und Währungspolitik - Bundesverband deutscher Banken

Konjunkturprognose des
Ausschusses für Wirtschafts- und
Währungspolitik
Carsten Klude
Vorsitzender des Ausschusses für Wirtschafts- und Währungspolitik des
Bundesverbandes deutscher Banken und
Chefvolkswirt, M.M.Warburg & CO (AG & Co.) KGaA
Dr. Michael Kemmer
Hauptgeschäftsführer und Mitglied des Vorstands,
Bundesverband deutscher Banken
Berlin, 9. März 2016
Es gilt das gesprochene Wort!
Bundesverband deutscher Banken e. V.
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10178 Berlin
Telefon: +49 30 1663-0
Telefax: +49 30 1663-1399
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Sehr geehrte Damen und Herren,
schlechte Nachrichten zum Wirtschaftsausblick scheinen derzeit Konjunktur zu haben. Und in der Tat: Wir
erleben gerade eine außergewöhnliche Bündelung von Risikofaktoren. Das beginnt bei dem massiven Verfall
der Öl- und Rohstoffpreise, die beispielsweise in den Öl exportierenden Ländern wachsende Haushaltsprobleme bereiten und in den USA Sorgen über Zahlungsausfälle bei Öl- und Gasfirmen schüren. Das geht
weiter über die Zweifel an den Wachstumsaussichten in China und anderen Schwellenländern bis hin zu
aufkeimenden Rezessionsängsten in den USA und der Möglichkeit eines durch die Geldpolitik verschleierten
globalen Abwertungswettlaufs. Aber auch die geopolitischen Risiken sind vielfältig und hoch. Hinzu kommt
eine wachsende Skepsis bezüglich der Geldpolitik. Hat sie sich mit den gewaltigen Liquiditätsinjektionen
sowie mit negativen Leitzinsen in eine Sackgasse manövriert?
Vielleicht so viel schon einmal vorweg: Die aktuelle wirtschaftliche Lage ist alles andere als trivial und es
gibt sehr viele wirtschaftspolitische Herausforderungen. Handfesten Krisenszenarien können wir uns allerdings nicht anschließen. Wir prognostizieren, dass die Weltwirtschaft nach einer Verschnaufpause in diesem
Jahr, im nächsten Jahr wieder etwas an Fahrt gewinnt. Die Konjunktur im Euro-Raum und in Deutschland
wird – quasi auf „Autopilot“ – langsam geradeaus fahren.
I.
Weltwirtschaftliches Umfeld
China: Regierung wird geld- und fiskalpolitische Handlungsmöglichkeiten nutzen
Die Perspektiven für die Weltwirtschaft werden gegenwärtig sehr stark vom Blick auf China geprägt. Dort
wird sich das Wirtschaftswachstum in diesem Jahr noch einmal verlangsamen. Erst zum Jahresende
rechnen wir mit einer Stabilisierung, die dann im kommenden Jahr zu einer Wachstumsrate von gut 6 %
führen wird. Der Dienstleistungssektor und der private Konsum bleiben robust. Die Börsenturbulenzen
strahlen nicht auf die private Nachfrage aus. Entscheidend für die Stabilisierung ist jedoch, dass die
Regierung noch weitreichende geld- und fiskalpolitische Handlungsmöglichkeiten hat, die sie vor allem beim
Infrastrukturausbau nutzen wird.
Der angestrebte Umbau der Wirtschaft in Richtung eines stärkeren privaten Konsums wird fortgeführt.
Dieser Prozess wird auch weiterhin nicht reibungslos verlaufen. Die chinesische Regierung muss Lehren aus
den Turbulenzen im Sommer letzten Jahres und Anfang diesen Jahres ziehen, und sich um eine bessere
Kommunikation ihrer Maßnahmen bemühen. Dies ist notwendig, um die Glaubwürdigkeit der selbst gesteckten Wachstumsziele zurückzugewinnen. Außerdem muss sie das Problem der Überkapazitäten in
einzelnen Industriesektoren konsequent angehen. Kurzfristig wird dies das Wachstum weiter dämpfen,
mittelfristig sollten die Maßnahmen die chinesische Wirtschaft aber robuster machen.
USA: Mit angezogener Handbremse
Für die USA prognostizieren wir in diesem Jahr ein Wachstum mit „angezogener Handbremse“. Die sich
gegenwärtig anbahnende wirtschaftliche Schwäche erstreckt sich vor allem auf den Industriesektor. Beim
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Wirtschaftswachstum sollte dies aber nur eine kleine Delle verursachen. In den klassischen Erklärungsmustern ist die Rezessionswahrscheinlichkeit auch deswegen sehr gering, weil wir in den USA noch keine
Felder ausmachen können, in denen die Wirtschaft zu heiß gelaufen ist. Dementsprechend haben sich auch
keine gravierenden Verspannungen aufgebaut. Darüber hinaus sollte der Aufwertungseffekt des US-Dollar,
der die US-Wirtschaft in den letzten eineinhalb Jahren gebremst hat, allmählich auslaufen. Der kollabierte
Ölpreis belastet zwar die US-Ölproduzenten, das stellt aber kein systemisches Risiko für den US-Bankensektor dar. Das Wirtschaftswachstum in den USA dürfte in diesem Jahr bei rund 2 % liegen. Spitz gerechnet
wären dies 0,4 Prozentpunkte weniger als im Jahr 2015. Im kommenden Jahr rechnen wir mit einer leichten
Beschleunigung auf 2,3 %.
Die US-Notenbank sollte vor diesem Hintergrund den im Dezember vergangenen Jahres begonnenen Zinserhöhungsprozess grundsätzlich fortsetzen. Die weiterhin sehr niedrige Inflationsrate und die jüngsten
Turbulenzen an den Finanzmärkten dürften die Fed allerdings dazu veranlassen, bis zum Sommer dieses
Jahres eine Pause einzulegen. Im zweiten Halbjahr 2016 erwarten wir noch zwei Zinsschritte von jeweils
25 Basispunkten. Im nächsten Jahr dürften drei weitere Schritte folgen.
Weltwirtschaft: Bodenbildung im Jahresverlauf
Die Weltwirtschaft insgesamt wird in diesem Jahr nur sehr holprig vorankommen. Das Muster des vergangenen Jahres, mit einer Wachstumsabschwächung in den Schwellenländern, setzt sich fort. Hier sind es
vielfach hausgemachte politische und strukturelle Probleme, die das Wachstum dämpfen. Die Industrieländer können beim Wirtschaftswachstum wohl in etwa das Vorjahresniveau halten. Insgesamt würde das in
diesem Jahr ein globales Wachstum von knapp 3 % ergeben und damit geringfügig unter der Wachstumsrate des vergangenen Jahres liegen. Damit sollte dann aber der Boden gefunden sein. Vor allem in den
Schwellenländern, die sich zurzeit in einer Rezession befinden – allen voran in Russland und Brasilien –,
sollte die Wirtschaft zum Jahresende wieder etwas Halt finden. Verhalten anziehende Öl- und Rohstoffpreise
sollten im Jahresverlauf ebenfalls zur Stabilisierung beitragen.
Im kommenden Jahr erwarten wir dann wieder eine leichte Beschleunigung des globalen Wachstums auf
rund 3,5 %. Gemäß dieser Prognose bleibt das globale Wirtschaftswachstum im gesamten Prognosezeitraum relativ schwach und deutlich unterdurchschnittlich. Einige in unserem Kreise sehen darin aber auch
die Chance, dass Überinvestitionen ausbleiben und die Erholung im Gegenzug einen längeren Atem haben
kann.
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II.
Konjunktur und Geldpolitik im Euro-Raum
Euro-Raum: Ohne nennenswerte Impulse
Bildlich gesehen ist die Konjunktur im Euro-Raum auf einem schwerfälligen und etwas klapprigen Gefährt
unterwegs. Der bereits vor zwei Jahren begonnene Erholungskurs setzt sich ohne neue Impulse und mit
einem moderaten Tempo fort. Nach einem Wirtschaftswachstum von 1,5 % im vergangenen Jahr prognostizieren wir für das laufende und das nächste Jahr jeweils eine annähernd gleiche Rate. Die zentrale Wachstumsstütze ist dabei der private Konsum, der von den gesunkenen Energiepreisen und dem moderaten,
aber insgesamt viel zu langsamen Rückgang der Arbeitslosigkeit profitiert. Neben den weltwirtschaftlichen
Unsicherheiten werden die größten Konjunkturrisiken auf der politischen Ebene gesehen, insbesondere die
Bewältigung der Zuwanderung, die Möglichkeit eines britischen EU-Austritts und das Zurückdrehen von
Wirtschaftsreformen in den ehemaligen Krisenländern.
Weiterhin keine Deflationsgefahren
Die Inflationsrate im Euro-Raum ist im Februar dieses Jahres wieder in den negativen Bereich abgerutscht.
Dies hat vor allem zwei Gründe: Erstens, die seit Mai letzten Jahres noch einmal deutlich eingebrochenen
Rohölpreise und zweitens, die allmählich auslaufenden Teuerungseffekte durch die Euro-Abwertung. Aus
heutiger Sicht ist davon auszugehen, dass die Preissteigerungsrate für die Währungsunion bis ins zweite
Halbjahr hinein im Minusbereich bleibt. Danach ist wieder mit der Rückkehr in den positiven Bereich zu
rechnen, weil dann die Basiseffekte aus dem Preisverfall beim Rohöl nachlassen.
Die Sorge, dass wir damit im Euro-Raum in eine gefährliche Deflationsspirale rutschen, halten wir für überzogen – genauso wie bereits vor einem Jahr, als die Inflationsrate schon einmal im negativen Terrain lag.
Ernsthafte Deflationsgefahren sind jedenfalls nicht zu erkennen. Bei einer erwarteten Ausdehnung der
Konsumausgaben im Euro-Raum von rund 1,7 % in diesem Jahr kann kaum davon gesprochen werden,
dass Konsumenten ihre Ausgaben zurückhalten, weil sie mit weiter sinkenden Preisen rechnen. Im Gegenteil: Für die Konsumenten im Euro-Raum sind die niedrigen Ölpreise eine gute Nachricht, denn sie steigern
deren reale Kaufkraft, was auch in den relativ robusten Umfragen zum Konsumklima zum Ausdruck kommt.
EZB-Ziel wird zu eng und mechanistisch interpretiert
Als Argument für eine weitere Verstärkung der extrem expansiven Geldpolitik wird häufig angeführt, dass
sich die Inflationserwartungen aus der Verankerung gelöst hätten, die beim mittelfristigen Inflationsziel der
EZB von „unter, aber nahe bei 2 %“ liegen sollte. Auch dieses Argument kann nicht überzeugen. Wir halten
den verwendeten Indikator für die Inflationserwartung für wenig aussagekräftig, da er sehr stark mit der
kurzfristigen Entwicklung der Ölpreise korreliert ist.
Unabhängig davon wird das mittelfristige Inflationsziel der EZB unserer Meinung nach zu eng interpretiert.
In der gängigen Wahrnehmung ist es praktisch ein Punktziel von 1,9 %. Ein so enges Ziel ist sachlich aber
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nicht gerechtfertigt und bei einer Zielgröße, die die Geldpolitik nur indirekt und mit langen Wirkungsverzögerungen beeinflussen kann auch nicht zweckmäßig.
Die Chefvolkswirte der privaten Banken plädieren nun nicht für eine Änderung der mittelfristigen Zielgröße
der EZB – schon gar nicht in der gegenwärtigen Situation. Wir sind aber der Meinung, dass die EZB seit
geraumer Zeit die Zielgröße und ihre geldpolitischen Maßnahmen entschieden zu „mechanistisch“ anwendet. Dadurch entsteht eine Art „Alarmismus“, der sich sogar selbst verstärken kann. Nach unserer
Auffassung gehört es zu einer situationsgerechten Auslegung, dass die EZB stärker die konkreten Ursachen
für die aktuelle Preisentwicklung analysiert und bei der Kommunikation mit den Marktakteuren auch auf
Sonderfaktoren und die langen Wirkungsverzögerungen der Geldpolitik hinweist.
Gebot der Stunde: Politik der „ruhigen Hand“
Im Sinne einer stärkeren mittelfristigen Orientierung und einer weniger mechanistischen Anwendung der
EZB-Zielgröße plädieren wir im Euro-Raum aktuell für eine Geldpolitik der „ruhigen Hand“. Die EZB sollte
auf jeden Fall stärker auf Sonderfaktoren, wie die sehr markante Ölpreisentwicklung aber auch den preisdämpfenden Bereinigungsprozess nach dem Platzen der Schuldenblase in den Jahren 2008 und 2009 hinweisen. Die möglichen positiven Wirkungen einer weiteren geldpolitischen Lockerung schätzen wir in der
gegenwärtigen Lage als vernachlässigbar ein. Dem stehen aber zahlreiche unerwünschte Nebeneffekte
gegenüber, die immer gravierender werden. Herr Dr. Kemmer wird gleich noch etwas näher darauf eingehen.
EZB wird den Geldhahn dennoch weiter aufdrehen
Ungeachtet der stark ausgeprägten Skepsis gegenüber dem aktuellen Kurs der Geldpolitik, gehen wir fest
davon aus, dass die EZB auf ihrer morgigen Ratssitzung zusätzliche geldpolitische Maßnahmen beschließen
wird. Wir sehen die EZB als Gefangene ihrer eigenen Politik und erwarten eine weitere Senkung des Zinses
für die Einlagefazilität sowie eine Ausweitung des Anleihekaufprogramms. Und hier bahnt sich bereits das
erste Dilemma der aktuellen EZB-Politik an: In dem Maße, wie die aktuelle Geldpolitik der EZB, trotz einer
stetigen Ausweitung ihres Expansionsgrads, immer weniger positive Wirkungen entfaltet, verliert die
Notenbank an Glaubwürdigkeit.
III.
Konjunktur in Deutschland
Robuste Inlandsnachfrage
Die Konjunktur in Deutschland wird auch im Jahr 2016 vor allem von den binnenwirtschaftlichen Faktoren
getragen, allen voran vom privaten Verbrauch und dem Staatskonsum. Der private Verbrauch profitiert von
der günstigen Beschäftigungssituation, guten Lohnabschlüssen und der niedrigen Inflation. Die Chefvolkswirte prognostizieren beim privaten Konsum ein reales Plus von 1,8 %, was in etwa dem Vorjahresniveau
entspricht. Beim öffentlichen Konsum sind es vor allem die Ausgaben für Flüchtlinge, die zu einem Anstieg
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um 2,5 % führen. Relativ robust schätzen wir auch die Bauinvestitionen ein. Sie sollten um 2,2 % steigen
nach einem überraschend schwachen Plus von lediglich 0,3 % im vergangenen Jahr. Bei den Bauinvestitionen dürften sich die niedrigen Zinsen, aber auch die hohe Nachfrage durch die Zuwanderung beim
Wohnungsbau bemerkbar machen; die zuletzt sehr positive Auftragsentwicklung im Bausektor ist ein klares
Indiz dieser beiden Einflussfaktoren
Gebremst wird die deutsche Konjunktur in diesem Jahr vom Außenhandel. Die Exporte dürften zwar um
3 % zulegen; da die Importe mit 4,4 % deutlich stärker expandieren, wird der Saldo des Außenhandels mit
etwa 0,3 Prozentpunkten negativ zur BIP-Entwicklung beitragen.
Ein gravierender Schwachpunkt im deutschen Konjunkturbild werden auch in diesem Jahr die Ausrüstungsinvestitionen sein. Sie dürften lediglich um etwas mehr als 2 % steigen, was eine deutliche Verlangsamung
gegenüber dem Tempo des Vorjahres wäre. Neben den bekannten Ursachen für die Investitionsschwäche
der deutschen Wirtschaft werden die in den nächsten Monaten noch anhaltenden Unsicherheiten über die
Weltkonjunktur, die sich kurzfristig womöglich noch weiter zuspitzenden politischen Probleme in Europa
(Flüchtlinge, Grenzkontrollen, Erstarken nationalistischer Strömungen) sowie das Ausbleiben von gezielten
Wachstumsreformen in Deutschland, die Investitionsneigung zusätzlich belasten. Summa summarum würde
sich aus dieser Entwicklung in Deutschland 2016 ein Wirtschaftswachstum von 1,6 % ergeben. Die
deutsche Wirtschaft sollte also den vielfältigen Belastungsfaktoren trotzen können und dasselbe Wachstum
wie im Vorjahr erreichen.
Nur leichte Gewichtsverschiebungen im nächsten Jahr
Im nächsten Jahr dürfte sich das BIP-Wachstum marginal auf 1,5 % abschwächen. Bei den einzelnen
Nachfragekomponenten sollte es gegenüber dem laufenden Jahr nur zu leichten Gewichtsverlagerungen
kommen. Die Expansionsrate des privaten Konsums geht 2017 geringfügig auf 1,5 % zurück, bleibt aber
insgesamt recht solide. Auch beim Staatskonsum dürfte sich der Zuwachs etwas normalisieren. Das Plus
würde aber mit 2,1 % auch im nächsten Jahr noch deutlich überdurchschnittlich ausfallen.
Eine geringfügige Belebung sehen wir im nächsten Jahr bei den Ausrüstungsinvestitionen. Sie sollten im
Jahr 2017 mit 2,5 % expandieren, was im historischen Vergleich aber weiterhin eine sehr schwache
Zuwachsrate wäre. Bei den Bauinvestitionen bleibt das Plus bei 2 % und auch das Bild beim Außenhandel
ändert sich nicht: Die Importe steigen um 5 % und damit deutlich stärker als die Exporte (+4,1 %).
Beschäftigungswachstum setzt sich fort, doch auch die Arbeitslosigkeit steigt
Das prognostizierte Wirtschaftswachstum wird zu einem weiteren Aufbau der Beschäftigung in Deutschland
führen. Im Jahresdurchschnitt 2016 sollte die Zahl der Erwerbstätigen auf rund 43,4 Millionen steigen. Das
wäre gegenüber dem Vorjahr ein Zuwachs um mehr als 350.000 Personen. Damit würde ein neuer histo-
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rischer Höchststand erreicht. Beachtlich aber auch: Die Erwerbstätigkeit wäre dann innerhalb der letzten
zehn Jahre um fast 4 Millionen Menschen gestiegen.
Im nächsten Jahr schwächt sich der Beschäftigungsanstieg auf rund 200.000 Personen ab. Zu dieser Verlangsamung dürften die deutlich anziehenden Lohnstückkosten beitragen. Die Zahl der Erwerbstätigen
würde im Jahresdurchschnitt 2017 auf etwa 43,6 Millionen steigen.
Bei den Arbeitslosenzahlen wird die Entwicklung nicht so positiv sein. Wegen der hohen Flüchtlingszahlen
im erwerbsfähigen Alter prognostizieren die Chefvolkswirte in diesem Jahr einen Anstieg der Arbeitslosigkeit
um rund 30.000 Personen auf 2,83 Millionen Arbeitslose. Von dieser Entwicklung werden hauptsächlich
Personen aus den sogenannten Asylzugangsländern betroffen sein. Im Durchschnitt des nächsten Jahres
könnte dann in Deutschland die 3 Millionen-Grenze fast wieder erreicht werden.
IV.
Ausgewählte wirtschaftspolitische Themen
Herr Klude hat gerade eben bei der Erläuterung unserer Konjunkturprognose schon einige wirtschaftspolitische Aspekte gestreift. Ich möchte kurz zwei wirtschaftspolitische Themenfelder darstellen, die aus
Sicht des Bankenverbandes von besonderer Bedeutung sind.
1. Geldpolitik der EZB
Droht ein verschleierter Abwertungswettlauf?
Das erste Themenfeld ist noch einmal die Geldpolitik der EZB. Wir hatten ja schon darauf hingewiesen, dass
eine weitere geldpolitische Lockerung keine erkennbaren zusätzlichen konjunkturellen Impulse auslösen
wird. Die Misere der Währungsunion hat ihre Ursache nämlich nicht auf der Nachfrageseite, sondern auf der
Angebotsseite der Wirtschaft. Die Arbeits- und Produktmärkte sind überreguliert und der längerfristige
Wachstumstrend ist entschieden zu flach. Auch die äußerst geringe Dynamik bei der Kreditentwicklung im
Euro-Raum ist weder ein Zins- noch ein Liquiditätsproblem. Ursachen sind vor allem die geringe Investitionsneigung sowie die zweifelhafte Bonität mancher Kreditkunden in den südlichen Ländern der Währungsunion.
Einen erkennbaren Effekt wird die geldpolitische Lockerung der EZB allerdings auf den Euro-Kurs haben.
Doch auch hier lohnt es sich, genauer hinzuschauen: Den unmittelbaren Abwertungseffekten werden
Gegenreaktionen durch die Geldpolitik in anderen Ländern gegenüber stehen. Beispielsweise könnte die von
den Chefvolkswirten prognostizierte Zinspause der US-Notenbank länger andauern als ohne einen weiteren
Zinsschritt der EZB. Außerdem würde der Abwertungsdruck in den Schwellenländern zunehmen und die
Unsicherheit an den Finanzmärkten erhöhen. Letztlich sehen wir die Gefahr eines durch die Geldpolitik
verschleierten Abwertungswettlaufs, der keine Gewinner haben wird.
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Gefahr für die Finanzstabilität
Aber es gibt noch weitere gravierende Nebenwirkungen der extrem expansiven Geldpolitik. Dauerhaft
niedrige oder gar negative Zinsen stellen vor allem eine Gefahr für die Finanzstabilität dar.
 Negative Notenbankzinsen können aufgrund des Wettbewerbsdrucks von den Banken kaum an die
Kunden weitergegeben werden. Die Erträge der Finanzinstitute geraten daher massiv unter Druck, was
wiederum die Fähigkeit der Banken beeinträchtigt, ihr Eigenkapital und damit längerfristig ihr Kreditvergabepotenzial zu stärken. Vielleicht an dieser Stelle nur am Rande: Die EZB rennt hier sehenden
Auges in einen massiven Interessenkonflikt zwischen ihrer aktiven Geldpolitik und ihrer Bankenaufsichtsfunktion.
 Die gesunkenen Zinsmargen können dazu führen, dass Banken ihre Kreditzinsen erhöhen, um die
Geschäftskosten zu decken. Das wäre genau das Gegenteil von dem, was die Notenbank beabsichtigt. In
Dänemark und zuletzt in der Schweiz hat man diese auf den ersten Blick ungewöhnliche Entwicklung
beobachten können.
 Ein negativer Einlagezins ist in erster Linie ein Strafzins für solide aufgestellte Banken, die reichlich mit
Liquidität ausgestattet sind. Bevorzugt werden hingegen schwächere Banken. Halten die negativen
Zinsen längere Zeit an, werden nicht wettbewerbsfähige Marktstrukturen konserviert. Aber nicht nur
Banken werden so auf die Dauer „künstlich“ am Leben gehalten. Dieses Phänomen strahlt auch auf
andere Wirtschaftsbereiche aus, wenn zum Beispiel durch praktisch kaum noch relevante Kreditkosten
Problemkredite von Unternehmen einfach verlängert beziehungsweise „weitergerollt“ werden.
Fehlanreize für Strukturreformen
Diese Liste lässt sich noch fortsetzen, zum Beispiel mit der Gefahr, dass Investoren in immer größere
Risiken hineingetrieben werden und dass wir völlig verzerrte Risikopreise erhalten, die nicht nur zu Übertreibungen an den Finanzmärkten, sondern auch zu realwirtschaftlichen Fehlinvestitionen führen. Enorme
Probleme entstehen auch für Versicherungen und sämtliche kapitalgedeckten Vorsorgesysteme. Hier ist es
übrigens wie bei den Banken, die Probleme sickern erst langsam in die Bilanzen. Sie werden dafür aber
auch länger nachwirken und führen zu einem ganz erheblichen Zinsänderungsrisiko. Und – auch hier gibt es
nichts zu beschönigen: Die extrem lockere Geldpolitik reduziert die Anreize für dringend notwendige Wirtschaftsreformen im Euro-Raum. Genauso wie im Bankensektor werden letztlich ungesunde Strukturen
zementiert.
Natürlich kann man die ausbleibenden Strukturreformen nicht unmittelbar der EZB-Politik anlasten. Kurzfristig hat die expansive Geldpolitik geholfen, die gesamtwirtschaftliche Lage zu stabilisieren. Und kurzfristig
kann die Geldpolitik auch förderlich bei Strukturreformen sein, indem die Geldpolitik den Regierungen Zeit
zum Handeln verschafft und die wirtschaftlichen Anpassungen abfedert. Diese Effekte schlagen jedoch um,
wenn die Geldpolitik von den anderen Politikbereichen allein gelassen wird. Spätestens dann wird die zusätzliche Liquidität zum Doping. Eine Erhöhung der Dosis führt nun nicht mehr zur Heilung der Krankheit,
sondern in die Sucht. Von der expansiven Geldpolitik bleiben nur noch ihre negativen Nebenwirkungen.
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2. Europäischer Integrationsprozess
Die EU in der Bewährungskrise
Lassen Sie mich abschließend noch ein paar Worte zur Europäischen Union sagen. Hier hat sich eine
brisante politische Gemengelage herausgebildet. Lange galt es als Konsens, dass eine stetige Vertiefung der
Integration in der EU, basierend auf einer allseits geteilten Werteordnung, nicht nur die unumkehrbare
Voraussetzung für eine dauerhafte Friedensordnung in Europa ist, sondern auch die Basis für den Wohlstand seiner Bürger. Im Frühjahr 2016 lassen sich zumindest Zweifel daran äußern, ob dieser Konsens noch
besteht. Konnten die Fliehkräfte in der Staatsschuldenkrise noch dadurch aufgefangen werden, dass das
Bail-out-Verbot des Maastricht-Vertrages, stillschweigend durch finanzielle Transferzahlungen ersetzt
wurde, so scheint dieser Weg zur Lösung der aktuellen Probleme weder angemessen noch durchführbar zu
sein.
Die Folgen sind besorgniserregend. Der bereits im Jahr 1949 von dem französischen Ökonomen Jacques
Rueff geprägte Satz: „L’Europe se fera par la monnaie ou ne se fera pas“ (Europa entsteht über das Geld,
oder es entsteht gar nicht) war sicherlich nicht so gemeint, dass die Europäische Union nur funktioniert
solange Konsens durch finanzielle Transfers erkauft wird. Sie vermuten richtig, dass ich die Lage der EU als
ausgesprochen ernst erachte, wenn ich auf ein solch berühmtes Zitat zurückgreife.
Fakt ist, dass ohne nationale Spielräume in der Finanzpolitik und weiterhin divergierender Wettbewerbsfähigkeit bei gleichzeitig geringer nationaler wirtschaftspolitischer Reformneigung, die Bekenntnisse zu
Europa immer schmallippiger geworden sind. Dagegen sind flächendeckend in allen EU-Ländern populistisch
nationalistische Bewegungen entstanden, die den Verlust an nationalem Wohlstand vor allem Brüssel anlasten und eine stärkere nationale Autonomie fordern oder sich der europäischen Solidarität gänzlich verweigern. Treten in einer solchen Situation auch noch zusätzliche Schocks hinzu – wie zum Beispiel durch die
Flüchtlingswelle aus Syrien –, dann drohen die Fliehkräfte die Oberhand zu gewinnen.
Die Art und Weise wie die Europäische Union die dreifache Herausforderung aus drohendem Brexit, Flüchtlingskrise und der noch immer schwelenden Staatsschuldenkrise bewältigen wird, entscheidet darüber, ob
die Idee einer stetigen Vertiefung der EU noch eine Chance hat.
Die vielfach favorisierte Lösung einer Transferunion ohne Preisgabe von Souveränitätsrechten kann und darf
es nach Ansicht des Bankenverbandes nicht geben. Der Ausbeutung der Leistungsfähigen durch die Fußkranken wäre dann Tür und Tor geöffnet, die Verteilungskonflikte innerhalb der Union würden erheblich an
Schärfe zunehmen. Andererseits würde eine Rückentwicklung der EU, die schlimmstenfalls in ihrem Zerfall
enden könnte, nur Verlierer hinterlassen. Europa würde seine herausragende Rolle in der globalisierten
Weltwirtschaft einbüßen und auch an politischem Gewicht verlieren. Daran kann auch jenen nicht gelegen
sein, die nun demonstrativ die EU-Fahne verbannen und ihre nationale Eigenständigkeit betonen. Die
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politischen Führer müssen dringend zu dem Konsens zurückfinden, dass europäische Probleme nur gemeinsam gelöst werden können.
Dies bedeutet aber auch, dass jedes Mitgliedsland seiner wirtschaftspolitischen Verantwortung gerecht wird.
Über die internationale Wettbewerbsfähigkeit eines Landes und damit seinem Wirtschaftswachstum und
seiner Beschäftigung wird sowohl in der EU als auch im Euro-Raum noch immer national entschieden. Solidarität einfordern kann nur der, der auch bereit ist, sein Haus in Ordnung zu halten. Die Zeit für taktische
nationale Spiele ist abgelaufen. Auf dem Spiel stehen die Errungenschaften von 70 Jahren erfolgreicher
europäischer Politik.
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