Hörspiel/Hintergrund Kultur Dienstag, 22.03.2016

DEUTSCHLANDFUNK
Hörspiel/Hintergrund Kultur
Redaktion: Karin Beindorff
Sendung:
Dienstag, 22.03.2016
19.15 – 20.00 Uhr
Diese Wunde Sizilien
Drei Frauen und ihre Insel
Von Heike Brunkhorst und Roman Herzog
Co-Produktion DLF/ORF
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© Deutschlandradio
- Unkorrigiertes Manuskript -
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O-Ton Veronica D'Agostino
A.: Schritte, Meeresrauschen “Quando abbiamo girato Il respiro…”
E.: “…Ah, che odore del mare! In Liguria questo odore non c'è.” Schritte,
Meeresrauschen.
Sprecherin 2:
Als wir den Film Lampedusa drehten, haben sie hier eine Kiste Anchovis ins Meer
geworfen. Da kamen so viele Möwen, die wir rundherum hörten. Das war
wunderschön.
Welch ein Meeresduft! Den gibt es in Ligurien nicht.
O-Ton Emma Dante
A.: Stimmen im Hintergrund “La Vicaría lo abbiamo chiamato questo spazio,
quest'ex-fabbrica di scarpe …”
E.: “… anche delle cose che non vanno e criticare chiunque, perché noi siamo liberi.”
Rauschen einer Klimaanlage.
Sprecherin 3:
La Vicaría haben wir diese Ex-Schuhfabrik genannt - das Hexengefängnis. Als
Werkstattbühne ist es unser zweites Zuhause. Hier proben wir und geben
Workshops. Dieser Ort ist fundamental für mich und wir finanzieren ihn selbst. Also
ist es ein widerspenstiger Ort: Hier können wir uns erlauben, alles zu sagen, was
gesagt werden muss, und jeden kritisieren. Denn hier sind wir frei.
O-Ton Letizia Battaglia
A.: Straßenverkehr im Hintergrund “Certamente noto che non esco più. Vado
soltanto…“
E.: “…Però, non ho trovato pace. Perché non posso trovarla, perché ancora vedo,
quello che c'è, c'é.” Straßenverkehr im Hintergrund.
Sprecherin 4:
Natürlich nehme ich wahr, dass ich nicht mehr ausgehe. Ich fahre nur noch zu den
Ausstellungen und habe keine Freude mehr daran, auf Palermos Straßen
umherzuspazieren. Denn ich habe keinen Frieden geschlossen. Aber ich habe ein
fröhliches Gemüt und bin optimistisch, das heißt, ich bemitleide mich nicht selbst.
Frieden kann ich aber nicht schließen. Denn ich sehe ja, was immer noch geschieht.
Musik: Fratelli Mancuso - Sacciu chi parli a la luna
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Ansage:
Diese Wunde Sizilien.
Drei Frauen und ihre Insel.
Ein Feature von Heike Brunkhorst und Roman Herzog.
Sprecherin 1:
Letizia Battaglia. Fotografin, Jahrgang 1935.
O-Ton Letizia Battaglia
A.: Stimmen im Hintergrund “Io vengo da un periodo di guerra, quando ero piccola.
La Sicilia che io ricordo …”
E.: “…Non ricordo nella mia giovane vita, di avere sentito parlare di Mafia, o di averla
avuta presente nelle case.” Stimmen im Hintergrund.
Sprecherin 4:
Ich bin in der Kriegszeit aufgewachsen. Das Sizilien, an das ich mich erinnere, war
ein bescheidenes Sizilien. Meine Familie war teils reich, teils arm. Die reichen
Aristokraten und die Kleinbürger, wie wir, lebten getrennt. Diese Trennung betraf
auch die Bildung und den Lebensstil. Es gab keine Mafia. Ich erinnere mich
zumindest nicht, dass über die Mafia gesprochen wurde, als ich jung war, oder dass
sie präsent war.
O-Ton Veronica D'Agostino
A.: Schritte, Meeresrauschen “Ci sediamo su i sassi, ci sediamo, non lo so, come
vuoi tu. … Io mi metto così. Ah, che bel panorama! …”
E.: “…È dopo che capisci che non puoi, perché poi ci sono delle mancanze che devi
per forza trovare nella vita fuori da qui.” Meeresrauschen im Hintergrund.
Sprecherin 2:
Setzen wir uns doch hier auf die Felsen. Was für ein herrlicher Ausblick.
Sprecherin 1:
Veronica D'Agostino. Schauspielerin und Hotelfachfrau, Jahrgang 1985.
Sprecherin 2:
Seit ich Kind war, spüre ich diese Verbundenheit mit Lampedusa. Der Fenchelduft
etwa, wenn ich aus dem Flugzeug steige, oder dieser Blick hier hinunter aufs Meer.
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Denn als Kind habe ich diese Welt erkundet und nicht mit unsinnlichen Dingen
gespielt. Genau deshalb fehlt dir die Insel dann. Sie ist in dir drin, seit du klein warst.
Erst später begreifst du, was alles in deinem Leben fehlt, das du unbedingt
entdecken musst, aber außerhalb von Sizilien.
O-Ton Emma Dante
A.: Zirpende Grillen “Ah, che bel fresco che c'è! Stupenda sta villa!… A diciott'anni
quando ho finito il liceo …”
E.: “…Invece mia madre ha capito che mi doveva aiutare in questa mia passione e
mi ha detto, ‘Se vuoi fare questo lavoro, lo devi fare seriamente’.” Zirpende Grillen.
Sprecherin 3:
Ah, wie schön kühl, ein herrlicher Park.
Sprecherin 1:
Emma Dante. Regisseurin und Dramatikerin, Jahrgang 1967.
Sprecherin 3:
Mit 18, nach dem Abitur, wollte ich Theater machen und habe hier in Palermo eine
Theaterschule besucht. Dann habe ich mich an der staatlichen Akademie für
Schauspiel in Rom beworben, die Aufnahmeprüfung bestanden und begonnen,
ernsthaft Theater zu lernen. Mein Vater meinte, Theater sei katastrophal. Aber meine
Mutter hatte sofort begriffen, dass sie mich in dieser Leidenschaft unterstützen muss.
Sie sagte, „Wenn du diese Arbeit machen möchtest, musst du es ernsthaft tun.“
Sprecherin 1:
Emma Dante, Veronica D'Agostino und Letizia Battaglia - drei Sizilianerinnen, die mit
ihrer Insel hadern, sie gleichzeitig hassen und lieben. Emma Dante macht seit
Jahren groteskes Theater im sizilianischen Dialekt mit eigenem Ensemble, inszeniert
in Mailand genauso wie in Paris, New York oder Salzburg und ist zugleich
künstlerische Leiterin des Staatstheaters in Palermo. Veronica D'Agostino arbeitet
als Hotelfachfrau bei Genua in Ligurien und ist Schauspielerin. Sie spielt vor allem
sizilianische Rebellinnen. Und die Fotografin Letizia Battaglia ist weltberühmt für ihre
Fotos von Mafiatoten. Sie ist aufgewachsen im Palermo der 30er-Jahre.
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O-Ton Letizia Battaglia
A.: “Di fatti poi sono stata a Trieste. Diciamo che la Sicilia la ho vissuta i primissimi
anni della mia vita …”
E.: “…Io non sapevo niente. Andai a dirla a mia madre e mio padre e loro mi
chiusero in casa. La mia vita fu molto segnata da questa chiusura.” Stimmen im
Hintergrund, Ziehen an einer Zigarette.
Sprecherin 4:
Ich kam dann nach Triest. Das heißt, in Sizilien habe ich die ersten Jahre meiner
Kindheit gelebt und dann wieder ab zehn, als ich aus Triest zurückkehrte, mit
großem Widerwillen. Denn in Triest war ich ein glückliches, freies Kind, fuhr Fahrrad,
rannte in der Stadt umher, wie ich wollte. Frei zu sein, war schon immer mein Ziel.
Kaum war ich wieder in Palermo, traf ich auf der Straße einen Exhibitionisten. Ich
war zehn und ahnungslos, erzählte es meinen Eltern und sie schlossen mich im
Haus ein. Dieses Eingeschlossensein hat mein Leben stark gezeichnet.
O-Ton Emma Dante
A.: Zirpende Grillen “Sono arrivata a Roma e mi sembrava New York, la nuova città
della vita …”
E.: “…Come se essere siciliani fosse normale. Un po’ sì. (Lachen) Un po’ lo è.”
Lachen, zirpende Grillen.
Sprecherin 3:
Rom kam mir vor wie New York, meine neue Stadt. Ich war noch nie außerhalb von
Sizilien gewesen und bin sehr sizilianisch in Rom angekommen. Am ersten Tag
erschien ich nicht zum Unterricht. Sie fragten mich warum. „Weil ich mit dem
Busfahrer gestritten habe. Er hat mir nicht gesagt, dass ich aussteigen muss, er ist
schuld.“ Die Schuld auf andere abzuwälzen, ist schon einmal äußerst sizilianisch.
Zudem hatte meine Mutter mir einen schwarzen Schal gestrickt, den ich wie einen
Schutzschild trug. Alle haben sich natürlich darüber lustig gemacht. Da kommst du
aus Sizilien, legst dich sofort mit jemandem an und tauchst auch noch mit einem
schwarzen Schal auf, sizilianischer geht's kaum. Ich fühlte mich aber nicht
sizilianisch, sondern ganz normal. Als ob Sizilianerin zu sein, normal wäre, vielleicht
schon.
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O-Ton Letizia Battaglia
A.: Stimmen im Hintergrund “Ma, la verginità era qualcosa di molto importante. La
ver ginità esisteva, c'era …”
E.: “…Invece mio marito era un siciliano, o uno molto intelligente, non capì la
situazione e mi… mi imprigionò.” Stimmen im Hintergrund, Ziehen an einer Zigarette.
Sprecherin 4:
Jungfrau zu sein war von großer Bedeutung. Ich war Jungfrau und dachte sofort, „Ich
muss sie loswerden, diese Jungfräulichkeit“. Mit 16 habe ich dann aber tatsächlich
jungfräulich geheiratet. Ich war glücklich über die Heirat und dachte, ich würde eine
wunderbare Welt aufbauen, viele Kinder bekommen, studieren und reisen. Ich wollte
alles haben mit 16. Aber mein Mann war Sizilianer, nicht sonderlich intelligent. Er
verstand es nicht und auch er schloss mich ein.
Musik: Fratelli Mancuso - Sacciu chi parli a la luna
O-Ton Letizia Battaglia
A.: Stimmen im Hintergrund “Io mi sono ribellata dopo un anno e mezzo di
matrimonio, presi la carrozzella …”
E.: “…Poi non voleva, non voleva, lui non voleva. Insomma, dovetti aspettare.”
Straßenverkehr im Hintergrund.
Sprecherin 4:
Eineinhalb Jahre nach der Hochzeit habe ich dann rebelliert. Ich nahm den
Kinderwagen mit dem ersten Baby und ging raus. Als mein Mann nach Hause kam,
sagte ich, „Ich war draußen - allein!“ Er bekam Angst, denn ich war sehr hübsch und
sehr aufgeweckt. Danach war ich ein wenig freier in der Ehe, auch wenn es viel
Schlimmes gab. Mit 19 bekam ich dann das zweite Kind und wurde sehr unruhig.
Unruhig heißt, ich wollte aus der Ehe ausbrechen. Damals war das unmöglich. Ich
hätte nicht allein für meinen Unterhalt sorgen können. Ein verlassener Mann musste
keine Alimente zahlen. Und er wollte die Trennung nicht. Also musste ich warten.
O-Ton Veronica D'Agostino
A.: Meeresrauschen im Hintergrund “Da bambina è tutto molto libero, tutto. Poi da
adolescente inizia un po’ a cambiare, sopratutto se sei una donna, perché …”
E.: “… È proprio ignoranza, cioè, pensare che quel mondo lì è tutto schifoso.”
Meeresrauschen im Hintergrund.
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Sprecherin 2:
Als Kind bist du sehr frei, wirst du Jugendliche, ändert sich das, vor allem, wenn du
eine Frau bist. Denn die hiesige Mentalität setzt starre Grenzen. Willst du etwa
studieren, „Wo sollen wir sie denn hinschicken?“ „Die Stadt bist du doch gar nicht
gewohnt, schlag dir das aus dem Kopf!“ Oder hast du einen Freund, du begreifst gar
nicht, wie und warum darf er für dich entscheiden. Als ich verreisen musste für die
Filme, sagten sie zu meinem Vater: „Du hast deine Tochter verloren.“ Damit wollten
sie sagen, ich hätte mich für ein Lotterleben entschieden. Es ist doch dumm, zu
glauben, das Leben dort draußen sei unanständig.
O-Ton Letizia Battaglia
A.: Straßenverkehr im Hintergrund “Dovetti aspettare una psicoanalisi, perché poi
dovetti fare la psicoanalisi …”
E.: “…Finalmente, avevo quasi quarant'anni quando finalmente sono stata felice.”
Straßenverkehr im Hintergrund.
Sprecherin 4:
Ich musste eine Psychoanalyse abwarten, denn es ging mir sehr schlecht. Es schien
sogar, als würde ich sterben. Meine Mutter ließ tatsächlich den Pfarrer kommen,
auch wenn ich nicht gläubig war. Ich drohte, aus Verzweiflung zu sterben. Das war
kein Nervenzusammenbruch, ich wollte wirklich dieses Leben nicht, ohne Kultur und
Intelligenz, ohne die kleinen Dinge, die mir am Leben gefallen, eine bestimmte Art
von Politik und Gerechtigkeit. Bis ich meine Sache gefunden hatte, sollten noch viele
Jahre vergehen. Ich war fast 40, als ich endlich glücklich war.
O-Ton Emma Dante
A.: Zirpende Grillen “Facevo l'attrice io prima, e non mi sentivo assolutamente
gratificata, non, non toccava …”
E.: “…per ritrovarmi poi allo stesso punto da dove ero partita. E da lì è cominciata
tutta la verità.” Zirpende Grillen.
Sprecherin 3:
Zuerst habe ich als Schauspielerin gearbeitet, aber das hat mich nicht erfüllt. Dann
habe ich die Liebe entdeckt und beschlossen, nach Catania zu gehen, was ich auch
tat und also Rom und das Theater hinter mir ließ. Dann hat der Mann mich verlassen
und ich bin zurück nach Palermo, denn ich hatte in Rom keine Wohnung mehr. Also
kehrte ich zu meiner Mutter zurück, die dann krank wurde. Auf ihrem Leidensweg
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habe ich sie bis in den Tod begleitet. Ein wahnsinniger Umweg, um am Ende wieder
an deinen Ausgangspunkt zu gelangen. Aber hier begann dann das Eigentliche.
O-Ton Letizia Battaglia
A.: Straßenverkehr im Hintergrund “Dopodiché un giorno avevo (Pause) trentasette
anni raccolsi poche cose, poche …”
E.: « …la Librerie des femmes, a Parigi. ‘E le fotografie?’ Allora io con una piccola
macchinetta incominciai.” Straßenverkehr im Hintergrund.
Sprecherin 4:
Eines Tages - ich war 37 - nahm ich ein paar Sachen, ließ das meiste zurück und
ging nach Mailand. 1971. Dort habe ich als Fotografin und Journalistin für Zeitungen
gearbeitet. Angefangen hatte ich hier in Palermo, bei der Tageszeitung L'Ora. Ich
hatte kleine Reportagen geschrieben, vor allem über Frauen und Soziales. In
Mailand fühlte ich mich also schon als Reporterin und bot den Zeitungen meine
Ideen an. Die Redakteure fragten dann, „Und die Fotos?“ Ich hatte eine Reportage
über die Frauenhäuser in Paris vorgeschlagen. Das war neu, die Librerie des
femmes, „Und die Fotos?“ Also begann ich, mit einer kleinen Kamera zu
fotografieren.
O-Ton Emma Dante
A.: Straßenverkehr, Zirpende Grillen “Sono stati gli anni più brutti della mia vita…”
E.: “… E lì, quando si dice, quando perdi tutto, o risali oppure mori.” Zirpende Grillen,
Straßenverkehr.
Sprecherin 3:
Das waren die schlimmsten Jahre meines Lebens. Fünf Jahre zuvor hatte ich meinen
Bruder durch einen Autounfall verloren. Dann stirbt meine Mutter mit 59 an einer
schrecklichen Krankheit. Also mein Innenleben… Ich hatte die Arbeit verloren, die
Liebe, alles. Und wie heißt es so schön, verlierst du alles, stehst du entweder wieder
auf oder du stirbst.
O-Ton Letizia Battaglia
A.: Straßenverkehr im Hintergrund “Mi sono comprata una piccola camera, e non capivo
niente, sbagliavo tutto …”
E.: “…le urgenze, che avevo dentro, le passioni, e la giustizia che volevo.”
Straßenverkehr im Hintergrund.
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Sprecherin 4:
Ich kaufte mir eine kleine Kamera, verstand gar nichts und machte alles falsch. Es
grenzt an ein Wunder, dass ich fotografiere. Ich habe es nicht gelernt, mich nur an
den großen Meistern orientiert Und angefangen habe ich, um meine Artikel zu
illustrieren und mir das tägliche Brot zu verdienen. Erst später hörte ich mit dem
Schreiben auf, war keine Journalistin mehr, sondern Fotografin, weil ich begriff, dass
das mein Werkzeug war, mit dem ich mich wirklich ausdrücken konnte, meine
Leidenschaft, meine Vorstellung von Gerechtigkeit.
O-Ton Veronica D'Agostino
A.: Meeresrauschen im Hintergrund “Io ho sempre fatto cose genuine, ho saputo
sempre scegliere …”
E.: “…Scusate. (Lachen) Perché funziona così. In tutto è così la mentalità.”
Meeresrauschen im Hintergrund.
Sprecherin 2:
Ich habe immer ernsthafte Filme gemacht und mir angebotene Rollen genau
abgewogen. Deshalb habe ich wenige Filme gedreht, aber auf die bin ich stolz.
Machst du dann eine Zeitlang nichts, musst du dir von denselben Leuten, die gesagt
haben, „Du hast deine Tochter verloren“, anhören, „Wie, du machst nichts mehr?
Hast mit dem Filmen aufgehört?“ Aber so ist die hiesige Mentalität, in allen Dingen.
O-Ton Emma Dante
A.: Zirpende Grillen “Sapevo che dovevo uscire da quell'incubo che era la mia vita,
no, e che era appunto…”
E.: “…Così è nato il mio teatro, tra mille sigarette e chilometri di, di strada.” Zirpende
Grillen, Auto, Stimme.
Sprecherin 3:
Ich musste raus aus diesem Albtraum, der mein Leben war. Also habe ich versucht,
den ganzen Schmerz umzusetzen. Daraus ist das geworden, was heute mein
Theater ist. Ich habe einen Workshop angeboten mit ein paar Jugendlichen, die ich
nicht kannte, habe sie stundenlang vor und zurückgehen lassen, bis sie Blasen unter
den Füßen bekamen. Gehen, gehen, gehen! Ich rauchte und rauchte, sie gingen und
gingen. So ist mein Theater entstanden, zwischen 1000 Zigaretten auf einem Weg
von 1000 Kilometern.
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O-Ton Letizia Battaglia
A.: Straßenverkehr im Hintergrund “Sono stata tre anni a Milano a lottare per
impossessarmi di me …”
E.: “…Ma se riesci ad essere te stesso…. E allora io fui mi stessa.” Straßenverkehr
im Hintergrund.
Sprecherin 4:
In Mailand habe ich drei Jahre gekämpft, um zu mir zu kommen und mein Talent zu
entwickeln. Drei Jahre, dann hat Sizilien mich zurückgerufen. Und ich bin
zurückgekehrt. Die Tageszeitung L'Ora wollte ihre Fotoredaktion umstrukturieren. Ich
hatte in Mailand ein paar Preise gewonnen, und sie baten mich, die Abteilung zu
leiten, deren Mitarbeiter ich dann auswählte. Ich war froh, nach Palermo
zurückzukehren. Aber es war eine völlig andere Situation. Ich brauchte keinen
Ehemann mehr und hatte bestätigt bekommen, dass ich existierte, ein Mensch war
mit einem Talent. Da begannen die wunderbaren Jahre. Denn Sizilien ist schrecklich,
wenn du unterdrückt wirst, wenn ein Mann, die Familie oder die Mafia dich
beherrscht. Schaffst du es aber, du selbst zu sein… Also, ich war ich selbst.
Musik: Fratelli Mancuso - Sacciu chi parli a la luna
O-Ton Emma Dante
A.: Zirpende Grillen “Quando torni, ti scontri con tutta una serie di difficoltà. Non è un
paese facile …”
E.: “…Comunque è stato più difficile tornare (Lachen), ma lasciarla no, no no.”
Zirpende Grillen.
Sprecherin 3:
Kehrst du zurück, kämpfst du mit großen Schwierigkeiten. Denn Sizilien ist kein
einfaches Land, vieles fehlt. Es gibt keine Arbeit, die Mentalität ist oft unzivilisiert,
eine Garstigkeit, die auch fasziniert. Denn die Menschen sind wahrhaftig, manchmal
zu wahrhaftig. Zu viel Wahrheit kann auch wehtun. Dieser Flecken Erde ist alles
andere als scheinheilig. Er ist eine Mauer des Schweigens, aber nicht scheinheilig,
das sind zwei verschiedene Dinge. Jedenfalls war das Zurückkehren schwer, das
Weggehen nicht.
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O-Ton Veronica D'Agostino
A.: Meeresrauschen im Hintergrund “Sono andata a Londra perché avevo finito di
fare La Siciliana Ribelle, il film. …”
E.: “…Cioè, aveva cominciato a collaborare seriamente contro questa associazione
mafiosa che nel suo paese ormai aveva fatto tante, tante vittime.” Meeresrauschen
im Hintergrund.
Sprecherin 2:
Ich bin dann nach London gegangen, als der Film Die sizilianische Rebellin
abgedreht war, denn ich wollte mein Leben verändern. Der Film hat mich stark
aufgewühlt. Die Geschichte dieser jungen Frau, die so früh ihre Träume, ihr Leben,
alles verliert. Die sizilianische Rebellin ist die wahre Geschichte von Rita Àtria aus
Partánna, einer Kleinstadt zwischen Trápani und Agrigento. Unglückseligerweise
wird Rita in eine Mafiafamilie hineingeboren. Der Vater war ein Boss, der Bruder
wurde auch Mafioso und die Mutter war die klassische Sizilianerin, die alles deckt,
was der Mann tut, nichts sieht, nichts hört und nicht spricht. So sollten auch die
Kinder sein. Aber Rita Àtria rebelliert. Denn als sie klein war, wurde vor ihren Augen
ihr Vater ermordet und dann auch der Bruder. Rita beginnt, alles, was geschieht, in
ein Tagebuch zu schreiben. Dieses Tagebuch wurde dann Teil der Ermittlungen und
es kam zu Festnahmen, denn Rita wusste, wo die Mafiosi sich trafen. Sie arbeitete
mit den Behörden zusammen gegen die Mafia, die in ihrem Ort so viele Opfer
gefordert hatte.
O-Ton Letizia Battaglia
A.: Straßenverkehr im Hintergrund “La Mafia si era scatenata e percui, i corleonesi
erano arrivati in città …”
E.: “…perché non aveva fatto una diagnosi, che loro volevano. (Pause) E furono
anni, anni sconvolgenti.” Straßenverkehr im Hintergrund.
Sprecherin 4:
Die Mafia wütete damals in Palermo. Die Leute aus Corleone waren in die Stadt
gekommen, diese verrückten Provinzler, die Palermo hassten. Sie wollten Palermo
besetzen, und sie haben Palermo besetzt. Sie haben die Ländereien mit den
Zitrusfrüchten aufgekauft, um die ganze Stadt herum, haben schreckliche Vorstädte
gebaut, gelangten in die Politik, sie waren überall. Und sie sind überall. Wer ihnen
Hindernisse in den Weg legte, wurde umgebracht, seien es Richter, Polizeichefs
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oder sogar Ärzte, wenn sie Diagnosen gestellt hatten, die sie nicht haben wollten.
Das waren erschütternde Jahre.
Atmo: Filmausschnitt - La Siciliana Ribelle
O-Ton Veronica D'Agostino
A.: Meeresrauschen im Hintergrund “Non si sa, se questa ragazza sia stata uccisa
quando poi era sotto copertura …”
E.: “…Perché Lampedusa ormai mi stava stretta, volevo vedere altro, allora sono
partita a Londra.” Meeresrauschen im Hintergrund.
Sprecherin 2:
Es ist unklar, ob Rita Àtria ermordet worden ist, als sie zu ihrem Schutz nach Rom
gebracht wurde, oder sich selbst vom Balkon gestürzt hat, wie es im Film dargestellt
wird. Nach dem Tod des Untersuchungsrichters Paolo Borsellino, so sagt man, habe
sie Depressionen bekommen und sich umgebracht, weil er für sie wie ein Vater war.
Aber ich denke, die Ermittlungen wurden verschleppt.
Mich hat der Film stark bewegt und verändert. Ich hatte mich sehr in die Rolle
hineinversetzt und spürte ein großes Loch, als ob in meinem Leben etwas fehlte, das
ich noch tun musste. Lampedusa war mir viel zu eng geworden. Ich wollte raus und
Neues kennenzulernen. Also ging ich nach London.
O-Ton Letizia Battaglia
A.: Straßenverkehr im Hintergrund “Io non lo sapevo chi era la Mafia, non lo
sapevamo …”
E.: “…Cioè, veramente è molto triste e molto emozionante pure ricordare quanto
abbiamo sofferto.” Straßenverkehr im Hintergrund.
Sprecherin 4:
Wir wussten nicht, wer Mafioso war. Brachten sie jemand um oder nahmen ihn fest,
waren natürlich Mafiosi vor Ort. Aber selbst heute ist es so, dass möglicherweise
mein Nachbar ein Mafioso ist. Du kannst dir nicht vorstellen, was es bedeutet, in
deiner eigenen Stadt umringt von Mördern zu leben. Du hast es nicht erlebt. Wir
befanden uns im Krieg. Und meine Fotos von den Mafiatoten musste ich machen,
weil die Zeitung sie haben wollte. Und es gab diesen Dokumentarimpuls. Ich wollte
dokumentieren, was wir Sizilianer erleiden mussten. Wir wollten ein freies und
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sauberes Palermo. Stattdessen hatten wir diese Lumpen, Mörder und Kriminellen,
überall. Es ist wirklich traurig und bewegt mich sehr, wie viel wir gelitten haben.
O-Ton Emma Dante
A.: Zirpende Grillen, Stimmen “Il teatro è questa cosa qua per me, è un teatro che
lavora sul fallimento …”
E.: “…Cioè, è più un teatro che cerca di digerire qualcosa. Quindi, la merda mi
sembra più giusta come assonanza: un teatro di merda (Lachen).” Zirpende Grillen,
Stimmen.
Sprecherin 3:
Mein Theater arbeitet mit dem Scheitern und der Krise. Wie Fabrizio De André sagt,
„Aus dem Mist wachsen die Blumen.“ Mein Theater geht unter die Gürtellinie, arbeitet
von unten und sucht nach diesem Erblühen, aber aus dem Mist, aus der Scheiße
heraus. Es hat mit den Defekten des Körpers zu tun, mit den niedrigsten Dingen in
uns. Und es ist ein Theater, das versucht, etwas zu verdauen. Also, die Scheiße
scheint mir die passende Beschreibung, es ist ein Scheiß-Theater.
O-Ton Letizia Battaglia
A.: Straßenverkehr im Hintergrund “Immagina una bella donna, giovane e graziosa,
perché ero carina …”
E.: “…Certo glielo ho dovuto dare, perché cosa facevo, come reagivo?”
Straßenverkehr im Hintergrund.
Sprecherin 4:
Stell dir eine reizende, junge Frau vor, mit weitem Rock oder in Kleidern, die auf
einem Motorroller durch Palermo kreuzt und der ins Gesicht gespuckt wird. Oder mir
wurde die Kamera zerschmissen. Einmal wurde ich zusammen mit meinem Freund
entführt. Sie wollten den Film haben. Wir sind mit ihnen ins Labor gefahren, weil ich
sagte, „Auf dem Film sind noch andere Fotos. Da seid nicht nur ihr drauf.“ Im Labor
haben wir die Bilder dann herausgeschnitten. Ich musste sie ihnen geben. Was hätte
ich sonst tun sollen?
O-Ton Emma Dante
A.: Zirpende Grillen, Straßenverkehr “Letizia Battaglia ha fatto un lavoro straordinario
sulla Mafia …”
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E.: “…È un girone dell'inferno il suo album fotografico, veramente.” Zirpende Grillen,
Stimme.
Sprecherin 3:
Letizia Battaglia hat eine außerordentliche Arbeit über die Mafia und die damalige
Zeit geleistet. Denn sie hat ihre Fotos in der Zeit der Kriege zwischen den Familien
gemacht. Sie hat das grauenhafte Gesicht der Mafia fotografiert, die ermordeten
Mafiosi, ihre Gesichter am Ende, nach der Bestrafung und Buße. Letizias Fotoalbum
ist eine Reise durch die Hölle.
O-Ton Letizia Battaglia
A.: Straßenverkehr im Hintergrund „Veramente mi sconvolge parlare di queste cose.
…“
E.: “…E vedevamo la tristezza nei suoi occhi, perché lui sapeva che lo stavano
ammazzando e lo sapevamo anche noi.” Straßenverkehr im Hintergrund.
Sprecherin 4:
Darüber zu sprechen, erschüttert mich. Denn ich erinnere mich, wie ich vor dem
Körper Paolo Borsellinos stehe, nur noch Torso und Beine, es gab keinen Kopf mehr.
Ich stand dort lange Zeit mit der Kamera in den Händen und in dem Moment sagte
ich mir, „Ich will diesen Horror nicht länger fotografieren.“ Borsellino war ein
wunderbarer Mensch. Tags zuvor hatte er in der Stadtbücherei mit tieftraurigem Blick
zu den Bürgern Palermos gesprochen. Wir hatten alle feuchte Augen, denn wir
sahen die Traurigkeit in seinen Augen. Er wusste, dass er umgebracht wird, und wir
wussten es auch.
Musik: Fratelli Mancuso - Sacciu chi parli a la luna
O-Ton Emma Dante
A.: Zirpende Grillen, Straßenverkehr “C'è un grottesco nel mio teatro. Il grottesco è,
come dire, un tentativo di mettere a fuoco …”
E.: “…Cioè, la malattia che sta dietro quello sguardo, questa ferita.” Zirpende Grillen,
Stimmen.
Sprecherin 3:
Mein Theater ist grotesk. Die Groteske ist ein Versuch, einen Teil der Gesellschaft
genauer zu betrachten, diejenigen Anteile an uns zu verfremden, die wir am liebsten
verstecken würden, die uns aber zum Nachdenken bringen könnten und auch dazu,
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uns zu verändern. Denn mich interessiert nicht die Oberfläche der Dinge, sondern
das Detail, das niemand beachtet. Ich kann mich stundenlang mit einer Geste, einem
Satz, einem Blick aufhalten und die ganze Zeit darauf herumreiten. Aus dieser
Vertiefung eines Details entstehen unzählige Dinge. Bleibst du hingegen an der
Oberfläche, kommt nur Folklore dabei heraus. Ich will die Krankheit dieser
Gesellschaft zeigen, jenseits irgendeiner ästhetischen Sache, die für alle erkennbar
und dechiffrierbar wäre, wie eine Urlaubspostkarte aus Sizilien. Mich interessiert das
Grauen, das von dieser Postkarte verdeckt wird, die Krankheit, die sich darunter
verbirgt, diese Wunde.
O-Ton Letizia Battaglia
A.: Straßenverkehr im Hintergrund “Dopo Falcone e Borsellino, siedi male
psichicamente, volevo morire …”
E.: “…Sono andata per tornare, sono andata per non ammazzarmi.” Straßenverkehr
im Hintergrund.
Sprecherin 4:
Nach dem Mord an den Richtern Falcone und Borsellino ging es mir sehr schlecht,
psychisch. Ich wollte sterben. In Paris lebte mein Ex Franco Zecchin und hatte ein
Zimmer zu vermieten. Ich habe mich dort eingeschlossen und Paris nicht genutzt,
keine Ausstelllungen gemacht - ich war schon berühmt, hatte schon im Centre
Pompidou ausgestellt. Ich habe mich eingeschlossen, mich regeneriert und bin dann
zurückgekehrt. Denn ich bin gegangen, um zurückzukehren,mich nicht umzubringen.
Musik: Fratelli Mancuso - Sacciu chi parli a la luna
O-Ton Letizia Battaglia
A.: Straßenverkehr im Hintergrund “Le mie fotografie sono al di là dei morti
ammazzati, le bambine …”
E.: “…Sono io quella bambina che ha sofferto, che soffre ancora. È dentro di me,
capito!” Straßenverkehr im Hintergrund.
Sprecherin 4:
Die mir wichtigen Fotos sind nicht die der Mafiatoten, sondern die anderen, von den
Mädchen. Mit zehn Jahren habe ich meine Freiheit verloren. Dabei hatte ich diesen
großen Traum von Freiheit und einer Welt voller Liebe und Gerechtigkeit. Aber ich
wurde im Haus eingeschlossen. Und das habe ich jetzt erst begriffen: Warum habe
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ich immer nach diesen Mädchen gesucht, mit starkem Ausdruck, traurigem Blick und
dunklen Augenrändern? Weil ich mich selbst gesucht habe, jenseits der Mafia, auch
wenn wir alle von der Mafia beschmutzt sind. Verstehst du, es war wie die Suche
nach meinem verlorenen Traum. Ich bin das Mädchen, das gelitten hat und immer
noch leidet.
O-Ton Emma Dante
A.: Zirpende Grillen, Straßenverkehr im Hintergrund “Ci sono delle donne, che non
riescono a liberarsi …”
E.: “…La rassegnazione è una altra brutta bestia di questa società.” Zirpende Grillen,
Straßenverkehr im Hintergrund.
Sprecherin 3:
Es gibt Frauen, die es nicht schaffen, sich zu befreien, auch aus Mitgefühl. Das
Opfer hat bisweilen Mitgefühl mit dem Tyrannen und schafft es nicht, ihn zu
verlassen. Das gibt es sehr oft, Frauen, die resignieren. Der Gedanke, es ertragen
und so leben zu müssen, sich anzupassen und nicht gegen ein ganzes System von
Dingen zu rebellieren. Das ist noch so ein übles Gesicht dieser Gesellschaft.
O-Ton Veronica D'Agostino
A.: Meeresrauschen im Hintergrund “La donna siciliana rimane, molte, la maggior
parte, secondo me …”
E.: “…Se vai in caserma e dici, ‘Voglio denunciare mio marito perché mi picchia’, ti
guardano e ti dicono, ‘Ah, sei sicura?’” Meeresrauschen im Hintergrund.
Sprecherin 2:
Die meisten Sizilianerinnen würden nie erzählen, dass sie zu Hause Gewalt erfahren,
allein schon aus Scham. So viele erzählen es nicht. Wird im Fernsehen davon
berichtet, sind es niemals Sizilianerinnen, macht euch das klar. Es sei denn, es sind
Tragödien und die Frauen wurden umgebracht. In diesen Fällen haben sie aber
meist ihre Männer vorher angezeigt. Und da kommen wir zu einem anderen Punkt:
Frauen haben in Sizilien keinen Schutz. Gehst du zur Polizei und sagst, „Ich möchte
meinen Mann anzeigen, weil er mich schlägt“, schauen sie dich an und fragen, „Sind
Sie sicher?“
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O-Ton Emma Dante
A.: Zirpende Grillen “Ma per esempio anche stupri per strada ce ne sono pochi, o per
lo meno quelli che si sanno…”
E.: “…ha paura dei famigliari di lui, ha paura delle ripercussioni, delle rivendicazioni.”
Zirpende Grillen, Straßenverkehr im Hintergrund.
Sprecherin 3:
Nehmen wir Vergewaltigungen auf den Straßen, da sind nur wenige bekannt. Das
scheint also keine sizilianische Verhaltensweise, Frauen auf der Straße zu
vergewaltigen, in den Familien schon. Man müsste die Frauen dazu bringen, die
Männer anzuzeigen. Aber dann kommt die Angst, das große Problem bei allem hier.
Frauen sehen nicht deshalb von der Anzeige ab, weil sie denken, ihr Mann habe sie
im Affekt geschlagen und liebe sie eigentlich wie verrückt. Sie erstatten keine
Anzeige, weil sie Angst haben, vor seiner Familie und den Konsequenzen.
O-Ton Veronica D'Agostino
A.: Meeresrauschen im Hintergrund “È strano, perché dici, come posso vivere in
simbiosi con un uomo che poi fondamentalmente non mi ama, no? …”
E.: “…Sai, questa cosa è sopravivenza, è così, (Lachen) è così, sopravivenza.”
Meeresrauschen im Hintergrund.
Sprecherin 2:
Das ist schon merkwürdig, denn man fragt sich, wie kann ich mit einem Menschen
zusammenleben, der mich im Grunde nicht liebt? Das geht früher oder später. Statt
zu rebellieren und zu erkennen, was für ein Typ das ist, läuft es darauf hinaus, dich
mental noch stärker auf diesen Mann einzulassen. Das ist schrecklich. Du sagst dir,
„Ich muss es so machen, sonst bringen sie mich um.“ Und machst du es so, wirst du
wie diejenigen, die die anderen umbringen, um zu überleben. Denn es ist reines
Überleben.
O-Ton Emma Dante
A.: Zirpende Grillen “E poi le persone ti dicono, tu comunque, tu che cazzo sei, che ti
mischi nelle cose…”
E.: “…Perché da questa mentalità si nutre il fenomeno mafioso, da questa roba qua:
‘Chiudi la finestra e non guardare’.” Zirpende Grillen, Straßenverkehr im Hintergrund.
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Sprecherin 3:
Die Leute sagen dann, „Was denkst du, wer du bist, dich in die Angelegenheiten
anderer einzumischen. Kümmere dich um deinen Kram und schließe das Fenster.“
So funktioniert das. Und das nennt sich das Gesetz des Schweigens. Dieses Gesetz
existiert und wird immer existieren. Es macht mir am meisten Angst. Denn daraus
entsteht die Mafia: „Fenster zu und wegschauen.“
Musik: Fratelli Mancuso - Sacciu chi parli a la luna
O-Ton Letizia Battaglia
A.: Straßenverkehr im Hintergrund “È cambiata nonostante la Mafia, le donne non
sono più come prima …”
E.: “…Sono cambiate le cose, sono cambiate. Sono solo gli uomini che non
cambiano.” Straßenverkehr im Hintergrund.
Sprecherin 4:
Gewisse Dinge haben sich geändert, trotz der Mafia. Frauen sind nicht mehr so stark
an bestimmte Konventionen gebunden wie früher. Heute tragen die Mädchen kurze
Hosen, das war früher schwieriger. Sie machen früh sexuelle Erfahrungen, das ist
interessant. Sie können Karriere machen, kommen und gehen, sie sind erwachsener.
Es gibt sogar viele ungebildete Frauen, die wollen, dass ihre Kinder studieren. Also,
für die Frauen haben sich die Dinge verändert. Nur die Männer ändern sich nicht.
O-Ton Emma Dante
A.: Zirpende Grillen “Secondo me si sono infantiliti …”
E.: “…Secondo me c'è sempre la mamma in tutti i problemi della società.” Zirpende
Grillen, Straßenverkehr im Hintergrund.
Sprecherin 3:
Je mehr Fortschritte die Frauen machen, desto mehr Rückschritte machen die
Männer. Sie haben sich verändert, sie haben sich zurückentwickelt, sie sind wieder
zu Kleinkindern geworden. In ihren Augen ist die starke Managerin und Führungsfrau
ihre große, starke Mama. Die Mama, die sie immer haben wollten, die es geschafft
hat, sich zu emanzipieren und eine erwachsene Frau zu werden. Ich denke, bei allen
Problemen dieser Gesellschaft geht es immer um die Mama.
Atmo: Emma Dante mPalermu, Deposito Giordani Pordenone 2005
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O-Ton Emma Dante
A.: Zirpende Grillen “I miei spettacoli raccontano sempre delle famiglie. Quindi, nei
miei spettacoli …”
E.: “…Si odiano, si amano, si detestano, però vivono insieme no, questa cosa.”
Zirpende Grillen, Straßenverkehr im Hintergrund.
Sprecherin 3:
Meine Stücke handeln von Familien und der Familienhierarchie. Sie ergründen die
Familie. Denn die Familie ist fundamental, um über die Gesellschaft zu sprechen. In
Sizilien ist die Familie eine Institution, der zeremonielle Ort. Auch die Mafia stützt
sich auf die Familien. Denn in den Familien finden sich die, in Anführungszeichen,
Vertrauenspersonen. Diejenigen also, die auch ein Verbrechen decken und ein
gefährliches Geheimnis für sich behalten können. So wird die Familie zu einem Safe.
Dabei gibt es dann ein krankhaftes Festklammern aneinander: die Mama! Die
Schwester und der Bruder! Der Papa! Die Tante! Dieses schreckliche Gewirr aus
Menschen, die sich doch gar nicht freiwillig füreinander entschieden haben, die sich
aushalten, sich hassen und lieben, sich verabscheuen, aber zusammen leben.
Atmo: Emma Dante mPalermu, Deposito Giordani Pordenone 2005
O-Ton Emma Dante
A.: Zirpende Grillen, Straßenverkehr im Hintergrund “Io non ci credo, no, in queste
famiglie, non ci credo …”
E.: “…e magari gli può servire per aprire un po’ il cervello e fare un pensiero altro
rispetto a quello che è.” Zirpende Grillen, Straßenverkehr im Hintergrund.
Sprecherin 3:
Ich glaube nicht an diese Familien, in denen Unwissenheit und ein altertümliches
Denken weit verbreitet sind, vor allem Dummheit. Sie wird von den Eltern überliefert
und du gibst sie an deine Kinder weiter. Diese Ordnung besteht leider fort. Und was
ich mit dem Theater erzähle, ist, welche Bösartigkeit die Familie produziert, damit die
Menschen es vielleicht aufnehmen und nutzen, um das Hirn ein wenig zu erweitern
und andere Gedanken zuzulassen.
O-Ton Letizia Battaglia
A.: Straßenverkehr im Hintergrund “Voglio che si, che si cresca, che è importante,
dobbiamo esser colti …”
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E.: “…Come una piccola scuola di vita, non lo so, vediamo.” Straßenverkehr im
Hintergrund.
Sprecherin 4:
Ich möchte, dass die Menschen lernen und wachsen. Es ist wichtig, gebildet zu sein.
Auf dem Gelände des Kulturzentrums Zisa in Palermo plane ich ein internationales
Fotografiezentrum, im Kontakt mit allen großen Fotografen in Paris, New York,
Mailand, mit einer Ausstellungshalle für die Weltfotografen und einer zweiten für
sizilianische Fotografen, die wir im Laufe des Jahres entdecken. Daneben wird es
eine Fotografieschule geben, natürlich ein kleines Lokal und eine Bibliothek. Das
wird herrlich. Und es wird auch Konzerte geben, Lesungen und Theater. Denn in
diesem Zentrum soll es nicht nur um Fotografie gehen. Sie soll sich mischen mit
anderen Kunstformen, wie eine Schule des Lebens.
O-Ton Emma Dante
A.: Zirpende Grillen, Straßenverkehr im Hintergrund “Letizia fa bene, e bisogna farla
questa cosa qua. assolutamente, è necessaria …”
E.: “…poi i giovani sono il nostro futuro, vengono via dal nord e si trasferiscono qui.”
Zirpende Grillen, Stimmen.
Sprecherin 3:
Letizia macht das richtig, genau so etwas brauchen wir hier. Seit einem Jahr leite ich
eine Schauspielschule am Staatstheater in Palermo. In dieser trostlosen Zeit ist das
für mich eine Perspektive, jungen Menschen aus dem Norden die Möglichkeit zu
geben, nach Sizilien zu kommen und hier Schauspiel zu lernen. Das ist eine heftige
Geste. Denn niemand kommt zum Studieren in den Süden, alle gehen in den
Norden. Wenn Letizia also die Möglichkeit erhält, dieses Zentrum zu eröffnen, wenn
andere wichtige Künstler hier bleiben und ähnliches tun, ich meine Theaterschule
weitermache, würde das bedeuten, unsere Zukunft läge hier und nicht länger im
Norden.
O-Ton Letizia Battaglia
A.: Straßenverkehr im Hintergrund “Naturalmente, Palermo lo stesso, ugualmente mi
affascina. …”
E.: “…Non lo so, c'è tanto di brutto e c'è tanto anche di bello.” Straßenverkehr im
Hintergrund.
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Sprecherin 4:
Palermo fasziniert mich, ich kann Palermo nicht verlassen. Ab und zu flüchte ich,
wenn ich Ausstellungen im Ausland habe oder in Italien. Aber nach drei Tagen will
ich wieder zurück. Das ist wie eine Krankheit. Bist du verliebt, weißt du nicht warum.
Es gibt so viel Schreckliches, aber auch so viel Schönes.
O-Ton Emma Dante
A.: Zirpende Grillen “Dico sempre adesso, ultimamente, me ne vorrei andare. Sto
diventando indifferente …”
E.: “…il peccato del fare. È una cosa che non è molto siciliana (Lachen), diventa un
peccato fare qualcosa.” Zirpende Grillen.
Sprecherin 3:
In letzter Zeit sage ich oft, ich möchte weg hier. Palermo hat mich ermüdet und ich
werde gleichgültig. Als ich jünger war, wollte ich auf Teufel komm heraus die
kritischen Punkte dieser Stadt aufdecken. Ich habe erwartet, dass die Dinge sich
ändern. Dazu kam es nicht. Ich habe diese Unbeweglichkeit satt, in der wir leben,
dieses Nichtstun, Nichtssagen, die Todsünde des Tuns also. Denn, etwas zu tun ist
nicht sonderlich sizilianisch. Etwas zu tun wird hier zur Todsünde.
O-Ton Veronica D'Agostino
A.: Meeresrauschen im Hintergrund “Il mio sogno sarebbe che diventasse l'isola che
si merita di essere …”
E.: “…Per me il mio sogno sarebbe poter tornare orgogliosa fin in fondo, di essere
siciliana.” Meeresrauschen im Hintergrund.
Sprecherin 2:
Mein Traum wäre, dass Sizilien zu der Insel wird, die sie wert ist, zu sein: schön in
jeder Hinsicht. Dass sie nicht länger als Insel der Mafia gesehen wird, schließlich ist
die Mafia heute überall, und dass die Insel gehegt und gepflegt wird, nach allem, was
ihr angetan wurde. Dass Sizilien nicht mehr die ganze Schuld Italiens bekommt.
Denn es ist die schönste Gegend Italiens. Und ich selbst träume davon,
zurückzukehren voller Stolz, Sizilianerin zu sein.
O-Ton Emma Dante
A.: Zirpende Grillen “Il mio sogno sarebbe quello di, (Lachen) aprire le frontiere…”
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E.: “…Non sarei più indifferente ma mi metterei lì in prima linea e cercherei di anche
io di ricostruire una morale.” Zirpende Grillen.
Sprecherin 3:
Mein Traum wäre, die Grenzen zu öffnen und Sizilien als Bühne zu nutzen für ein
wirkliches Zusammenkommen der Kulturen und Ethnien. Das könnte man in Sizilien
machen, weil die Insel so mannigfaltig ist. Sizilien ist wie ein völlig entstellter und
zertrümmerter Körper einer alten Frau, die sterben möchte, aber niemals stirbt, mit
einer Krone auf dem Haupt. Mein Traum ist, dass Sizilien also bevölkert wird von
verrückten Menschen aus aller Welt, die hier leben wollen. Dann müsste eine neue
Moral geschaffen werden, alle müssten gemeinsam eine neue Art des zivilen
Zusammenlebens erfinden. Was gar nicht so schwierig ist. Andere und das
Fremdartige zu respektieren, reicht schon fast aus. Und nicht immer in allen Feinde
zu sehen. Dann wäre ich nicht mehr gleichgültig, sondern als erste dabei, diese neue
Moral aufzubauen.
Musik: Fratelli Mancuso - Sacciu chi parli a la luna
Absage:
Diese Wunde Sizilien. Drei Frauen und ihre Insel.
Ein Feature von Heike Brunkhorst und Roman Herzog.
Es sprachen Ursula Illert, Justine Hauer, Simone Pfennig und Marietta Bürger.
Ton und Technik: Christoph Rieseberg und Roman Weingardt
Regie: Thomas Wolfertz
Redaktion: Karin Beindorff
Eine Produktion des Deutschlandfunks mit dem Österreichischen Rundfunk 2016.