Grabtuch von Turin - pfarrei

Interview mit Professor Karlheinz Dietz über das Turiner Grabtuch
(aus: www.bistum-regensburg.de)
Professor Dietz, wann begannen Sie sich persönlich für das "Turiner Grabtuch" zu interessieren?
In der theologischen Abteilung der Regensburger Universitätsbibliothek war ich 1979 bei der
Drucklegung meiner (sehr profanen) Doktorarbeit über ein Buch zum Turiner Grabtuch (Wilcox)
‚gestolpert‘, das ich mit Spannung gelesen hatte. Vier Jahre später – inzwischen arbeitete ich am
Deutschen Archäologischen Institut in München – traf ich in Österreich während einer Familienerholung
den Jesuiten Werner Bulst, der dort als Betreuungspfarrer wirkte. Er hat sich seit 1947 mit dem Tuch
beschäftigt und mich in den Folgejahren mit historisch-archäologischen Fragen überhäuft, die ich brav
zu beantworten versuchte. Als er 1995 starb, hat er mir seine gesamten Materialien treuhänderisch
übergeben. In der Folge davon wurde ich dorthin eingeladen, wohin eigentlich der Pater eingeladen
werden sollte, auch nach Turin.
Für alle, die es nicht genau wissen: Was eigentlich ist das "Turiner Grabtuch"?
Als Turiner Grabtuch bezeichnet man ein heute sehr weiches, schmiegsames und ungebleichtes Leinen
von etwa 440 x 110 cm. Es ist aus zwei ungleichen Stücken zusammengenäht, die aber beide vom
gleichen Webstuhl stammen und eine sehr seltene 3:1-Köper-Bindung mit einem charakteristischen
Fischgratmuster aufweisen. Der Stoff ist stark vergilbt, auf der bildleeren Unterseite weniger. Das
Grabtuch, das auf der einen Seite merkwürdige Bildspuren aufweist, tauchte vor mehr als 650 Jahren
wie aus dem Nichts in der Champagne auf und wird seit 1578 fast ununterbrochen im Dom zu Turin
aufbewahrt. Seit fast zwei Jahrzehnten liegt es flach in einem Argon-Safe. Früher wurde es nur gefaltet
oder gerollt aufbewahrt. Dabei könnte man, und das ist historisch nicht unwichtig, das Tuch so klein
falten, dass es am Ende in eine Aktentasche passen würde und niemand mehr die für das Grabtuch so
typischen Bild- und Blutspuren erkennen könnte.
Was ist auf diesem Tuch zu sehen?
Auf einer Seite des Leinens ist ein menschliches Abbild zu erkennen, das sich aus zwei Teilen
zusammensetzt: aus direkten Blut- und Wundabdrücken eines Körpers und aus einer Verfärbung des
Leinens im Bereich dieses Körpers. Diese Verfärbung ist vollkommen konturlos und wirkt wie ein
Schatten, wie eine stärkere Vergilbung des Tuchs. Sie ist in klarer Weise erst aus einer Entfernung von
zwei Metern zu erkennen und wirkt je nach Lichteinfall von gelblich über orange bis dunkelgrau. Zu
sehen ist die lebensgroße Vorder- und Rückansicht eines offenbar toten Mannes, und zwar in
einzigartiger Weise Kopf gegen Kopf. Wie es zu der Verfärbung der nur ein Hundertstel bis ein
Sechzigstel Millimeter breiten Oberflächen der Flachsfasern kommen konnte, ist trotz vielfältiger
Theorien und Experimente bis heute nicht wirklich verstanden. Klar ist allerdings, dass es sich weder um
ein Gemälde noch um ein Kunstwerk handelt, das mit mittelalterlichen Möglichkeiten und ohne
Beteiligung einer echten Leiche eines Gekreuzigten erzeugt werden konnte. Die Intensität der
Verfärbung der Flachsfasern ist von der Entfernung des jeweils abgebildeten Körperpunktes zum Tuch
abhängig. Die Modellierung ergibt sich aus der unterschiedlichen Dichte der verfärbten Flachsfasern je
Flächeneinheit. Dieser Effekt wird heute von der Kartografie und der 3D-Computergrafik für die
Erstellung dreidimensionaler Geländemodelle verwendet. Er ist dafür verantwortlich, dass sich 1898 bei
den ersten Schwarz-Weiß-Aufnahmen auf den Fotonegativen überraschenderweise Positivbilder
zeigten. Auf ihnen erscheint der Gekreuzigte in einem geradezu plastisch wirkenden Aussehen und mit
vielen Details. Zu sehen ist ein etwa 175-180 cm großer nackter Mann von rund 25 bis 40 Jahren, der
vor seiner Grablegung offenbar arg gequält, gegeißelt und gekreuzigt wurde. Zahlreiche
gerichtsmedizinische Untersuchungen haben die anatomische Richtigkeit aller Einzelheiten erwiesen.
Auf dem Grabtuch findet sich echtes Blut der Gruppe AB an den anatomisch exakten Stellen. Die Spuren
verlaufen wie sie bei einer Kreuzigung mit folgender Grablegung zu erwarten sind (etwa an den
Unterarmen). Die Blutspuren sind größtenteils durch unmittelbare Berührung mit dem Körper
entstanden, aber in einer Weise, dass jede nennenswerte Verkrustung fehlt.
Der Mann auf dem Tuch – was spricht dafür, was spricht dagegen, dass es sich bei diesem
tatsächlich um Jesus Christus handelt?
Dagegen spricht einerseits das lange Fehlen historischer Quellen, die eindeutig von diesem Tuch reden.
Dieses Schweigen soll 1988 durch die Datierung des Leinens mittels Radiokarbontests in die Zeit
zwischen 1260 und 1390 erklärt werden. Bei genauerem Hinsehen war dieses Experiment (mit einem
seit 1977 für die ‚Erprobung‘ am Grabtuch eigens entwickelten Verfahren der Massenspektroskopie)
eher ein Musterbeispiel für Voreingenommenheit auch im Bereich der Naturwissenschaften. Davon
abgesehen gibt es so viele fehlerhafte Radiokarbondatierungen, dass es zu einfach wäre, strittige
Fragen allein durch sie entscheiden zu wollen. Beispielsweise wurde unlängst die Holzkohle aus den
Quadermörteln des römischen Legionslagers in Regensburg in die Zeit zwischen 600 und 850 n. Chr.
radiokarbondatiert, und doch käme niemand auf die Idee, die Regensburger Geschichte umzuschreiben.
Hinsichtlich der langen historischen ‚Funkstille‘ ist nicht zu vergessen, dass unter den Römern nicht
einmal das Erinnerungsbild eines hingerichteten Staatsverbrechers aufbewahrt und gezeigt werden
durfte. Erst recht musste ein mit Blut verunreinigtes Grabtuch mit Bild notwendigerweise verborgen
werden und bleiben. Angesichts der Notwendigkeit einer solchen Geheimhaltung ist es durchaus
bedeutungsvoll, wenn wir mittelalterliche Nachrichten von der Existenz eines Leinens besitzen, in dem
sich Jesus selbst in ganzer Gestalt auf "göttliche Weise verwandelt" abgebildet hat.
Das spricht ebenso für die Existenz des Tuches Jahrhunderte vor dem Radiokarbondatum. Auf dem
Leinen gefundene Pollen zeigen, dass sich dieses Leinen einmal im Vorderen Orient und wohl sogar in
der geobotanisch einzigartigen Umgebung Jerusalems befunden hat. Hinzu erkennen wir (in medizinisch
einzigartiger Exaktheit) alle für die Kreuzigung Jesu typischen Merkmale: mehr als hundert Geißelhiebe
als Zeichen einer eigenen Strafe; schlimme Verletzungen auf dem Haupt und im Gesicht; eine
Dornenkrone (in Form einer Haube); Spuren einer Nagelung der Arme und Füße; einen Lanzenstich in
der Seite und nicht gebrochene Beine; eine für Gekreuzigte unübliche ehrenvolle Grablegung;
schließlich das Verschwinden der Leiche aus dem Tuch vor dem Einsetzen der Verwesung. Das ist alles
so überzeugend, dass es eigentlich der mathematischen Berechnung gar nicht bedürfte, nach der alle
diese 'jesustypischen' Merkmale auf dem Grabtuch unter 200 Milliarden Gekreuzigten nur auf einen
einzigen wieder zusammenträfen.
Überwiegt für Sie also eher die Wahrscheinlichkeit, dass es sich bei der abgebildeten Person in
der Tat um Jesus handelt?
Ja. Ich füge aber hinzu, dass Historiker, wollen sie über das ‚Erbsenzählen‘ hinauskommen, immer auf
einen unterschiedlich großen Glaubenssprung angewiesen sind (was in den Grenzfragen der
Naturwissenschaften übrigens nicht anders ist). Auch Historiker arbeiten mit Modellen, und da löst das
Modell, welches das Turiner Grabtuch mit dem Grabtuch Jesu identifiziert, die meisten Fragen, während
das Modell eines mittelalterlichen ‚Grabtuchs‘ in eine Fülle von spekulativen Ausweglosigkeiten und
intellektuellen Zumutungen mündet. Die Jahre seit dem Radiokarbontest haben in Sachen Turiner
Grabtuch zu einem ‚postmodernen‘ Erklärungsnotstand geführt. Da waren schon die Päpste früherer
Jahrhunderte viel weiter, wenn sie das Antlitz Christi als Zeichen von Gottes Barmherzigkeit und Trost
für die Menschen verstanden haben.
Ein Faksimile des Turiner Grabtuchs ist gegenwärtig auf Tour im Bistum Regensburg: Würden
Sie es empfehlen, sich im Heiligen Jahr der Barmherzigkeit dieses Tuch einmal genauer
anzusehen?
Unbedingt! Das Faksimile konfrontiert den Betrachter näher mit der Realität des Grabtuchs als jede noch
so gute Abbildung in Printmedien oder im Internet. Darauf kann man die Spuren der menschlichen
Betriebsamkeit an den Verunreinigungen und Verletzungen des Leinens infolge von Faltungen,
Rollungen, Wachs-, Feuer- und Wasserschäden überdeutlich erkennen, aber auch, dass diese
Geschäftigkeit die wesentliche Botschaft des Tuches auf wundersame Weise fast nicht berührt haben.
Ihr in ‚heilige Schau‘ zu begegnen, kann gläubigen Christen ganz gewiss nicht schaden; vielmehr werden
sie Christi Leiden tiefer erspüren können. Das hat mit Idolatrie nichts zu tun. Den anderen, Nichtchristen
und Skeptikern, die aus welchen Gründen immer wissen, dass es müßig ist, seine Zeit mit solchen
materiellen Überresten zu vergeuden: ihnen sei empfohlen, sich angesichts des Faksimile einmal von
der Echtheitsfrage zu lösen. Jenseits davon begegnen wir alle der zeitlosen und beeindruckenden
Parabel vom leidenden Gottesknecht. In ihr bündelt sich das ganze Elend, das unausweichlich immer
dann eintritt, wenn der Mensch dem Menschen zum Wolf wird. Der Mann im Grabtuch hat diese Pein in
allen Details durchlitten. Stumm und zugleich sehr beredt steht er vor uns, lässt sich von uns in seiner
nackten Not von allen Seiten studieren. Durch das bloße Überdauern dieses Tuches zeigt er uns seit
vielen Jahrhunderten, dass man dem Leichentuch in großem Frieden und mit majestätischer Würde
entrinnen kann.