Rede von Gesundheitsministerin Edith Schippers auf der Konferenz

Rede von Gesundheitsministerin Edith
Schippers auf der Konferenz zum Thema
»Innovationen für Patienten« am 1. und 2.
März 2016
Meine Damen und Herren, guten Morgen!
Zu Beginn möchte ich Ihnen etwas über Henke
erzählen. Henke ist ein elfjähriger holländischer
Junge, der an der schwerwiegenden und seltenen
Muskeldystrophie vom Typ Duchenne erkrankt ist.
Vor einigen Jahren nahm er an einer klinischen
Studie für ein neues Medikament teil. Und – es
schien Wunder zu wirken und ihm zu helfen. Sie
können sich vorstellen, wie glücklich seine Eltern
waren, als sie ihn zum ersten Mal eine Treppe
hinauflaufen sahen!
Dann der Schock – die Studie scheiterte. 2014
wurde das Medikament bei ihm abgesetzt. Alle
Fortschritte, die er gemacht hatte, gingen nach
und nach verloren. Seine Eltern begannen damit,
das Haus umzubauen und für ihn ein
Schlafzimmer im Erdgeschoss einzurichten.
Dann entschloss sich ein anderes
Pharmaunternehmen zu einer weiteren Studie mit
besagtem Medikament. Seit Januar nimmt Henke
es wieder ein. Seine Eltern hoffen auf die gleiche
positive Entwicklung wie beim ersten Mal. Haben
zwei Jahre ohne das Arzneimittel zu große
Schäden verursacht? Oder werden sie ihren
Jungen bald wieder die Treppe hinaufgehen
sehen?
Und wenn das Medikament tatsächlich wieder
wirken sollte – wird es letztlich auch zugelassen?
Oder wird es, wie Henkes Vater es ausdrückte,
wieder steckenbleiben? »Solche Verfahren sind
doch dazu gedacht, die Patienten zu schützen«,
meint er. »Aber unseren Sohn schützen sie nicht!«
Meine Damen und Herren, diese Veranstaltung ist
die erste ihrer Art. Nie zuvor haben in Europa
Entscheidungsträger aus der gesamten Kette der
Marktzulassung, der
Gesundheitstechnologiefolgenabschätzung, der
Preisgestaltung und der Kostenerstattung an
einem Tisch gesessen. Man könnte fast meinen,
Sie kämen aus verschiedenen Welten.
Dennoch haben Sie eines gemeinsam: die Sorge
um das Wohlergehen unserer Patienten. Wie
können wir Schwerkranke mit den Arzneimitteln
versorgen, die sie wirklich brauchen? Und wie
können wir den Zugang zu Arzneimitteln für
Patienten beschleunigen, denen die Zeit
davonläuft? Das ist unsere gemeinsame
Herausforderung.
Aber das ist noch nicht alles.
Wenn nun das Medikament zur Behandlung der
Duchenne-Muskeldystrophie auf den Markt
gekommen wäre, wäre es dann für Henke und
andere Patienten wie ihn erschwinglich gewesen?
Auch das ist eine Frage von entscheidender
Bedeutung. Allzu oft kommen neue, innovative
Medikamente zu horrenden Preisen auf den Markt.
Das gefährdet die Tragfähigkeit unserer
Gesundheitssysteme.
Und es gefährdet auch unsere Patienten! Wenn
wir innovative Medikamente nicht bezahlen
können, wem sollen sie dann je helfen? Aus
diesem Grund müssen wir auch über die
Bezahlbarkeit sprechen, wenn wir über den
Zugang zu Arzneimitteln diskutieren. Beide
Aspekte zählen zu den Schwerpunkten der
niederländischen EU-Ratspräsidentschaft. Sie sind
untrennbar miteinander verbunden.
Meine Damen und Herren!
Natürlich gibt es vieles, worauf wir stolz sein
können. Arzneimittel sind für viele Millionen
europäischer Bürger von größter Bedeutung. Sie
machen gesund. Sie ermöglichen es chronisch
Kranken, ein aktives und produktives Leben zu
führen. Patienten mit schweren Erkrankungen wie
Krebs haben nach und nach mehr Lebensqualität
gewonnen, und ihre Überlebenschancen haben
sich verbessert.
Inzwischen sind wir in eine neue Phase
eingetreten. Eine Phase, in der wir grundlegende
Veränderungen auf dem Gebiet der Arzneimittel
beobachten.
Im Bereich der Krebsmedikamente werden
bemerkenswerte Fortschritte erzielt. Ebenso auf
dem Gebiet der seltenen Krankheiten und der
personalisierten Medizin. Das macht vielen
Schwerkranken Hoffnung. Daher ist es nur logisch,
dass Patienten einen schnelleren Zugang zu
Medikamenten fordern. Und die Verfügbarkeit der
richtigen Produkte.
In Anbetracht des umfangreichen medizinischen
Bedarfs werden diese Forderungen lauter werden.
Sie werden auch lauter werden angesichts der
Tatsache, dass wir es mit immer kleineren
Patientengruppen zu tun haben. Zugleich wird die
traditionelle klinische Forschung immer mehr in
Frage gestellt werden. Aus diesem Grund ist es
ungemein wichtig, dass wir herausfinden, wie wir
den frühzeitigen Zugang zu Medikamenten
bestmöglich organisieren können, ohne Abstriche
bei der Sicherheit zu machen.
Außerdem sollten wir die Bedenken der
Zulassungsinhaber im Auge behalten. Bedenken,
die sich um den Verwaltungsaufwand sowohl im
Zulassungsverfahren als auch bei der
Kostenerstattung drehen. Dieser
Verwaltungsaufwand behindert häufig den
frühzeitigen Zugang der Patienten zu den
Arzneimitteln. Sollten wir nicht alles daransetzen,
diese zwei Bereiche besser aufeinander
abzustimmen?
Die Frage, mit der Sie sich heute
auseinandersetzen werden, lautet: Wie können
wir zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen?
Wie können wir einerseits die Flexibilität im
System erhöhen, um den Zugang zu
Medikamenten zu verbessern, und andererseits
den immer weiter steigenden Preisen
entgegenwirken? Die italienische
Arzneimittelagentur hat interessante und
vielversprechende Erfahrungen auf diesem Gebiet
gesammelt. Es freut mich sehr, dass man bereit
ist, uns von diesen Erfahrungen hier in
Amsterdam zu berichten.
Selbstverständlich haben wir Sie heute aus gutem
Grund hier zusammengebracht. Wir sind der
Auffassung, dass eine frühzeitige Abstimmung
zwischen den Anforderungen für eine europäische
Zulassung und den nationalen Bestimmungen zur
Kostenerstattung erforderlich ist, wenn es darum
geht, den Zugang von Patienten zu Arzneimitteln
zu beschleunigen.
Zu diesem Zweck müssen nach meinem
Dafürhalten drei wichtige Schritte unternommen
werden. Heute machen wir den ersten Schritt –
wir lernen einander kennen. Der zweite Schritt
besteht darin, die Koordination und Kooperation
zwischen den Bereichen Zulassung,
Gesundheitstechnologiefolgenabschätzung,
Preisgestaltung und Kostenerstattung zu
verbessern. Und im dritten Schritt sollten
Erfahrungen und Dokumentationen ausgetauscht
werden.
Norwegen ist führend auf dem Gebiet der
Koordination zwischen Zulassung und
Gesundheitstechnologiefolgenabschätzung, und
auch die Abstimmung der verschiedenen
Dokumentationen ist dort vorbildlich. Es freut
mich sehr, dass die norwegische
Arzneimittelagentur uns heute Einblick in ihr
Arbeitsmodell gewährt.
Meine Damen und Herren, ich hoffe, dass am
heutigen Tag fruchtbare Gespräche und
Diskussionen geführt werden, die den Grundstein
für eine zukünftige Agenda zu diesem wichtigen
Thema legen werden.
Und ich hoffe außerdem, dass die heutige
Veranstaltung die erste, aber nicht die letzte ihrer
Art sein wird. Lassen Sie uns in Kontakt bleiben,
lassen Sie uns zusammenarbeiten und
gemeinsam voranschreiten. Im Interesse von
Patienten wie Henke. Im Interesse aller Patienten,
die warten.