SÜDWESTRUNDFUNK SWR2 Interview der Woche – Manuskript Autor: Gesprächspartner: Redaktion: Sendung: Stephan Ueberbach Angela Merkel, Bundeskanzlerin Stephan Ueberbach SWR Studio Berlin Dienstag, 08.03.2016, Extra! SWR Interview der Woche vom 08.03.2016 SWR: Frau Bundeskanzlerin, das Treffen gestern in Brüssel ist vorab als Entscheidungsgipfel beschrieben worden, auch als Schicksalsgipfel, für Sie ganz persönlich. Ist das auch Ihre Wahrnehmung oder denken Sie in anderen Kategorien? AM: Also, dass es ein Gipfel ist der uns in Entscheidungen bringt, das wusste ich, das habe ich auch selbst gesagt. Mit anderen Titulierungen bin immer etwas vorsichtig. Es geht hier um einen Prozess, wie wir die illegale Migration stoppen können, den Schleppern und Schleusern das Handwerk legen können und gleichzeitig unserer humanitären Verantwortung gerecht werden. Und auch in Europa die Bewegungsfreiheit, die Reisefreiheit sozusagen erhalten indem wir es lernen, unsere Außengrenzen zu schützen, auch wenn das schwierig ist. Und dabei sind wir mit der Türkei einen wichtigen Schritt vorangekommen in den Grundzügen. Wir haben den Vorschlag der Türkei begrüßt, nicht nur mit einer Nato-Mission auch die Außengrenzen zu schützen, sondern gleichzeitig die Bereitschaft der Türkei haben wir begrüßt, illegale Migranten generell zurückzunehmen und das Ganze dann in die legale Form zu überführen. Und ich glaube, wenn wir nächst Woche dann die abschließenden Beschlüsse fassen ist das gut, dass wir uns noch ein paar Tage Zeit genommen haben. Die einzelnen Feinheiten zu klären ist auch angemessen, denn es handelt sich hier um eine sehr komplizierte Materie. SWR: Die Türkei, Sie haben es gesagt, will alle Flüchtlinge aus Griechenland zurücknehmen. Im Gegenzug sollen dann Syrer per Kontingent in die EU gebracht werden. Warum sollen demnächst nur syrische Flüchtlinge in Europa Schutz finden können? Was ist mit Afghanen, mit Irakern, mit Menschen aus Eritrea, die vor Kriegen flüchten oder politisch verfolgt werden? A.M.: Aus der Türkei kommen die Afrikaner sehr selten. Allenfalls aus Ländern mit sehr geringer Anerkennungsquote wie Marokko und Tunesien und Algerien. Bei den Irakern müssen wir noch einmal überlegen, ob wir dort auch in die Richtung von Kontingenten gehen würden, das ist in unserer europäischen Entscheidung. Für die Türkei ist das Thema der Syrer natürlich von besonderer Wichtigkeit. Wir dürfen nicht vergessen, die Türkei mit 70 Millionen Einwohnern beherbergt im Augenblick 2,7 Millionen Syrer, jeden Tag kommen neue Syrer dazu. Und insofern haben sie gesagt, wenn wir Syrer aus Europa zurücknehmen, selbst wenn sie illegal gekommen sind, dann wollen wir, dass für jeden Syrer der zurückgeht auch einer von Europa akzeptiert wird. Mit der Folge, dass wir auch dem Modell der illegalen Migration sozusagen die Tür schließen. Denn wer illegal gekommen ist wird dann nicht zu Interview der Woche : 2 denen gehören, die nach Europa können, jedenfalls nicht zuerst, sondern sich ganz hinten anstellen müssen. Das heißt, es gibt keine Attraktivität mehr, diesen illegalen gefährlichen Weg zu benutzen. SWR: Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International oder Pro Asyl sagen: Das ist teuflisch und menschenverachtend, weil Menschenleben und Schicksale gegeneinander ausgespielt werden. Was sagen Sie? A.M: Ich sage, dass im vergangenen Jahr 800 Menschen in der Ägäis ertrunken sind. Allein in diesem Januar über 320. Und es menschenverachtend, Menschen in solche gefährlichen Situationen zu bringen. Und deshalb sollten wir versuchen, ihnen legale Wege zu öffnen. Deutschland wird sich jedenfalls zu dieser Verantwortung bekennen. Und ich glaube, das ist allemal der bessere Weg als wenn wir indirekt Schlepper und Schleuser noch unterstützen. Und deshalb halte ich diesen Weg für vertretbar. SWR: Was ist eigentlich gewonnen, wenn die Menschen nicht mehr in Griechenland an einer Grenze aufgehalten werden, sondern in der Türkei? Außer vielleicht, dass die schrecklichen Bilder nicht mehr aus Europa kommen, sondern anderswoher … A.M.: Na ja, da ist etwas sehr Wichtiges gewonnen, denn jedes Land normalerweise oder jede politische Einheit muss sich an ihrer Außengrenze auch schützen können. Wir haben keine grenzfreie Welt, wo es keine Grenzen mehr gibt. Europa hat sich entschieden, den Grenzschutz an die Außengrenzen zu verlagern und dafür keine Grenzkontrollen im Inneren zu haben. Und zu diesem Zustand wollen wir auch wieder zurück, weil er für uns wirtschaftlich gut ist, weil er die Reisefreiheit für die Bürgerinnen und Bürger garantiert und ein großer Wert ist. Das heißt aber, wir müssen lernen, gemeinsam unsere Außengrenzen zu schützen. Und die Außengrenze an der griechischen Seite ist die Grenze mit der Türkei. Und wenn eine Außengrenze eine Meeresgrenze ist, dann kann ich nicht einfach einen Zaun bauen, wie ich das zwischen Bulgarien und der Türkei habe, den kann ich besser schützen. Sondern da muss ich lernen, in Partnerschaft mit meinem Gegenüber diesen Außengrenzschutz zu machen. Und deshalb spielt die Türkei, die kein Mitglied der Europäischen Union ist, eine andere Rolle als Griechenland, das zum „SchengenSystem“, also zur Europäischen Union dazugehört. SWR Die Türkei macht neue Angebote, will aber im Gegenzug neue Gegenleistungen haben. Visa-Erleichterungen zum Beispiel, schnellere Gespräche über einen EU-Beitritt und natürlich auch mehr Geld, drei Milliarden Euro zusätzlich stehen im Raum. Präsident Erdogan scheint sich seiner Sache also ziemlich sicher zu sein. Hat er die EU in der Hand, sitzt er am längeren Hebel? A.M.: Nein, wir suchen hier einen Interessenausgleich. Wir haben Interessen, aber die Türkei hat auch Interessen. Die Türkei ist geographisch in einer sehr gefährlichen Region gelegen. Wenn wir mal an die Nachbarn der Türkei denken, das ist Irak mit dem IS, das ist Syrien mit dem Bürgerkrieg und dem IS, das ist der Iran. Sie hat gute Gründe, auch mit uns in eine Partnerschaft zu kommen. Und da werden natürlich auch kritische Themen angesprochen. Wir haben zum Beispiel gestern sehr lange auch das Thema der Pressefreiheit besprochen. Und dann muss man Interessenausgleiche finden. Und jetzt muss man sagen, die Türkei ist immerhin ein Interview der Woche : 3 Beitrittskandidat, auch wenn die Verhandlungen ergebnisoffen geführt werden. Sie ist der einzige Beitrittskandidat der Europäischen Union, der noch keine Visa-Freiheit hat. Dass also ein Interesse daran besteht, den Zustand, den Serbien zum Beispiel schon hat, zu erreichen, das können wir verstehen. Die Türkei muss dazu alle Bedingungen erfüllen. Das sind 22 Maßnahmen, die sie umsetzen muss. Aber dann ist das durchaus für einen Beitrittskandidaten ein Weg, der akzeptabel ist. Und wenn es jetzt um das Geld geht, da kriegt ja nicht die Türkei einfach Geld, sondern ausgewiesene Gelder für Projekte für syrische Flüchtlinge. Und wir haben immer gesagt: Wir wollen Flüchtlinge davon abhalten, überhaupt sich auf den Weg zu machen, in dem wir Fluchtursachen bekämpfen. Und wenn fünf Millionen Syrer außerhalb Syriens heute auf der Flucht sind, dann hat die Türkei hier den großen Anteil zu tragen. Und dass wir ihr da im Sinne eines Interessenausgleichs auch helfen. 28 Mitgliedsstaaten, 500 Millionen Einwohner, zum zweiten Mal drei Milliarden Euro am Ende des Jahres 2018, das halte ich wirklich für vertretbar. SWR: Sie haben die Pressefreiheit in der Türkei gerade kurz angesprochen. Dort sind Zeitungsredaktionen gestürmt worden, Chefredakteure wurden abgesetzt, die unliebsam geschrieben haben. Verlage werden auf Regierungskurs gebracht. Polizisten schießen mit Tränengas und Gummigeschossen auf eine Frauendemonstration. Wie eng darf man mit dieser Türkei zusammen arbeiten? Ist die Hoffnung da, dass man durch die Zusammenarbeit einen Wandel bewirken kann? A.M.: Diese Hoffnung ist da. Wir müssen die Dinge ansprechen, auch wünschen wir uns natürlich einen Fortschritt in der Kooperation mit den Kurden. Wir haben bei der Zeitung, die jetzt im Raume stand, ein Gerichtsurteil, das ist jetzt auch schwer von außen das zu beurteilen. Aber, dass die Pressefreiheit ein ganz großer Wert ist und dass sich viele Menschen Sorgen machen in Europa, das haben wir sehr deutlich angesprochen. SWR: Sie nennen das eine europäische Lösung, über die gestern auch mit der Türkei in Brüssel verhandelt wurde. Ist es tatsächlich eine gemeinsame europäische Idee, über die diskutiert wird, oder ist es eher ein deutscher Plan? A.M.: Es ist ja nur beschlossen was alle 28, sozusagen mittragen, und alle 28 haben erst mal sich positiv, sehr positiv sogar zu dem grundsätzlichen Vorschlag der Türkei geäußert. Die illegal nach Griechenland kommenden Menschen wieder zurückzunehmen, und dann über Kontingente zu arbeiten im Weiteren. Dass der europäische Prozess mühsam ist, dass die Interessen ganz unterschiedlich sind, dass zum Teil jetzt auch Einzelmaßnahmen getroffen wurden die ich nicht so gut fand, die dann letztlich auch zu einer Belastung Griechenlands geführt haben, das alles ist Teil der europäischen Zusammenarbeit. Aber unter dem Strich muss ich sagen, sind wir doch schon relativ gut voran gekommen. Alle sagen, wir müssen unsere Außengrenzen schützen. Alle sagen, wir müssen die illegale Migration bekämpfen. Alle haben sich für den Nato-Einsatz in der Ägäis ausgesprochen. Und alle haben jetzt auch den neuen Vorschlag willkommen geheißen. Manchmal könnte es schneller gehen. Aber ich glaube, insgesamt bewegt sich die Sache in die richtige Richtung. SWR: Und der Vorschlag kam auch tatsächlich aus der Türkei? Denn es gibt ja Gerüchte, dass wäre aus Berlin gekommen … Interview der Woche : 4 A M.: Also, das habe ich interessanterweise auch gehört. Ich habe schon gesagt, die Idee zum Beispiel der Überwachung und der Transparenz in der Ägäis mit der NATO, da würde ich sagen gab es eine deutsche Urheberschaft. Aber hier war es so: Wir hatten uns mit dem türkischen Ministerpräsidenten verabredet. Wir hatten sehr viel über die Rücksendung von illegalen Migranten gesprochen. Die Türkei hatte immer gesagt nicht alle, insbesondere Syrer nicht. Und dann hat die türkische Regierung noch mal sich das überlegt und kam Sonntag mit diesem Vorschlag, sehr eigenständig. Und da finde ich sollten wir fair sein und die Urheberschaft da hingeben, wo sie herkommt. SWR: Müssten Sie nicht eigentlich Österreich dankbar sein, nicht weil die Flüchtlingszahlen in Deutschland sinken weil die Grenzen geschlossen wurden, sondern weil die harte Haltung in Wien einen europäischen Einigungsdruck erzeugt? A.M.: Das glaube ich nicht. Ich bin Österreich nicht dankbar. Ich fand das nicht glücklich, sagen wir mal so, dass einseitige Entscheidungen getroffen wurden. Obwohl wir auf einem Weg waren, alle 28, auch im Blick auf den Außengrenzschutz mit Griechenland zu sprechen, auch Griechenland darauf hinzuweisen welche Aufgaben sie im Rahmen des „Schengen-Systems“ haben. Ich glaube, wir wären zu ähnlichen Ergebnissen gekommen in sehr kurzer Zeit. Aber die Dinge haben sich jetzt so entwickelt, wie sie sich entwickelt haben. Aber Dankbarkeit findet sich da bei mir nicht. SWR: An der Grenze zwischen Mazedonien und Griechenland sitzen mehr als 10 000 Flüchtlinge fest. Sie rufen: „Mama Merkel hilf uns!“ Was macht das mit Ihnen, wenn Sie so etwas hören? A.M.: Ja, das ist natürlich schon sehr emotional. Trotzdem ist es so, dass wir immer wieder auch gesagt haben: Das ganze „Schengen-System“ der europäischen Union ist so aufgebaut, dass sich kein Flüchtling der Schutz sucht aussuchen kann, in welchem Land er Schutz bekommt. Und weil wir davon ausgehen, dass alle Länder mit den Flüchtlingen vernünftig umgehen. Leider haben wir in Ungarn im Sommer Dinge erlebt, die nicht schön waren. Also, es ist bewegend. Aber wir müssen trotzdem mehr gucken, wie wir zu dem „Schengen-System“ zurückkehren. Und auch Griechenland ist ein Ort, in dem sich sehr viele „Nicht-Regierungsorganisationen“ sehr gut um die Flüchtlinge kümmern. Und wo jetzt die griechische Regierung, endlich sage ich, auch alles unternimmt, um zusammen mit dem UNHCR und der Europäischen Kommission vernünftige Unterkünfte zu bauen. SWR: Vor einem halben Jahr haben Sie die Flüchtlinge aus Budapest einreisen lassen. Was unterscheidet die Lage in Idomeni von der in Budapest? A.M.: Im Sommer war es so, dass in Ungarn die Bedingungen sehr schlecht waren und dass auch die Flüchtlinge, sagen wir mal, so behandelt wurden, dass man sie hat einen Tag hat Fahrkarten kaufen lassen nach Deutschland. Also, den Eindruck erweckt, man könnte dort hinkommen. Die Züge fuhren auch an einem Tag. Und am nächsten Tag hat man sie dann ein Stück irgendwo hingefahren mit dem Zug. Und sie im Grunde hinters Licht geführt. Und dann diese Enttäuschung produziert. Andere Interview der Woche : 5 hatten Fahrkarten und konnten diese überhaupt nicht mehr einlösen. Und das war eine Situation, in der wir gesagt haben, dass diese Menschen auch zu uns kommen konnten, wie übrigens seit Jahresbeginn sehr, sehr viele aus Ungarn gekommen waren - im Juni, im Juli, im August. Und im Grunde hat sich das fortgesetzt. Oft wird gesagt, ich hätte die Grenze geöffnet. Ich hab die überhaupt nicht geöffnet, weil sie offen war. SWR: Nun sagt, zum Beispiel, die CSU, das ist der Kurswechsel der Kanzlerin, auf den wir so lange gewartet haben? Ist es ein Kurswechsel? A.M.: Nein, es ist kein Kurswechsel. Ich hab die ganze Zeit gesagt, wir müssen an einer europäischen gemeinsamen Lösung arbeiten. Ich hab dann mich immer dafür eingesetzt die Zusammenarbeit mit der Türkei voran zu treiben. Daraus ist der EUTürkei-Aktionsplan Ende November geworden. Dann die Transparenz, die gemeinsame Überwachung der Ägäis jetzt mit der NATO-Mission. Und jetzt die vertiefte Kooperation mit der Türkei durch die türkischen Vorschläge. Und diesen Kurs habe ich immer fortgesetzt und insofern sehe ich mich da in einer langen Kontinuität. SWR: Aber warum lassen Sie die CSU nicht einfach in dem Glauben? Damit hätten Sie doch das Problem mit Horst Seehofer auf elegante Weise gelöst? A.M.: Ich glaube erstens, dass die Gemeinsamkeiten zwischen CDU und CSU sehr stark sind, gerade wenn wir uns mal die ganzen innenpolitischen Maßnahmen im Zusammenhang mit den Flüchtlingen anschauen. Und zweitens, dass es mir ja nicht darum geht, was man löst und wo man sozusagen Einigkeit vortäuscht, wo sie nicht da ist. Ich setze auf diese europäische Lösung, weil ich glaube, dass nur so die innere Reisefreiheit in der Europäischen Union erhalten bleiben kann, was für uns wirtschaftlich wichtig ist. Was für ein Gebiet, in dem eine gemeinsame Währung existiert, wie der Euro, wichtig ist. Und weil Rückschritte, wenn man einmal die Reisefreiheit innerhalb Europas hatte, und man würde dahinter wieder zurück gehen, eine sehr problematische Entwicklung für Europa wären. Wir müssen im Grunde nach vorne schauen und die Integration vertiefen. Und wenn ich schaue, wir 500 Millionen Europäer, was macht unseren Charme aus, dann sind es gerade diese freien Grenzen, die freie Bewegungsmöglichkeit der Wirtschaft, die Niederlassungsfreiheit der Unternehmen, denn wir haben es mit Wettbewerbern zu tun, wie China und Indien, die haben über eine Milliarde Einwohner. Wir haben einen großen amerikanischen Binnenmarkt. Und wenn wir Wohlstand bei uns erhalten wollen, wenn wir wohlhabend bleiben wollen, dann müssen wir unsere wirtschaftlichen Potentiale zusammen tun auf dieser Welt, denn der Wettbewerb wird eher härter. Wenn ich mal an die Entwicklung der Digitalisierung denke, wenn ich daran denke, was sich in der Automobilindustrie, im Maschinenbau verändert, dann ist Europa gut beraten, seine wirtschaftlichen Kräfte zu bündeln. SWR: Sie haben ihre Politik vor knapp einer Woche bei Anne Will in der ARD erklärt. Heute tun Sie es hier im Radio beim Südwestrundfunk. Was halten Sie von der Idee, mal bei einem Sender, wie Al Jazeera aufzutreten oder Al Arabiya, damit Sid die Menschen direkt erreichen können, die sich vielleicht gerade überlegen, ob sie sich auf den Weg machen sollen oder nicht? Interview der Woche : 6 A.M.: Erst mal freue ich mich, dass ich mich jetzt ans deutsche Publikum wenden kann, weil viele Menschen auch in diesen Zeiten, wo es ja doch auch viele, viele Fragen gibt, wo neue Entwicklungen auf uns einprasseln, wo praktisch die Weltpolitik zu uns ins Land kommt, indem Dinge, die wir früher im Fernsehen gesehen haben, Bilder aus dem syrischen Bürgerkrieg, plötzlich ist das hautnah bei uns. Und viele Menschen helfen. Viele Menschen engagieren sich. Und das ist toll. Ich will nicht ausschließen, dass ich auch mal einem ausländischen Sender mich den Fragen stelle. Aber erst mal ist mein Bezugsgebiet, ich bin die Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland, hier in Deutschland. SWR: Haben Sie sich eigentlich schon mal persönlich einen Eindruck davon verschafft, wie die deutsche Flüchtlingspolitik, wie Ihre Flüchtlingspolitik im Internet diskutiert wird? Mit welchem Hass und in welcher Wut da Menschen die deutsche Politik kommentieren? A.M.: Also ich habe eine ungefähre Vorstellung davon, das ist sowohl im Internet als auch beim Posteingang durchaus erkennbar. Es gibt eine ganz große Emotionalisierung, dass das sehr heißt diskutiert ist, dass es sehr kontrovers auch diskutiert werden kann. Das kann ich verstehen. Wo ich glaube, dass wir aufpassen müssen, ist, dass wir sozusagen das, was in unserem Artikel 1 des Grundgesetzes steht, „die Würde jedes Menschen ist unantastbar“, dass das auch in dem, was wir niederschreiben immer sich wieder findet. Also, dass wir sehen, dass zu uns nicht einfach Ströme von Menschen kommen, sondern einzelne Menschen. Das diese Menschen genauso viel Achtung verdient haben und jeder ein anderes Schicksal hat wie jeder einzelne Deutsche es verdient hat mit seiner Meinung, die, wenn er sie sachlich vorträgt, auch ernst genommen zu werden. SWR: Das gesellschaftliche Klima scheint sich ja deutlich zu verändern und zwar in einer rasenden Geschwindigkeit. Wo sehen Sie da die Verantwortung der Politik? A.M.: Ich sehe die Verantwortung der Politik darin, dass wir die Probleme lösen müssen. Wir haben ja folgenden Befund. Auf der einen Seite sind über 90 Prozent der Bevölkerung weiter der Meinung, was ich sehr beeindruckend finde, dass Menschen, die vor Gewalt, vor Krieg, vor Terrorismus fliehen, bei uns Schutz bekommen sollten. Und auf der anderen Seite haben trotzdem die Menschen den Eindruck, dass die Politik die Sache nicht voll im Griff hat. Und deshalb ist es so wichtig, nach Lösungen zu suchen, wie wir sie am Anfang unseres Interviews diskutiert haben, um den Menschen zu sagen, wir haben eine Antwort auf eure Fragen, und wir können die Probleme lösen. Das dauert zugegebenermaßen jetzt einige Zeit. Und ich bin ganz sicher, wenn wir das geschafft haben, und wir sind auf einem guten Weg und schon sehr viel voran gekommen, dann werden auch die, die einfach „Nein“ sagen, die auch mit Emotionen spielen, nicht mehr so viel Zulauf haben. Und deshalb müssen wir auch weiter jetzt in dieser Phase der Lösungsfindung argumentieren und für unseren Weg werben. SWR: Bundeskanzlerin Angela Merkel im SWR Interview der Woche. Frau Merkel, eine große Wochenzeitung hat sich gerade intensiv mit Ihrer Partei, mit der CDU, beschäftigt. Der Titel hieß „Eine Volkspartei fürchtet das Volk“. Erleben Sie die CDU auch so? Interview der Woche : 7 A.M.: Nein. Ich fürchte das Volk nicht, als die Vorsitzende der Christlich Demokratischen Union. Es gibt kontroverse Meinungen. Weil die CDU Volkspartei ist, spiegeln sich in ihr auch die unterschiedlichen Strömungen der Bevölkerung wieder. Und da gibt es Sorgen, da gibt es Befürchtungen, gerade auch was geschieht mit unserem Land. Schaffen wir die Integration? Und da finde ich, können wir selbstbewusst sein, natürlich ist unser Land auch deshalb so attraktiv für viele Menschen, weil bei uns Regeln gelten, weil bei uns bestimmte Prinzipien gelten, abgeleitet aus dem Schutz der Würde des Menschen. Die Gleichberechtigung von Mann und Frau, die Religionsfreiheit, die Meinungsfreiheit, das Gewaltmonopol des Staates. Und das alles müssen wir sehr entschieden einfordern. Und dann wird alles das, was uns lieb ist in diesem Land, die soziale Marktwirtschaft, die Einbindung in die transatlantische Partnerschaft, in die europäische Einigung, das Existenzrecht Israels, all das wird auch erhalten bleiben. SWR: Die Umfragewerte vor den Landtagswahlen die bevorstehen sprechen eine ziemlich klare Sprache. In Rheinland-Pfalz hat die CDU unter Julia Klöckner einen großen Vorsprung eingebüßt. In Sachsen-Anhalt steht die Fortsetzung von der Großen Koalition in den Sternen und in Baden-Württemberg droht so was wie die „finale Demütigung“, nämlich Platz zwei hinter den Grünen. Was heißt das für die CDU? A.M.: Kämpfen. Wir sind jetzt in den letzten Tagen des Wahlkampfes. Viele Menschen sind noch unentschieden. Und wir glauben, dass wir mit Julia Klöckner eine Spitzenkandidatin haben, die das Zeug zur Ministerpräsidentin hat. Dass es in Rheinland-Pfalz viele Dinge gibt, die verbessert werden könnten, insbesondere der Ausbau der Infrastruktur. Der Abbau der Verschuldung, bessere Finanzausstattung für die Kommunen. Und auch in Baden-Württemberg, unter zugegebenermaßen nicht einfachen Bedingungen, muss jetzt um jede Stimme gekämpft werden. Das erwarten die Bürgerinnen und Bürger von uns in schwierigen Zeiten. Und deshalb engagiere ich mich auch mit Julia Klöckner, mit Guido Wolf im Wahlkampf sehr intensiv. SWR: Am Wochenende hat die AfD in Hessen bei den Kommunalwahlen aus dem Stand 13 Prozent geholt. Die aktuellen Umfragen für die Landtagswahlen lassen vermuten, dass die Partei am Sonntag mit ähnlichen Ergebnissen in alle die Landtage einziehen wird. Was ist Ihre Erklärung für diesen Aufstieg der AfD? A.M.: Das, worüber wir eben auch schon gesprochen haben, dass manche Menschen den Eindruck haben, wir haben die Lösung noch nicht parat. Und da wir hier auch neue Probleme zu bewältigen haben, arbeiten wir intensiv. Ich sage trotzdem denen, die eine konstruktive Lösung wollen, die etwas bewegen wollen, dass da die AfD die vollkommen falsche Partei ist. Es wird hier zum Teil mit Emotionen gearbeitet. Jedenfalls nicht damit bestimmte Probleme auch einer Lösung zuzuführen. Und das wird auch in den Diskussionen von uns, also von der CDU, mit Vertretern der AfD sehr deutlich gemacht. Unter dem Strich ist es so, wer die AfD wählt muss wissen, dass er dann von linkeren Parteien regiert wird. SWR: Wie sollen denn die etablierten Parteien mit der AfD umgehen, wenn die in die Parlamente einzieht? Ignorieren, totschweigen oder sich inhaltlich auseinandersetzen? Interview der Woche : 8 A.M.: Inhaltlich auseinandersetzen, aber klar machen, dass es keinerlei Kooperation im Sinne von Koalition gibt. SWR: Frau Merkel, Sie haben mal gesagt, wenn wir den Flüchtlingen kein freundliches Gesicht mehr zeigen dürfen, ist das nicht mein Land. Sie haben auch gesagt, wenn ein EU-Staat auf Kosten eines anderen Grenzen definiert, dann ist das nicht mehr mein Europa. Jetzt haben Sie gerade Ärger mit Ihren Berliner Koalitionspartnern. Die SPD will ein Sozialpaket für Deutsche, CSU-Chef Seehofer kritisiert Ihre Flüchtlingspolitik so scharf wie kaum ein anderer. Wann ist der Punkt für Sie erreicht an dem Sie sagen, wenn ich nur noch von solchen Egoisten umgeben bin, dann ist das nicht mehr meine Bundesregierung? A. M.: Die Bundesregierung arbeitet gut zusammen. Dass die unterschiedlichen Partner auch mal unterschiedliche Meinungen haben, das gehört dazu. Ich habe über die Gemeinsamkeiten von CDU und CSU gesprochen. Es gibt in einigen Fragen der Flüchtlingspolitik auch sehr unterschiedliche Meinungen. Die muss man aushalten und auch ein Stück austragen. Aber es gibt auch sehr gemeinsame Herangehensweisen. Und was die Forderungen der SPD anbelangt, dass wir weitere soziale Maßnahmen umsetzen, sage ich eindeutig „Ja“, soweit es sich um die Projekte des Koalitionsvertrages handelt. Zum Beispiel das, was wir „Lebensleistungsrente“ nennen, ist ein solches Projekt. Das wird noch angegangen werden. Ansonsten glaube ich nur, dass diese Bundesregierung, diese Große Koalition unter Mitwirkung der SPD sehr, sehr viel für die Menschen auf den Weg gebracht hat. Dass uns die gute Wirtschaftslage, die gute Beschäftigungslage in die Lage versetzt hat, eine Pflegereform zu machen, wie wir sie ja Jahrzehnte nicht hatten. Dass es uns in die Lage versetzt hat, die Mütterrente zu erhöhen. Für langjährig Versicherte auch den Renteneintritt mit 63. Das Kindergelt zu erhöhen. Alleinerziehende besser zu stellen. BAföG zu erhöhen, Meister-BAföG zu erhöhen. Also, selten habe ich eine Legislaturperiode erlebt, wo man fast jedem doch eine Verbesserung seiner Lebenslage zusichern konnte. Dazu eben eine sehr, sehr gute Beschäftigungssituation. Und die Projekte, die noch ausstehen, werden wir auch umsetzen. Einführung eines Mindestlohns, zum Beispiel, war auch ein großes Projekt. Und deshalb sollten wir unsere Arbeit jetzt nicht schlecht machen und uns da kleiner machen als wir sind. SWR: Aber Sie haben die Flüchtlingspolitik als gewaltige Herausforderung auch für die nächste Zeit beschrieben. Wenn das so ist, muss sich die Politik dann nicht vom Ziel der „Schwarzen Null“ verabschieden und Geld in die Hand nehmen, damit Integration besser gelingt, als in den 60er/70er Jahren? A.M.: Ich glaube, dass wir schon sehr viele Voraussetzungen getroffen haben, dass Integration besser gelingt. Wir haben die Lehren gezogen aus dem, was in den 60er/70er Jahren nicht gelungen ist. Wir machen Sprachtests in den Schulen. Wir haben für jeden, der zu uns kommt, das Angebot eines Integrationskurses von sechshundert Stunden. Das ist beachtlich. Und es gibt wenige Länder auf der Welt, in denen so systematisch Integration betrieben wird. Und das wir uns angesichts auch unseres Altersaufbaus unserer Gesellschaft bemühen und danach streben den ausgeglichenen Haushalt zu erhalten, das ist ein Dienst an der Zukunft. Ein Dienst an unseren Kindern und Enkeln. Und das in Zeiten, in denen ja die Steuereinnahmen steigen. Wir haben ja nicht eine Situation, in der wir jetzt sehr knapp bei Kasse Interview der Woche : 9 wären. Sondern wir haben die Spielräume, auch die Flüchtlingssituation zu bewältigen und trotzdem unsere Projekte für die Menschen durchzusetzen und vor allem auch mehr zu investieren, als wir es bisher gemacht haben. Wir haben über die Frage Straßen und Brücken und Breitbandausbau ja noch nicht ausführlich gesprochen, aber da hat Deutschland großen Bedarf. Und diese Koalition gibt mehr Geld in diese Bereiche, und das halte ich auch für sehr wichtig. SWR: Die Bundeskanzlerin Angela Merkel im SWR Interview der Woche. Herzlichen Dank für das Gespräch.
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