SWR Exklusiv-Interview mit Bundeskanzlerin Angela Merkel zum

SÜDWESTRUNDFUNK
SWR2 Interview der Woche – Manuskript
Autor:
Gesprächspartner:
Redaktion:
Sendung:
Stephan Ueberbach
Angela Merkel, Bundeskanzlerin
Stephan Ueberbach SWR Studio Berlin
Dienstag, 08.03.2016,
Extra! SWR Interview der Woche vom 08.03.2016
SWR: Frau Bundeskanzlerin, das Treffen gestern in Brüssel ist vorab als
Entscheidungsgipfel beschrieben worden, auch als Schicksalsgipfel, für Sie ganz
persönlich. Ist das auch Ihre Wahrnehmung oder denken Sie in anderen Kategorien?
AM: Also, dass es ein Gipfel ist der uns in Entscheidungen bringt, das wusste ich,
das habe ich auch selbst gesagt. Mit anderen Titulierungen bin immer etwas
vorsichtig. Es geht hier um einen Prozess, wie wir die illegale Migration stoppen
können, den Schleppern und Schleusern das Handwerk legen können und
gleichzeitig unserer humanitären Verantwortung gerecht werden. Und auch in Europa
die Bewegungsfreiheit, die Reisefreiheit sozusagen erhalten indem wir es lernen,
unsere Außengrenzen zu schützen, auch wenn das schwierig ist. Und dabei sind wir
mit der Türkei einen wichtigen Schritt vorangekommen in den Grundzügen. Wir
haben den Vorschlag der Türkei begrüßt, nicht nur mit einer Nato-Mission auch die
Außengrenzen zu schützen, sondern gleichzeitig die Bereitschaft der Türkei haben
wir begrüßt, illegale Migranten generell zurückzunehmen und das Ganze dann in die
legale Form zu überführen. Und ich glaube, wenn wir nächst Woche dann die
abschließenden Beschlüsse fassen ist das gut, dass wir uns noch ein paar Tage Zeit
genommen haben. Die einzelnen Feinheiten zu klären ist auch angemessen, denn es
handelt sich hier um eine sehr komplizierte Materie.
SWR: Die Türkei, Sie haben es gesagt, will alle Flüchtlinge aus Griechenland
zurücknehmen. Im Gegenzug sollen dann Syrer per Kontingent in die EU gebracht
werden. Warum sollen demnächst nur syrische Flüchtlinge in Europa Schutz finden
können? Was ist mit Afghanen, mit Irakern, mit Menschen aus Eritrea, die vor
Kriegen flüchten oder politisch verfolgt werden?
A.M.: Aus der Türkei kommen die Afrikaner sehr selten. Allenfalls aus Ländern mit
sehr geringer Anerkennungsquote wie Marokko und Tunesien und Algerien. Bei den
Irakern müssen wir noch einmal überlegen, ob wir dort auch in die Richtung von
Kontingenten gehen würden, das ist in unserer europäischen Entscheidung. Für die
Türkei ist das Thema der Syrer natürlich von besonderer Wichtigkeit. Wir dürfen nicht
vergessen, die Türkei mit 70 Millionen Einwohnern beherbergt im Augenblick 2,7
Millionen Syrer, jeden Tag kommen neue Syrer dazu. Und insofern haben sie gesagt,
wenn wir Syrer aus Europa zurücknehmen, selbst wenn sie illegal gekommen sind,
dann wollen wir, dass für jeden Syrer der zurückgeht auch einer von Europa
akzeptiert wird. Mit der Folge, dass wir auch dem Modell der illegalen Migration
sozusagen die Tür schließen. Denn wer illegal gekommen ist wird dann nicht zu
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denen gehören, die nach Europa können, jedenfalls nicht zuerst, sondern sich ganz
hinten anstellen müssen. Das heißt, es gibt keine Attraktivität mehr, diesen illegalen
gefährlichen Weg zu benutzen.
SWR: Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International oder Pro Asyl
sagen: Das ist teuflisch und menschenverachtend, weil Menschenleben und
Schicksale gegeneinander ausgespielt werden. Was sagen Sie?
A.M: Ich sage, dass im vergangenen Jahr 800 Menschen in der Ägäis ertrunken sind.
Allein in diesem Januar über 320. Und es menschenverachtend, Menschen in solche
gefährlichen Situationen zu bringen. Und deshalb sollten wir versuchen, ihnen legale
Wege zu öffnen. Deutschland wird sich jedenfalls zu dieser Verantwortung bekennen.
Und ich glaube, das ist allemal der bessere Weg als wenn wir indirekt Schlepper und
Schleuser noch unterstützen. Und deshalb halte ich diesen Weg für vertretbar.
SWR: Was ist eigentlich gewonnen, wenn die Menschen nicht mehr in Griechenland
an einer Grenze aufgehalten werden, sondern in der Türkei? Außer vielleicht, dass
die schrecklichen Bilder nicht mehr aus Europa kommen, sondern anderswoher …
A.M.: Na ja, da ist etwas sehr Wichtiges gewonnen, denn jedes Land normalerweise
oder jede politische Einheit muss sich an ihrer Außengrenze auch schützen können.
Wir haben keine grenzfreie Welt, wo es keine Grenzen mehr gibt. Europa hat sich
entschieden, den Grenzschutz an die Außengrenzen zu verlagern und dafür keine
Grenzkontrollen im Inneren zu haben. Und zu diesem Zustand wollen wir auch
wieder zurück, weil er für uns wirtschaftlich gut ist, weil er die Reisefreiheit für die
Bürgerinnen und Bürger garantiert und ein großer Wert ist. Das heißt aber, wir
müssen lernen, gemeinsam unsere Außengrenzen zu schützen. Und die
Außengrenze an der griechischen Seite ist die Grenze mit der Türkei. Und wenn eine
Außengrenze eine Meeresgrenze ist, dann kann ich nicht einfach einen Zaun bauen,
wie ich das zwischen Bulgarien und der Türkei habe, den kann ich besser schützen.
Sondern da muss ich lernen, in Partnerschaft mit meinem Gegenüber diesen
Außengrenzschutz zu machen. Und deshalb spielt die Türkei, die kein Mitglied der
Europäischen Union ist, eine andere Rolle als Griechenland, das zum „SchengenSystem“, also zur Europäischen Union dazugehört.
SWR Die Türkei macht neue Angebote, will aber im Gegenzug neue
Gegenleistungen haben. Visa-Erleichterungen zum Beispiel, schnellere Gespräche
über einen EU-Beitritt und natürlich auch mehr Geld, drei Milliarden Euro zusätzlich
stehen im Raum. Präsident Erdogan scheint sich seiner Sache also ziemlich sicher
zu sein. Hat er die EU in der Hand, sitzt er am längeren Hebel?
A.M.: Nein, wir suchen hier einen Interessenausgleich. Wir haben Interessen, aber
die Türkei hat auch Interessen. Die Türkei ist geographisch in einer sehr gefährlichen
Region gelegen. Wenn wir mal an die Nachbarn der Türkei denken, das ist Irak mit
dem IS, das ist Syrien mit dem Bürgerkrieg und dem IS, das ist der Iran. Sie hat gute
Gründe, auch mit uns in eine Partnerschaft zu kommen. Und da werden natürlich
auch kritische Themen angesprochen. Wir haben zum Beispiel gestern sehr lange
auch das Thema der Pressefreiheit besprochen. Und dann muss man
Interessenausgleiche finden. Und jetzt muss man sagen, die Türkei ist immerhin ein
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Beitrittskandidat, auch wenn die Verhandlungen ergebnisoffen geführt werden. Sie ist
der einzige Beitrittskandidat der Europäischen Union, der noch keine Visa-Freiheit
hat. Dass also ein Interesse daran besteht, den Zustand, den Serbien zum Beispiel
schon hat, zu erreichen, das können wir verstehen. Die Türkei muss dazu alle
Bedingungen erfüllen. Das sind 22 Maßnahmen, die sie umsetzen muss. Aber dann
ist das durchaus für einen Beitrittskandidaten ein Weg, der akzeptabel ist. Und wenn
es jetzt um das Geld geht, da kriegt ja nicht die Türkei einfach Geld, sondern
ausgewiesene Gelder für Projekte für syrische Flüchtlinge. Und wir haben immer
gesagt: Wir wollen Flüchtlinge davon abhalten, überhaupt sich auf den Weg zu
machen, in dem wir Fluchtursachen bekämpfen. Und wenn fünf Millionen Syrer
außerhalb Syriens heute auf der Flucht sind, dann hat die Türkei hier den großen
Anteil zu tragen. Und dass wir ihr da im Sinne eines Interessenausgleichs auch
helfen. 28 Mitgliedsstaaten, 500 Millionen Einwohner, zum zweiten Mal drei
Milliarden Euro am Ende des Jahres 2018, das halte ich wirklich für vertretbar.
SWR: Sie haben die Pressefreiheit in der Türkei gerade kurz angesprochen. Dort
sind Zeitungsredaktionen gestürmt worden, Chefredakteure wurden abgesetzt, die
unliebsam geschrieben haben. Verlage werden auf Regierungskurs gebracht.
Polizisten schießen mit Tränengas und Gummigeschossen auf eine
Frauendemonstration. Wie eng darf man mit dieser Türkei zusammen arbeiten? Ist
die Hoffnung da, dass man durch die Zusammenarbeit einen Wandel bewirken kann?
A.M.: Diese Hoffnung ist da. Wir müssen die Dinge ansprechen, auch wünschen wir
uns natürlich einen Fortschritt in der Kooperation mit den Kurden. Wir haben bei der
Zeitung, die jetzt im Raume stand, ein Gerichtsurteil, das ist jetzt auch schwer von
außen das zu beurteilen. Aber, dass die Pressefreiheit ein ganz großer Wert ist und
dass sich viele Menschen Sorgen machen in Europa, das haben wir sehr deutlich
angesprochen.
SWR: Sie nennen das eine europäische Lösung, über die gestern auch mit der Türkei
in Brüssel verhandelt wurde. Ist es tatsächlich eine gemeinsame europäische Idee,
über die diskutiert wird, oder ist es eher ein deutscher Plan?
A.M.: Es ist ja nur beschlossen was alle 28, sozusagen mittragen, und alle 28 haben
erst mal sich positiv, sehr positiv sogar zu dem grundsätzlichen Vorschlag der Türkei
geäußert. Die illegal nach Griechenland kommenden Menschen wieder
zurückzunehmen, und dann über Kontingente zu arbeiten im Weiteren. Dass der
europäische Prozess mühsam ist, dass die Interessen ganz unterschiedlich sind,
dass zum Teil jetzt auch Einzelmaßnahmen getroffen wurden die ich nicht so gut
fand, die dann letztlich auch zu einer Belastung Griechenlands geführt haben, das
alles ist Teil der europäischen Zusammenarbeit. Aber unter dem Strich muss ich
sagen, sind wir doch schon relativ gut voran gekommen. Alle sagen, wir müssen
unsere Außengrenzen schützen. Alle sagen, wir müssen die illegale Migration
bekämpfen. Alle haben sich für den Nato-Einsatz in der Ägäis ausgesprochen. Und
alle haben jetzt auch den neuen Vorschlag willkommen geheißen. Manchmal könnte
es schneller gehen. Aber ich glaube, insgesamt bewegt sich die Sache in die richtige
Richtung.
SWR: Und der Vorschlag kam auch tatsächlich aus der Türkei? Denn es gibt ja
Gerüchte, dass wäre aus Berlin gekommen …
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A M.: Also, das habe ich interessanterweise auch gehört. Ich habe schon gesagt, die
Idee zum Beispiel der Überwachung und der Transparenz in der Ägäis mit der NATO,
da würde ich sagen gab es eine deutsche Urheberschaft. Aber hier war es so: Wir
hatten uns mit dem türkischen Ministerpräsidenten verabredet. Wir hatten sehr viel
über die Rücksendung von illegalen Migranten gesprochen. Die Türkei hatte immer
gesagt nicht alle, insbesondere Syrer nicht. Und dann hat die türkische Regierung
noch mal sich das überlegt und kam Sonntag mit diesem Vorschlag, sehr
eigenständig. Und da finde ich sollten wir fair sein und die Urheberschaft da
hingeben, wo sie herkommt.
SWR: Müssten Sie nicht eigentlich Österreich dankbar sein, nicht weil die
Flüchtlingszahlen in Deutschland sinken weil die Grenzen geschlossen wurden,
sondern weil die harte Haltung in Wien einen europäischen Einigungsdruck erzeugt?
A.M.: Das glaube ich nicht. Ich bin Österreich nicht dankbar. Ich fand das nicht
glücklich, sagen wir mal so, dass einseitige Entscheidungen getroffen wurden.
Obwohl wir auf einem Weg waren, alle 28, auch im Blick auf den Außengrenzschutz
mit Griechenland zu sprechen, auch Griechenland darauf hinzuweisen welche
Aufgaben sie im Rahmen des „Schengen-Systems“ haben. Ich glaube, wir wären zu
ähnlichen Ergebnissen gekommen in sehr kurzer Zeit. Aber die Dinge haben sich
jetzt so entwickelt, wie sie sich entwickelt haben. Aber Dankbarkeit findet sich da bei
mir nicht.
SWR: An der Grenze zwischen Mazedonien und Griechenland sitzen mehr als 10
000 Flüchtlinge fest. Sie rufen: „Mama Merkel hilf uns!“ Was macht das mit Ihnen,
wenn Sie so etwas hören?
A.M.: Ja, das ist natürlich schon sehr emotional. Trotzdem ist es so, dass wir immer
wieder auch gesagt haben: Das ganze „Schengen-System“ der europäischen Union
ist so aufgebaut, dass sich kein Flüchtling der Schutz sucht aussuchen kann, in
welchem Land er Schutz bekommt. Und weil wir davon ausgehen, dass alle Länder
mit den Flüchtlingen vernünftig umgehen. Leider haben wir in Ungarn im Sommer
Dinge erlebt, die nicht schön waren. Also, es ist bewegend. Aber wir müssen
trotzdem mehr gucken, wie wir zu dem „Schengen-System“ zurückkehren. Und auch
Griechenland ist ein Ort, in dem sich sehr viele „Nicht-Regierungsorganisationen“
sehr gut um die Flüchtlinge kümmern. Und wo jetzt die griechische Regierung,
endlich sage ich, auch alles unternimmt, um zusammen mit dem UNHCR und der
Europäischen Kommission vernünftige Unterkünfte zu bauen.
SWR: Vor einem halben Jahr haben Sie die Flüchtlinge aus Budapest einreisen
lassen. Was unterscheidet die Lage in Idomeni von der in Budapest?
A.M.: Im Sommer war es so, dass in Ungarn die Bedingungen sehr schlecht waren
und dass auch die Flüchtlinge, sagen wir mal, so behandelt wurden, dass man sie hat
einen Tag hat Fahrkarten kaufen lassen nach Deutschland. Also, den Eindruck
erweckt, man könnte dort hinkommen. Die Züge fuhren auch an einem Tag. Und am
nächsten Tag hat man sie dann ein Stück irgendwo hingefahren mit dem Zug. Und
sie im Grunde hinters Licht geführt. Und dann diese Enttäuschung produziert. Andere
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hatten Fahrkarten und konnten diese überhaupt nicht mehr einlösen. Und das war
eine Situation, in der wir gesagt haben, dass diese Menschen auch zu uns kommen
konnten, wie übrigens seit Jahresbeginn sehr, sehr viele aus Ungarn gekommen
waren - im Juni, im Juli, im August. Und im Grunde hat sich das fortgesetzt. Oft wird
gesagt, ich hätte die Grenze geöffnet. Ich hab die überhaupt nicht geöffnet, weil sie
offen war.
SWR: Nun sagt, zum Beispiel, die CSU, das ist der Kurswechsel der Kanzlerin, auf
den wir so lange gewartet haben? Ist es ein Kurswechsel?
A.M.: Nein, es ist kein Kurswechsel. Ich hab die ganze Zeit gesagt, wir müssen an
einer europäischen gemeinsamen Lösung arbeiten. Ich hab dann mich immer dafür
eingesetzt die Zusammenarbeit mit der Türkei voran zu treiben. Daraus ist der EUTürkei-Aktionsplan Ende November geworden. Dann die Transparenz, die
gemeinsame Überwachung der Ägäis jetzt mit der NATO-Mission. Und jetzt die
vertiefte Kooperation mit der Türkei durch die türkischen Vorschläge. Und diesen
Kurs habe ich immer fortgesetzt und insofern sehe ich mich da in einer langen
Kontinuität.
SWR: Aber warum lassen Sie die CSU nicht einfach in dem Glauben? Damit hätten
Sie doch das Problem mit Horst Seehofer auf elegante Weise gelöst?
A.M.: Ich glaube erstens, dass die Gemeinsamkeiten zwischen CDU und CSU sehr
stark sind, gerade wenn wir uns mal die ganzen innenpolitischen Maßnahmen im
Zusammenhang mit den Flüchtlingen anschauen. Und zweitens, dass es mir ja nicht
darum geht, was man löst und wo man sozusagen Einigkeit vortäuscht, wo sie nicht
da ist. Ich setze auf diese europäische Lösung, weil ich glaube, dass nur so die
innere Reisefreiheit in der Europäischen Union erhalten bleiben kann, was für uns
wirtschaftlich wichtig ist. Was für ein Gebiet, in dem eine gemeinsame Währung
existiert, wie der Euro, wichtig ist. Und weil Rückschritte, wenn man einmal die
Reisefreiheit innerhalb Europas hatte, und man würde dahinter wieder zurück gehen,
eine sehr problematische Entwicklung für Europa wären. Wir müssen im Grunde
nach vorne schauen und die Integration vertiefen. Und wenn ich schaue, wir 500
Millionen Europäer, was macht unseren Charme aus, dann sind es gerade diese
freien Grenzen, die freie Bewegungsmöglichkeit der Wirtschaft, die
Niederlassungsfreiheit der Unternehmen, denn wir haben es mit Wettbewerbern zu
tun, wie China und Indien, die haben über eine Milliarde Einwohner. Wir haben einen
großen amerikanischen Binnenmarkt. Und wenn wir Wohlstand bei uns erhalten
wollen, wenn wir wohlhabend bleiben wollen, dann müssen wir unsere
wirtschaftlichen Potentiale zusammen tun auf dieser Welt, denn der Wettbewerb wird
eher härter. Wenn ich mal an die Entwicklung der Digitalisierung denke, wenn ich
daran denke, was sich in der Automobilindustrie, im Maschinenbau verändert, dann
ist Europa gut beraten, seine wirtschaftlichen Kräfte zu bündeln.
SWR: Sie haben ihre Politik vor knapp einer Woche bei Anne Will in der ARD erklärt.
Heute tun Sie es hier im Radio beim Südwestrundfunk. Was halten Sie von der Idee,
mal bei einem Sender, wie Al Jazeera aufzutreten oder Al Arabiya, damit Sid die
Menschen direkt erreichen können, die sich vielleicht gerade überlegen, ob sie sich
auf den Weg machen sollen oder nicht?
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A.M.: Erst mal freue ich mich, dass ich mich jetzt ans deutsche Publikum wenden
kann, weil viele Menschen auch in diesen Zeiten, wo es ja doch auch viele, viele
Fragen gibt, wo neue Entwicklungen auf uns einprasseln, wo praktisch die Weltpolitik
zu uns ins Land kommt, indem Dinge, die wir früher im Fernsehen gesehen haben,
Bilder aus dem syrischen Bürgerkrieg, plötzlich ist das hautnah bei uns. Und viele
Menschen helfen. Viele Menschen engagieren sich. Und das ist toll. Ich will nicht
ausschließen, dass ich auch mal einem ausländischen Sender mich den Fragen
stelle. Aber erst mal ist mein Bezugsgebiet, ich bin die Bundeskanzlerin der
Bundesrepublik Deutschland, hier in Deutschland.
SWR: Haben Sie sich eigentlich schon mal persönlich einen Eindruck davon
verschafft, wie die deutsche Flüchtlingspolitik, wie Ihre Flüchtlingspolitik im Internet
diskutiert wird? Mit welchem Hass und in welcher Wut da Menschen die deutsche
Politik kommentieren?
A.M.: Also ich habe eine ungefähre Vorstellung davon, das ist sowohl im Internet als
auch beim Posteingang durchaus erkennbar. Es gibt eine ganz große
Emotionalisierung, dass das sehr heißt diskutiert ist, dass es sehr kontrovers auch
diskutiert werden kann. Das kann ich verstehen. Wo ich glaube, dass wir aufpassen
müssen, ist, dass wir sozusagen das, was in unserem Artikel 1 des Grundgesetzes
steht, „die Würde jedes Menschen ist unantastbar“, dass das auch in dem, was wir
niederschreiben immer sich wieder findet. Also, dass wir sehen, dass zu uns nicht
einfach Ströme von Menschen kommen, sondern einzelne Menschen. Das diese
Menschen genauso viel Achtung verdient haben und jeder ein anderes Schicksal hat
wie jeder einzelne Deutsche es verdient hat mit seiner Meinung, die, wenn er sie
sachlich vorträgt, auch ernst genommen zu werden.
SWR: Das gesellschaftliche Klima scheint sich ja deutlich zu verändern und zwar in
einer rasenden Geschwindigkeit. Wo sehen Sie da die Verantwortung der Politik?
A.M.: Ich sehe die Verantwortung der Politik darin, dass wir die Probleme lösen
müssen. Wir haben ja folgenden Befund. Auf der einen Seite sind über 90 Prozent
der Bevölkerung weiter der Meinung, was ich sehr beeindruckend finde, dass
Menschen, die vor Gewalt, vor Krieg, vor Terrorismus fliehen, bei uns Schutz
bekommen sollten. Und auf der anderen Seite haben trotzdem die Menschen den
Eindruck, dass die Politik die Sache nicht voll im Griff hat. Und deshalb ist es so
wichtig, nach Lösungen zu suchen, wie wir sie am Anfang unseres Interviews
diskutiert haben, um den Menschen zu sagen, wir haben eine Antwort auf eure
Fragen, und wir können die Probleme lösen. Das dauert zugegebenermaßen jetzt
einige Zeit. Und ich bin ganz sicher, wenn wir das geschafft haben, und wir sind auf
einem guten Weg und schon sehr viel voran gekommen, dann werden auch die, die
einfach „Nein“ sagen, die auch mit Emotionen spielen, nicht mehr so viel Zulauf
haben. Und deshalb müssen wir auch weiter jetzt in dieser Phase der
Lösungsfindung argumentieren und für unseren Weg werben.
SWR: Bundeskanzlerin Angela Merkel im SWR Interview der Woche. Frau Merkel,
eine große Wochenzeitung hat sich gerade intensiv mit Ihrer Partei, mit der CDU,
beschäftigt. Der Titel hieß „Eine Volkspartei fürchtet das Volk“. Erleben Sie die CDU
auch so?
Interview der Woche :
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A.M.: Nein. Ich fürchte das Volk nicht, als die Vorsitzende der Christlich
Demokratischen Union. Es gibt kontroverse Meinungen. Weil die CDU Volkspartei ist,
spiegeln sich in ihr auch die unterschiedlichen Strömungen der Bevölkerung wieder.
Und da gibt es Sorgen, da gibt es Befürchtungen, gerade auch was geschieht mit
unserem Land. Schaffen wir die Integration? Und da finde ich, können wir
selbstbewusst sein, natürlich ist unser Land auch deshalb so attraktiv für viele
Menschen, weil bei uns Regeln gelten, weil bei uns bestimmte Prinzipien gelten,
abgeleitet aus dem Schutz der Würde des Menschen. Die Gleichberechtigung von
Mann und Frau, die Religionsfreiheit, die Meinungsfreiheit, das Gewaltmonopol des
Staates. Und das alles müssen wir sehr entschieden einfordern. Und dann wird alles
das, was uns lieb ist in diesem Land, die soziale Marktwirtschaft, die Einbindung in
die transatlantische Partnerschaft, in die europäische Einigung, das Existenzrecht
Israels, all das wird auch erhalten bleiben.
SWR: Die Umfragewerte vor den Landtagswahlen die bevorstehen sprechen eine
ziemlich klare Sprache. In Rheinland-Pfalz hat die CDU unter Julia Klöckner einen
großen Vorsprung eingebüßt. In Sachsen-Anhalt steht die Fortsetzung von der
Großen Koalition in den Sternen und in Baden-Württemberg droht so was wie die
„finale Demütigung“, nämlich Platz zwei hinter den Grünen. Was heißt das für die
CDU?
A.M.: Kämpfen. Wir sind jetzt in den letzten Tagen des Wahlkampfes. Viele
Menschen sind noch unentschieden. Und wir glauben, dass wir mit Julia Klöckner
eine Spitzenkandidatin haben, die das Zeug zur Ministerpräsidentin hat. Dass es in
Rheinland-Pfalz viele Dinge gibt, die verbessert werden könnten, insbesondere der
Ausbau der Infrastruktur. Der Abbau der Verschuldung, bessere Finanzausstattung
für die Kommunen. Und auch in Baden-Württemberg, unter zugegebenermaßen nicht
einfachen Bedingungen, muss jetzt um jede Stimme gekämpft werden. Das erwarten
die Bürgerinnen und Bürger von uns in schwierigen Zeiten. Und deshalb engagiere
ich mich auch mit Julia Klöckner, mit Guido Wolf im Wahlkampf sehr intensiv.
SWR: Am Wochenende hat die AfD in Hessen bei den Kommunalwahlen aus dem
Stand 13 Prozent geholt. Die aktuellen Umfragen für die Landtagswahlen lassen
vermuten, dass die Partei am Sonntag mit ähnlichen Ergebnissen in alle die
Landtage einziehen wird. Was ist Ihre Erklärung für diesen Aufstieg der AfD?
A.M.: Das, worüber wir eben auch schon gesprochen haben, dass manche
Menschen den Eindruck haben, wir haben die Lösung noch nicht parat. Und da wir
hier auch neue Probleme zu bewältigen haben, arbeiten wir intensiv. Ich sage
trotzdem denen, die eine konstruktive Lösung wollen, die etwas bewegen wollen,
dass da die AfD die vollkommen falsche Partei ist. Es wird hier zum Teil mit
Emotionen gearbeitet. Jedenfalls nicht damit bestimmte Probleme auch einer Lösung
zuzuführen. Und das wird auch in den Diskussionen von uns, also von der CDU, mit
Vertretern der AfD sehr deutlich gemacht. Unter dem Strich ist es so, wer die AfD
wählt muss wissen, dass er dann von linkeren Parteien regiert wird.
SWR: Wie sollen denn die etablierten Parteien mit der AfD umgehen, wenn die in die
Parlamente einzieht? Ignorieren, totschweigen oder sich inhaltlich
auseinandersetzen?
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A.M.: Inhaltlich auseinandersetzen, aber klar machen, dass es keinerlei Kooperation
im Sinne von Koalition gibt.
SWR: Frau Merkel, Sie haben mal gesagt, wenn wir den Flüchtlingen kein
freundliches Gesicht mehr zeigen dürfen, ist das nicht mein Land. Sie haben auch
gesagt, wenn ein EU-Staat auf Kosten eines anderen Grenzen definiert, dann ist das
nicht mehr mein Europa. Jetzt haben Sie gerade Ärger mit Ihren Berliner
Koalitionspartnern. Die SPD will ein Sozialpaket für Deutsche, CSU-Chef Seehofer
kritisiert Ihre Flüchtlingspolitik so scharf wie kaum ein anderer. Wann ist der Punkt für
Sie erreicht an dem Sie sagen, wenn ich nur noch von solchen Egoisten umgeben
bin, dann ist das nicht mehr meine Bundesregierung?
A. M.: Die Bundesregierung arbeitet gut zusammen. Dass die unterschiedlichen
Partner auch mal unterschiedliche Meinungen haben, das gehört dazu. Ich habe über
die Gemeinsamkeiten von CDU und CSU gesprochen. Es gibt in einigen Fragen der
Flüchtlingspolitik auch sehr unterschiedliche Meinungen. Die muss man aushalten
und auch ein Stück austragen. Aber es gibt auch sehr gemeinsame
Herangehensweisen. Und was die Forderungen der SPD anbelangt, dass wir weitere
soziale Maßnahmen umsetzen, sage ich eindeutig „Ja“, soweit es sich um die
Projekte des Koalitionsvertrages handelt. Zum Beispiel das, was wir
„Lebensleistungsrente“ nennen, ist ein solches Projekt. Das wird noch angegangen
werden. Ansonsten glaube ich nur, dass diese Bundesregierung, diese Große
Koalition unter Mitwirkung der SPD sehr, sehr viel für die Menschen auf den Weg
gebracht hat. Dass uns die gute Wirtschaftslage, die gute Beschäftigungslage in die
Lage versetzt hat, eine Pflegereform zu machen, wie wir sie ja Jahrzehnte nicht
hatten. Dass es uns in die Lage versetzt hat, die Mütterrente zu erhöhen. Für
langjährig Versicherte auch den Renteneintritt mit 63. Das Kindergelt zu erhöhen.
Alleinerziehende besser zu stellen. BAföG zu erhöhen, Meister-BAföG zu erhöhen.
Also, selten habe ich eine Legislaturperiode erlebt, wo man fast jedem doch eine
Verbesserung seiner Lebenslage zusichern konnte. Dazu eben eine sehr, sehr gute
Beschäftigungssituation. Und die Projekte, die noch ausstehen, werden wir auch
umsetzen. Einführung eines Mindestlohns, zum Beispiel, war auch ein großes
Projekt. Und deshalb sollten wir unsere Arbeit jetzt nicht schlecht machen und uns da
kleiner machen als wir sind.
SWR: Aber Sie haben die Flüchtlingspolitik als gewaltige Herausforderung auch für
die nächste Zeit beschrieben. Wenn das so ist, muss sich die Politik dann nicht vom
Ziel der „Schwarzen Null“ verabschieden und Geld in die Hand nehmen, damit
Integration besser gelingt, als in den 60er/70er Jahren?
A.M.: Ich glaube, dass wir schon sehr viele Voraussetzungen getroffen haben, dass
Integration besser gelingt. Wir haben die Lehren gezogen aus dem, was in den
60er/70er Jahren nicht gelungen ist. Wir machen Sprachtests in den Schulen. Wir
haben für jeden, der zu uns kommt, das Angebot eines Integrationskurses von
sechshundert Stunden. Das ist beachtlich. Und es gibt wenige Länder auf der Welt, in
denen so systematisch Integration betrieben wird. Und das wir uns angesichts auch
unseres Altersaufbaus unserer Gesellschaft bemühen und danach streben den
ausgeglichenen Haushalt zu erhalten, das ist ein Dienst an der Zukunft. Ein Dienst an
unseren Kindern und Enkeln. Und das in Zeiten, in denen ja die Steuereinnahmen
steigen. Wir haben ja nicht eine Situation, in der wir jetzt sehr knapp bei Kasse
Interview der Woche :
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wären. Sondern wir haben die Spielräume, auch die Flüchtlingssituation zu
bewältigen und trotzdem unsere Projekte für die Menschen durchzusetzen und vor
allem auch mehr zu investieren, als wir es bisher gemacht haben. Wir haben über die
Frage Straßen und Brücken und Breitbandausbau ja noch nicht ausführlich
gesprochen, aber da hat Deutschland großen Bedarf. Und diese Koalition gibt mehr
Geld in diese Bereiche, und das halte ich auch für sehr wichtig.
SWR: Die Bundeskanzlerin Angela Merkel im SWR Interview der Woche. Herzlichen
Dank für das Gespräch.