DIE WELT - Die Onleihe

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POLITIK
WIRTSCHAFT
Fünf Jahre nach
Fukushima: Wie finden die
Japaner ins Leben zurück?
Nach Diesel-Desaster:
Hat VW in den USA
noch eine Zukunft?
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FREITAG, 11. MÄRZ 2016
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Nr. 60
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KOMMENTAR
Zippert zappt
U
THEMEN
Europas
Besserwisser
ANDRE TAUBER
Pflichtstoff
Wahlkampf ist kein Zuckerschlecken, er hat
aber manchmal doch heitere Momente.
Hier stellt die CDU-Spitzenkandidatin in
Rheinland-Pfalz, Julia Klöckner, gerade fest,
dass sie einen Blazer im beinahe gleichen
Farbton trägt wie Bundeskanzlerin Angela
Merkel. Der Blazer ist für Politikerinnen
quasi zur Uniform des Wahlkampfes geworden – auch in den Vereinigten Staaten, wo
die Präsidentschaftsbewerberin Hillary
Clinton im Dauereinsatz ist. Die Karriere
eines Kleidungsstücks: Seiten 4 und 23
REUTERS/WOLFGANG RATTAY; REUTERS/ TAMPA BAY TIMES/JOHN PENDYGRAFT/ POOL
rsula von der Leyen
muss ihren Doktortitel
behalten. Der Grund:
Sie hat einfach nicht genug
abgeschrieben. Damit kann sie
sich nicht in die illustre Reihe
von Ex-Doktoren wie zu Guttenberg, Schavan oder KochMehrin einreihen. Eine Fehlleistung, die man der ehrgeizigen Politikerin nicht zugetraut
hätte. Nach eingehender Überprüfung steht fest: Nur 20 Prozent ihrer Doktorarbeit aus
dem Jahr 1990 verstoßen gegen
die Regeln, 80 Prozent sind
korrekt, es konnte von der
Leyen noch nicht einmal eine
Täuschungsabsicht nachgewiesen werden. Ein herber Schlag
für die Verteidigungsministerin,
um die es in letzter Zeit ein
wenig still geworden war. Eine
Aberkennung des Doktortitels
hätte sie wieder in die Schlagzeilen gebracht. Doch so hart
das auch klingt, Ursula von der
Leyen hat sich so gut wie
nichts, jedenfalls viel zu wenig
vorzuwerfen und muss wohl
aller Voraussicht nach auch ihr
Ministeramt behalten. Aus dem
Kanzleramt hieß es, Angela
Merkel sehe im Moment nicht
den geringsten Grund, Frau von
der Leyen das gefürchtete Vertrauen auszusprechen.
Null Prozent! Europa
schafft die Zinsen ab
Historische Entscheidung der Zentralbank. Sparen lohnt sich nicht mehr, Lebensversicherungen
werfen künftig kaum noch Renditen ab. Aber Immobilienkäufer und Kreditnehmer profitieren
PANORAMA
Der wütende Wrestler
Hulk Hogan fordert
100 Millionen Dollar
wegen eines Sexvideos
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KARRIERE
Kann man Chefposten
durch zwei teilen?
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M
ario Draghi hat seinem
Namen „Super Mario“
alle Ehre gemacht und
die Beobachter überrascht: Die Geldpolitik
der Europäischen Zentralbank (EZB)
stößt noch weiter auf unbekanntes Terrain vor. Unter Draghis Führung senkt die
Zentralbank der 19 Euro-Staaten den
Leitzins erstmals in der europäischen Geschichte auf null Prozent. Banken, die
überschüssiges Geld bei der EZB parken,
müssen darüber hinaus einen Strafzins
zahlen. Die umstrittenen Anleihenkäufe
(QE genannt, siehe Infokasten) werden
ausgeweitet, von 60 auf 80 Milliarden Euro im Monat.
VON DANIEL ECKERT
WISSEN
Der Klimawandel setzt
den Bauernregeln zu
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FEUILLETON
Der neue Borat-Film
ist einfach nur eklig
Die Maßnahmen sind ein historischer
Schritt, aber auch riskant. Die EZB will
die Finanzinstitute mit der Geldflut dazu
bewegen, mehr Kredite zu vergeben und
damit die Konjunktur anzuschieben. Zudem soll die Inflation angeregt werden.
Die Preisentwicklung bewegt sich schon
seit Längerem nahe der Nulllinie. Der seit
2011 amtierende Draghi und andere Notenbanker halten das für gefährlich, sie
fürchten eine ökonomische Abwärtsspirale wie in den Dreißigerjahren.
Für Sparer sind die Folgen nun jedoch
gravierend. Sie müssen sich auf Jahre darauf einstellen, mit dem Geld auf dem
Konto einen Vermögensverlust zu erleiden. Aktuell liegen in Deutschland rund
zwei Billionen Euro auf Bankkonten. Aber
die Minus-Zinspolitik kennt auch Gewinner. Bessere Startbedingungen finden
Bauherren vor, die ihr Haus oder ihre
Wohnung per Kredit finanzieren. Auch
Was bedeutet QE?
Die Abkürzung QE steht für
„Quantitative Easing“, zu Deutsch:
„Quantitative Lockerung“. Dieser
Begriff kommt daher, dass bei
einer solchen Maßnahme die Menge, also die Quantität, des Zentralbank-Geldes zunimmt. Eine Notenbank druckt sich selbst Geld,
um Wertpapiere zu kaufen. Meist
sind das Anleihen von Staaten und
Unternehmen. Mit dem Erwerb
solcher Schuldscheine will die Zentralbank langfristig Zinsen drücken. Dann können etwa Staaten
günstiger frisches Geld bei
Investoren einwerben.
Aktionäre dürfen hoffen, dass ihre Investments gute Rendite bringen.
Die Brachialpolitik der EZB macht jede
Hoffnung zunichte, dass die Guthabenzinsen in den nächsten Jahren wieder
steigen. Allein das nun auf 1,74 Billionen
Euro aufgestockte Anleihenkaufprogramm wird dafür sorgen, dass im Finanzsektor Geld im Übermaß vorhanden
bleibt. Die Banken haben also gar keinen
Anreiz, weitere Kundengelder anzulocken. Entsprechend schlecht sind die
Konditionen. Das Finanzportal Biallo
weist einen durchschnittlichen Tagesgeldzins von 0,29 Prozent aus. Auf
schlechtere Bedingungen müssen sich
auch Inhaber von Girokonten einstellen.
Zwar dürften die meisten Banken davor
zurückschrecken, die Minuszinsen weiterzugeben, sie dürften aber die Kontoführungsgebühren erhöhen.
Deutsche Bankenvertreter kritisierten
die Entscheidung: „Die heutige Zinsentscheidung der EZB verstärkt den Abwärtsstrudel für die Sparer. Langfristige
Altersvorsorgekonzepte werden ebenso
entwertet, wie zinsabhängige Institute in
risikoreichere Geschäfte gedrängt werden“, sagte die Hauptgeschäftsführerin
des Bundesverbands Öffentlicher Banken
Deutschlands (VÖB), Liane Buchholz.
Während Sparer den Kürzeren ziehen,
können sich Haus- und Wohnungskäufer
freuen. Die Kosten für Immobilienkredite
sind so niedrig wie nie. Auf zehnjährige
Darlehen fallen im Mittel nur 1,35 Prozent
Zins per annum an. Wer jetzt bauen oder
kaufen will, kommt aber spät. Billiges
Geld gibt es in Deutschland schon eine
Weile, und das hat die Preise vor allem in
den Städten anziehen lassen. Gerade in
den Metropolen sind Übertreibungen
nicht zu übersehen. Der Anteil des verfügbaren Einkommens, den Normalverdiener fürs Wohnen aufwenden müssen,
ist nach oben geschnellt. Die Geldflut
macht steigende Preise auch bei anderen
Sachwerten wahrscheinlich. Der bekannteste mobile Sachwert Gold notierte am
Donnerstag bei 1145 Euro und damit in
der Nähe eines Zwölfmonatshochs.
Die größten Verzerrungen hat die EZBGeldpolitik an den Bondmärkten hervorgerufen. Rund drei Viertel aller Bundesanleihen und -obligationen bringen rechnerisch bereits einen negativen Ertrag.
Investoren, die diese Papiere halten, verlieren Geld. Das schlägt auf die Rendite
von Lebensversicherungen durch, die
vorwiegend sichere Papiere mit langer
Laufzeit halten. In der Ära Draghi findet
eine riesige Vermögensverlagerung von
den konservativen Sparern zu risikobeSeite 13
reiten Investoren statt.
E
itelkeit spielt immer eine Rolle
in der Politik. Gerade am Ende
von langen Verhandlungen
möchten Politiker noch einmal dokumentieren, dass sie es waren, die sich
durchsetzten und die anderen auf Linie zwangen. Es könnte also ein gutes
Zeichen sein, wenn sich Europas Spitzen in die Haare kriegen. Die Europäische Union steht derzeit nämlich
dichter als je vor einer Lösung der
Flüchtlingskrise. Die Anzahl der
Flüchtlinge, die nach Deutschland
kommen, sinkt. Es finden vielversprechende Gespräche mit der Türkei
statt. Die Staaten auf der Balkanroute
wenden wieder die Regeln an. Es tut
sich etwas.
Umso unwürdiger wirkt der Streit
unter Europas politischen Eliten. Donald Tusk, der Präsident des Europäischen Rats, und Griechenlands Ministerpräsident Alexis Tsipras streiten über den Nachrichtendienst
Twitter, ob die Balkanstaaten im europäischen Interesse die Grenzen
stärker kontrollieren. Bundeskanzlerin Angela Merkel lässt Wien trotzig
ausrichten, dass sie eben nicht dankbar für die eingeführten Obergrenzen
ist. Juristen können darüber diskutieren, ob Österreich mit den Obergrenzen gegen das internationale Recht
verstößt. Doch wenn die Slowakei
und Kroatien ankündigen, an ihren
Grenzen wieder die Schengen-Regeln
einzuführen, die im Sommer unter
dem Eindruck der Flüchtlingsströme
ausgesetzt worden waren, dann ist
das unstrittig ein erster Schritt zurück zur Normalität.
Europa bewegt sich in rasantem
Tempo. In diesen Tagen wird an allen
Stellschrauben gedreht, die zu einer
Lösung der Krise beitragen können.
Dass seit vergangenem Montag mit
der Türkei über die Rücknahme aller
Flüchtlinge verhandelt wird, ist ein
Teil der umfassenden Lösung, die
eben viele Ansätze hat. Es gibt weitere Aufgaben zu erledigen. Das Abkommen mit der Türkei muss mit Leben gefüllt werden. Vor allem muss
Griechenland dabei geholfen werden,
die Flüchtlinge, die im Matsch von
Idomeni hausen, in Würde aufzunehmen. Das sollte keine unlösbare Aufgabe sein angesichts der Hunderttausenden, die in den vergangenen Monaten in andere Staaten strömten.
Wenn Europa die Krise bewältigt,
dann haben viele ihren Anteil daran:
Donald Tusk, der zu mehr Härte
drängte, Angela Merkel, die Kurs hielt
in der Krise, EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, der stets
die zerstrittenen Parteien wieder an
einen Tisch brachte, wenn sie wieder
einmal keine gemeinsame Sprache
fanden. Die Flüchtlingskrise kann enden, wenn sich alle auf Lösungen konzentrieren statt auf die Frage, wer es
schon immer besser wusste.
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DAX
Im Minus
Schrei aus der Steinzeit
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Südtiroler Wissenschaftler wollen dem legendären Gletschermann Ötzi nach 5300 Jahren seine Stimme zurückgeben
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„Stephen Hawking –
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E
r gilt als das am besten erforschte Mordopfer der Welt: Ötzi,
der hinterrücks von einem Pfeil getötet wurde. Vielleicht
schrie er, als das Geschoss ihn traf? Man weiß sehr viel über
den vor 5300 Jahren gestorbenen Gletschermann, aber wie seine
Stimme geklungen haben mag, das weiß man nicht. Noch nicht. Eine
Gruppe von Forschern will diese Stimme wieder erklingen lassen. „Es
geht eigentlich um eine Rekonstruktion des Stimmkanals, also die
Gesamtheit des Hohlraums zwischen den Stimmlippen und den Lippen des Mundes“, sagt Projektleiter Francesco Avanzini, Hals-NasenOhren-Arzt und Verantwortlicher des Ambulatoriums für Phoniatrie
im Südtiroler Sanitätsbetrieb.
Aufschneiden wollen sie die Mumie dafür allerdings nicht. Der
legendäre Eismann, der in der späten Jungsteinzeit lebte und 1991 im
Grenzgebiet zwischen Österreich und Italien gefunden wurde, bleibt
in seiner gekühlten Igluzelle im Südtiroler Archäologiemuseum. „Wir
arbeiten nur auf der Basis der CT-Bilder, die Mumie bleibt intakt“,
sagt Avanzini. Sein Kollege Rolando Füstös, Chefarzt der HNO-Abteilung des Landeskrankenhauses Bozen, ergänzt: „Der Knochenapparat
lässt sich relativ gut in 3-D rekonstruieren.“ Schwieriger wird es dann
schon bei anderen Komponenten. „Muskeln und Schleimhäute sind
bei Ötzi natürlich geschrumpft. Von ihrer originalen Beschaffenheit
hängt es aber ab, wie der Ton klingt“, erklärt Elektroingenieur Piero
Cosi, der an der Universität Padua an Spracherkennungssystemen
arbeitet und dafür verantwortlich ist, die Stimme mithilfe von Software wiederherzustellen. Bernhard Richter, Leiter des Freiburger
Instituts für Musikermedizin, ist deswegen skeptisch: „Das Problem
ist, dass der Vokaltrakt kein starres Gebilde ist, sondern ständig in
Bewegung.“ Er verändert seine Form andauernd, und dadurch verändert sich auch der Klang der Stimme. „Das aus einem starren CT
abzuleiten, das ist natürlich schwierig.“
Aber schon in einigen Monaten hoffen die Forscher auf erste Ergebnisse ihres nach eigenen Angaben bislang weltweit einmaligen
Projekts. Sie vermuten, dass Ötzi eine hohe Stimme hatte, weil er ein
kleiner Mann war. Bernhard Richter, der Stimmexperte, hält dagegen:
Er glaubt, dass Ötzi nicht viel anders geklungen hat als ein moderner
Mensch. „Er ist ja erst rund 5000 Jahre tot. So viel ist in der Evolution nicht passiert, was das Instrument Stimme angeht“, sagt er. Entscheidend sei, wie Ötzi seine Stimme verwendet habe.
Eine Viertelmillion Touristen besuchen den Gletschermann jährlich im Südtiroler Archäologiemuseum. Ob sie künftig auch die Stimme hören, soll nach Angaben der stellvertretenden Museumsdirektorin Katharina Hersel erst nach dem Ende des Projekts entschieden
werden. Ganze Sätze soll Ötzi am Ende nicht sprechen. „Wir wissen,
dass man die Sprache von Ötzi nicht rekonstruieren kann, deshalb
wird sich das Ergebnis auf Töne und Laute beschränken.“ Projektleiter Francesco Avanzini könnte sich gut vorstellen, dass beispielsweise
der letzte Schmerzensschrei von Ötzi kurz vor seinem Tod zu hören
sein wird. „Vielleicht ein ,Ahhh‘, als er vom Pfeil getroffen wurde.“
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ISSN
0173-8437
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