Lasst uns nicht allein! Kein Kalter Krieg

PREIS SCHWEIZ 7.30 CHF
DIEZEIT
WOCHENZEITUNG FÜR POLITIK WIRTSCHAFT WISSEN UND KULTUR
18. FEBRUAR 2016 No 9
Was wichtig ist – was wichtig wird
Die große ZEIT-Studie
zum Wandel der Gesellschaft
Das Vermächtnis:
Was diese Studie will
Illustration: Paweł Jońca für DIE ZEIT
Die Mobilitäts-App.
Wenn über 3000 Menschen in
Einzelinterviews, die länger dauern
als ein Fußballspiel, zu ihrem Befinden im Jetzt und ihren Vorstellungen fürs Morgen befragt werden, so
kann man eines bestimmt: dem Ergebnis glauben. Die ZEIT hat gemeinsam mit dem Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung
(WZB) und dem Sozialforschungsinstitut infas repräsentativ ausgewählte Deutsche für sich sprechen
lassen. Das Ergebnis ist kaum zu
glauben: Die Deutschen erfinden
sich gerade neu. Ihre Arbeit empfinden sie vielfach eher als Motivation –
und nicht nur als Zwang; Wohlhabendere solidarisieren sich mit Geringverdienern (vor allem bei der Gesundheitsversorgung); persönliche
Erfüllung ist wichtiger als materieller
Besitz. Was Werte betrifft: Über die
künftigen gesellschaftlichen Normen
herrscht, allem Generationen-Gerede
zum Trotz, große Einigkeit. Vor
allem zwischen Jüngeren (bis 35) und
Älteren (65 plus). Was das bedeutet,
warum es Anlass zur Zuversicht gibt,
welche Fragen sich daraus ergeben,
das erklärt WZB-Präsidentin Jutta
Allmendinger im Interview. In einer
dreiteiligen Serie folgen in den kommenden Ausgaben große Analysen zu
den Themen Arbeit, Generationen –
und Liebe. MORITZ MÜLLER-WIRTH
Die neuen
Deutschen
• Sie brechen mit alten Werten
• Sie streben nicht nach Besitz
• Sie haben Lust auf Arbeit
• Sie lieben ihr Leben
www.zeit.de/das-vermaechtnis
DOSSIER
DER EUROPÄISCHE GIPFEL
ZEIT : Schweiz
PUTINS MACHTWAHN
Lasst uns nicht allein! Kein Kalter Krieg
Die Regierungschefs der EU fürchten die Radikalen. Doch wer
Angela Merkel nun hängen lässt, schadet Europa VON MATTHIAS KRUPA
H
undertmal wurde gesagt, es gehe
um alles. Man mag es gar nicht
mehr glauben. Und doch – die
Herausforderungen für die
Europäische Union waren nie
größer als heute, und nie schien
ein deutscher Regierungschef in der EU so allein
wie Angela Merkel. Länder wie Ungarn oder
Polen haben die deutsche Flüchtlingspolitik früh
kritisiert, vor dem EU-Gipfel in dieser Woche
gingen sie zur offenen Konfrontation über. Auch
der französische Ministerpräsident Manuel Valls
ließ Madame Merkel öffentlich wissen, auf Dauer
sei ihre Politik »nicht tragbar«. Das sei keine Kritik an der Kanzlerin, kam es tags darauf beschwichtigend aus Paris. Wer solche Verbündeten hat,
braucht keine Feinde.
Ganz anders als Merkel ergeht es dem britischen Premier: David Cameron hat keine Flüchtlinge aufgenommen und keine Grenzen geöffnet,
er hat sein Land und die EU ohne Not in ein
Referendum hineintaktiert, das mit dem Austritt
Großbritanniens enden könnte. Doch was für
ein Kontrast: Selten hat man die EU so geschlossen erlebt wie beim Versuch, Cameron und den
Briten eine Brücke zu bauen. Zu Recht fürchten
die Länder jene Fliehkräfte, die ein »Brexit« mit
sich brächte. Solidarität aus Eigeninteresse – warum gilt das nicht auch in der Flüchtlingskrise?
Angstmacher kann man nicht
durch Angsthaben besiegen
Es geht nicht mehr um Merkel, auch längst nicht
mehr nur um Flüchtlinge. Europa ringt um seinen Platz in der Welt; diese Jahre werden darüber
entscheiden, wie viel Zukunft die EU hat.
Deutschland spielt dabei eine zentrale Rolle.
Berlin als Führungsmacht, Merkel, die Prinzipalin – an dieses Bild hat man sich gewöhnt. So
sehr, dass viele übersehen, wie gefährlich es ist,
wenn die Führungsmacht schwächelt.
Manch einer, vor allem in Südeuropa, hat die
deutsche Dominanz nur schwer ertragen. Aber
Merkels Autorität und die Stabilität in Deutschland waren für die EU ein Glück. Eine breite
Mehrheit, eine vernünftige Opposition, kaum
radikale Kräfte: Deutschland war der Pfeiler im
schwankenden Ensemble. Nun, unter der Last
der Flüchtlingskrise, beginnt dieser Pfeiler zu
wanken. In Berlin wächst der Frust über die unwilligen Nachbarn, die Zweifel an der europäi-
schen Integration werden größer. Die AfD eta­
bliert sich als populistische Kraft.
Das alles könnte für Europa fatale Folgen
haben. Zumal wenn sich in Deutschland der
Eindruck durchsetzt, man werde nun, da man
selbst Hilfe braucht, im Stich gelassen. Man
kann Merkel vorwerfen, ihre Flüchtlingspolitik
sei anfangs kurzsichtig gewesen. Das fällt heute
sehr viel leichter als vor einem halben Jahr. Merkel hat die Folgen ihrer Offenheit nicht überblickt, vor allem aber nicht die Befindlichkeiten
und den Widerstand in anderen europäischen
Ländern. Daraus den Vorwurf abzuleiten, Merkel habe Europa gespalten, ist abwegig.
Das Problem der EU ist nicht ein vermeint­
licher Alleingang der Kanzlerin. Es ist Verzagtheit, die die europäische Politik erfasst hat.
Besonders perfide ist der Vorwurf, Merkels
Flüchtlingspolitik befördere den Nationalismus
und Extremismus in anderen Ländern. »Frau
Merkel ist die beste Verbündete von Frau Le
Pen«, heißt es etwa in Frankreich. Der Vorwurf
unterstellt, man könne radikale und ausländerfeindliche Parteien wie den Front National nur
bekämpfen, indem man nachgibt. Tatsächlich
zeigt die Flüchtlingskrise, wie groß der Einfluss
der Populisten in Europa bereits ist: In kaum einem EU-Land kommen die radikalen Rechten
auf über 20 Prozent. Aber wenn in Brüssel die
Regierungschefs zusammenkommen, regiert die
Angst, die die Nationalisten verbreiten, längst
mit. Auch deshalb lassen viele Merkel hängen.
Aber Angstmacher kann man nicht durch
Angsthaben besiegen. Um Kontrolle in der
Flüchtlingskrise zurückzugewinnen, braucht es
sichere Grenzen und sichere Wege für Flüchtlinge in Not. Merkels Versuch, die Türkei zu gewinnen und ihr eine bestimmte Anzahl von Flüchtlingen (also Kontingente) abzunehmen, ist daher
richtig. Aus illegaler würde legale Migration.
Nur – allein kann Merkel das nicht schaffen.
Deutschland braucht Europa, so wie Europa,
umgekehrt, ein starkes Deutschland braucht.
Anders gesagt: Wer Merkel, wer Deutschland in
dieser Situation die Unterstützung verweigert,
schadet der EU. Deutschland braucht jetzt Solidarität – aber es wäre eine Solidarität im Interesse aller. Denn was wäre gewonnen, wenn die EU
Großbritannien hielte, aber die Unterstützung
der Deutschen verlöre?
www.zeit.de/audio
Das Völkerrecht
Was unser
Land an ihm hat
Seite 10
Der Westen könnte Russland totrüsten. Aber was wäre gewonnen?
Jetzt kommt es auf die Diplomaten an VON MATTHIAS NASS
E
in Satz wie ein Hieb. »Wir sind
abgerutscht in eine neue Zeit des
Kalten Krieges«, sagte Dmitri Medwedew auf der Münchner Sicherheitskonferenz. Und schon drehte
sich wieder alles um Russland, genau
wie nach Wladimir Putins Brandrede 2007 an
gleicher Stelle. Nur dass heute, wie Moskaus
Premier warnte, die Lage noch ernster sei.
Das kann man wohl sagen. Was vor zwei Jahren mit der Annexion der Krim und der Aggression im Osten der Ukraine begann, setzt sich fort
mit dem Bombardement in Syrien. Putin bahnt
sich mit rücksichtsloser militärischer Gewalt den
Weg zurück ins Zentrum der Weltpolitik. Seine
Politik dementiert täglich Barack Obamas törich­
tes Wort, Russland sei nur noch eine »Regio­
nalmacht«. Ist es nicht, Brutalität siegt.
Kapituliert der Westen? Überlässt er Putin
und Assad in Syrien den Sieg?
In Syrien lässt sich das in aller Entsetzlichkeit
studieren. Die Bomben auf Aleppo, auf Schulen
und Krankenhäuser, steigern noch weiter das
Grauen eines erbarmungslos geführten Krieges.
Schwer vorstellbar, dass die Münchner Vereinbarung vom vergangenen Donnerstag halten
wird. 17 Staaten verpflichten sich darin, innerhalb einer Woche das Feuer einzustellen und
humanitäre Hilfe für die belagerten syrischen
Städte zuzulassen. Und doch, welche andere
Wahl bleibt als das immer neue Ringen um einen
Rest an Menschlichkeit?
Denn eines steht fest: Der Westen will in Syrien, abgesehen von den Luftschlägen gegen den
»Islamischen Staat«, keinen Krieg führen. Amerika schließt die Entsendung von Bodentruppen
kategorisch aus, in Europa stellt sich die Frage
erst gar nicht.
Kapituliert der Westen also? Überlässt er Putin und Assad das Feld und den Sieg? Ja, militärisch tritt er ihrem Wüten nicht entgegen. Und
duldet, dass die Menschen in Aleppo den Preis
dafür zahlen. Dennoch sollte man es sich mit
moralischen Urteilen nicht zu leicht machen. Es
bleibt nämlich richtig, dass es für Syrien nur eine
politische Lösung gibt. Afghanistan und der Irak
zeigen: Man kann einen Gegner bezwingen –
und hat doch nichts gewonnen.
Der Westen, Europa allzumal, bietet in seiner
Unentschlossenheit und Uneinigkeit ein Bild des
PROMINENT IGNORIERT
Jammers. Nur müssen unsere Schwäche und das
russische Gefühl neuer Stärke keineswegs in einen
neuen Kalten Krieg münden. Dagegen stehen
die nüchternen Fakten.
Die Welt ist heute nicht mehr in zwei Blöcke
geteilt. Russland ist nur militärisch eine Supermacht, wirtschaftlich steht es am Rande des
Bankrotts. Es bietet der Ukraine kein attraktives
Gegenmodell zur Hinwendung nach Europa,
mit der Rolle einer Ordnungsmacht im Mittleren Osten wäre es gänzlich überfordert. Russland
ist kein zweites Amerika.
Aber es will dessen Anerkennung. Und die
wird man Russland nicht verweigern können.
Einfach weil sein destruktives Potenzial so groß
ist. Warum sonst schlagen sich Angela Merkel
oder John Kerry in endlosen Verhandlungen mit
Wladimir Putin und dessen Außenminister Lawrow die Nächte um die Ohren?
Nicht dass der Westen naiv wäre. Die Nato
hat auf die Ukrainekrise mit einer strategischen
Neuausrichtung geantwortet: schnelle Reaktionskräfte, neue Einsatzstäbe in Osteuropa, zahllose Manöver. Die Amerikaner wollen ihre Militärausgaben für Osteuropa im kommenden Jahr
vervierfachen, von 786 Millionen auf über 3,4
Milliarden Dollar. Nato-Generalsekretär Jens
Stoltenberg merkt an, auch das Bündnis habe
noch Atomwaffen in seinen Arsenalen. Abschrecken, so der Subtext, können wir immer noch.
Im Übrigen, wer zweifelte daran, dass der
Westen Russland auch heute »totrüsten« könnte,
wie zu Zeiten Ronald Reagans. Glücklicherweise
verweigert sich Barack Obama solcher Kraftmeierei. Russland ist nicht mehr die Sow­
jet­
union, 25 Jahre lang war es Partner der Nato.
Dahin müssen wir zurück, auch wenn Putin den
Weg derzeit blockiert.
Obama, heißt es, hinterlasse im Mittleren
Osten mit seiner militärischen Zurückhaltung
ein »strategisches Vakuum«, in das nun Putin
hineinstoße. Viele Europäer machen Obama
deshalb heftige Vorwürfe. Aber solange dieselben
Europäer keine eigenen Truppen in Marsch setzen wollen, sollten sie die Diplomaten in Ruhe
ihren Job machen lassen. Bei ihnen ist die Suche
nach einem Frieden für Syrien – und die Ukraine – noch immer in den besten Händen. Und
damit auch die Verhinderung eines neuen Kalten
Krieges.
www.zeit.de/audio
Jan Hofer beiseite
Jan Hofer, der 64-jährige, zum
vierten Mal Vater gewordene Sprecher der Tagesschau, kümmert sich
nach Auskunft seiner Gattin nicht
um das Wechseln der Babywindeln, was zu kritischen Debatten
geführt hat. Hofer eifert lediglich
Wilhelm Buschs Knopp nach, von
dessen Frau es heißt: »Schon in
früher Morgenstund / Öffnet sie
den Wickelbund, / Gleichsam wie
ein Postpaket, / Worauf Knopp
beiseite geht.« GRN.
Foto: Getty Images
Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG,
20079 Hamburg
Telefon 040 / 32 80 ‑ 0; E-Mail:
[email protected], [email protected]
ZEIT ONLINE GmbH: www.zeit.de;
ZEIT-Stellenmarkt: www.jobs.zeit.de
Abonnement Österreich,
Schweiz, restliches Ausland
DIE ZEIT Leserservice,
20080 Hamburg, Deutschland
Telefon +49-40 / 42 23 70 70
Fax +49-40 / 42 23 70 90
E-Mail: [email protected]
o
N9
7 1. J A H RG A N G
C 7451 C
09
CH
4 190745
104708