist insofern die Kehrseite des Nationalismus. Die These, nationale Souveränität sei überholt, drückt die Interessen der ökonomisch stärksten imperialistischen Mächte im internationalen kapitalistischen Konkurrenzkampf, im Kampf gegen die nationale Befreiungsbewegung und vor allem auch gegen die revolutionäre
Arbeiterbewegung aus. Heute [Erscheinen dieser Ausgabe des Lehrbuchs: 1987,
d. Verf.] dienen mit der Theorie von der .Industriegesellschaft', mit der .Konvergenztheorie', mit der bürgerlich-ideologischen Behandlung der globalen Probleme der
Menschheit und ähnlichen Konzeptionen verbundene kosmopolitische Elemente insbesondere auch der ideologischen Diversion gegen die sozialistischen Länder, bezwecken
die Verschleierung des Gegensatzes zwischen den beiden Gesellschaftssystemen und die
Aufgabe prinzipieller sozialistischer politischer und ideologischer Positionen."44
In dieser ideologischen Pfadabhängigkeit erscheint dann die sozialistische
Nation als die Lösung der nationalen Frage schlechthin.45 Sie bringt Nation
und Internationalismus zur Balance. Die drei Merkmale der sozialistischen
Nation sind die politische Grundlage der bestehenden Diktatur des Proletariats (unter der Führung der Partei)46; die ökonomische Grundlage sozialistischer Produktionsweise (gelenkt durch die Partei)47 und die ideologische
Grundlage der marxistisch-leninistischen Hochideologie (interpretiert durch
die Partei).48 Auf dieser Grundlage „tritt im Sozialismus an die Stelle des
Klassenantagonismus, der das soziale Wesen der kapitalistischen Nation
43
Ebd. (wieAnm. 28), S. 369.
Ebd. (wieAnm. 28), S.371.
4!
Vgl. DDR-Handbuch (wie Anm. 19), S. 748-750, sub voce,Nation und nationale Frage'.
46
Vgl. Wissenschaftlicher Sozialismus. Lehrbuch für das marxistisch-leninistische Grundlagenstudium, hg. von Günther Großer [u.a.], Berlin (Ost) 1989.
47
Vgl. Politische Ökonomie des Kapitalismus und des Sozialismus. Lehrbuch für das
marxistisch-leninistische Grundlagenstudium, hg. von Horst Richter [u.a.], Berlin (Ost) 1989.
48
Vgl. das Lehrbuch .Dialektischer und historischer Materialismus' (wie Anm. 28), passim.
44
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Die DDR seit 1971 als Nationalstaat
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prägt, die wachsende soziale und politisch-moralische Einheit der Nation."49
Sozialistisches Nationalbewußtsein verbindet ,,sozialistische[n] Patriotismus
und proletarische[n] Internationalismus organisch".50
Wie ließ sich nun die Realgeschichte der DDR gemäß dieser Erzählregeln
und verbindlichen Sprachspiele ideologisch korrekt darstellen? Das alles bestimmende Leitmotiv ihrer Erzählung als sozialistische Nationalgeschichte
ist die immerwährende Auseinandersetzung an der deutsch-deutschen
Grenze, die zugleich Systemgrenze war. Die Geschichte der sozialistischen
Nation in der DDR ist eine Erzählung von Bedrohung und Bewährung, von
Provokation und Selbstbehauptung, von Aggression und Verteidigung. Wie
wohl fur keinen anderen Staat im sowjetischen Machtbereich war für die
DDR die Abhängigkeit nationaler Ausgestaltung des Sozialismus vom aktuellen Stand des Verhältnisses zum sozialistischen ,Bruder' UdSSR derart
spürbar. Die sozialistische deutsche Nation' im .ersten Arbeiter- und Bauernstaat auf deutschen Boden' verdankte ihre Existenz vollständig und zu
jedem Zeitpunkt der sowjetischen Real- und Interessenpolitik. Ihre Bemühungen um eine Identität als sozialistischer Nationalstaat im Rahmen eines
regimeamtlichen Nationalismus von oben seit den 1970er Jahren hatten immer auch kompensatorischen Charakter: sie kultivierten eine ,heile Welt der
Diktatur' (Stefan Wolle) gegenüber den teils unheimlichen, teils verlockenden Bedrohungen des Klassenfeindes im Westen und den aus Ost-Berliner
Sicht oft unkalkulierbaren politischen Schwenks in Moskau. Das sozialistische Vaterland DDR bot emotionale Sicherheit in einer unbequemen deutschen Mittellage zwischen Feinden und ,Brüdern', zwischen ideologisch
überwundener Vergangenheit und notorisch postulierter kommunistischer
Zukunft.
Gemäß marxistischer Geschichtsteleologie durfte sich die DDR als Produkt einer historisch ,notwendigen' Entwicklung verstehen: „Mit dem Heranreifen des weltgeschichtlichen Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus wurde auch die Ablösung der kapitalistischen deutschen Nation durch
die sozialistische deutsche Nation historisch notwendig."51 Nach dem Sieg
der Sowjetunion über den ,deutschen Faschismus', so das Lehrbuch ,Dialektischer und historischer Materialismus', habe die SED für eine antifaschistische, demokratische deutsche Republik gekämpft, aber die vom ,Weltimpe49
50
51
Dialektischer und historischer Materialismus (wie Anm. 28), S. 372.
Ebd. (wie Anm. 28).
Ebd. (wie Anm. 28), S. 373.
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Rolf-Ulrich Kunze
rialismus', „unterstützt von den rechten sozialdemokratischen Führern"52, zu
verantwortende staatliche Teilung nicht verhindern können. Mit dem NATOBeitritt der ,BRD' sei diese „zu einem Vorposten der aggressiven Politik des
Imperialismus gegen die Länder des Sozialismus (...) [geworden]. Auf diese
Weise wurde die Zerreißung Deutschlands vollendet und zugleich das Fortbestehen der historisch überlebten kapitalistischen Nation in der BRD
erzwungen."53 Trotz widriger Startbedingungen habe sich demgegenüber in
der jungen DDR die sozialistische Gesellschaft und die sozialistische Nation
entfaltet. Sie verwalte rechtmäßig das Erbe aller fortschrittlichen Seiten der
deutschen Geschichte54:
„Die sozialistische deutsche Nation setzt die progressive Traditionslinie der deutschen
Geschichte fort. Sie wurzelt im jahrhundertelangen Ringen des deutschen Volkes um
den gesellschaftlichen Fortschritt und ist vor allem das Ergebnis des langen und opferreichen Kampfes der deutschen Arbeiterklasse gegen die reaktionäre, antinationale Politik der deutschen Bourgeoisie, gegen die Ausbeutung und Unterdrückung der eigenen
und anderer Nationen durch den deutschen Imperialismus, der die deutsche Nation zweimal in imperialistische Weltkriege und damit in nationale Katastrophen trieb. Die sozialistische deutsche Nation ist die Erbin des Besten im humanistischen Schaffen vorangegangener Generationen, sie pflegt das nationale Kulturerbe und hebt es auf in der
Entwicklung sozialistischer Nationalkultur."55
Der Gegensatz zwischen ,BRD' und DDR sei als Systemgegensatz unüberbrückbar und bestenfalls durch eine Politik der friedlichen Koexistenz zu gestalten. Damit war die deutsche Frage beantwortet:
„Die These von der .einheitlichen deutschen Nation' ist neorevanchistisch und konterrevolutionär. Sie verfolgt das Ziel, die DDR in den Machtbereich des deutschen Imperialismus einzugliedern. Die theoretische Grundlage dieser Konzeption bilden idealistische Auffassungen, die den Willen, Gefühle, geistige Kultur für Faktoren ausgeben,
die primär die Nation konstituieren. In Wirklichkeit jedoch entwickelt sich die Nation
primär auf der materiellen Grundlage einer bestimmten Produktionsweise. Gerade aus
der Gegensätzlichkeit der ökonomischen Grundlagen, der Produktionsweisen, die den
Klasseninhalt der Nation bestimmen, ergibt sich letztlich die Existenz zweier sozial
gegensätzlicher Nationen in der DDR und in der BRD."56
52
Ebd. (wieAnm. 28).
Ebd. (wieAnm. 28).
54
Vgl. zur Rezeption und Wirkung der NS-Geschichte auch Jürgen Danyel (Hg.), Die geteilte Vergangenheit. Zum Umgang mit Nationalsozialismus und Widerstand in beiden deutschen Staaten, Berlin 1995.
55
Dialektischer und historischer Materialismus (wie Anm. 28), S. 375.
56
Ebd. (wieAnm. 28).
53
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Die DDR seit 1971 als Nationalstaat
413
Ein Problem ließ sich durch den recht groben - und möglicherweise gerade
deshalb in Grenzen gemeinschaftsstiftenden - Mechanismus der marxistischleninistischen Dogmatik nicht dialektisch-materialistisch zum Verschwinden
bringen: die Nichteinlösbarkeit chiliastischer Postulate. Die DDR konnte in
den verschiedensten Bereichen ,aufblühen', ihre fortschrittlichen Kräfte
konnten wieder und wieder über den stets noch sein Haupt erhebenden Klassenfeind ,siegen', sie konnten sogar den ,Brudervölkern der Sowjetunion'
schließlich in die entwickelte sozialistische' Gesellschaft nachfolgen, die
dort Platzhalterfunktion für den zukünftigen Kommunismus einnahm. Die
seit den 1970er Jahren wachsende und spürbarer werdende Kluft zwischen
der sozioökonomischen Realität im ,real existierenden Sozialismus' und den
,westlich-imperialistischen' Gesellschaften fraß unaufhaltsam den Akzeptanzsockel des sozialistischen nationbuilding auf.57 Am Ende stimmte das
sozialistische Staatsvolk der sozialistischen Nation DDR doch wieder mit
den Füßen ab58, und das „plébiscite de tous les jours " entschied gegen den
Nationalstaat DDR.
III. Ein Beispiel f ü r nationbuilding
in der DDR: Das Haus
der sozialistischen Nation: nationale Selbstinszenierung
der DDR im Berliner Palast der Republik
Wenn die DDR irgendwo authentisch national repräsentieren wollte, wofür
sie stand und wie sie sich sah, dann im Berliner Palast der Republik. 59 Hier
hatte die Erzählung von der sozialistischen Nation ihren zentralen Ort. Ein
Bildband des Dresdner Verlages ,Zeit im Bild' aus dem Jahr 1977 präsentiert
das noch junge nationale Symbol in allen seinen verbindlichen Interpretationsbezügen, und dies gleich dreisprachig: auf Deutsch, Russisch und Englisch. Der Bau war für DDR-Verhältnisse schnell fertig: Am 27. März 1973
hatte das ZK-Politbüro den Bau beschlossen, bereits am 25. April 1976
wurde das Gebäude der Öffentlichkeit übergeben. Bereits die ersten ganzsei57
Der Forschungsstand unter anderem bei IHME-TUCHEL, Die DDR (wie Anm. 10), S. 73-89.
Siehe unter anderem Rolf SCHNEIDER, Frühling im Herbst. Notizen vom Untergang der
DDR, Göttingen 1991.
59
Vgl. Stefanie FLAMM, Der Palast der Republik, in: Deutsche Erinnerungsorte
(= Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bd. 475), hg. von Etienne Francois
[u.a.], Bonn 2005, S. 402^117; Moritz HOLFELDER, Palast der Republik: Aufstieg und Fall eines
symbolischen Gebäudes, Berlin 2008.
58
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Rolf-Ulrich Kunze
tigen Bilder geben die Leitthemen vor, die der Band im folgenden variiert.
Am Anfang steht der Erste des Volkes: „Blumen und Glückwunsch für den
Generalsekretär des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei
Deutschlands, Erich Honecker, nach seiner einmütigen Wahl zum Vorsitzenden des Staatsrates der DDR im neuen Plenarsaal der Volkskammer."60 Das
Foto zeigt einen staatstragend-angespannten Honecker im Halbprofil; mit
breitrandiger Brille, dunkelbraunem Anzug, auffallig modischer, braunschwarzer Krawatte, im Arm das unvermeidliche, rot dominierte Nelkengebinde, umgeben von applaudierenden Genossen, deren Gesichter und graue
Anzüge im Hintergrund verschwimmen. Der neue Staatsratsvorsitzende
blickt den Betrachter nicht an, sondern rechts an ihm vorbei. Seine fotographische Präsenz legitimiert die Bilderschau als offizielle Selbstdarstellung
des SED-Staats und seiner führenden Partei: Er ist das Volk. Das Volk ist die
Partei. Die Partei ist er.
,Unsere Menschen', so die bezeichnend besitzangebende Floskel des
SED-offiziellen Jargons, folgen dann auf der Rückseite: Publikum im Foyer
des Palasts der Republik, so wie die gesamte sozialistische Nation auf dem
Weg, konkreter: auf der Treppe ins Innere des Gebäudes.61 Zu sehen sind
Menschen aller Altersgruppen, Familien, Pärchen, vereinzelte, aber nicht das
Bild beherrschende Uniformträger der NVA. Die Kleidung der Jüngeren ist
die dunkel-bunte Kopie der 70er-Jahres-Schrillheit, hergestellt von der VEBObertrikotagenindustrie. Die Älteren tragen kleinbürgerlich-proletarischen
Sonntags-Chic der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit Mantel, Hut und
roter Nelke im Knopfloch. Die Bewegungslinien fuhren aufwärts, dem Betrachter entgegen; sie werden nur hier und da unterbrochen durch verharrende und staunende Einzelne, die ihren Blick nach oben gerichtet haben,
teils auch andere auf etwas aufmerksam machen, was sie dort sehen. Das
Foto auf der rechten Seite zeigt, wohin diese Blicke gingen: in den erleuchteten Glaskugelhimmel unter der Decke des Foyers, versehen mit einem Firmament aus runden Glaskolben an einer transparenten Metallstabkonstruktion.62 Die Anmutung ist gewollt futuristisch-konstruktivistisch. Der Weg des
Besuchers fuhrt wenn auch nicht ,zur Sonne, zur Freiheit', aber doch ,zum
Lichte empor'. Hinter dem Eintretenden bleibt ,das dunkle Vergangne' zurück, vor und über ihm ,leuchtet die Zukunft hervor'. Das mag auch der
60
61
62
Palast der Republik [Bildband des Verlags .Zeit im Bild'], Dresden 1977, S. 9.
Ebd. (wie Anm. 60), S. 10.
Ebd. (wie Anm. 60), S. 11.
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Die DDR seit 1971 als Nationalstaat
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hochsymbolische Grund dafür gewesen sein, den Palast auf dem Coverumschlag des Bildbands bei Nacht abzubilden: zwar ist er untypischerweise
nahezu menschenleer, dafür leuchtet er aber tatsächlich und läßt das OstBerliner Zentrum mit dem Hochhaus des ,Hotels Stadt Berlin', dem Fernsehturm und Roten Rathaus dunkel erscheinen. Hier endefallerdings auch die
architektonische Symbolik. Über dem sozialistischen Glühbirnenhimmel
kam, wie die nächtliche Außenansicht zeigt, noch ein Doppelgeschoß und
über diesem - ein Flachdach.
Das folgende Genre-Foto zeigt eine klassische Solo-Tänzerin - die sowjetische Primaballerina Maja Plissezkaja - vor rotem Hintergrund. Der Palast
ist Ort der Kunst in Leichtigkeit und Eleganz, zugleich Pflegestätte des kulturellen Erbes. Partei, ,Menschen' und Kunst gehören einander. Daß diese
Kunst für das Volk ist, zeigt das gegenüberliegende Bild. Es ist ein Blick von
den Rängen des Großen Saales auf die,Massen' der Besucher anläßlich einer
Musikveranstaltung, die nicht näher erläutert wird, sondern für die vergemeinschaftete Kulturproduktion im realen Sozialismus steht: ,Volk' im Parkett und auf dem Rang,,Kunst' auf der Bühne, beide vermittelt durch viel
sichtbare ,moderne' Audiotechnik an der Decke. In seinem Haus soll das
Volk gut sehen und hören. Das Foto legt die Frage nach den technischen Dimensionen des Palastes nahe, und sie wird auch beantwortet: Am Ende des
Bandes findet sich nicht nur eine ,Chronik', die annalistisch minutiös auch
verzeichnet, daß im Juli 1974 der Montagebeginn der Lüftungskanäle, der
Heizungs- und Sanitärinstallation stattgefunden hat63, sondern auch ,Fakten
und Zahlen' bietet. Zählbarkeit war ein wesentliches Moment realsozialistischer Selbstdarstellung - auch und gerade in der DDR-Presse.64
Eine Doppelseite portraitiert die zentrale staatsparteiliche Funktion des
Palastes: „Höhepunkt im ersten Jahr des Palastes der Republik: Das Haus des
Volkes ist Tagungsstätte des IX. Parteitages der Sozialistischen Einheitspartei
Deutschlands."65 Hier steht der Mensch im Mittelpunkt, vertreten durch den
Genossen Generalsekretär, der zugleich auch das Dreigestirn von Marx, Engels und Lenin vertritt, das an der Stirnseite des Saales über ihm und der
Parteiführung schwebt. Unter den Delegierten stechen die Blauhemden der
63
Ebd. (wie Anm. 60), S. 190.
Das Politbüro hat die daraus resultierende Langweiligkeit der DDR-Printmedien bereits 1972
thematisiert; grundsätzlich änderte das am Zahlenfetischismus in der Berichterstattung allerdings
nichts; vgl. Gunter HOLZWEISSIG, Massenmedien in der DDR, Berlin 1983, S. 15-22; siehe auch
Wilfried SCHULZ, Medienpolitik, in: DDR-Handbuch (wie Anm. 19), S. 717-720.
65
Palast der Republik (wie Anm. 60), S. 14f., 15.
64
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Rolf-Ulrich Kunze
FDJ hervor und bilden einen Kontrast zu den symbolischen roten Farbfeldern, die über dem ZK von zwei Seiten den Köpfen der Kirchenväter entgegenstreben. Die motivierenden Spruchbanner der 1950er und 1960er Jahre
mit ihren Aufforderungen zu Kampf und Solidarität - „Es lebe der proletarische Internationalismus!" - sind verschwunden. Die SED-Herrschaft braucht
diese Art der Selbstreferentialität in ihrem Herrschaftszentrum nicht mehr. In
diesem Raum des Volkes ist die sozialistische Einheit Wirklichkeit geworden: in der Partei herrscht das Volk souverän über sich selbst. Die folgende
Seite zeigt diese Volkssouveränität in Form des überdimensionalen Staatswappen der DDR im Palast, illuminiert von erhellten Glaskolben, in goldenbräunlichem Licht. Dazu werden die Worte des Hausherrn aus Anlaß der festlichen Eröffnung des Palasts am 23. April 1976 zitiert:
„Der Palast der Republik fugt sich würdig ein in das Programm für die städtebauliche Neugestaltung unserer Hauptstadt mit ihrem groß angelegten Wohnungsbauprogramm. Dieses Bauwerk zeugt beeindruckend von der Leistungskraft unserer sozialistischen Gesellschaft, von unserer sozialistischen deutschen Nationalkultur, von Sinn
unserer Arbeit, die dem Wohle der Menschen dient. Mit seinen vielfaltigen Möglichkeiten trägt der Palast der Republik den immer reicher werdenden geistig-kulturellen
Bedürfnissen der Bürger der Deutschen Demokratischen Republik Rechnung."46
Dabei wurde, wie die ,Fakten und Zahlen belegen', das leibliche Wohl keineswegs vergessen.67 Das hob sich ab von der sonstigen gastronomischen
Realität in der DDR68 und war ein hauptstädtischer Akzent, der im Reiseführer
des VEB Tourist-Verlages ,Berlin - Hauptstadt der DDR A bis Ζ ' ausfuhrlich
gewürdigt wurde.69
Der Begleittext streicht die Aneignung des Palasts durch die ,Menschen'
heraus:
„Kein Zweifel, die Menschen haben sich seiner bemächtigt. Dieses Haus, erdacht und
erbaut am Maßstab der Großzügigkeit eines Volkes sich selbst gegenüber, es hätte mit all
seinen Kostbarkeiten aus Marmor, Glas und Meißner Porzellan auch leicht etwas Museales haben können, etwas von ,Bitte-nicht-berühren"-Atmosphäre in den Schlössern und
Gärten von damals. Aber vom ersten Tage an, jenem 25. April 1976, da der Palast der
Republik seine gläsernen Türen einem seither nicht abreißenden Besucherstrom öffnete,
6(1
Ebd. (wieAnm. 60), S. 17.
" Ebd. (wieAnm. 60), S. 190.
68
Vgl. Brigitte DEJA-LÖLHÖFFEL, Freizeit in der D D R , Berlin 1986, S. 107-111.
69
Klaus WEISE, Bernd DOCHOW, Berlin - Hauptstadt der DDR A bis Z, Berlin, Leipzig 1978,
S. 166-169.
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Die DDR seit 1971 als Nationalstaat
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kann man dort an sich selbst und an anderen beobachten: Das sind Besitzer, keine
Betrachter!"70
Der Palast ist zudem ein Geschenk der Partei an die sozialistische Nation:
„Es gibt in unserer Republik viele Zeugnisse dafür, wie das Wort der Partei der Arbeiterklasse zur Tat geworden ist, wie sich Wünsche in Wirklichkeit, Versprochenes in Gehaltenes wandelten. Dieser Palast der Republik ist ein für jedermann zwischen 10 und 24
Uhr im Herzen der Hauptstadt Berlin zu besichtigendes Beispiel für jene Politik der
Einheit von Wort und Tat, von Anstrengung und Nutzen. Und er ist es seiner Schönheit
und Zweckmäßigkeit wegen, er ist es vor allem aber durch die Menschen, die ihn mit
jener nur im Sozialismus herstellbaren Selbstverständlichkeit zum Haus des Volkes
machen." 7 '
Nirgendwo sonst in der DDR konnte sich die SED so volksnah fühlen wie
unter ,ihren' Menschen: „Und: Menschen! Sie sitzen in den Sesseln oder an
der kleinen geschmackvollen Rundbar im zweiten Stockwerk des Foyers.
Menschen auf dem Wege zu den von hier aus zu erreichenden drei Palastrestaurants oder zum Großen Saal, Menschen, die einander begegnen, sich
unterhalten, Musik hören, sich ausruhen. Menschen vor den 16 Gemälden
der Galerie des Palastes, hier in den zwei Etagen des Hauptfoyers."72 Ohne
Zweifel war der Palast ein integrativer Erfolg, ein Signal für DDR-Normalität und bescheidene Konsumkultur:
„In knapp neun Monaten zehn Millionen Besucher! Aber was sagt schon das Wort Besucher über die Vielfalt und Verschiedenheit der Menschen und der Interessen und Angelegenheiten, die sie in dieses Haus fuhrt. Hier wird Zukunft entworfen, Politik beschlossen, es werden Gesetze und Pläne in Kraft gesetzt, und hier werden - gleichzeitig und
unter einem Dach! - die Ergebnisse von Entwurf und Beschluß, von Gesetz und Plan
erlebbar, vollziehbar, genießbar. Hier wird bestellt und geerntet, gearbeitet und
gefeiert."73
Der Palast wurde zur Bühne für die Simulation einer funktionierenden zentralistisch-planwirtschaftlichen .Volksdemokratie', einer .entwickelten sozialistischen Gesellschaft' unter deutschen Bedingungen. Konsum- und Identifikationsangebote blieben dabei nie ohne ideologische Gebrauchsanweisung.
Das Palast-Erlebnis durfte nicht dem Zufall überlassen bleiben: „Jener weiß-
70
71
72
73
Palast der Republik (wie Anm. 60), S. 18.
Ebd. (wie Anm. 60).
Ebd. (wie Anm. 60), S. 19.
Ebd. (wie Anm. 60), S. 18.
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haarige Mann vor Willi Sittes Bild ,Die Rote Fahne - Kampf, Leid und Sieg'.
Die Versunkenheit, mit der er in dem Gemälde liest, was kann sie anderes
bedeuten, als daß er - herausgefordert durch die Kunst des Malers - sich erinnert fühlt an Stationen seines Lebens?"74 Aber nicht nur für die ruhmreiche
Vergangenheit von ,Kampf, Leid und Sieg' ist der Palast ein nationaler Ort,
sondern auch für exemplarische deutsche sozialistische Lebensläufe der Gegenwart:
„Werner Keller, der Abteilungsleiter für Saaltechnik, nahm hier seine Arbeit auf, als man
durch das Stahlkorsett des Großen Saales noch in den Himmel gucken konnte. Woher
nimmt diese Mann die Erfahrung, es mit dieser neuartigen Technik aufzunehmen? Daher: gelernter Dreher, 1958 als Unteroffizier aus den Luftstreitkräften der Nationalen
Volkarmee in Ehren ausgeschieden, bis 1961 Ingenieurstudium in Zwickau, danach Spezialisierung auf dem Gebiet der Hydraulik. Dann, ab 1966, Hauptmechaniker am Staatstheater Dresden und schließlich Technischer Direktor am Volkstheater Rostock. Ein Arbeiter, ein Genosse. Solche wie er lieben das Neue. Sie sind darauf aus, am noch nicht
Erprobten sich selbst zu erproben. Und weil es Leute gibt, wie diesen Werner Keller,
gibt es diesen Palast der Republik: durch sie und für sie."75
Vor allem der allgegenwärtige Geschichtsbezug macht klar, daß der Palast
ein repräsentativer Ort deutscher Geschichte sein wollte. Die sozialistische
Nation hob seine Vorgeschichte im dialektischen Sinn auf und ersetzte die
Lücke, welche die Zerstörung des Hohenzollern-Stadtschlosses im Stadtbild
von Berlin-Mitte gelassen hatte.76 Keineswegs bekannten sich die Programmatiker des Palastes zu diesem Abriß-Akt:
„Man blickt hinunter auf den nach Marx und Engels benannten Platz, und man denkt,
daß etwa an dieser Stelle auch preußische Könige und deutsche Kaiser dies gelegentlich
taten, als der Platz noch Schloßplatz war und sich hier, an der gleichen Stelle, das im
zweiten Weltkrieg zerstörte Stadtschloß der Hohenzollern befand. Dieser Platz hat seine
Geschichte. Am 18. März 1848 blieb dem regierenden Preußenkönig gar nichts anderes
übrig, als wenigstens einen Blick aus dem Fenster zu werfen, vor dem der Platz sich mit
Arbeitern, Handwerksgesellen und revolutionären Bürgern Berlins füllte, die mit den
Forderungen der Revolution vor das Schloß gezogen waren. Dann befahl er dem Militär
zu schießen. Das war der Beginn der Berliner Barrikadenschlacht, mit der die bürgerliche Revolution in Deutschland ihren Höhepunkt hatte. Sie hat - verraten von der Bour-
74
Ebd. (wieAnm. 60), S. 19.
Ebd. (wieAnm. 60), S. 18f.
76
Alexander HOLLAND [u.a.], Das Berliner Schloß: die Geschichte des Berliner Schlosses,
Berlin 2004; Wolfgang Ribbe (Hg.), Schloß und Schloßbezirk in der Mitte Berlins: das
Zentrum der Stadt als politischer und gesellschaftlicher Ort, Berlin 2005.
75
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Die DDR seit 1971 als Nationalstaat
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geoisie - ihr Ziel nicht erreicht. Am Morgen des 19. März 1848 aber war erzwungen,
daß der König seinen Truppen nach 16 Stunden erbitterter Straßenkämpfe den Rückzug
befehlen und er selbst hinaustreten mußte auf den Balkon seines Schlosses, um sich vor
den 230 Gefallenen dieser Märzkämpfe zu verneigen."77
Die eigentliche Geschichtscollage betraf jedoch nicht das bürgerliche*
19. Jahrhundert mit seiner gescheiterten Revolution von 1848/49, sondern
das 20. Jahrhundert, das des Aufbruchs in den Sozialismus:
„Berühmt gemacht hat diesen Balkon ein ganz anderer als jener barhäuptige Preußenkönig. Auf ihn trat, als der Sturm der Revolution des Novembers 1918 über diesen Platz
und in dieses Schloß fegte, Karl Liebknecht vor die revolutionären Arbeiter Berlins (...).
Am Schloß wehte, wo vorher die Kaiserstandarte hing, die rote Fahne. Es war nur ein
Augenblick des Sieges, dem viele Kämpfe folgten, bis die rote Fahne auf diesem Platz
fur immer aufgepflanzt werden konnte. Es gibt keinen besseren Standort für dieses Haus
des Volkes als diesen Platz der großen Kundgebungen der Berliner Arbeiterklasse in den
Jahren der Weimarer Republik78, mit Ernst Thälmann, mit Wilhelm Pieck. Hier ertönte
mit hunderttausend Stimmen am 10. Jahrestag der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution der Ruf der Berliner Arbeiter: ,Hände weg von Sowjetrußland!' Diesen Platz
überwanden im April 1945 die Stoßtruppen der Sowjetarmee im letzten Sprung auf die
letzte Bastion des deutschen Faschismus."79
Danach jedoch wurde alles gut, jedenfalls in der Sowjetischen Besatzungszone. Schon zur Maidemonstration sprach der damalige FDJ- und spätere
Staatsratsvorsitzende Honecker über die Aufgaben der Zukunft, auf die er
selbst, als Palast-Regent des Jahres 1976, zurückblicken konnte: „Der Zusammenhang zwischen jenen Worten und den Taten, die ihnen folgten, auch
jenen, durch die sich das Volk der Deutschen Demokratischen Republik diesen Palast erbaute, ist alles andere als zufällig. Wenn er ein Symbol ist, dann
dafür, wie diese geschichtliche Aufgabe gelöst wurde."80
77
Palast der Republik (wie Anm. 60), S. 21 ; vgl. dazu Preußen. Politik, Kultur, Gesellschaft,
Bd. 2, hg. von Manfred Schlenke, Reinbek 1986, S. 190-213.
78
Vgl. demgegenüber zur (sozial-)demokratischen Realität Preußens unter Otto Braun Karl
Dietrich BRACHER, Preußen und die deutsche Demokratie, in: Preußen. Politik, Kultur, Gesellschaft, Bd. 1, hg. von Manfred Schlenke, Reinbek 1986, S. 285-300; grundlegend dazu Hagen
SCHULZE, Otto Braun oder Preußens demokratische Sendung: eine Biographie, Frankfurt am
Main [u.a.] 1981.
79
Palast der Republik (wie Anm. 60), S. 22.
80
Ebd. (wie Anm. 60).
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Diese .Aufgabe' war nicht nur eine sozialistische, sondern zugleich zutiefst deutsche und nationale: „(...) ein Stück unseres Lebens in dieser, in
unserer Republik. Ein Stück nur, aber ein Prachtstück."81
IV. Die Grenzen des Nationalstaats DDR
„Der Nationalstaat war nicht nur ein Machtproblem, sondern auch eine Bewußtseinshaltung."
Theodor Schieder, 1961/199282
Anders als der von Theodor Schieder untersuchte preußisch-deutsche Nationalstaat von 1871 scheiterte die DDR nicht zuletzt auch an den Grenzen ihres
nationbuilding. Die DDR zwischen 1971 und ihrem Ende 1989/90 war nicht
nur ein defizitärer, sondern ein letztlich nicht funktionsfähiger deutscher
Nationalstaat. Anknüpfend an eine Formulierung Schieders ließe sich sagen,
daß die ,nationale' Seite der Definition der DDR immer auch ein Machtproblem der herrschenden SED-Eliten blieb, so sehr sie sich auch darum bemühte, die sozialistische und die vaterländische', die internationalistische
und die patriotische Bewußtseinshaltung miteinander zu vereinen. Als das
Staatsvolk des DDR frei über sein politisches Schicksal entscheiden wollte
und konnte, votierte es in überwältigender Deutlichkeit zuerst gegen das
SED/Stasi-Regime und dann gegen die nationale und staatliche Selbständigkeit der DDR.83 Das ist jedoch nur ein Aspekt und es wäre kontextfern, die
DDR-Geschichte allein aus dieser Perspektive zu betrachten. In bestimmten
Aspekten des DDR-Alltags ging die Nationalisierung recht weit und war teilweise erfolgreich. Es ist sicherlich unzutreffend, eine Identifikation mit dem
sozialistischen Vaterland DDR' grundsätzlich abzustreiten. Dennoch überwiegen in einer Gesamtbetrachtung die Grenzen des nationalstaatlichen Bewußtseins in der DDR.
1. Das nationbuilding in der DDR war und blieb ein Herrschafts- und Herrschaftssicherungsakt ,νοη oben'. Die partizipatorische und voluntaristische Seite national-demokratischer Selbstdefinition und Selbstfindung
81
82
83
Ebd. (wieAnm. 60).
SCHIEDER, Das Deutsche Kaiserreich von 1871 (wieAnm. 1), S. 17.
Vgl. Konrad H. JARAUSCH, Die unverhoffte Einheit, 1989-1990, Frankfurt am Main 1990.
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Die DDR seit 1971 als Nationalstaat
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fehlte in der DDR-Identität vollständig. Dafür blieb von 1961 bis 1989 die
Mauer das Symbol des Scheiterns.
2. Die nationalkulturellen Bezüge zum westdeutschen Teilstaat ließen sich
niemals vollständig durch Uminterpretation oder Selektion der gemeinsamen Traditionen kappen. Je mehr sich die DDR auf ihr deutsches, preußisches oder sogar lutherisches Erbe berief, desto mehr sah sie sich einer
Deutungskonkurrenz aus dem Westen gegenüber, die auf dieselben Traditionslinien Anspruch erhob. Diesem Wettbewerb war die geschlossene'
und ideologisch formierte DDR-Gesellschaft ohne freien öffentlichen
Meinungsmarkt nicht gewachsen. Die DDR erlangte nicht die Deutungshoheit über ,ihre' nationalen Monumente und Erinnerungsorte wie das
Friedrich-Denkmal Unter den Linden oder die Wartburg. Auch die Politik
gegenüber der sorbischen Minderheit konnte den freien nationaldemokratischen Identitätsbildungsprozeß auf der Grundlage einer .minderheitenkompetenten' DDR-Nationalkultur nicht simulieren.84
3. Der Schlüssel der deutschen Frage lag bis 1990 bis Moskau.85 Das Verhältnis zum sozialistischen Bruder' und ,Mutterland aller Werktätigen',
der UdSSR, bildete eine objektive Grenze nationaler Selbstentfaltung ,in
den Farben der DDR'. Seit 1971 nutzte die herrschende SED den hier
gegebenen Handlungsspielraum im Hinblick auf verschiedene Wege zum
Sozialismus vorsichtig selbstbewußter. Dabei hielt sie an ihrer Rolle und
an ihrem Selbstbild als exemplarisch verläßlicher, wenn auch ungleicher
militärischer und wirtschaftlicher Partner der Sowjetunion an der Systemgrenze durchaus fest: innen- wie außenpolitisch. An der realpolitischen
Einschätzung der Lage in Moskau änderte das nichts. Auch wenn die
DDR sicherlich nicht nur als Allianz von kollaborationswilligen deutschen Kommunisten mit den sowjetischen Machthabern interpretiert
werden kann, blieb sie eine Nation auf Abruf. Mit dem Erlöschen der
sowjetischen Fähigkeit zur Behauptung der Systemgrenze an der Elbe erlosch auch die DDR.
84
Vgl. dazu den großen historischen Überblick von Edmund Pech, Dietrich Scholze (Hg.),
Zwischen Zwang und Beistand: deutsche Politik gegenüber den Sorben vom Wiener Kongreß bis
zur Gegenwart (= Schriften des Sorbischen Instituts, Bd. 37), Bautzen, Dresden 2003.
85
Vgl. Wolf D. GRUNER, Die deutsche Frage in Europa, 1800 bis 1990, München, Zürich
1 9 9 3 , S. 2 6 2 - 3 4 9 ; WEBER, D i e D D R ( w i e A n m . 8), S . 151 f.
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4. Der herrschaftsideologisch-staatliche, propagandistisch bis über jede Ermüdungsgrenze beschworene Antifaschismus86, der nach dem Abschluß
der sozioökonomischen und soziopolitischen Umgestaltung in der SBZ/
DDR, interpretiert als,Ausrottung der Wurzeln des Faschismus', alle Erblasten der nationalsozialistischen Vergangenheit der Bundesrepublik
zuschrieb, mußte verdecken, daß die Leistungsbilanz des SED-Staats in
der aktiven Vergangenheitspolitik und im Bruch mit preußisch-deutschen
Traditionen des Autoritarismus defizitär war. Die besondere, für die Nationsbildung grundlegende Legitimation der DDR als das ,andere', moralisch bessere Deutschland blieb wegen des Regimecharakters und des
Fortbestehens des deutschen autoritären Habitus in neuen Uniformen unglaubwürdig, so sehr die Notwendigkeit des Abwehrkampfes gegen den
allgegenwärtigen Klassenfeind auch betont wurde. Der Stasi-Staat konservierte hier vieles, was in der Bundesrepublik dem gesellschaftlichen
Wandel, Modernisierungsdruck und Elitenwechsel nicht standhielt.
5. Nach Schieders Typologie der Nationalstaatsgründungen in Europa87 war
die DDR ein Sezessionsprodukt von einem größeren Staatsverband. Diese
Typologie paßt insofern nicht, als diese Sezession nicht von einer Nationalbewegung im Kampf um den eigenen Nationalstaat errungen wurde,
sondern zunächst das Ergebnis der Mächtepolitik nach 1945 war. Doch
gerade ihre Eigenschaften und Eigenarten als ein deutscher Teilstaat erschwerten ihr nationbuilding erheblich. Sprachlich, kulturell oder gar ethnisch war die DDR keine Einheit und Größe, deren Selbständigkeit von
der größeren Nation auf anderem als machtpolitischem und ideologischem Gebiet plausibel war. Sie blieb trotz aller Bemühungen um die
Herstellung einer vorgestellten Zusammengehörigkeit künstlich.
6. Die Abschaffung der Länder in der DDR im Jahr 1952 und die Durchsetzung des zentralistischen Lenkungsprinzips durch die SED88 schnitt der
DDR den Weg zu einer föderalen Selbstdefinition als Ensemble deutscher Länder ab. Die Künstlichkeit des Gesamtstaats bildete sich in der
Künstlichkeit ihrer,Bezirke' ab, deren Sinn es war, die Erinnerung an die
86
Siehe auch DDR-Handbuch (wie Anm. 19), S. 753 f., sub voce ,Nationale Mahn- und
Gedenkstätten'.
87
Theodor SCHIEDER, Typologie und Erscheinungsformen des Nationalstaats in Europa
(1966), in: Heinrich August Winkler (Hg.), Nationalismus, 2. Aufl., Königstein/Taunus 1985,
S. 119-137; dazu KUNZE, Nation und Nationalismus (wie Anm. 12), S. 29-32.
88
Dazu WEBER, D i e D D R (wie A n m . 8), S. 129 f.
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Die DDR seit 1971 als Nationalstaat
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historisch gewachsenen Territorialkörperschaften und ihre Traditionen zu
verdrängen. Somit konnte es kein Ineinandergreifen von lokaler, regionaler und nationaler Identität geben. Dieser Verdrängungsprozeß war nicht
erfolgreich: die Länderidentität von Mecklenburg, Brandenburg, Anhalt,
Sachsen und Thüringen .überwinterte' und konnte nach dem Wegfall der
DDR schnell und erfolgreich reaktiviert werden.
7. Aus unterschiedlichen Gründen hat es in den beiden deutschen Teilstaaten
zwischen 1949 und 1989 keine offene Politik des nationbuilding im klaren Bekenntnis zu einem bestimmten nationalen Selbstverständnis gegeben. In der DDR stand der SED dafür die Ideologie im Weg. Der strukturelle Postnationalismus als herrschender politischer cultural code von
Führungseliten in der Bundesrepublik 89 zeigte, daß ,Βοηη nicht Weimar'
und der Nationalismus nicht (mehr) das politische Paradigma war, von
dem eine latente oder offene Gefährdung der politischen Kultur und des
demokratischen Institutionengefüges ausging. Die Phase der modernisierungs- und verwestlichungsbedingten soziokulturellen Relativierung
des Nationalen in einer von sozialer Dynamik geprägten Leistungs- und
Mobilitätsgesellschaft 90 mußte in der zudem durch eine nachhaltige
Entbürgerlichung geprägten Gesellschaftsgeschichte der DDR91 vollständig fehlen. Vielleicht wirkte der Rückgriff der SED auf nationale Werte
und Bauformen ab 1971 daher auch so besonders unzeitgemäß und altbacken.
Wenn das Deutsche Kaiserreich von 1871, wie Theodor Schieder herausgearbeitet hat, ein unvollendeter deutscher Nationalstaat war, dann läßt sich
die DDR als ein unmöglicher deutscher Nationalstaat beschreiben, dessen Gelingen zu viele strukturelle Defizite verhinderten. Das Scheitern der
Nationalisierungsansätze der SED in der DDR bestätigt im Umkehrschluß
die Richtigkeit der voluntaristisch-konstruktivistischen Interpretation der
Nation, auf die Eric Hobsbawm in einem überpointierten Vergleich hin-
89
Vgl. Peter ALTER, Der eilige Abschied von der Nation. Zur Bewußtseinslage der Deutschen nach 1945, in: Harm Klueting (Hg.), Nation, Nationalismus, Postnation. Beiträge zur
Identitätsfindung der Deutschen im 19. und 20. Jahrhundert, Köln [u.a.] 1992, S. 185-202;
KUNZE, N a t i o n u n d N a t i o n a l i s m u s ( w i e A n m . 12), S. 4 6 - 4 8 .
90
Ausgeführt unter anderem bei Otto Dann (Hg.), Nationalismus und sozialer Wandel, Hamburg 1978; dazu KUNZE, Nation und Nationalismus (wie Anm. 12), S. 91-93.
91
Vgl. Thomas GROSSBÖLTING, Bürgertum, Bürgerlichkeit und Entbürgerlichung in der DDR.
Niedergang und Metamorphosen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 9-10/2008, S. 17-25.
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gewiesen hat: „Wenn genügend Bewohner der Insel Sylt eine Sylter Nation
sein wollten, dann gäbe es diese auch."92 Aber wollen müssen sie es. Einen
deutschen Nationalstaat DDR wollte das Staatsvolk der DDR jedenfalls
nicht.
92
Eric J. Hobsbawm, Nationen und Nationalismus. Mythos und Realität seit 1780, München
1991 (zuerst engl. 1990), S. 18; zu den Klassikern des nationalen Konstruktivismus ebd., S. 14f.
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