Folge 1: Die Menthol-Zigaretten Story - Deutsches Rundfunkarchiv

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Deutsches Rundfunkarchiv Babelsberg
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Wiener Geschichten:
„Ich habe erlebt, wie BRD-Bürger ’gemacht’ werden“
Das Jahr 1990 in zwölf Kapiteln
Folge 1: Die Menthol-Zigaretten-Story
Am 4. Januar 1990 strahlt das Fernsehen der DDR unter dem Titel „Die Menthol-ZigarettenStory“ (Archivnummer: IDNR 31830) in seinem ersten Programm einen Dokumentarbericht
von Hannes Zahn aus. In dessen Folge beschäftigt sich das „Neue Deutschland“ (ND) am
nächsten Tag erneut mit einer seiner Geschichten vom Vorjahr: im September 1989 hatte
das ND von der spektakulären Entführung des Mitropa-Kochs Hartmut F. in die
Bundesrepublik berichtet – von Hermann Kant in einem offenen Brief an die „Junge Welt“
bereits im Oktober als „Tatarenmeldung“ bezeichnet.
Was hatte sich zugetragen?
Am 19. September 1989 druckt das ND eine ganzseitige Dokumentation, die den stabsmäßig organisierten Menschenhandel durch die Bundesrepublik aufdecken und illustrieren
soll. Zwei Tage später veröffentlicht das Blatt dreispaltig empörte Lesermeinungen und verweist auf einen Beitrag der Sendereihe „Objektiv“ (Archivnummer: IDNR 33172) im DDRFernsehen am gleichen Abend. Eine Medienkampagne scheint geplant.
Unter der Überschrift „Ich habe erlebt, wie BRD-Bürger ‘gemacht’ werden“ druckt das ND ein
ausführliches Interview mit Hartmut F., Koch im Mitropa-Fahrbetrieb, der detailreich seine
Entführung von Budapest nach Wien beschreibt. Mit einer Menthol-Zigarette betäubt worden
sei er. Er nennt auch die Namen seines Entführers und von dessen bundesrepublikanischem
Kontaktmann. Der „professionelle Menschenhändler“ aus der Bundesrepublik soll Strozzig
geheißen haben.
Die Rückkehr in die DDR gelingt Hartmut F., nach eigenen Angaben, mit Hilfe der DDR-Botschaft in Wien.
Als die Familie des der Entführung Beschuldigten sich gegen die Behauptungen verwahrt,
reagiert das ND am 3. November 1989 „in eigener Sache“ mit einer Entschuldigung, geht
aber immer noch von einer authentischen Geschichte aus. Am 5. Januar 1990 schließlich
folgt nach dem Fernsehbeitrag am Vorabend der endgültige Rückzug: Hartmut F. hatte vor
der Ausstrahlung dementiert. Das ND sieht sich als Opfer der politischen Verhältnisse.
Das Jahr 1990 in zwölf Kapiteln
Folge 1: Die Menthol-Zigaretten-Story
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Café Strozzi in der Wiener Strozzigasse 24, benannt nach Gräfin Maria Katharina Strozzi.
Die Strozzigasse stößt auf die Pfeilgasse. Dort, im Hotel Aquila, soll sich das MentholZigaretten-Drama abgespielt haben. Aus „Strozzigasse“ (auf dem Wiener Stadtplan kurz
Strozzig) wird in der Legende des Entführten wenig phantasievoll der Schlepper „Strozzig“.
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*) Neues Deutschland, Schlagzeilen vom 21. September 1989, Bestand Gedruckte Medien
Das Jahr 1990 in zwölf Kapiteln
Folge 1: Die Menthol-Zigaretten-Story
Was sonst noch im Januar 1990 passierte
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In den neuen Bundesländern werden 226.652 Gewerbeanmeldungen registriert. Auf Sachsen
entfallen 60.494, auf Thüringen 42.492, auf Brandenburg 39.513, auf Sachsen-Anhalt 39.149,
auf Mecklenburg-Vorpommern 24.449 und auf Ostberlin 20.555 davon. 16.000 Gewerbe werden abgemeldet.
An einer Demonstration am sowjetischen Ehrenmal in Berlin-Treptow gegen politisch rechts
stehende Kräfte nehmen mehr als 250.000 Menschen teil. Das Ehrenmal war zuvor
geschändet worden.
Das Oberste Gericht der DDR hebt die Urteile aus dem Jahre 1957 gegen Walter Janka,
Gustav Just, Heinz Zöger und Richard Wolf auf und spricht sie frei.
Die Restriktionen für die Arbeit ausländischer Journalisten in der DDR werden aufgehoben.
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Durch eine Verfassungsänderung wird die Gründung von Unternehmen mit ausländischer Beteiligung in der DDR legitimiert.
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Eine Delegiertenkonferenz der Sozialdemokratischen Partei in der DDR beschließt die Umbenennung von SDP in SPD, erhebt Anspruch auf die politische und rechtliche Nachfolge der
1946 mit der KPD vereinigten SPD und lehnt ein Bündnis mit der SED-PDS kategorisch ab.
Das Hauptquartier des Amtes für Nationale Sicherheit ANS der DDR in der Berliner Normannenstraße wird gestürmt. Hans Modrow und Vertreter von Bürgerbewegungen fordern zu Ruhe
und Besonnenheit auf und können die Menge zum Verlassen der Gebäude bewegen.
Die beiden deutschen Wirtschaftsminister, Christa Luft und Helmut Haussmann, vereinbaren in
Bonn die Ausarbeitung eines Investitionsschutzabkommens, die Liberalisierung des Außenhandels und die westdeutsche Kapitalbeteiligung an DDR-Betrieben.
Die stellvertretende Fraktionsvorsitzende der SPD im Bundestag, Ingrid Matthäus-Meyer,
schlägt eine Wirtschafts- und Währungsunion beider deutscher Staaten vor.
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Die Deutsche Soziale Union DSU wird in Leipzig gegründet. Sie versteht sich als Partner der
westdeutschen Schwesterparteien CDU und CSU.
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Wolfgang Berghofer, Oberbürgermeister von Dresden und stellvertretender Vorsitzender der
SED-PDS, und weitere 39 Dresdner Persönlichkeiten erklären ihren Austritt aus der Partei und
fordern deren Auflösung.
Hunderttausende Bürger nehmen in Leipzig, Potsdam, Cottbus, Schwerin, Karl-Marx-Stadt,
Suhl, Magdeburg, Berlin und andernorts an den Montagsdemonstrationen teil. Sie fordern u. a.
die radikale Weiterführung des Demokratisierungsprozesses und die rasche Herbeiführung der
deutschen Einheit.
Eine Anhörung von Günter Schabowski zur Medienarbeit und Pressefreiheit in der DDR findet
vor dem zeitweiligen Untersuchungsausschuss der Volkskammer zur Überprüfung von Amtsmissbrauch und Korruption statt.
Die Wochenzeitung „Die Andere“ erscheint als überregionale, unabhängige, dem Neuen
Forum nahe stehende Zeitung erstmals in Leipzig.
Der Runde Tisch und Ministerpräsident Hans Modrow kommen überein, eine Regierung der
Nationalen Verantwortung zu bilden, in die alle Teilnehmer des Runden Tisches einen Minister
ohne Geschäftsbereich entsenden. Beschlossen werden auch die Termine zu den Volkskammer- und den Kommunalwahlen.
Erich Honecker wird wegen Haftunfähigkeit aus der Untersuchungshaft in Berlin-Moabit entlassen. Er wird in die Hoffnungstaler Anstalten Lobetal bei Bernau gebracht und vom dortigen
Leiter, Pastor Uwe Holmer, privat in seiner Wohnung aufgenommen.
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Folge 1: Die Menthol-Zigaretten-Story
Todestage im Januar 1990
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Johanna Töpfer, Gewerkschaftsfunktionärin in der DDR, 1968-1989 Stellvertreterin des Vorsitzenden des Bundesvorstands des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes FDGB, in
Schneidemühl/Westpreußen geboren, Freitod (3.4.1929-7.1.1990).
Manfred Künne, Erzähler, Autor der Trilogie „Kautschuk“, „Gummi“ und „Buna“, in der romanhaft neben der Geschichte der Werkstoffe auch Zeitgeschichte vermittelt wird, u. a. die
Geschichte der IG Farben, in Leipzig geboren und gestorben (6.8.1931-18.1.1990).
Herbert Wehner, SPD-Politiker, Vorsitzender der SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag, eigenwilliger Sprachschöpfer, der es auf 78 Ordnungsstrafen in 34 Parlamentsjahren brachte, in
Dresden geboren, in Bonn-Bad Godesberg gestorben (11.7.1906-19.1.1990).
Otto König, Chemiker, 1973-1990 Direktor bzw. Generaldirektor des Düngemittelkombinates
Piesteritz bzw. des VEB Kombinat Agrochemie, in Langwiesen im Kreis Ilmenau geboren
(5.3.1929-22.1.1990).
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