Europäische Kommission - Rede - [Es gilt das gesprochene Wort] 14. Norbert Schmelzer Lesung – Vortrag von EU-Kommissionspräsident JeanClaude Juncker, "Die Europäische Union – eine Quelle der Stabilität in Krisenzeiten" The Hague, 3. März 2016 Goede Middag, geachte mevrouw Schmelzer, beste Dries, beste alle, Bens and others, dear Sybrand, dear Ruth, Senators, Members of Parliament, tweede Kamer, en Europees Parlament, dames en heren, ich bin froh heute Nachmittag hier zu sein. Das muss man immer sagen, wenn man irgendwo ist. Und meistens stimmt es nicht. Aber heute Nachmittag stimmt es, weil ich gerne gekommen bin, um diese Schmelzer-Lesung zu machen. Und ich mache das besonders gerne, weil Frau Schmelzer uns die Ehre erweist hier zu sein. Dies ist zum zweiten Mal, dass ich diese Lesung halten darf. Wenn ich das richtig gesehen habe, bin ich der Einzige, der diese Lesung zweimal gemacht hat. Und diejenigen, die sie nur einmal gemacht haben, die treibt jetzt die Hoffnung um, sie würden sie jetzt auch zum zweiten Mal machen können. Letztes Mal, 2007, als ich hier stand war Norbert Schmelzer noch hier. Und er ist ein Jahr später gestorben. Norbert war für mich immer ein leuchtendes Vorbild – jemand, an den man sich halten konnte, jemand, der Orientierung gab und jemand, der es immer wieder verstand, der Europäischen Einigung einen tieferen Sinn zu geben, indem er diese Europäische Union und ihr Zusammenkommen – die kontinentale Integration – in direktem Zusammenhang mit europäischen, im Übrigen auch christlichen Werten, gestellt hat. Und deshalb bin ich heute froh, hier zu sein. Als ich 2007 hier war, war die Welt noch ganz anders als sie jetzt ist. Wir wurden von dem Optimismus getrieben. Man brauchte nicht besonders viel Mut, um sich zu Europa zu bekennen, obwohl nach dem 'Nee' 2005 viele Niederländer sich auch damals schon schwer damit taten, sich deutlich zu Europa, zur Europäischen Union, zu bekennen. Jetzt leben wir in anderen Zeiten. Und als ich Präsident der Europäischen Kommission wurde, war mir schon klar, dass wir in Zeiten der Polykrisen leben würden. Aber dass es so schlimm kommen würde, hätte ich mir nicht vorstellen können, obwohl ich bei meiner Bewerbungsrede im Europäischen Parlament schon deutlich das Thema der Flüchtlingsströme und der Migration angesprochen hatte. 2007 war das Jahr vor dem Ausbruch der großen Wirtschafts- und Finanzkrise. Die Haushalte waren auf dem Weg in Ordnung gebracht zu werden, die Schuldenstände bewegten sich nach unten, die Arbeitslosigkeit war hoch, aber trotzdem nicht auf dem Niveau, auf dem sie sich jetzt bewegt. Diese Krise, die Finanz- und Wirtschaftskrise, hat uns jahrelang in Atem gehalten – vor allem mich, weil ich damals das Unglück hatte der Eurogruppe vorzustehen. Wir haben diese Krise nicht hinter uns gebracht. Aber wir sind nicht in dieser Krise untergegangen, weil die europäischen Staaten, die Mitgliedsstaaten der Eurozone, im gegebenen Moment die Kraft aufbrachten, sich aufeinander zuzubewegen. Sie erinnern sich an das Problem Griechenland. Das hat uns auch im ersten Halbjahr des letzten Jahres wieder ereilt, als wir ungemein unter Druck standen, den Grexit zu verhindern oder ihn zu beschleunigen. Die einen wollten dies, die anderen wollten das. Ich wollte den Grexit nie, weil Türen schließen das ist nicht der Weg, den wir in Europa beschreiten sollten. Und jetzt sind wir wieder mit anderen Krisen behaftet. Und die Finanzkrise hat insofern etwas Gutes gehabt, dass wir zweierlei Dinge tun konnten: a) uns darauf zu besinnen, was eigentlich die Werte – weil du von Gaudium et Spes geredet hast – was die europäischen Fundamentalwerte der sozialen Marktwirtschaft sind. Diese Krise ist auch deshalb entstanden, weil die Hauptverantwortlichen an dieser Krise sich nicht an die Kardinaltugenden der sozialen Marktwirtschaft zu erinnern wussten. Das wissen wir jetzt wieder besser. Und zweitens hat die Krise uns erlaubt – weil wir das auch tun mussten – die Wirtschafts- und Währungsunion so zu vervollständigen, dass die Bankenwelt, die Kreditwirtschaft, die Realwirtschaft heute besser gewappnet sind, um einem derartigen externen Schock widerstehen zu können, als dies noch 2008, 2009, 2010 der Fall war. Die Bankenunion ist auf gutem Weg, wenn auch noch nicht so, wie ich sie gerne hätte. Die Bankenüberwachung funktioniert. Alles das, was wir in den Jahren auf den Weg gebracht hatten, funktioniert zufriedenstellend, obwohl die Wirtschafts- und Währungsunion auf weitere Schritte wartet, die zu ihrer Vervollständigung beitragen werden und müssen. Es ist uns klar geworden nach der Krise – nachdem ich eben gesagt habe, die Krise wäre noch nicht ganz vorbei –, dass wir uns mit den eigentlichen Themen in Europa stärker beschäftigen müssen. Es gibt ein tugendhaftes Dreieck in der europäischen Politik – so habe ich auch dem Europäischen Parlament meine Absichten erklärt –, das sich zusammensetzt aus der notwendigen Konsolidierung der öffentlichen Finanzen. Niemand sollte denken, dass die öffentlichen Finanzen sich selbst überlassen werden können. Regierungen müssen weitermachen mit der Defizitabsenkung. Die Defizite in Europa und die Schuldenstände in Europa sind nach wie vor zu hoch. Tugendhaftes Dreieck, Konsolidierung der öffentlichen Finanzen, Wachstum und Beschäftigung und Investitionen. Investitionen sind mein eigentliches Thema zu Beginn der Amtszeit dieser Kommission gewesen, weil wenn ich den Investitionsstand des letzten Jahres mit dem Investitionsstand aus dem Jahre 2007 vergleiche, müssen wir feststellen, dass die Investitionen – die öffentlichen und die privaten – noch immer 15% unter dem Niveau von 2007 liegen. Und dies betrifft alle Länder. Sogar die führende Volkswirtschaft Europas, Deutschland, hat ein Investitionsniveau, was um 52% niedriger ist, als dies noch 1991 der Fall war. Es gibt also einen Investitionsrückstand in Europa, den wir dadurch zu beheben versuchen, dass wir den Investitionsplan auf den Weg gebracht haben, der EUR 315 Milliarden öffentliche Investitionen wird mobilisieren können. EUR 61 Milliarden sind nach dreimonatiger Laufzeit dieses Investitionsplan schon mobilisiert worden. Es reicht nicht in Europa nur über Haushaltspolitik zu reden, über Finanzpolitik, über Wirtschaftspolitik. Man muss auch den Menschen deutlich vor Augen führen, dass die Europäische Union auch zuständig ist – mit den Mitgliedstaaten gemeinsam – für Wachstum und Beschäftigung. Immer nur, eigentlich in den Ohren vieler Mitmenschen, nur Negatives über Europa zu hören: sparen, sparen, sparen - war es wichtig in dem Moment, als wir als Kommission angetreten sind, auch wieder über Wachstum und Beschäftigung zu reden. Weil das größte Problem in Europa bleibt nach wie vor eine schwache, eigentlich sehr schwache, wirtschaftliche Entwicklung und eine skandalös hohe Arbeitslosigkeit. In einigen Jahren werden wir selbstverständlich darauf beurteilt werden, wie wir mit der Flüchtlingskrise umgegangen sind. Aber wir werden auch Fragen beantworten müssen, wieso es uns nicht gelungen ist, die Arbeitslosigkeit sich nach unten bewegen zu lassen. Und deshalb ist dies ein bleibendes, wichtiges Thema, neben all dem, was wir sonst noch zu leisten haben werden. Diese Kommission, die sich viel Kritik aus vielen Ländern pausenlos zuzieht – das ist normal, man braucht die Kommission, damit man immer einen Schuldigen hat, wenn man selbst nicht das zustande bringt, was man den Wählern versprochen hatte. Das ertrage ich mit Geduld und abnehmender Sanftmut. Diese Kommission hat einen Paradigmenwechsel vollzogen, den wir schon im Wahlkampf, auch hier in den Niederlanden, deutlich gemacht haben. Nämlich, dass die europäische Politik und ergo die Europäische Kommission sich mit den eigentlich wichtigen Themen Europas beschäftigt: to be big on big things and small and modest on smaller things. Das tun wir. Als ich das vorgetragen habe während der Wahlkampagne und auch im Europäischen Parlament war der Applaus groß. Wenn es dann aber ans Eingemachte geht, dann nimmt die Applauswelle eine andere Richtung. Weil jeder, der im Europaparlament sitzt, jeder Nationalminister, jeder, der Politik macht, eine ganz präzise Vorstellung von dem hat, was Europa machen soll. Und wenn man fragt, was Europa nicht machen soll, hat auch jeder eine eigene Vorstellung. Aber wenn es dann gemacht wird, dann ist der Trauerumzug groß. Wir haben unter der Leitung von Frans Timmermans, der Erster Vize-Präsident der Kommission ist, das Thema 'better regulation' auf unsere Fahne geschrieben, weil wir denken, dass es nicht so bleiben kann, dass sich Europa um alles und jedes kümmert, was den Menschen auf die Nerven geht. Wir schreiben vor, wir verlangen, wir bestrafen – Dinge, die niemanden interessieren. Wir haben jetzt wieder eine Entscheidung getroffen, von der ich nichts wusste, weil diese Entscheidung von den Mitgliedstaaten getroffen wurde, aber die Kommission wird jetzt dafür schuldig gemacht – wir haben jetzt vorgeschrieben, wie schnell Weihnachtskerzen abbrennen dürfen. Das haben wir mit feinem Gespür für die Terminlage am dritten Adventssonntag in das Gesetzesblatt der Europäischen Union gesetzt. Ich habe mich darüber sehr gewundert, ich sagte 'wer war das?'. Dann steht da, das war die Kommission. Es waren aber 28 Mitgliedstaaten, die das auf Wunsch der Kerzenindustrie herbeigeführt haben. Nur Großbritannien und die Niederlande haben sich enthalten, aber es ist ja oft so, dass man Großbritannien und die Niederlande im selben Boot findet - manchmal ist das auch wohltuend, aber bei Weitem nicht immer. Also haben wir alle Gesetzesentwürfe, die auf dem Tisch des Europäischen Parlamentes und des Ministerrates liegen, peinlichst genau überprüft und haben über 80 davon zurückgezogen, sodass noch etwa über 400 zu bearbeiten bleiben. Wir haben 23 neue Initiativen angekündigt. Das ist insofern eine wichtige Zahl, weil die Vorgängerkommissionen im Schnitt 130 Initiativen pro Jahr auf den Weg geschickt haben. Nicht alle Initiativen kamen auch in dem Hafen an, für den sie bestimmt waren. Das ist wichtig, dass man zeigt, dass das nicht nur ein Slogan ist – "groß in Groß und klein in Klein'', sondern dass wir das echt auch tun. 'Better regulation' ist ja auch ein in den Niederlanden sehr beliebtes Thema, und wir machen ernst mit dem Thema in Europa, weil ich den Eindruck hatte, und immer noch habe, dass je mehr wir uns in das tag-tägliche Leben der Menschen einmischen, umso größer wird die ohnehin schon sehr große Distanz zwischen europäischen Bürgern und der europäischen Politik, und mithin auch der Europäischen Kommission. Große Ideen verlangen große Pläne. Ich rede jetzt nicht von dem Juncker-Plan, das ist auch ein tolles Ding – der heißt auch nur JunckerPlan, nicht weil ich ihn so getauft habe, sondern weil viele dachten, daraus wird nichts werden und dann ist es gut, wenn er den Namen eines zu schuldig-Sprechenden trägt, insofern heißt der Investitionsplan Juncker-Plan – ich rede von anderen Dingen. Wir machen ernst mit der europäischen Energieunion. Energie ist ein kontinentales Thema, was die Solidarität so sehr in Anspruch nimmt wie andere Themen auch. Energieunion wird kommen. Der digitale Binnenmarkt wird regelrecht forciert, weil wir die digitale Distanz, den digitalen Rückstand, den es zwischen Europa und anderen Teilen der Welt gibt, weil wir den reduzieren müssen. Bankenunion und Kapitalmarktunion ist ein anderes Thema. Kapitalmarktunion ist von essenzieller Bedeutung und sie wird auch sehr gezielt in Angriff genommen. Wir haben alle diese Pläne vorgelegt und ich freue mich sehr darüber, dass das Europäische Parlament seine Zustimmung zu all diesen Vorhaben gegeben hat, wie ich mich überhaupt darüber freue, dass Kommission und Europäisches Parlament zu einem neuen Umgang miteinander gefunden haben. Ich habe mich immer darüber gewundert wieso und dass Kommission und Parlament sich aber auch über alles und jedes öffentlich zerstreiten, wo es doch die beiden Gemeinschaftsinstitutionen sind, die Hand in Hand die europäische Zukunft vorbereiten müssen. Ich bin der erste Kommissionpräsident, der vom Europäischen Parlament gewählt wurde, nachdem wir diese Spitzenkandidaturgeschichte erfunden hatten. Ich muss ja glauben, dass ich von den Völkern Europas ins Amt gebracht wurde. Ich weiß das. Nur die Völker wissen das nicht; und deshalb muss man Sorge dafür tragen, dass diese Methode, den Kommissionspräsidenten zu wählen Spitzenkandidat bei einer kontinentalen Wahl, Zustimmung des Parlamentes - dass diese Methode nicht wieder in der Versenkung verschwindet. Weil der Europäische Rat, erschrocken über das Resultat der ersten Wahl, beschlossen hat im Juni 2014, dass für 2019 über die Art und Weise der Bestellung des Präsidenten der Europäischen Kommission neu nachgedacht werden muss. Insofern, wenn 28 Regierungen nachdenken, ist ein tugendhaftes Ergebnis nicht Gott gegeben und deshalb müssen eigentlich alle Demokraten dafür sorgen, dass es so bleibt, wie es ist. Hier sitzen viele frühere Minister. Das war damals noch nicht so, aber jetzt ist es so, dass der gesunde Menschenverstand die Regierungen verfolgt, aber die Regierungen sind deutlich schneller. Insofern gelingt es dem gesunden Menschenverstand - der ohnehin unterschiedlich verteilt ist in Europa - es gelingt dem gesunden Verstand nicht, die Regierungszentralen im vollen Umfang zu erreichen. Ich bin also sehr froh über die gute Zusammenarbeit, die Parlament und Kommission in den ersten zwölf Monaten der neuen Kommission zustande gebracht haben, und ich bin sehr der Auffassung, dass das Europäische Parlament - oft auch in den Niederlanden übrigens - zu Unrecht kritisiert wird. Man weiß eigentlich nicht um die Bedeutung des Europäischen Parlamentes – es ist ein europäischer Gesetzesgeber, vergleichbar mit nationalen Parlamenten und verdient auch denselben Respekt wie nationale Parlamente. Ich habe in einer autobiographisch schwachen Stunde gesagt, die neue Kommission – man schreibt immer nur von der neuen Kommission, obwohl sie schon alt ist und die ersten Falten gekriegt hat – wäre eine politische Kommission; weil ich den Eindruck hatte, und immer noch habe, dass das europäische Projekt zunehmend als ein Problem begriffen wird, anstatt als eine Lösung. Und das hat eben damit zu tun, dass wir sehr oft bürokratisch und technokratisch an die Probleme des Kontinentes heran gehen. Ich habe versucht das abzustellen dadurch, dass ich die VizePräsidenten der Europäischen Kommission neu erfunden habe, indem die bestimmte Zuständigkeiten erhalten haben, wie beispielweise Frans Timmermans in dem 'better regulation' Umfeld. Diese Vizepräsidenten kommen samt und sonders aus kleinen Ländern, wie auch der Kommissionspräsident im Übrigen aus einem kleinen Land kommt – obwohl Großherzogtum trotzdem ein kleines Land. Und das ist wichtig, weil die Kommissare und die Vizepräsidenten, die aus kleineren Ländern kommen, eine andere Auffassung von dem, was in Europa gemacht werden muss, haben, als die Besserwisser, die aus größeren Staaten in Brüssel landen. Und das funktioniert eigentlich sehr gut. Ich habe dafür Sorge getragen, dass richtige, erwachsene, volljährige Berufspolitiker Kommissar werden – nicht wie es früher einmal war, dass jemand, den man nicht so richtig mehr unterzubringen wusste im eigenen Land nach Brüssel geschickt wurde, sondern frühere Premierminister, vier an der Zahl; frühere Außen- und Finanzminister, sodass auch in der Kommission ein Gesamtverständnis für die Sach-und Zwangslage in den Mitgliedstaaten besteht. Hier sind ja viele, die das zu ihrem Leidwesen erlebt haben, an europäischen Ministerräten teilgenommen haben, als nationaler Minister – der versteht besser, wenn er jetzt Kommissar ist, was man vorschlagen kann und was man lieber nicht vorschlägt, weil dies spontan auf den Widerspruch einiger Regierungen treffen wird. Insofern sind wir eine politische Kommission von ihrer Zusammenstellung her, aber auch von der Art und Weise her wie wir das politische Geschäft in der Kommission betreiben. Nun, ich habe vorhin gesagt, die Kommission wird sehr oft kritisiert – das haben wir früher auch alle mit Inbrunst gemacht, ich mag das heute weniger als damals; aber es ist so. Was allerdings nicht geht, ist, dass man versucht, die Kommission als Exekutivgewalt der Europäischen Union dauernd in ihre Schranken zu verweisen. Brüssel macht dies, und Brüssel macht das – immer macht Brüssel etwas. Und immer ist Brüssel schuldig an dem miserablen Zustand der Welt. Brüssel ist an vielem Schuld. Aber Brüssel, das sind nicht 28 Kommissare. Brüssel, das sind auch 28 Regierungen. Man kann Europa nicht gegen den Willen der nationalen Regierungen und gegen den Willen der Mitgliedstaaten führen; das geht überhaupt nicht. Insofern, wer Brüssel sagt, meint immer sich selbst. Dieser ausgestreckte Finger in Richtung Brüssel zeigt auf den, der immer nur sagt, Brüssel, Brüssel, Brüssel. Brüssel ja, Brüssel macht vieles falsch. Brüssel macht aber auch vieles richtig, was die Regierungen falsch machen würden, wenn es Brüssel nicht gäbe. Insofern dient es niemandem, die Kommission mit allen möglichen Vorwürfen zu überziehen, wie der italienische Premierminister das in den letzten Monaten gemacht hat; wie die polnische Regierung das tut; wie der finnische Außenminister es tut, indem er sagt, die Kommission dürfe sich nicht um die Wahrung der Grundrechte in Polen kümmern, dies wäre keine europäische Aufgabe, sondern eine rein polnische Aufgabe - obwohl der Vertragstext deutlich die Kommission dazu einlädt, darauf zu achten. Jetzt haben wir es mit einer Krise zu tun – der Flüchtlingskrise – von der wir nicht dachten, dass sie uns einmal ereilen könnte. Die Kommission hat beim Amtsantritt dem Thema Migration einen großen Raum eingeräumt, weil wir damals schon spürten – mehr spürten als wussten -, dass da etwas auf uns zukommt. Wer sich einen klaren Blick auf die Lage in der Welt behalten hat, wer sich für Afrika interessiert und nicht nur über Afrika redet, wer diese regelrechte Völkerwanderung über Jahre beobachtet hat, die in Afrika stattfindet – es gibt 60 Millionen Flüchtlinge in Afrika, 60 Millionen – der wusste, es kommt etwas auf uns zu. Dass es so massiv, so dicht gedrängt auf uns zukommen würde, konnten wir nicht erahnen. Aber dass etwas unterwegs war im wahrsten Sinne des Wortes, das wussten wir. Deshalb hat die Kommission schon im Mai letzten Jahres Vorschläge gemacht – europäische Vorschläge: nämlich, dass man die Flüchtlinge über alle Länder, alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union, verteilen sollte, 'Relocation' wie das in Neudeutsch heißt. Der Ministerrat hat dem zugestimmt, im Herbst letzten Jahres. Und die Mitgliedstaaten weigern sich – nicht alle – ihre eigenen Beschlüsse umzusetzen. Es ist zum ersten Mal, dass es in der Europäischen Union zu einem Vorgang kommt, der darin besteht, dass der Ministerrat ein Gesetz erlässt und Tage danach selbst beschließt dieses Gesetz nicht zur Anwendung gelangen zu lassen. Insofern werden wir nicht nachgeben als Kommission, die Mitgliedstaaten immer wieder aufzufordern das zu tun, was sie selbst beschlossen haben. Dass dies schwierig ist, weiß ich selbst. Denn es reicht nicht nur, dass Mitgliedstaaten bereit sind, Flüchtlinge aufzunehmen – das sind sie jetzt in zunehmendem Maße, wenn auch noch nicht in genügendem Maße. Die Flüchtlinge selbst müssen auch einverstanden sein, dieser Einladung Folge zu leisten. Was mich sehr stört ist – und das erleben wir tagtäglich –, dass Flüchtlinge, die in Griechenland und in Italien sind, vor allem die in Griechenland sind, einfach selbst bestimmen, wo sie hin möchten. Alle Flüchtlinge in Griechenland sagen: Germany, Germany, Germany. Und das kann so nicht sein. Deshalb kommt es dazu, dass einige Länder eine besonders schwere Last zu tragen haben: Deutschland, Schweden, die Niederlande im Übrigen auch – die Niederlande haben letztes Jahr 57,000 Flüchtlinge aufgenommen. Das sind doppelt so viel wie im Jahr zuvor. Und in diesem Jahr werden es nicht weniger werden, wenn wir die Politik nicht so ausrichten und ausgestalten, dass es nicht dazu kommt. Deshalb müssen wir uns tagtäglich intensiv mit dieser Thematik beschäftigen, auch den Flüchtlingen gegenüber – vor allem den richtigen Flüchtlingen gegenüber, nicht den Wirtschaftsflüchtlingen, sondern den wirklichen Asylsuchenden - denjenigen, die vor Krieg und Gewalt sich nach Europa auf den Weg machen, immer wieder erklären, dass nicht sie bestimmen dürfen, wo sie hinkommen, sondern dass die Regierungen das Sagen haben, wenn es um die Wohnsitzzuweisung von Flüchtlingen geht. Luxemburg war das erste Land, das angefangen hat, den Beschluss umzusetzen. Die luxemburgische Regierung hat in Griechenland verkünden lassen: 30 Flüchtlinge können nach Luxemburg. Es wollte aber keiner. Die luxemburgische Regierung hat mit der Lupe nach diesen 30 Flüchtlingen gesucht, die bereit waren ins Flugzeug nach Luxemburg zu steigen, so als ob Luxemburg das Armenhaus Europas wäre. Das ist ein echtes Problem und das muss man immer wieder thematisieren. Ich kriege auch Tränen in den Augen, wenn ich die Bilder sehe, die wir zurzeit sehen. Aber man muss auch wissen, dass diese Gesamtlage nicht schwarz-weiß ist – dass die Regierungen mehr tun müssen, aber dass die Flüchtlinge auch bereit sein müssen mitzumachen. Wir müssen dringend, da sind wir dabei, den Schutz der Außengrenzen verstärken. Die Kommission hat am 15.Dezember einen Gesamtvorschlag zum Schutz der Außengrenzen und der Küsten gemacht und die Regierungen haben dem zugestimmt, prinzipiell zugestimmt; tun sich aber schwer, diesen Beschluss jetzt umzusetzen. Es tagen Arbeitsgruppen des Rates – 20 an der Zahl – und in diesen Arbeitsgruppen erzählen die nationalen Vertreter genau das Gegenteil dessen, was ihre Premierminister im Europäischen Rat zum Besten gegeben haben – sodass wir da nicht richtig von der Stelle kommen. Wenn wir aber die Außengrenzen nicht besser schützen, vornehmlichst die zwischen Griechenland und der Türkei, dann werden wir dieser Krise nie Herr werden, nie. Und deshalb muss man diesen Flüchtlingsstrom aus der Türkei in Richtung Griechenland und dann weiter nach Nordeuropa in der Türkei selbst und an der griechisch-türkischen Grenze in den Griff kriegen. Jetzt haben wir NATO-Schiffe, die sich in diesen Gewässern, deren genauer Verlauf heftig umstritten ist zwischen den zwei NATO-Staaten Griechenland und Türkei. NATO hilft, und das ist schwierig. Weil die Türkei sich trotzdem schwer damit tut, diese Schiffe in türkische Gewässer zuzulassen, aber das kriegen wir jetzt in Ordnung. Griechenland hat auch gestern angefangen – das weiß kaum jemand – Flüchtlinge aus Griechenland in die Türkei zurück zu bringen – allein gestern 308 an der Zahl. Das sind nicht viele, aber das ist zum ersten Mal, dass zwischen Griechenland und der Türkei das Rückführungsabkommen überhaupt zur Anwendung gelangt. Wir haben einen Plan, einen Gemeinsamen Aktionsplan, mit der Türkei ausgearbeitet. Der kostet die Europäer EUR 3 Milliarden. Das sind nicht EUR 3 Milliarden, die die Türken an die Hand kriegen, das sind EUR 3 Milliarden für Projekte, die den syrischen Flüchtlingen in der Türkei helfen sollen. Wir bauen Schulen, wir bauen Krankenhäuser. Es gibt hunderttausende syrische Kinder, die sich in der Türkei aufhalten, die nicht zur Schule gehen – Kinder, die im schulpflichtigen Alter sind. Wenn wir das Thema Begleitung von Kindern, vor allem von elternlosen Kindern, nicht in den Griff kriegen, dann wächst dort eine jetzt schon verlorene Generation heran. Das können wir nicht zulassen und müssen da sehr aktiv werden. Da sind wir dabei dies zu tun. Nächste Woche werden Projekte von insgesamt EUR 300 Millionen in Angriff genommen und das geht weiter die nächsten Jahre, solange die Notwendigkeit besteht. Gestern haben wir in der Kommission ein 700-Millionen-Dringlichkeitshilfsprogramm für Griechenland und andere Staaten, aber vornehmlich für Griechenland, beschlossen; weil in Griechenland eine humanitäre Krise größten Ausmaßes am Heranwachsen ist und für viele schon da ist. Das hat damit zu tun, dass Europa nicht wie Europa funktioniert. Das hat damit zu tun, dass es nicht genug Union in der Europäischen Union gibt und nicht genug Europa in dieser Europäischen Union gibt, weil viele Mitgliedsstaaten denken, nationale Solis wären die Antwort auf die Flüchtlingskrise. Es kann aber nur eine europäische Antwort auf ein europäisches Problem geben, dass wir aus anderen Teilen der Welt nach Europa importieren. Und deshalb sind die nationalen Alleingänge nicht zu begrüßen – manchmal zu verstehen, aber nicht zu begrüßen. Weil, wenn jedes Land seine eigenen Grenzsicherungen durchführt, dann wird es a) keine Lösung des Flüchtlingsproblems geben und b) wird man den Binnenmarkt aber wirklich total zerstören. Man muss wissen, dass es in Europa 1,7 Million Grenzgänger gibt. Man muss wissen, dass es in Europa im Jahr 52,4 Millionen Gütertransporte über die Grenzen hinweg gibt. Man muss wissen, dass wenn ein LKW eine halbe Stunde an einer Grenze steht, das EUR 53 kostet. Wenn man weiß, wie viele LKWs pro Tag auch hier in den Niederlanden, zwischen Belgien Deutschland und den Niederlanden fahren, dann kann man ja den Preis errechnen, den das mit sich ziehen wird. Der Binnenmarkt wird diese Flüchtlingskrise nicht überstehen, wenn wir nicht zu einer gemeinsamen Sicherung der Außengrenzen kommen und zu einer Abkehr von dieser unvernünftigen Politik, die darin besteht, dass jedes Land das tut, worauf es Lust hat, ohne dass darauf geachtet wird, wie sich dies in anderen Nachbarstaaten in der Europäischen Union auswirkt. Dass Österreich den Grenzzugang verengt, ist insofern ein schlimmer Vorgang, weil die Grenze zwischen zwei Schengen-Ländern quasi zugemacht wird. Das hat mit dem Schutz der Außengrenzen nichts zu tun. Wenn Ungarn – was ich nicht gemocht habe – Grenzzäune in Sachen Serbien, Kroatien hochzieht, dann kann man sagen, weil das keine Schengen-Länder sind, das ist Schutz der Außengrenzen. Das ist nicht die ideale Form des Schutzes, aber immerhin. Aber wenn zwischen zwei Schengen-Ländern wieder Grenzen gezogen werden, dann sind wir dabei, langsam aber sicher, den europäischen Binnenmarkt und alles was mit ihm zusammenhängt zu zerstören. Und deshalb muss man sich energisch gegen derartiges wehren. Also über die Flüchtlingskrise kann man stundenlang reden. Das tun die Regierungschefs jetzt auch schon seit sechs Monaten. Am nächsten Montag tun wir das wiederum, um uns mit der Türkei ins endgültige Benehmen zu setzen und ich bin, Léon, dir dankbar, dass du gesagt hast: ohne die Türkei gibt es keine Lösung der Krise. Die Türkei ist ja ein schwieriger Partner. Ich könnte auch über Menschenrechte, Pressefreiheit und Ähnliches in der Türkei auch stundenlang referieren. Aber die Türkei ist der wichtigste Partner der Europäischen Union, wenn es um das Zurückdrängen der Flüchtlingsströme geht – Flüchtlingsströme, die ich eigentlich nicht prinzipiell zurückdrängen möchte, weil ich doch der Auffassung bin, auch wegen der christlichen Wertegebundenheit der Europäischen Union, dass es unsere verdammte Pflicht und Schuldigkeit ist, den Menschen, die vor Krieg und Gewalt flüchten, eine neue Heimat anzubieten. Wer sind wir eigentlich? Dass wir als der reichste Kontinent der Welt - 500 Millionen Einwohner - von vornherein behaupten, wir schaffen es nicht, eine oder zwei Millionen Flüchtlinge aufzunehmen. Ich rede relativ regelmäßig mit dem jordanischen König und mit dem libanesischen Premierminister. Ich schäme mich. Jordanien hat 2,5 Millionen Flüchtlinge - syrische Flüchtlinge, die 500,000 palästinensischen Flüchtlinge nicht mitgezählt, ist ein Land von 8-9 Millionen Einwohnern. Libanon hat 25% seiner Bevölkerung, die Flüchtlinge sind - neue Flüchtlinge aus Syrien. Und wir Europäer sagen, wir schaffen das nicht. Also, was sollen die anderen von uns denken? Das ist ein regelrechter 'reputation damage', den wir dabei sind, zu konstruieren, weil die Menschen in der ganzen Welt, die immer mit großen Hoffnungsaugen auf Europa geschaut haben, plötzlich feststellen, dass wir in unserem eigenen Egoismus versinken, weil wir es nicht schaffen, uns miteinander so zu verständigen, dass man diese Flüchtlingskrise anständig bewältigen kann. Und deshalb plädiere ich sehr dafür, dass die Mitgliedsregierungen Abstand nehmen von den überall keimenden Ideen - zum Beispiel, nach der Beendigung einer EU-Präsidentschaft nationale Maßnahmen zu ergreifen. Dies ist nicht der Weg, den wir in Europa gehen sollten. Und was wir auch nicht tun dürfen, ist, die Flüchtlingskrise zu verniedlichen. Deshalb habe ich gesagt, auch die Flüchtlinge haben Pflichten zu erfüllen. Aber wir brauchen einen Gesamtblick, einen solidarischen Gesamtblick, auf das ganze Geschehen. Und weil diese Völkerwanderung sich fortsetzen wird, brauchen wir auch einen permanenten Verteilungsmechanismus zwischen den 28 Staaten der Europäischen Union. Jetzt leben wir ja in einer Zeit der Referenden. Herr Orbán, der ungarische Premierminister, hält ein Referendum über den Verteilungsschlüssel der Flüchtlinge über alle 28 Länder ab. Und Referenden haben ja etwas Ansteckendes. Die Briten werden ihr Referendum am 23. Juni haben und das wird gut gehen, weil das ist der luxemburgische Nationalfeiertag, da kann überhaupt nichts schief gehen. Die Ungarn werden ihr Referendum abhalten; und die Niederlande, nach den guten ReferendaErfahrungen, die hier gemacht wurden, machen dann auch am 6. April wiederum ein Referendum. Ich mische mich nicht ein. Ich habe einmal gesagt, es wäre keine gute Idee, 'Nein' zu stimmen - da ist die halbe niederländische Presse über mich hergefallen, so als ob man sich nie zu einem Thema äußern dürfte, das die Niederlande betrifft, was im Gegenzug zur Folge hat, dass die Niederländer sich auch nie mehr über ein Thema äußern dürfen, das andere betrifft. Und dann wären die Zeitungen in den Niederlanden halb leer. Insofern, ich muss das ja laut sagen; ein Wort dazu zu sagen ohne belehrend zu wirken, das bringt ja nichts. Ich komme ja nicht in die Niederlande und sage: also, Niederlande, hört mal zu, jetzt macht ihr das so und so. So geht das ja nicht, schon gar nicht in den Niederlanden. Aber, man muss wissen, dass dies eine ernsthafte Sache ist. Wenn die Niederländer 'Nein' stimmen, haben wir ein Problem in Europa. Das Problem nennt sich Destabilisierung. Das muss jeder wissen, weil die Ukraine sich darauf verlässt, dass die Europäer das einhalten, was verhandelt wurde. Und man darf nicht den Fehler machen, und wenn ich mit Niederländern in Brüssel rede – also, normale Menschen, nicht Kommissionbeamten – da denken viele es ginge um den Beitritt, den zukünftigen Beitritt der Ukraine zur Europäischen Union. Darum geht es nicht. Es geht um Handel – trade agreement. Und ich kann mir eigentlich fast nicht vorstellen, dass eine alte, erfolgreiche Handelsnation wie die Niederlande 'Nein' sagen würden zu einem Handelsabkommen mit einem auf die Stabilität Europas großen Einfluss ausübenden Landes wie die Ukraine. Also, möchte ich noch einmal sagen: Wir müssen den Menschen erklären, dass es nicht um EU-Beitritt geht. Es wird in meiner Amtszeit jedenfalls zu keinem Beitritt der Ukraine kommen, weil ich sowieso als Kommissionspräsident verfügt habe - ein bisschen forsch -, dass es in den nächsten fünf Jahren überhaupt keine Beitritte gibt, weil ich nicht sehe, dass die Länder, die in der Umlaufbahn sind, die Bedingungen erfüllen würden. Manchmal haben wir sowieso in Sachen Erweiterung ein bisschen zu viel Gas gegeben. Ich auch, weil ich mir dachte, es ist doch eigentlich ein gewaltiges Ereignis in der Geschichte Europas, dass wir europäische Geschichte und europäische Geografie wieder miteinander versöhnen. Deshalb der Beitritt der sogenannten neuen Mitgliedstaaten; aber bei einigen habe ich - denke ich - dies zu schnell gemacht, und diesen Fehler werden wir nicht noch einmal begehen. Die Ukraine wird mit Sicherheit in den nächsten 20, 25 Jahren nicht Mitglied der Europäischen Union werden können - und auch nicht der NATO, Herr Generalsekretär. So, ich wollte eigentlich über das niederländische Referendum reden und nicht den Ukrainern hier Lektionen erteilen, aber ich weiß, dass es die große Sorge bei vielen niederländischen Bürgern gibt, dies wäre der erste Schritt zum Beitritt der Ukraine zur Europäischen Union. Und man kann mit Fug und Recht sagen, dass dies nicht der Fall ist. Und deshalb wäre ich froh, wenn die Niederländer mit 'Ja' stimmen würden. Denn es geht um die Niederländer, es geht um Europa, und es geht um den anderen Teil Europas. Und da ist jeder an dem Tag, wo er zur Wahl geht, selbst ein Staatsmann. Jeder muss sich fragen, wenn alle in Europa jetzt so stimmen würden wie ich, was wäre das Gesamtendergebnis von einem derartigen Vorgehen. Und deshalb, weil ich den gesunden Menschenverstand der Niederländer kenne, gehe ich davon aus, dass es nicht 'Nee' sein wird, sondern 'Ja' sein wird - weil bei dem letzten 'Nee' hatten wir viel Ärger in Europa. Luxemburg war damals im Ratsvorsitz; und jetzt ist ein Luxemburger im Kommissionsvorsitz, und ich möchte das nicht ein zweites Mal erleben. Ich wollte nur zu dem sogennanten "Brexit" ein Wort sagen – ohne etwas zu sagen, weil ich habe mir vorgenommen, immer wieder darüber zu reden, aber nie etwas zu sagen, weil es nicht dienlich ist, wenn der Kommissionspräsident sich in die britische Referendumskampagne einmischt. Die Europäische Kommission ist in Großbritannien noch unbeliebter als in anderen Ländern und das ist schon eine bemerkenswerte Leistung, dass wir es schaffen, überhaupt unbeliebt zu sein in Großbritannien. Und jedes Wort des Kommissionspräsidenten oder der Kommission in Richtung Großbritannien hat konträre Wirkungen. Ich will nur sagen, der britische Premierminister hat das Maximum dessen erreicht, was er erreichen konnte und die anderen 27 Regierungen haben das Maximum dessen gegeben, was sie geben konnten. Dies ist ein fairer Deal für Großbritannien, ein fairer Deal für die anderen Mitgliedstaaten. Und es wäre mir sehr lieb, wenn wir dieses Thema möglichst schnell in der Rumpelkammer der Weltgeschichte ablegen könnten, weil wenn wir noch Jahre lang uns mit diesem Thema zu beschäftigen hätten, dann ginge alles schief in Europa. Und deshalb darf es auch bei einem 'Nein' zu keiner Nachverhandlung mit den Briten kommen, die ich ja ansonsten sehr mag; nicht nur, weil der britische Premierminister gegen mich gestimmt hat als ich Kommissionspräsident werden sollte, sondern auch, weil er jetzt so froh war, dass wir ihm geholfen haben, sein Problem, sein selbstverursachtes Problem, in den Griff zu kriegen. Wenn man über Europa redet sollte man den Fehler nicht machen, nicht über die eigentlichen Ursachen zu reden, die dazu geführt haben, dass die europäischen Staaten sich nach dem Zweiten Weltkrieg auf den Weg gemacht haben, die gewaltigen Dummheiten des letzten Jahrhunderts nicht zu wiederholen. Und die Menschen, die nach Kriegsende von den Frontabschnitten und aus den Konzentrationslagern nach Hause kamen, die haben sich nicht so sehr beschwert über die Aufgaben, die im Leben auf sie warteten, wie wir das heute tun. Wenn ich mein Leben mit dem Leben meines Vaters vergleiche, so stelle ich fest, wir sind doch glückliche Menschen; wir sind doch in der Sonne aufgewachsen während andere heute noch im Schatten leben müssen. Und unsere Väter und Großväter haben nichts gekannt als Regen, Gewitter und Graupel. Und deshalb geht es immer noch um dasselbe Thema. Verdun – 100 Jahre her. Verdun ist eine schwierige Geschichte, doppelt, wegen dem Schlimmsten, was dort passiert ist, aber auch, weil auch schon Ende der zwanziger Jahre junge Deutsche und junge Franzosen sich auf den Schlachtfeldern Verduns die Hand gaben. Und zehn Jahre später ging es wieder los – Frieden ist nie eine sichere Sache. Wer denkt, Frieden wäre auf Ewigkeit eingerichtet, der irrt sich fundamental. Es gibt ja auch in Europa wieder Krieg. Wenn man vor zwei Jahren von Krieg in Europa geredet hat, dann haben die Menschen gelächelt. Nachdem was in der Ukraine, was auf der Krim passiert ist, lächelt niemand mehr. Und wir hätten überhaupt nie lächeln dürfen, weil vor 20 Jahren gab es Krieg in Bosnien, im Kosovo und im gesamten Balkan - der Balkan, der eine hochkomplizierte und hochsensible europäische Region bleibt. Deshalb muss man in der Flüchtlingsfrage immer den Westbalkan im Auge haben. Also ich finde schon, dass Europa gewönne, wenn wir immer wieder darauf aufmerksam machten, dass Europa ein großes Friedensprojekt ist. Wer nicht an Europa glaubt, wer an Europa zweifelt, wer an Europa verzweifelt, der soll die Soldatenfriedhöfe in Europa besuchen. Vielen Dank. SPEECH/16/583
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