Schwerpunkt - Die Volkswirtschaft

89. Jahrgang Nr. 3 /2016 sFr. 12.–
Die Volkswirtschaft
Plattform für Wirtschaftspolitik
KAPITALMARKTUNION
DOSSIER
Wie die EU die Investitionen
ankurbeln will
Lohnkontrollen für gleiche
Bedingungen zwischen Mann
und Frau
Economiesuisse und Caritas
im Streitgespräch
59
38
56
ENTWICKLUNGS­
ZUSAMMENARBEIT
SWISSNESS
Exporteure setzen auf
die Marke Schweiz
52
SCHWERPUNKT
Entwicklungszusammenarbeit:
Die Prioritäten der Schweiz
Wichtiger HINWEIS !
Innerhalb der Schutzzone (hellblauer Rahmen) darf
kein anderes Element platziert werden!
Ebenso darf der Abstand zu Format- resp. Papierrand
die Schutzzone nicht verletzen!
Hellblauen Rahmen der Schutzzone nie drucken!
Siehe auch Handbuch
„Corporate Design der Schweizerischen Bundesverwaltung“
Kapitel „Grundlagen“, 1.5 / Schutzzone
www. cdbund.admin.ch
Jetzt im App Store
kostenlos herunterladen
EDITORIAL
Wie bürokratisch ist die Agenda 2030?
Lob für die Schweiz – das nehmen wir gerne an. Umso mehr, wenn es von
einer angesehenen Persönlichkeit kommt wie UNO-Generalsekretär Ban
Ki-moon. An der Jahreskonferenz der Schweizer Entwicklungszusammenarbeit in Zürich rühmte er die rasche Inangriffnahme der Agenda 2030.
Der Bundesrat richtet die Entwicklungspolitik an der UNO-Agenda aus. In
seiner jüngst verabschiedeten Botschaft über die Internationale Zusammenarbeit schlägt er dem Parlament für die Periode 2017 bis 2020 Rahmenkredite
von rund 11 Milliarden Franken vor.
Zurück zur Agenda 2030: Über drei Jahre
hat die Ausarbeitung gedauert, und das
Resultat mutet bürokratisch an. Neben
den 17 Hauptzielen gibt es 169 Unterziele.
Auf den zweiten Blick wird bei der Agenda 2030 deutlich, dass es sich wie angekündigt um einen Paradigmenwechsel
handelt. Denn neu beinhalten die Ziele
auch Umweltanliegen und sind universell
gültig. Damit bildet die Agenda ganz einfach unsere komplexe globalisierte Welt
ab. Die Interdependenzen zwischen den Zielen sind bewusst. Anerkennung
verdient die Tatsache, dass auch hochpolitische Ziele wie etwa der Zugang
aller Menschen zur Justiz aufgenommen wurden.
Unsere Interviewpartner Jan Atteslander von Economiesuisse und Hugo
Fasel von Caritas sind sich in einem Punkt einig: Die eingesetzten finan­
ziellen Mittel sollen Wirkung erzeugen. Die Zielerreichung der Entwicklungsprogramme soll deshalb umfassender gemessen werden.
Wir wünschen Ihnen eine aufschlussreiche Lektüre.
Susanne Blank und Nicole Tesar
Chefredaktorinnen «Die Volkswirtschaft»
INHALT
Schwerpunkt
8
12
15
Nachhaltige UNO-Ziele
leiten die inter­nationale
Zusammenarbeit der
Schweiz
Wie sind die Ziele für
nachhaltige ­Entwicklung
finanzierbar?
Weniger Armut – mehr
Ungleichheit
Valérie Engammare
Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit
Gilles Carbonnier
Universität Genf
Catherine Cudré-Mauroux, Patrick Stadler
Staatssekretariat für Wirtschaft
19
23
26
Unternehmergeist schafft
Arbeitsplätze
Ein Plan für Südafrikas
Armenviertel
Wirksame Entwicklungshilfe
baut auf Fakten
Alain Bühlmann Staatssekretariat für Wirtschaft
Stephan Leiser Swisscontact
Mike Ducker J. E. Austin Associates
Franziska Spörri, Sibylle Hägler
Staatssekretariat für Wirtschaft
Isabel Günther ETH Zürich
30
34
37
Koordiniertes Vorgehen
bei Interessengegensätzen
Nachhaltige Entwicklung
kennt keine Grenzen
«Wir haben eine hohe
Erfolgsquote»
Werner Thut
Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit
Till Berger, Daniel Dubas
Bundesamt für Raumentwicklung
Raymund Furrer
Staatssekretariat für Wirtschaft
INHALT
Themen
38
b
45
INVALIDENVERSICHERUNG
Im Gespräch mit
Jan Atteslander
von Economiesuisse
und Hugo Fasel,
Caritas Schweiz
IV-Umbau zielt auf
Jugendliche und Menschen
mit psychischen
Beeinträchtigungen
Patrick Cudré-Mauroux
Bundesamt für Sozialversicherungen
Wie können wir die
Entwicklungshilfe
verbessern?
50
EINBLICK VON CHRISTELLE DUMAS
48
FINANZMÄRKTE
Internationale TLACStandards als Chance für
Schweizer Grossbanken
Das Verbot von
Verhütungsmitteln
in Manila
Universität Freiburg
Seraina Grünewald Universität Zürich
52
DOSSIER
STANDORTFAKTOREN
Exportunternehmen setzen
auf Swissness
Ralph Lehmann, Manuel Heinzle, Lukas Horrer,
Kathrin Zogg
Hochschule für Technik und Wirtschaft, Chur
Mit Kontrollen
zur Lohngleichheit
60
56
FINANZMÄRKTE
Ein neuer Anlauf zur Herstellung
der Lohngleichheit
Marc Schinzel Bundesamt für Justiz
Die Kapitalmarktunion – ein
Paradigmenwechsel in der
EU soll Wachstum bringen
Die Mehrheit der Unternehmen
begrüsst Lohngleichheitsanalysen
Aline Jörg, Lea Hungerbühler
Staatssekretariat für internationale Finanzfragen
Susanne Stern, Judith Trageser
Infras
61
64
Spots
Die Messmethoden des Bundes zur
Lohngleichheit sind aussagekräftig
Oliver Schröter, Claudio Marti Whitebread
Eidgenössisches Büro für die Gleichstellung von
Frau und Mann
i
b
STANDPUNKTE
68
IMPRESSUM
ZAHLEN
CARTOON
Alle Informationen
zum Magazin
Infografik und
Wirtschaftskennzahlen
Ambitionierte Ziele
Staatssekretariat für Wirtschaft
Staatssekretariat für Wirtschaft
4
70
Stephan Bornick
72
Der Bund muss die freiwilligen
Bemühungen der Arbeitgeber
anerkennen
Daniella Lützelschwab
Schweizerischer Arbeitgeberverband
69
Mit Transparenz gegen
Lohndiskriminierung
Valérie Borioli Sandoz
Travail Suisse
i
IMPRESSUM
Herausgeber
Eidgenössisches Departement für Wirtschaft, ­Bildung
und Forschung WBF,
Staatssekretariat für Wirtschaft SECO, Bern
Redaktion
Chefredaktion: Susanne Blank, Nicole Tesar
Redaktion: Käthi Gfeller, Matthias Hausherr, Christian Maillard,
Stefan Sonderegger
Redaktionsausschuss
Eric Scheidegger (Leitung), Antje Baertschi, ­Susanne Blank,
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(französisch: La Vie économique), 89. Jahrgang, mit Beilagen.
Druck
Jordi AG, Aemmenmattstrasse 22, 3123 Belp
Der Inhalt der Artikel widerspiegelt die Auffassung der Autorinnen und Autoren und deckt sich nicht notwendigerweise mit der
Meinung der Redaktion.
Der Nachdruck von Artikeln ist, nach Bewilligung durch die Redaktion, unter Q
­ uellenangabe gestattet; Belegexemplare e­ rwünscht.
ISSN 1011-386X
SCHWERPUNKT
Entwicklungszusammenarbeit:
Die Prioritäten der Schweiz
Im Herbst hat sich die Staatengemeinschaft in New York auf eine
neue Agenda für nachhaltige Entwicklung geeinigt. Die Agenda
2030 der UNO umfasst 17 Hauptziele, in welchen soziale,
wirtschaftliche und ökologische Anliegen in einem Rahmenwerk
zusammengefasst werden. Konsequenterweise richtet sich die
schweizerische Entwicklungszusammenarbeit danach aus: Der
Bundesrat hat dem Parlament jüngst die Botschaft zur
internationalen Zusammenarbeit für die Jahre 2017 bis 2020
vorgelegt. Lesen Sie mehr über die Prioritätensetzung der Schweiz
in dieser Ausgabe.
ENTWICKLUNGSZUSAMMENARBEIT
Die 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung
Armut in allen ihren
Formen und überall
beenden
Geschlechtergleich­
stellung erreichen und
alle Frauen und Mädchen
zur Selbstbestimmung
befähigen
Eine widerstandsfähige
Infrastruktur aufbauen,
breitenwirksame
und nachhaltige Indust­
rialisierung fördern
und Innovationen unter­
stützen
Ozeane, Meere und
Meeresressourcen im
Sinne nachhaltiger
Entwicklung erhalten
und nachhaltig nutzen
6 Die Volkswirtschaft 3 / 2016
Den Hunger beenden,
Ernährungssicherheit
und eine bessere Ernäh­
rung erreichen und
eine nachhaltige Land­
wirtschaft fördern
Verfügbarkeit und
nachhaltige Bewirt­
schaftung von Wasser
und Sanitärversorgung
für alle gewährleisten
Ungleichheit innerhalb
von und zwischen
Staaten verringern
Landökosysteme schüt­
zen, wiederherstellen
und ihre nachhaltige
Nutzung fördern
SCHWERPUNKT
der UNO-Agenda 2030
Ein gesundes Leben
für alle Menschen jeden
Alters gewährleisten
und ihr Wohlergehen
fördern
Zugang zu bezahlbarer,
verlässlicher, nachhal­
tiger und moderner
Energie für alle sichern
Für nachhaltige
Konsum- und Produkti­
onsmuster sorgen
Friedliche und inklusive
Gesellschaften für eine
nachhaltige Entwick­
lung fördern
Dauerhaftes, breiten­
wirksames und nach­
haltiges Wirtschafts­
wachstum, produktive
Vollbeschäftigung und
menschenwürdige
Arbeit für alle fördern
Umgehend Massnahmen
zur Bekämpfung des
Klimawandels und seiner
Auswirkungen ergreifen
Umsetzungsmittel
stärken und die Globale
Partnerschaft für nach­
haltige Entwicklung mit
neuem Leben erfüllen
DEZA
Städte und Siedlun­
gen inklusiv, sicher,
widerstandsfähig und
nachhaltig machen
Inklusive, gleichberech­
tigte und hochwertige
Bildung gewährleisten
und Möglichkeiten
lebenslangen Lernens
für alle fördern
Die Ziele für nachhaltige Entwicklung heissen auf Englisch Sustainable Development Goals (SDG)
Die Volkswirtschaft 3 / 2016 7
ENTWICKLUNGSZUSAMMENARBEIT
Nachhaltige UNO-Ziele leiten die inter­
nationale Zusammenarbeit der Schweiz
Mit ihrer internationalen Zusammenarbeit leistet die Schweiz einen Beitrag an die Umsetzung der UNO-Agenda 2030. Das Ziel ist eine nachhaltige Entwicklung – weltweit. Valérie
Engammare
Abstract Im September 2015 haben die UNO-Mitgliedstaaten die Agenda 2030
für nachhaltige Entwicklung und die darin enthaltenen Ziele verabschiedet. Die
Schweiz nimmt im Entwurf der Botschaft zur internationalen Zusammenarbeit
2017 – 2020 weitgehend Bezug auf diese weltumspannende Agenda, die für alle
Staaten, aber auch für andere Akteure wie die Zivilgesellschaft gilt. Die internationale Zusammenarbeit der Schweiz setzt sich ein für eine Welt ohne Armut und
in Frieden, für eine nachhaltige Entwicklung. Sie kann dabei – durch ihre thematischen und geografischen Schwerpunkte, durch ihr Engagement auf bilateraler und
multilateraler Ebene und durch den Ausbau ihrer Partnerschaften mit dem Privat­
sektor – zur Umsetzung der Agenda 2030 beitragen. In einem von Herausforderungen und Krisen geprägten internationalen Umfeld spielt die Schweiz als solidarische, verantwortungsbewusste und kompetente Akteurin eine wichtige Rolle.
D 1 I m Sinne der Botschaft
2017 – 2020 umfasst
die «internationale
Zusammenarbeit» die
humanitäre Hilfe, die
technische Zusammenarbeit und die
Finanzhilfe zugunsten
von Entwicklungsländern, wirtschafts- und
handelspolitische
Massnahmen im
Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit, Transitionshilfe
sowie Massnahmen zur
Förderung des Friedens
und der menschlichen
Sicherheit.
2 Die Position des Bundesrates zur Botschaft
war bei Redaktionsschluss noch nicht
bekannt.
8 ie einstimmige Verabschiedung der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung (siehe
Kasten) durch die UNO-Generalversammlung am
25. September 2015 markiert nach den Worten von
UNO-Generalsekretär Ban Ki-moon einen «entscheidenden Moment in der Geschichte der Menschheit».
Die Agenda 2030 und ihre 17 Ziele für nachhaltige
Entwicklung (Social Development Goals, SDG) bauen
auf den Erfolgen der Millenniumsentwicklungsziele
auf, die weiterentwickelt wurden.
Die Agenda 2030 sucht die drei Dimensionen
der nachhaltigen Entwicklung – Ökologie, Ökonomie und Soziales – im Gleichgewicht zu halten
und nimmt Abschied vom Nord-Süd-Denken. Das
Massnahmenpaket ist von universeller Tragweite, denn es gilt nicht nur für die Entwicklungs-,
sondern auch für die Industrieländer: Letztere
müssen ebenfalls einen innerstaatlichen Beitrag
zur Umsetzung leisten – beispielsweise durch ein
nachhaltiges Konsumverhalten. Weiter bietet die
Agenda nicht nur Leitlinien für Regierungen, sondern auch für andere Akteure wie den Privatsektor und die Zivilgesellschaft, welche stark an der
Ausarbeitung der Ziele beteiligt waren.
Das Echo auf die Verabschiedung der Agenda
2030 fiel teilweise negativ aus. Während einige
Die Volkswirtschaft 3 / 2016
Kommentatoren das Vorhaben als zu ehrgeizig
oder sogar als naiv und idealistisch einschätzten,
war es vor allem der Umfang, der am meisten Kritik erntete: Wenn alles Priorität habe, sei nichts
prioritär. In Wirklichkeit ist die Agenda das Abbild einer komplexen Welt, in der die Probleme,
mit denen die Menschheit und der Planet konfrontiert sind, immer enger zusammenhängen.
Die Agenda hat den Vorteil: Sie mobilisiert die
verschiedenen Akteure für eine gemeinsame Vision. An diesen Zielen sind künftige Fortschritte zu
messen. Da die Agenda universell gültig ist, nimmt
sie alle Länder und alle Akteure in die Pflicht, beseitigt Trennwände und knüpft Beziehungen.
Eine Agenda auch für die Schweiz
Die Schweiz hat sich stark an der Ausarbeitung
der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung
beteiligt. Eine wichtige Rolle spielte sie bei der
Annahme der Einzelziele in den Themenfeldern
Wasser, friedliche Gesellschaften und Gleichstellung der Geschlechter.
Die Agenda 2030 bietet der Schweiz innerstaatlich wie auch bei ihren internationalen
Akti­vitäten einen wichtigen Bezugsrahmen: Das
zeigt die neue Strategie Nachhaltige Entwicklung
2016–2019 des Bundesrates. In der Aussenpolitik
nimmt die Botschaft zur internationalen Zusammenarbeit 2017–2020 über weite Strecken darauf Bezug.1 Nach dem Bundesrat sollte auch das
Parla­ment noch dieses Jahr darüber befinden.2
Inklusion fördern,
Ungleichheiten reduzieren
Im Rahmen der Botschaft 2017 – 2020 sind die
Aktivitäten der Direktion für Entwicklung und
REUTERS
SCHWERPUNKT
Zusammenarbeit (Deza), des Leistungsbereichs
Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco)
sowie erstmals auch der Abteilung Menschliche
Sicherheit (AMS) des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten in eine gemeinsame Strategie eingebettet.3 Sie orientieren
sich an der Vision: «eine Welt ohne Armut und in
Frieden, für eine nachhaltige Entwicklung».
Bei der Armutsbekämpfung wird sich die internationale Zusammenarbeit mit den verschiedenen Dimensionen der Armut auseinandersetzen:
Nebst einem Einkommen und menschenwürdiger
Arbeit spielt auch der Zugang zum Gesundheitsund Bildungswesen eine Hauptrolle. Weiter sind
die Möglichkeit eines jeden, seine Rechte geltend
zu machen, sich Gehör zu verschaffen, nicht diskriminiert zu werden und unvorhersehbaren Umständen gewachsen zu sein, zentral.
Der Grundsatz, niemanden auszugrenzen
(«leave no one behind»), ist in der Agenda 2030
fest verankert. Besondere Aufmerksamkeit gilt
in der Botschaft 2017 – 2020 Frauen und schutzbedürftigen Bevölkerungsgruppen wie Kindern,
Jugendlichen, alten Menschen und Kranken. Im
Bundesrat Didier
Burkhalter (l.) und
UNO-General­
sekretär Ban Ki-moon
treffen sich an der
Jahreskonferenz der
Schweizer Entwicklungszusammenarbeit in Zürich.
3 D
ie Botschaft umfasst
fünf Rahmenkredite:
Diese betreffen die
humanitäre Hilfe und
das Schweizerische
Korps für humanitäre
Hilfe, technische
Zusammenarbeit und
Finanzhilfe zugunsten
von Entwicklungs­
ländern, wirtschaftsund handelspolitische
Massnahmen im
Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit,
Transitionshilfe in den
Ländern Osteuropas
und Zentralasiens
sowie Massnahmen zur
Förderung des Friedens
und der menschlichen
Sicherheit.
Mittelpunkt stehen Inklusion und Verringerung
der Ungleichheiten.
Die Gleichstellung der Geschlechter wird zu
einem strategischen Ziel der internationalen Zusammenarbeit. In den Ländern Osteuropas und
Zentralasiens ist im Rahmen der Transitionszusammenarbeit auch die soziale Inklusion ein
wichtiges Thema. Die Deza wird ihr Engagement
im Bereich Grund- und Berufsbildung verstärken, um insbesondere Jugendlichen bessere Perspektiven zu bieten. Auch die wirtschafts- und
handelspolitischen Massnahmen, die das Seco
im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit
umsetzt, werden zu einem nachhaltigen und inklusiven Wachstum beitragen.
Handeln in fragilen Kontexten
Um zur Verwirklichung einer friedlichen Welt
beizutragen, wird die Schweiz im Zeitraum
2017 – 2020 fragilen Regionen sowie Regionen,
die von einem Konflikt betroffen sind, in denen Armut, Instabilität und Gewalt herrschen,
einen grossen Teil ihrer Aktivitäten widmen.
Zudem gilt ihre Aufmerksamkeit der friedlichen
Die Volkswirtschaft 3 / 2016 9
ENTWICKLUNGSZUSAMMENARBEIT
Bei­
legung von Konflikten, der Förderung der
Menschenrechte und dem Schutz der Zivilbevölkerung. Die langfristige Friedenskonsolidierung
und die Verminderung von Konfliktursachen
bleiben dabei weiterhin als zentrale Aspekte bestehen.
Mit der zunehmenden Anzahl von Krisen wird
auch die humanitäre Hilfe ihre Arbeit fortsetzen,
namentlich im Rahmen der Nothilfe für Vertriebene. Überdies sind langfristige Massnahmen
erforderlich, um die kumulativen Herausforderungen in fragilen Ländern und Regionen zu
bewältigen, in denen derzeit rund 1,5 Milliarden
Menschen leben und wo sich 2030 zwei Drittel
der Armen dieser Welt befinden werden. Daher
ist geplant, die bilaterale Zusammenarbeit in
Subsahara-Afrika zu erhöhen. Bis 2020 soll diese
die Hälfte der bilateralen Zusammenarbeit der
Deza darstellen.
Lösungen für globale Probleme
4 H
allegatte S. et al.
(2016). Shock Waves:
Managing the Impacts
of Climate Change on
Poverty, Climate Change and Development
Series, Weltbank.
5 Siehe Artikel von
Werner Thut (Deza) in
dieser Ausgabe.
6 Greenhill R. et al. (2015).
Financing the Future:
How International
Public Finance Should
Fund a Global Social
Compact to Eradicate
Poverty, Bericht,
Overseas Development
Institute.
Die Schweiz fördert die nachhaltige Entwicklung
weltweit. Da bereits die Botschaft 2013 – 2016 der
Lösung globaler Herausforderungen im Zusammenhang mit Klimawandel, Ernährungssicherheit, Wasser, Gesundheit, Migration, Finanzen
und Handel eine zentrale Bedeutung beigemessen hat, spielt die Schweiz hier eine Vorreiterrolle. Dieses Know-how hilft ihr bei der Umsetzung
der Agenda 2030.
Diese globale Herausforderungen und die damit verbundenen Themen wie Sanitärversorgung,
Ernährung, Energie, nachhaltiger Konsum und
nachhaltige Produktion, Migration und Mobilität sowie übertragbare Krankheiten sind nun sowohl auf UNO-Ebene wie auch in der Botschaft
2017 – 2020 verankert. Die Schweiz wird sich dabei sowohl multilateral als auch an der Seite ihrer
Partnerländer für die Umsetzung der Ziele der
Agenda 2030 sowie für deren Monitoring einsetzen.
Zudem sieht die Botschaft 2017–2020 eine
Ausweitung der internationalen Zusammenarbeit im Umweltbereich vor. Hierbei sollen insbesondere die Zusammenhänge zwischen Umwelt­
aspekten und Armut beachtet werden. Denn:
Wird gegen den Klimawandel nichts unternommen, könnten infolge von hohen Lebensmittelpreisen oder Krankheiten bis im Jahr 2030 weitere 100 Millionen Menschen verarmen.4
Synergien nutzen
Um die Agenda 2030 umzusetzen, braucht es ein
Umdenken: Es geht nicht nur darum, mehr zu
tun, sondern auch und vor allem darum, anders
vorzugehen und den Übergang zur Nachhaltigkeit zu fördern. Zu diesem Zweck müssen alle an
einem Strick ziehen.
Diesbezüglich setzt auch die Botschaft 2017–
2020 mehrere Schwerpunkte: Gestützt auf ihre
jeweiligen Kompetenzen werden Deza, Seco und
AMS vermehrt ihre Synergien nutzen. Beispielsweise durch engere Zusammenarbeit in Regionen, in denen sie gleichzeitig tätig sind – wie sie
es bereits in Nordafrika umsetzen.
Partnerschaften mit verschiedensten Akteuren sind ebenfalls eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass die Schweiz ihre Vision und
die Ziele der Agenda 2030 verwirklichen kann.
Dazu arbeiten Deza, Seco und AMS bereits heute
eng mit multilateralen Organisationen wie den
Entwicklungsbanken und den Organisationen
UNO-Agenda 2030: Eine breite Themenpalette
An der Agenda 2030 für nachhaltige
Entwicklunga haben in fast dreijährigen Verhandlungen alle 193 UNO-Mitgliedstaaten
mitgearbeitet. In bisher einmaligem Umfang
waren auch nicht staatliche Akteure –
insbesondere aus der Zivilgesellschaft und
dem Privatsektor – beteiligt.
Die Agenda umfasst 17 Nachhaltigkeitsziele (SDG) und 169 Unterziele. Im Mittelpunkt steht weiterhin die Armutsbekämpfung: So ist das erste Ziel die Beseitigung
10 Die Volkswirtschaft 3 / 2016
der extremen Armut bis 2030. Die Agenda
deckt gleichzeitig ein breiteres Themenspektrum ab, das die verschiedenen Säulen
der nachhaltigen Entwicklung ausgewogen einbezieht und die Zusammenhänge
zwischen den verschiedenen Bereichen
hervorhebt.
Neben Themen wie Bildung, Gesundheit
und Ernährungssicherheit, die bereits
Gegenstand der Millenniumsentwicklungsziele waren, haben in der neuen Agenda
Umweltfragen (wie Klimawandel und
Biodiversität) sowie Wirtschaftsthemen
(Nachhaltigkeit von Wachstum, Beschäftigung, Produktion und Konsum) einen
hohen Stellenwert. Spezifische Einzelziele
betreffen zudem die Förderung friedlicher
und inklusiver Gesellschaften und die Verringerung der Ungleichheit.
a Resolution 70/1 der UNO-Generalversammlung, verabschiedet am 25. September 2015,
Transformation unserer Welt: Die Agenda
2030 für nachhaltige Entwicklung.
SCHWERPUNKT
des UNO-Systems und mit der Zivilgesellschaft,
dem Privatsektor sowie Forschungsinstitutionen
zusammen. Diese Zusammenarbeit soll künftig
noch intensiviert werden.
Vor allem Unternehmen kommt eine Schlüsselrolle zu. In Zukunft sind innovative Formen
der Kooperation zu entwickeln, die verschiedene
Akteure einbeziehen und Schweizer Know-how
nutzen. Im Sinne der Agenda 2030 wird auch
die Bedeutung bereichsübergreifender Ansätze
sowie der Politikkohärenz für nachhaltige Entwicklung zunehmen.5
Hilfe mit Hebelwirkung vergrössern
Die Herausforderungen in der internationalen Zusammenarbeit nehmen zu. Immer mehr Aufgaben
sind zu erfüllen. Langfristige Investitionen sind
nötig, um die Armut dauerhaft zu verringern. Allein für die Finanzierung der Grundbildung (Primar- und Sekundarstufe) für alle wären in den
einkommensschwachen Ländern jährlich 32 Milliarden Dollar erforderlich.6 Doch auch der kurzfristige Bedarf steigt: Die zunehmende Anzahl
grosser Krisen in den vergangenen Jahren und der
Umfang der durch sie verursachten Bedürfnisse –
etwa im Nothilfebereich – sind eine Belastung für
die Budgets der Geber. Auch die Bekämpfung des
Klimawandels wird zusätzlich zur Entwicklungshilfe erhebliche Investitionen erfordern.
Was ist also zu tun angesichts der – auch in
der Schweiz – knappen Budgets? Die fünf Rahmenkredite, die dem Parlament für den Zeitraum
2017–2020 vorgeschlagen werden, belaufen sich
auf fast 11 Milliarden Franken.7 Die öffentliche
Entwicklungshilfe der Schweiz entspricht in
diesem Zeitraum einer Quote von 0,48 Prozent
des Bruttonationaleinkommens.8 Sie nähert sich
dadurch der 0,5-Prozent-Quote, welche das Parlament 2011 beschlossen hat. Im Übrigen anerkennt die Schweiz die von der UNO empfohlene
Quote von 0,7 Prozent.
Zusätzlich zur Entwicklungshilfe erfordert
die Umsetzung der Agenda 2030 auch die Mobilisierung anderer Ressourcen. Beispiele sind Steu­
ererträge der Entwicklungsländer, private Investitionen sowie Überweisungen von Migranten in
ihre Herkunftsländer. In der Botschaft 2017 – 2020
wird daher die internationale Zusammenarbeit
vermehrt als Katalysator verstanden, welcher diesen Prozess stärkt.
Um ihre Wirkungskraft zu
erhöhen, setzt die internationaDie Umsetzung der
le Zusammenarbeit erprobterAgenda 2030 erfordert
weise auf Hebelwirkungen: Sie
die Mobilisierung zustärkt die Institutionen, verbessätzlicher Ressourcen
sert die Rahmenbedingungen,
fördert Reformvorhaben in den
wie Steuererträge der
Partnerländern, beeinflusst gloEntwicklungsländer.
bale Politikfelder, unterstützt
Akteure des Wandels – ins­
besondere aus der Zivilgesellschaft und dem Privatsektor – und setzt sich für die Politikkohärenz
für nachhaltige Entwicklung ein.
Schweiz leistet wichtigen Beitrag
Die Schweiz kann als solidarische, verantwortungsbewusste und kompetente Akteurin einen
wichtigen Beitrag zur Umsetzung der Agenda 2030
leisten. Im Zeitraum 2017 bis 2020 trägt die internationale Zusammenarbeit der Schweiz durch ihre
thematischen Akzente, durch ihre Aktivitäten auf
bilateraler und multilateraler Ebene und durch
eine Stärkung ihrer Partnerschaften sowie dank
ihrer Rolle als Katalysator und Hebel massgeblich
dazu bei.
Gleichzeitig bietet die UNO-Agenda der
Schweiz die Möglichkeit, das Engagement in einem grösseren Rahmen, welcher alle Nationen
und alle Akteure umfasst, zu verankern. In einem internationalen Umfeld, das von Krisen erschüttert und von Zerfall bedroht ist, stellt dieses
gemeinsame und weltweite Vorhaben eine grosse
Chance dar.
7 D
er definitive Vorschlag
des Bundesrats lag
bei Redaktionsschluss
noch nicht vor.
8 Gemäss dem vom
Bundesrat genehmigten Stabilisierungs­
programm 2017 – 2019.
Die öffentliche
Entwicklungshilfe
der Schweiz umfasst
mehr als die Budgets
der internationalen
Zusammenarbeit,
namentlich die Kosten,
die im Zusammenhang
mit der Aufnahme von
Asylsuchenden aus
Entwicklungsländern
im ersten Jahr ihres Aufenthalts in der Schweiz
anfallen.
Valérie Engammare
Dr. iur., Programmbeauftragte, Abteilung Analyse und
Politik, Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit
(Deza), Bern
Die Volkswirtschaft 3 / 2016 11
ENTWICKLUNGSZUSAMMENARBEIT
Wie sind die Ziele für nachhaltige
Entwicklung finanzierbar?
Eine nachhaltige Entwicklung unseres Planeten erfordert beträchtliche Investitionen. Die
Finanzierungsquellen zu diversifizieren, ist für die Schweiz eine Notwendigkeit und gleichzeitig eine Chance. Gilles Carbonnier
Abstract Die Umsetzung der Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDG) bedingt jährlich
Ausgaben von mehreren Billionen Dollar – dies in einem Umfeld, das aktuell von Spar­
bemühungen geprägt ist. Zusätzlich müssen für die Bekämpfung der Klima­erwärmung
und die Hilfe bei mehreren akuten humanitären Krisen genügend Mittel bereitstehen.
Neben der Entwicklungshilfe gehört die Mobilisierung von Steuergeldern und Privat­
investitionen zu den vielversprechendsten Finanzierungsquellen für die SDG. Zur Um­
setzung dieser Ziele braucht es jedoch nicht nur grössere Investitionen in die interna­
tionale Zusammenarbeit, sondern auch eine bessere Abstimmung staatlicher Akteure
bei der Förderung der nachhaltigen Entwicklung. Die Schweiz kann von diesen Pro­
zessen profitieren und ihre Position sowohl bei der globalen Governance als auch auf
dem «SDG-Markt» stärken.
S ich zuerst auf die Finanzierung einigen und
erst dann die Ziele verabschieden: Diese
Posi­
tion vertraten zahlreiche Entwicklungs­
länder – und setzten sich schliesslich durch. So
wurden die Ziele für eine nachhaltige Entwicklung (SDG) erst verabschiedet, nachdem zwei Monate zuvor im Juli 2015 in Addis Abeba die dritte
Konferenz zur Entwicklungsfinanzierung statt­
gefunden hatte.
Die Teilnehmenden waren sich einig, dass die
Mittel der öffentlichen Entwicklungshilfe (APD)
dazu allein nicht ausreichen und eine Diversifizierung der Finanzierungsquellen unabdingbar ist. Sie wollen deshalb Privatinvestitionen
mobili­sieren, die Steuereinnahmen in den Entwicklungsländern ausweiten, den Kapitalzugang
verbessern und Geldüberweisungen von Migranten in ihre Herkunftsländer fördern.
1 B
ericht des Expertenausschusses zur Finanzierung nachhaltiger
Entwicklung. Dieser
wurde der UNO-Generalversammlung am
15. August 2014 vorgelegt (Doc. A/69/315).
12 Investitionsbedarf von 5 Billionen
Dollar pro Jahr
Gemäss einer Schätzung der UNO beträgt der
Investitionsbedarf zur Finanzierung der SDG
über 5 Billionen Dollar jährlich.1 Die öffentliche
Entwicklungshilfe deckt weniger als 3 Prozent
Die Volkswirtschaft 3 / 2016
dieser Summe ab. Selbst wenn die reichen Länder ihrer Zusage nachkämen und 0,7 Prozent ihres Bruttonationaleinkommens in die Entwicklungshilfe investierten, wäre damit bestenfalls
ein Fünfzehntel des Bedarfs gedeckt. Dringlich
wäre auch, den Begriff der öffentlichen Entwicklungshilfe neu zu definieren, um Ausgaben
auszuklammern, die nur entfernt zur Entwicklung beitragen (beispielsweise die Aufnahme der
Flüchtlinge in der Schweiz im ersten Jahr), und
andere mit einer massgeblich positiven Wirkung
einzuschliessen (z. B. Sicherheitsfonds).
Die öffentliche Entwicklungshilfe bleibt jedoch zum Erreichen gewisser SDG weiterhin
zentral: insbesondere in fragilen oder konfliktbetroffenen Staaten, wo immer mehr Gelder hinfliessen. Dort gestaltet sich die Aufgabe der Entwicklungszusammenarbeit besonders schwierig,
da die Sicherheit des Personals vor Ort beeinträchtigt ist und Hilfsprojekte gefährdet sind.
Steuereinnahmen im Fokus
Die Vereinbarung von Addis Abeba legt den
Schwerpunkt zu Recht darauf, die Ressourcen
aus Steuereinnahmen in den Entwicklungsländern zu optimieren. Diese belaufen sich in den
am wenigsten fortgeschrittenen Ländern auf 10
bis 15 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) –
gegenüber mehr als 20 Prozent in den meisten
Ländern mit mittlerem Einkommen. In vielen
Entwicklungsländern höhlen Steuerflucht und
-betrug sowie substanzielle unrechtmässige
Geldflüsse die Besteuerungsgrundlage aus.
Bei den Verhandlungen in Addis Abeba gingen die Meinungen in diesem Punkt auseinander.
Die Entwicklungsländer schlugen vor, eine neue
zwischenstaatliche Organisation einzusetzen,
ALAMY
die gegen Steuerflucht kämpft: Diese müsste zum
Beispiel sicherstellen, dass internationale Konzerne dort Steuern zahlen, wo sie ihre Gewinne
erwirtschaften.
Die Industrieländer lehnen eine neue zwischenstaatliche Organisation ab: Sie wollen sich
auf eine Stärkung des UNO-Expertenkomitees
für Steuerfragen beschränken, um dasselbe Ziel
zu erreichen. Dieselbe Stossrichtung verfolgt die
im vergangenen Oktober in Paris von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung (OECD) und den G-20 gemeinsam lancierte Initiative zur Gewinnverkürzung
und Gewinnverlagerung (Beps) gegen unlautere
Praktiken zur Steueroptimierung. Eine solche
Vereinbarung zwischen OECD-Staaten und Entwicklungsländern würde es ermöglichen, das
Steuersubstrat insbesondere in rohstoffexportierenden Ländern zu erweitern.
Ergänzung der öffentlichen Hilfe
durch Privatkapital
Privatinvestitionen sollen bei der Finanzierung
und der Umsetzung der SDG künftig eine immer wichtigere Rolle spielen. Die ausländischen
Das Gewerbe ist
für eine nachhaltige Entwicklung
zentral. Mann mit
Nähmaschine in
Mosambik.
Direktinvestitionen in die Entwicklungsländer
sind in den Nullerjahren stark gewachsen. Im
Jahr 2013 übertrafen sie die Direktinvestitionen
in den Industrieländern sogar um 778 Milliarden
Dollar. Aber: Die am wenigsten fortgeschrittenen
Länder erhalten nur einen kleinen Teil davon,
vor allem im Erdöl- und Bergbausektor, der weitgehend von der lokalen Wirtschaft abgekoppelt
ist. Die SDG legen hingegen den Schwerpunkt auf
die Infrastruktur, auf erneuerbare Energien und
auf das verarbeitende Gewerbe.
Öffentliche Entwicklungshilfe kann bei
der Erschliessung von Privatkapital eine starke Hebelwirkung erzeugen, unter anderem
mit öffentlich-privaten Partnerschaften (Public-private-Partnerships). Wichtig ist bei diesen Investitionen, Sozial- und Umweltnormen
festzulegen, beispielsweise mit Blick auf die
Nachhaltigkeitsziele für die Produktion und den
Konsum oder für die Bekämpfung der Klimaerwärmung (SDG 12 und 13).
An der UNO-Klimakonferenz vom vergangenen Dezember in Paris bekräftigten die Geberländer ihre Zusage, ab 2020 jährlich mindestens 100 Milliarden Dollar für Massnahmen
zur Eindämmung des Klimawandels und für die
Die Volkswirtschaft 3 / 2016 13
ENTWICKLUNGSZUSAMMENARBEIT
Anpassung an dessen Folgen bereitzustellen. Die
Entwicklungsländer fordern, diese «Klimafinanzierung» müsse zusätzlich zur Entwicklungs­
hilfe gewährt werden. Angesichts der angespannten Finanzlage der Geberländer scheint es
jedoch kaum vorstellbar, das Ziel von 100 Milliarden Dollar bis 2020 zu erreichen, ohne die
öffentliche Entwicklungshilfe anzutasten. Noch
schwieriger wird es, wenn international keine Einigung über eine CO2-Abgabe oder eine
«Tobin»-Finanz­
transaktionssteuer erzielt wird.
Denn es bestehen zwar Synergien zwischen Armutsbekämpfung und Klimafinanzierung, bei
der Mittelvergabe werden jedoch immer wieder
schwierige Entscheidungen zu fällen sein, da die
Klimaziele und die (übrigen) SDG in einem gewissen Wettbewerb stehen.
Die Schweiz hat gute Karten
In diesem Kontext legt der Bundesrat dem Parlament seine Botschaft über die internationale
Zusammenarbeit für den Zeitraum 2017 – 2020
vor. Thema der Botschaft sind sowohl die strategischen Schwerpunkte als auch die Verwendung
der öffentlichen Entwicklungsgelder für humanitäre Hilfe, Entwicklungszusammenarbeit und
Friedensförderung (menschliche Sicherheit).
Die Schweiz muss mehr unternehmen, wenn sie
ihren Verpflichtungen im Rahmen der SDG und
des Klimawandels nachkommen und ausserdem
zur Deckung des enormen humanitären Bedarfs
beitragen will, der aufgrund der vielen laufenden Krisen besteht (Naher und Mittlerer Osten,
­Afrika, Afghanistan, Ukraine). In der Schweiz ist
zwar ebenfalls ein gewisser Spardruck vorhanden, die meisten anderen Geberländer sind aber
mit wesentlich grösseren Schwierigkeiten konfrontiert.
Davon kann die Schweiz profitieren und ihren Platz unter den einflussreichen Geberländern festigen. Ausserdem ist unsere Wirtschaft
besonders gut positioniert, um von Märkten im
Zusammenhang mit der internationalen Zusammenarbeit zu profitieren. Diese wachsen kräftig,
14 Die Volkswirtschaft 3 / 2016
was aktuelle Studien zum Einkauf von Waren
und Leistungen der internationalen Organisationen und zu den wirtschaftlichen Auswirkungen
der APD belegen.2
Neben der ausländischen Hilfe bedingt die
Umsetzung der Agenda 2030 für nachhaltige
Entwicklung eine kohärentere Politik staatlicher Stellen in
Themenbereichen wie Energie,
Die Schweizer
Handel, Finanzen, LandwirtWirtschaft ist gut posi­
schaft oder Migration. Eine zentioniert, um von Märkten
trale Bedeutung kommt hier der
im Zusammenhang
Fiskalpolitik zu: Die Schweiz hat
in der Vergangenheit eine Vormit der internationalen
reiterrolle bei Projekten in EntZusammenarbeit zu
wicklungsländern gespielt, wo
profitieren.
es darum ging, die Verwaltung
öffentlicher Gelder zu optimieren – insbesondere in rohstoffexportierenden
Ländern. Zur Erweiterung des Steuersubstrats
in Ländern, die zur Finanzierung der SDG mehr
eigene Mittel aufbringen müssen, braucht es deshalb eine bessere Abstimmung zwischen Fiskalund Entwicklungspolitik.
Die Schweiz als wichtiges globales Rohstoffhandels- und Finanzzentrum kann hier wesentarbonnier, Gilles
lich Einfluss nehmen. Mehr Investitionen in die 2 C(2014).
Procurement of
goods and services by
internationale Zusammenarbeit und eine kohäinternational organirentere Politik der staatlichen Stellen sind im Insations in donor countries, 2013; Deza und
teresse sowohl der Schweiz als auch der EntwickSeco (2015). Öffentliche
Entwicklungshilfe (APD)
lungsländer. Diesen Preis werden wir bezahlen
2013 – 2014, Univermüssen, wenn wir die Nachhaltigkeitsziele der
sität Neuenburg und
Hochschulinstitut für
UNO erreichen wollen – in unserem wie auch im
internationale Studien
und Entwicklung, 2015.
Interesse der Entwicklungsstaaten.
Gilles Carbonnier
Professor für Entwicklungsökonomie, Hochschulinstitut
für Internationale Studien und Entwicklung (IHEID),
Universität Genf
SCHWERPUNKT
Weniger Armut – mehr Ungleichheit
In den letzten Jahrzehnten hat die Ungleichheit innerhalb der Staaten zugenommen – was
hohe politische und soziale Kosten verursachen kann. Die Schweiz will diesem Trend in ihrer
wirtschaftlichen Entwicklungszusammenarbeit entgegenwirken. Catherine Cudré-Mauroux,
Patrick Stadler
Abstract Das Umfeld der wirtschaftlichen Entwicklungshilfe hat sich in den letzten 50 Jahren drastisch verändert. Die extreme Armut ist auf einen Tiefstand gefallen, die Ungleichheit zwischen Staaten hat abgenommen. Gleichzeitig sind aber
die innerstaatlichen Disparitäten deutlich gewachsen. Da grosse Ungleichheiten
politische und soziale Kosten verursachen können, rückt das Thema zusehends
auf die Agenda der internationalen Zusammenarbeit. Die wirtschaftliche Entwicklungszusammenarbeit des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco) hat den
Akzent auf nachhaltiges, inklusives Wachstum gelegt. Dadurch sollen alle Bevölkerungsschichten eines Landes Perspektiven erhalten.
K 1 Roser (2015a).
2 M
ilanovic und Lakner
(2015) sowie Anand und
Segal (2014).
3 Deaton (2013):
«Inequality is often
a consequence of
progress. Not everyone
gets rich at the same
time, and not everyone
gets immediate access
to the latest life-saving
measures, whether
access to clean water,
to vaccines, or to new
drugs for preventing
heart disease.»
riege, Wirtschaftskrisen und Flüchtlingsströme: Die Schlagzeilen der Medien malen
ein düsteres Bild der Welt. Vergessen gehen dabei
häufig die beachtlichen Fortschritte im Kampf
gegen eine der grössten Miseren, mit denen wir
uns konfrontiert sehen: die extreme Armut.
So ist der Anteil der Menschen, die mit weniger als 1.90 Dollar pro Tag auskommen müssen,
in den letzten 15 Jahren um über die Hälfte gesunken. Heute leben rund 10 Prozent der Weltbevölkerung in extremer Armut. Zum Vergleich:
Im 19. Jahrhundert waren noch mehr als 8 von
10 Personen davon betroffen (siehe Abbildung 1).
Nennenswert sind auch die Fortschritte im
Kampf gegen die Kindersterblichkeit, welche heute beinahe vier Mal tiefer ist als vor 50 Jahren.1
Das durchschnittliche Einkommen in Europa
vor 200 Jahren glich jenem der ärmsten Länder
Afrikas von heute. Damals war nahezu die gesamte Weltbevölkerung arm (siehe Abbildung 2).
Im Jahr 1970 hatte sich der Kontext als Folge von
über einem Jahrhundert Industrialisierung drastisch verändert. Die Welt war nun zweigeteilt in
entwickelte und arme Länder, was visuell an die
Höcker eines Kamels erinnert. 50 Jahre später, um
die Jahrtausendwende, hat sich das Kamel in ein
Dromedar verwandelt: Die klare Unterscheidung
zwischen entwickelter und unter­
entwickelter
Welt ist Geschichte, das weltweite Einkommen
deutlich gestiegen und gleichmässiger verteilt.
Innerstaatliche Ungleichheit
nimmt zu
Während diese Entwicklungen optimistisch
stimmen, ist seit den Achtzigerjahren eine neue
Tendenz feststellbar: Die Ungleichheit zwischen
den Ländern nahm in den letzten 25 Jahren zwar
ab, die innerstaatliche Ungleichheit stieg aber
deutlich.2 Aufstrebende Volkswirtschaften wie
China und Indien verzeichneten jahrelang hohe
Wachstumsraten, was wesentlich zur Armutsreduktion beitrug. Gleichzeitig wurde jedoch der
Graben zwischen den verschiedenen Bevölkerungsschichten immer grösser. Die wachsende
Ungleichheit ist mitunter ein Nebeneffekt der
wirtschaftlichen Fortschritte der vergangenen
Jahrzehnte, wie Wirtschaftsnobelpreisträger Angus Deaton konstatiert.3 Denn die Wohlstandsgewinne eines aufstrebenden Staates kommen
nicht allen Bewohnern zur gleichen Zeit und in
gleichem Masse zugute.
Seco-Entwicklungsziele 2017 – 2020
Das Staatssekretariat für Wirtschaft will nachhaltiges und
inklusives Wachstum in den Partnerländern über vier Wirkungsziele erreichen. Diese leiten sich aus der globalen Agenda
2030 für eine nachhaltige Entwicklung ab und reflektieren die
Stellung des Seco als wirtschaftliches Kompetenzzentrum des
Bundes:
–– wirksame Institutionen und Dienstleistungen;
–– mehr und bessere Arbeitsplätze;
–– gestärkter Handel und höhere Wettbewerbsfähigkeit;
–– emissionsarme und klimaresilientea Wirtschaft.
a Unter «klimaresilient» wird die Widerstandsfähigkeit gegenüber
extremen Klimaereignissen verstanden. Diese stellt neben der
Reduktion von Emissionen die zweite Handlungsleitlinie des Seco
im Klimabereich dar.
Die Volkswirtschaft 3 / 2016 15
ENTWICKLUNGSZUSAMMENARBEIT
ziell negative soziale oder politische Folgen hat,
sondern längerfristig auch zu tieferem Wachstum führen kann.5
Weltbank geht mit
«Shared Prosperity» voran
Die Schere zwischen
Arm und Reich öffnet
sich weiter. Rikscha in
Indien.
Die wachsende Ungleichheit in vielen Ländern
wirkt sich auch auf die internationale Zusammenarbeit aus. Neben dem traditionellen Fokus auf die Reduktion von Armut und globalen
­Risiken wie dem Klimawandel befassen sich Entwicklungsakteure vermehrt mit den Folgen zunehmender Disparitäten.
Exemplarisch ist in dieser Hinsicht die 2013
verabschiedete Strategie der Weltbank namens
Shared Prosperity. Diese enthält das ambitionierte Ziel, die extreme Armut6 bis 2030 zu überwinden – respektive auf wenige Prozentpunkte zu
reduzieren. Gleichzeitig soll der Lebensstandard
der untersten 40 Prozent in jedem Land drastisch
verbessert werden, um den Graben zwischen
Arm und Reich zu vermindern.
KEYSTONE
Von den Möglichkeiten einer offenen, globalisierten Weltwirtschaft haben nicht zuletzt wohlhabende Schichten profitiert. Gemäss Schätzungen der Grossbank Credit Suisse verfügen heute
0,7 Prozent der Bevölkerung über knapp die Hälfte des weltweiten Vermögens. Die untersten zwei
Drittel besitzen demgegenüber weniger als 3 Prozent (siehe Abbildung 3).
Entsprechend sind Verteilungsfragen in den
letzten Jahren ganz zuoberst auf die politische
Agenda gerückt. Zahlreiche Beobachter sprechen von strukturellen Herausforderungen,
die angegangen werden müssen. So macht der
französische Ökonom Thomas Piketty die höheren Renditen von Kapital im Vergleich zum
Wirtschaftswachstum hauptverantwortlich für
die zunehmende Ungleichheit in entwickelten
Volkswirtschaften4: Das Einkommen auf Arbeit
wachse langsamer als das Einkommen auf Kapital, was das Gros der Bevölkerung systematisch
benachteilige. Neue Analysen von Ökonomen des
Internationalen Währungsfonds (IMF) zeigen
zudem auf, dass Ungleichheit nicht nur poten-
16 Die Volkswirtschaft 3 / 2016
SCHWERPUNKT
70
60
50
40
30
20
10
0
1820
1840
1860
1880
1900
1920
1940
1960
1980
2000
2015
ROSER (2015A), BOURGUIGNON/MORRISSON (2002), WORLD
BANK (2015) / DIE VOLKSWIRTSCHAFT
80
extreme Armut bisher (weniger als 1.25 Dollar pro Tag) Weltbank-Definition von extremer Armut ab 2015 (weniger als 1.90 Dollar pro Tag) Abb. 2: Weltweite Einkommensverteilung 1820, 1970 und 2000
320 Bevölkerung (in Millionen)
300
280
260
240
ROSER (2015B), OECD (2014) / DIE VOLKSWIRTSCHAFT
220
200
180
160
140
120
100
80
60
40
20
0
100
200 300
500
1000
2000 3000 5000 10 000 20 000 30 000 50 000 100 000
Jahreseinkommen pro Einwohner (in Internationalen Dollars, 1990)
1820 1970 2000 Das Jahreseinkommen der Menschen ist hier weltweit in «Internationalen Dollars»
angegeben. Diese Vergleichswährung basiert auf einem Warenkorb, gemessen in Dollar
(1990).
Abb. 3: Weltweite Vermögensverteilung (2015)
0,7 %
34 Millionen Menschen
rso
lp e
ze
ög
la
t ei
en
(An
vo
n
en
m
t
To
71 %
3 386 Millionen Menschen
al)
< 10 000 Dollar
31,3 Billionen Dollar (12,5%)
ög
21 %
1 003 Millionen Menschen
rm
ve
E in
98,5 Billionen Dollar (39,4 %)
mt
10 000 bis 100 000 Dollar
112,9 Billionen Dollar (45,2 %)
sa
ne
n
100 000 bis 1 Million Dollar
7,4 %
349 Millionen
Menschen
7,4 Billionen Dollar
(3,0 %)
Anzahl Personen (Anteil an der Weltbevölkerung)
Die Volkswirtschaft 3 / 2016 17
JAMES DAVIES, RODRIGO LLUBERAS AND ANTHONY SHORROCKS, CREDIT SUISSE
GLOBAL WEALTH DATABOOK 2015 / DIE VOLKSWIRTSCHAFT
> 1 Million Dollar
Ge
Die wirtschaftliche Entwicklungszusammen­
arbeit des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco)
geht in der Strategie 2017 – 2020 ebenfalls verstärkt auf Disparitäten ein. So stellt das Seco seine
entwicklungspolitischen Aktivitäten unter den
Begriff «nachhaltiges und inklusives Wachstum»:
Wachstum soll ökonomische wie soziale und ökologische Aspekte berücksichtigen und den Wohlstand künftiger Generationen nicht beeinträchtigen (siehe Kasten). Der neue Akzent auf inklusives
Wachstum zielt darauf ab, allen Bevölkerungsschichten der Seco-Partnerländer7 Perspektiven
zu bieten – unter anderem über Jobs.
Nachhaltiges und inklusives Wachstum
bedingt wirksame Institutionen und Dienstleistungen, die allen Bevölkerungsschichten
zugutekommen. Ohne Rechtssicherheit oder
funktionierende Energieversorgung können
Kleinunternehmer nur mit Mühe eine Firma aufbauen und Arbeitsplätze schaffen. Ein verantwortungsvoller Umgang mit öffentlichen Finanzen und Investitionen sowie ein gut entwickelter
Finanzsektor wirken sich positiv auf die wirtschaftliche Leistung eines Landes aus, was wiederum die Armut reduziert. Konkret unterstützt
das Seco beispielsweise Ghana mit Expertise und
IT-Infrastruktur beim Aufbau eines effizienten
und fairen Steuersystems. Dadurch konnten die
Staatseinnahmen erhöht und die Steuerlast breiter verteilt werden.8
Mehr und bessere Arbeitsplätze sind der
Schlüssel zu einer wirtschaftlichen Entwicklung,
die möglichst viele einbezieht. So stellt ein würdiger Arbeitsplatz das wohl wirksamste Mittel
gegen Armut dar. Damit neue Stellen entstehen,
braucht es neben einem förderlichen Geschäftsklima auch Zugang zu Finanzierungsquellen und
Fachkräften. Gleichzeitig müssen Arbeitsplätze
Mindestanforderungen erfüllen, um ein sicheres
und menschenwürdiges Umfeld zu bieten. Über
die Finanzierungsinstitution Swiss Investment
Fund for Emerging Markets (Sifem) stellt das
Seco deshalb Unternehmen in Entwicklungsländern Kapital zur Verfügung, damit diese expandieren und neue Stellen schaffen können.
Längerfristiges Wachstum setzt einen stärkeren Handel und höhere Wettbewerbsfähigkeit
voraus. Entwicklungsländer profitieren jedoch
Abb. 1: Anteil der Armen an der Weltbevölkerung
90 In %
Ve
rm
Inklusives Wachstum als Ziel
ENTWICKLUNGSZUSAMMENARBEIT
häufig nicht von den ertragreichen Etappen in
der Wertschöpfungskette eines Produkts. Denn
Güter durchlaufen heute komplexe Wertschöpfungsketten in verschiedenen Staaten, bis sie die
Konsumenten erreichen. Geeignete wirtschaftliche Rahmenbedingungen tragen dazu bei, dass
die Produktivität von kleinen und mittleren Unternehmen kontinuierlich steigt und lukrative
Produktionsschritte mit hoher Wertschöpfung
vermehrt vor Ort anfallen. Aus diesem Grund
stärkt das Seco in Indonesien beispielsweise die
Managementkapazitäten von Kakao-Klein­bauern
und sorgt damit für stabilere Einkommen.
Arme stärker vom Klimawandel
betroffen
Eine emissionsarme und klimaresiliente Wirtschaft ist angesichts der Herausforderungen des
Klimawandels von zentraler Bedeutung. Entwicklungsländer sind besonders exponiert und
bekommen die Folgen extremer Klimaereignisse
stärker zu spüren als entwickelte Staaten. Gerade die Ärmsten in diesen Ländern sind überproportional von Überschwemmungen und anderen
Katastrophen betroffen.
Klimarelevante Strategien umfassen sowohl
Massnahmen zur Reduktion der Treibhausgase
als auch solche zur Anpassung an die Folgen der
Klimaerwärmung. Im Zentrum stehen Massnahmen in Städten, weil sie bedeutende Verursacher
klimarelevanter Gase sind und immer mehr Bewohner zählen. In Tadschikistan hat das Seco
zu einem zuverlässigeren und nachhaltigeren
Zugang zu Elektrizität beigetragen. Das Energienetz wurde saniert, was unter anderem Energieverluste reduzierte. Subventionen trugen dazu
bei, dass auch die Ärmsten einen verbesserten
Elektrizitätszugang erhielten.
Abschliessend kann gesagt werden: Disparitäten sind mitunter ein Nebeneffekt der wirtschaftlichen Fortschritte der vergangenen Jahrzehnte. Mit ihren potenziell hohen politischen
und sozialen Kosten stellen sie für Entwicklungsländer eine Herausforderung dar, die sie noch
lange beschäftigen dürfte. Die internationale
Zusammenarbeit der Schweiz, insbesondere des
Seco, begleitet sie auf diesem Weg.
Catherine CudréMauroux
Leiterin Politik und
Qualität, Wirtschaftliche
Zusammenarbeit und
Entwicklung, Staats­
sekretariat für Wirtschaft
(Seco), Bern
Patrick Stadler
Wissenschaftlicher Mit­
arbeiter, Wirtschaftliche
Zusammenarbeit und
Entwicklung, Staats­
sekretariat für Wirtschaft
(Seco), Bern
Literatur
Anand, Sudhir and Paul Segal (2014). The Global
Distribution of Income. International Development Institute Working Paper 2014-01, London.
Bourguignon, François and Christian Morrisson
(2002). Inequality Among World Citizens:
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Vol. 92, No. 4. September 2002.
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Citizens, Oxford, Ourworldindata.org.
World Bank (2015). Global Monitoring Report
2015/2016, Washington.
4 P iketty (2013/2014).
5 IMF Staff Discussion
Note (2015).
6 Einkommen pro Person
von weniger als 1.90
Dollar pro Tag (kaufkraftbereinigt, 2011).
7 Schwerpunktländer
im Süden: Indonesien,
Vietnam, Ägypten, Ghana, Südafrika, Tunesien,
Kolumbien und Peru.
Im Osten: Albanien,
Serbien, Kirgistan,
Tadschikistan, Ukraine.
8 Die Projektbeispiele
basieren auf laufenden
oder früheren Projekten, welche bereits
einen starken Bezug zu
inklusivem Wachstum
aufweisen. Siehe auch
die Beiträge von Alain
Bühlmann, Stephan
Leiser und Mike Ducker
sowie Franziska Spörri
und Sibylle Hägler in
dieser Ausgabe.
SCHWERPUNKT
Unternehmergeist schafft Arbeitsplätze
In sechs ausgewählten Transitions- und Schwellenländern fördert das Staatssekretariat
für Wirtschaft (Seco) Start-ups und bestehende Unternehmen. Ziel des Entrepreneurship-­
Programms ist es, die entsprechenden Rahmenbedingungen zu verbessern. Dazu braucht
es auch einen Mentalitätswandel. Alain Bühlmann, Stephan Leiser, Mike Ducker
Abstract Menschen mit innovativen Ideen und Tatendrang sind überall auf
der Welt anzutreffen. Darin liegt ein enormes Potenzial für neue Jobs und wirtschaftliches Wachstum. In den meisten Transitions- und Schwellenländern gehen
Start-ups jedoch schon nach kurzer Zeit wieder ein. Zudem schöpfen bestehende
Unternehmen ihr Wachstumspotenzial nur beschränkt aus. Ein wichtiger Grund
dafür sind schlechte wirtschaftliche Rahmenbedingungen. Häufig fehlt es den Firmen an Zugang zu Wissen, Kapital und diversen Unterstützungsdienstleistungen
im eigenen Land. Das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) hat in sechs ausgewählten Ländern den Fokus auf Unternehmen mit Wachstumspotenzial gelegt.
Im Auftrag des Seco unterstützt die Stiftung Swisscontact – in Zusammenarbeit
mit dem US-Unternehmen J. E. Austin Associates – Partnerorganisationen in Peru,
­Vietnam, Serbien, Albanien, Mazedonien und Bosnien.
A 1 SDG 8, mehr unter Sustainabledevelopment.
un.org.
rbeitsplätze sind zentral, um der Armut
langfristig zu entkommen. Für viele Menschen bieten sichere Jobs zudem eine Alternative
zur Migration, was angesichts der gegenwärtigen
Auswanderungswellen besonders relevant ist.
Auf globaler Ebene werden Arbeitsplätze zunehmend als Instrument für die Armutsreduktion
gesehen: Eines der UNO-Ziele für nachhaltige
Entwicklung nach 2015 (Sustainable Development Goals, SDG) setzt genau dort an, indem es
die produktive Vollbeschäftigung und menschenwürdige Arbeit für alle anstrebt.1 Im Rahmen der
Schweizer Entwicklungszusammenarbeit setzt
sich auch das Staatssekretariat für Wirtschaft
(Seco) in seinen Partnerländern unter dem neuen
Rahmenkredit (2017 – 2020) gezielt für die Schaffung von mehr und besseren Arbeitsplätzen ein.
Was als Konzept einfach zu verstehen ist,
stellt die Akteure in der Praxis vor grosse Her-
ausforderungen. Die Frage, wie mehr und bessere
Stellen geschaffen werden können, beschäftigt
Forscher und Praktiker gleichermassen. Da weltweit jede neunte Stelle durch den Privatsektor
generiert wird, kommt ihm unumstritten eine
zentrale Rolle zu: Neu gegründete und etablierte Firmen, die wachsen, benötigen Personal und
schaffen Arbeitsplätze. Um dieses Wachstum zu
ermöglichen, bedarf es einer Vielzahl an lokalen
Unterstützungsmechanismen, angefangen bei
Finanzierungsmöglichkeiten bis hin zu Beratungsdienstleistungen.
Erfahrene Unternehmer
als Mentoren
Bis vor Kurzem war relativ wenig darüber bekannt, wie Regierungen und Geber den Nährboden – das sogenannte Entrepreneurship-Ecosystem (siehe Kasten 1) – verbessern und damit zur
Entstehung von wachstumsorientierten Unternehmen («high growth entrepreneurs») beitragen können. In den vergangenen Jahren haben
sich Forscher und Praktiker zunehmend mit diesem Ecosystem befasst. Dabei suchten sie nach
Wegen, den Boden für innovative Geschäftsideen fruchtbar zu machen, damit diese nicht nach
kurzer Zeit welken, sondern sich nachhaltig entwickeln und etablieren.
Die Erfahrung des auf Entwicklungsländer
spezialisierten US-Beratungsunternehmens J. E.
Austin Associates (JAA) zeigt: Die Qualität des Eco-
Kasten 1: Das Entrepreneurship-Ecosystem
Jedes Entrepreneurship-Ecosystem («Unternehmertum-Ökosystem») eines Landes enthält lokale Faktoren, welche Wachstum und
Bestehen von Unternehmen begünstigen.
Wie die Analogie aus der Biologie («Ökosys-
tem») nahelegt, sind die einzelnen Faktoren
zwar wichtig, aber für sich alleine noch nicht
genügend. Eine Wirkung entfaltet sich erst
aus ihrem Zusammenspiel. Zum Ecosystem
gehören unter anderem die Unternehmen
selber, aber auch Dienstleistungen, Expertise, Finanzierungsmöglichkeiten, Gesetze
und kulturelle Normen.
Die Volkswirtschaft 3 / 2016 19
SWISSCONTACT / ICT HUB BELGRAD
ENTWICKLUNGSZUSAMMENARBEIT
systems hängt primär von erfahrenen Unternehmern ab, welche Wissen, Erfahrung und Kontakte
an Jungunternehmer weitergeben und bestenfalls
selber in junge Firmen investieren. Jungunternehmer erhalten durch den generationenübergreifenden Austausch ein tiefer gehendes Verständnis
von Märkten, Technologien, Indus­trien, Managementstrategien, Finanzierungsmöglichkeiten und
haben bessere Aussichten, schneller und nachhaltiger zu wachsen.
Unternehmen durchlaufen
drei Entwicklungsphasen
Aktuelle Forschungsergebnisse stützen diese
Erkenntnis: Unternehmer, welche von Experten
beraten werden, verzeichnen mehr als dreimal
höhere Wachstumsraten. Solche Mentoren sind
grösstenteils Einheimische, können aber auch
Mitglieder einer Diaspora im Ausland sein. Analog zum Menschen können drei grobe Phasen
der Unternehmensentwicklung unterschieden
werden: Kindheit, Jugend- und Erwachsenenalter. Die möglichen Formen des Mentoring richten
sich danach aus und umfassen unter anderen
«Inkubatoren» und «Acceleratoren».
Inkubatoren begleiten neu gegründete Startups – die Kinder – in ihrer Anfangsphase, indem
20 Die Volkswirtschaft 3 / 2016
Jungunternehmer
arbeiten in einem
ICT-Hub in Belgrad
an der Umsetzung
ihrer Ideen. Das Seco
unterstützt das Netzwerkprojekt.
sie ihnen Büroräume und grundlegendes Wissen
zur Geschäftstätigkeit vermitteln, bis sie auf eigenen Füssen stehen. Acceleratoren nehmen sich
der «Jugendlichen» an: In diesem oftmals schwierigen Entwicklungsstadium haben die Unternehmen bereits erste erfolgreiche Schritte gemacht,
brauchen aber weiterhin Begleitung, um sich nicht
im Tagesgeschäft zu verlieren und um ihre langfristigen Ziele im Auge zu behalten.
Weiter für den Erfolg verantwortlich ist die
öffentliche Wahrnehmung der selbstständigen
Unternehmer. Denn: Nicht überall werden Unternehmensgründer wie im kalifornischen Silicon Valley als Helden gefeiert. Vielmehr herrscht
oft die Ansicht vor, dass sich nur Leute in die
Selbstständigkeit begeben, die keinen gut bezahlten Job finden.
Kasten 2: «Seco Entrepreneurship Program»
Das vom Staatssekretariat für Wirtschaft
(Seco) finanzierte Seco Entrepreneurship
Program (2015–2019) wird von der Stiftung
Swisscontact vor Ort umgesetzt. Die fachliche Expertise im Bereich Unternehmertum
liefert das US-Beratungsunternehmen J. E.
Austin Associates (JAA). Das ambitionierte
Ziel des Programms ist es, in vier Jahren
mehr als 4000 neue Stellen zu schaffen,
über 800 Start-ups – beziehungsweise
wachstumsorientierte Unternehmen – zu
unterstützen und ihnen zu einem jährlichen
Einkommenswachstum von 50 Prozent zu
verhelfen. Das Programmbudget umfasst
15 Millionen Franken für die Seco-Schwerpunktländer Peru, Vietnam, Serbien, Albanien, Mazedonien, Bosnien. Der Auftrag zur
Umsetzung des Programms war öffentlich
ausgeschrieben worden.
SCHWERPUNKT
Bund finanziert
Entrepreneurship-Programm
Das Seco fördert Start-ups und bestehende
Unternehmen mit dem «Seco Entrepreneur­
ship Program» (siehe Kasten 2), welches von
der Schweizer Stiftung Swisscontact vor Ort
umgesetzt wird. Der Fokus liegt auf Firmen mit
Innovationskraft und hohem Wachstumspotenzial, die Arbeitsplätze schaffen. In allen sechs
Ländern, in denen das Programm läuft, besteht
bereits heute eine Gründerszene, und verschiedene Organisationen führen dort regelmässig
Start-up-Events und Wettbewerbe durch. Eine
erste Bestandsaufnahme zeigt jedoch, dass ohne
weiterführende Unterstützungsmechanismen
der Weg zum erfolgreichen Unternehmen selbst
für die Gewinner solcher Veranstaltungen häufig bereits nach kurzer Zeit wieder endet. Wegen
fehlender fachlicher Unterstützung oder nicht
vorhandener finanzieller Mittel wachsen Geschäftsideen trotz Potenzial und Innovation oft
kaum über das Gründungsstadium heraus.
Genau da setzt das Entrepreneurship-Programm an: Mit verschiedenen Interventionen
sollen lokale Unterstützungsangebote gestärkt
und verbessert werden, damit Unternehmer in
Zukunft gezielter und über verschiedene Entwicklungsphasen eines Start-ups hinweg unterstützt werden. Durch die Zusammenarbeit mit
Der Chef einer Holzpellet-Fabrik bei
Klokot im Kosovo
zeigt sein Unternehmen. Das Seco
hat sich finanziell
beteiligt.
KEYSTONE
Geberfinanzierte Programme können das
Entrepreneurship-Ecosystem, welches im Endeffekt ein öffentliches Gut darstellt, entscheidend
verbessern. Dafür müssen die Geber aktiv die
Rolle des «Matchmaker» übernehmen und Unternehmer mit Potenzial mit den passenden Mentoren und Investoren verlinken. Zusätzlich können
dank solcher Programme Lernplattformen und
Finanzierungsmechanismen zur Verfügung gestellt oder verbessert werden. Weitere Felder sind
die Mentorenausbildung und die Aufklärung von
Unternehmern über entsprechende Angebote.
Nicht zuletzt können die Programme via Medien
auf eine verbesserte öffentliche Wahrnehmung
des Unternehmertums hinarbeiten.
Die Volkswirtschaft 3 / 2016 21
ENTWICKLUNGSZUSAMMENARBEIT
Inkubatoren, Acceleratoren, Investoren und Medien verfolgt das Programm einen Ansatz, der
zwar indirekt, dafür aber nachhaltig ist. Durch
die Stärkung des gesamten Ecosystems sollen die
Unternehmer auch über das Programmende hinaus profitieren.
Das Entrepreneurship-Programm stellt in
erster Linie Expertise für die Entwicklung oder
Weiterentwicklung von Angeboten in Partnerorganisationen zur Verfügung. Die Schlüsselkomponenten sind der Aufbau von Netzwerken mit
gut trainierten lokalen Mentoren (vgl. Kasten 3)
und das Lernen in Peergruppen. Weil Frauen in
den Gründerszenen der Zielländer unterrepräsentiert sind, sind spezifische Angebote für Unternehmerinnen mit innovativen Geschäftsideen geplant.
Potenzielle Investoren –
auch aus der Schweiz
Die Suche nach Partnerorganisationen hat
bereits gezeigt, dass einige noch nicht auf einer stabilen Basis stehen. Hier unterstützt das
Entrepreneurship-Programm die Partner bei der
Entwicklung eines nachhaltigeren Geschäftsmodells, das nicht ausschliesslich auf staatliche
Fördergelder oder Beitragszahlungen von Firmengründern abstützt. Denn: Letztere sollen
schliesslich profitieren können.
Sogenanntes Seed-Kapital, das in der frühen
Entwicklungsphase von Start-ups dazu dient,
eine Geschäftsidee ausreifen zu lassen, ist für
den Erfolg entscheidend, da Banken Jungunternehmen wegen des hohen Risikos oft keine Kredite gewähren. Zudem verfügen die Firmengründer selten über Mittel für eine Eigenfinanzierung.
22 Die Volkswirtschaft 3 / 2016
Kasten 3: Mentoren verhelfen Fruchtsaftbar-Kette in Peru zum Erfolg
Wie wichtig eine professionelle Unterstützung für ein Jungunternehmen ist, zeigt das
Beispiel der Fruchtsaftbar-Kette Disfruta in
Peru. Die Geschwister Azucena und Eduardo
Gutiérrez gründeten das Unternehmen im
Jahr 2007. Sie erweiterten den traditionellen
Früchtehandel ihrer Eltern zu einem innova-
tiven Geschäftsmodell basierend auf gutem
Service, umweltfreundlicher Produktion
und gesunden Zutaten. Auf ihrem Weg
zum eigenen Geschäft erhielten die beiden
Unterstützung von einem Accelerator in
Form von Mentoring sowie Zugang zu einem
breiten Netzwerk von Unternehmern.
In Schulungen sensibilisieren Experten deshalb potenzielle private Investoren. Weiter will
das Entrepreneurship-Programm mit komplementären Finanzierungsmodellen zur Risikominimierung zusätzliche Investitionen stimulieren. Potenzial verspricht sich das Programm
zudem durch die Aktivierung der Diaspora in
der Schweiz und in anderen Ländern: Erfolgreiche Unternehmer und Berufsleute mit Wurzeln
in einem der Zielländer sollen als Mentoren oder
Investoren gewonnen werden. Auf die Resultate dieser Bemühungen darf man gespannt sein,
denn der programmatische Versuch einer Bündelung privater Ressourcen aus der Diaspora für
die wirtschaftliche Förderung ausserhalb von
Familienstrukturen ist ein Novum.
Alain Bühlmann
Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Ressort Privatsektorförderung, Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco),
Bern
Stephan Leiser
Programmleiter, Seco
Entrepreneurship Program,
Swisscontact, Zürich
Mike Ducker
Spezialist für Marktentwicklung, J. E. Austin Associates, Arlington (USA)
SCHWERPUNKT
Ein Plan für Südafrikas Armenviertel
In den Armenvierteln der südafrikanischen Grossstädte wächst die Bevölkerung stark.
Nur eine effiziente öffentliche Verwaltung kann die dringend benötigte Infrastruktur bereitstellen. Hier setzt die Entwicklungspolitik des Staatssekretariats für Wirtschaft an. Franziska Spörri, Sibylle Hägler
Abstract Die Schweiz will in afrikanischen Städten die Institutionen stärken. Das
Staatssekretariat für Wirtschaft unterstützt deshalb das von der südafrikanischen Regierung entwickelte City-Support-Programm, welches die Abläufe in den
Stadtverwaltungen optimiert. Gerade für die stark wachsenden Armenviertel ist
das entscheidend. Denn viele Haushalte in diesen «informellen Siedlungen» verfügen über keinen Strom- oder Wasseranschluss. Langfristig sollen die Anstrengungen zu weniger Armut führen.
S tädte sind in Südafrika die Motoren der
wirtschaftlichen Entwicklung. Das damit
zusammenhängende Bevölkerungswachstum
macht eine weitsichtige Planung unabdingbar.
Dazu sind jedoch starke Institutionen und qualitativ hochstehende öffentliche Dienstleistungen notwendig.
In Grossstädten wie Johannesburg, Durban
oder Kapstadt sind die öffentlichen Institu­
tionen und Dienstleistungen durch die starke
räumliche Segregation geschwächt. Diese wurde durch die Apartheid geschaffen und hinterlässt bis heute Spuren. Die arme (meist schwarze) Bevölkerung lebt in einfachen Hütten in
sogenannten informellen Siedlungen: Dies sind
Armenviertel am Stadtrand, welche nur ungenügend mit Basisdienstleistungen versorgt
werden und weit abgelegen von den wichtigsten
Arbeitsplätzen sind.
Die Herausforderung zeigt sich in Kapstadt
exemplarisch, wo bereits jeder fünfte Stadtbewohner in informellen Siedlungen lebt. Eine der
grössten Schwierigkeiten in diesen Quartieren
KEYSTONE
Die Apartheid hat die
räumliche Trennung
zwischen Arm und
Reich verstärkt. Die
Township Khayelitsha
am Stadtrand von
Kapstadt.
Die Volkswirtschaft 3 / 2016 23
KEYSTONE
ENTWICKLUNGSZUSAMMENARBEIT
ist das rasche Bevölkerungswachstum. Trotz
der Bemühungen, der Bevölkerung neue Sozialwohnungen zur Verfügung zu stellen, hinkt die
Bautätigkeit der Nachfrage hinterher.
Dadurch entsteht ein Teufelskreis: Die Lebensqualität nimmt mit steigender Bevölkerung
ab, und die Erbringung der Grundversorgung
wird erschwert. So haben 14 Prozent der Bevölkerung von Kapstadt keinen Zugang zu sanitären Anlagen, und jeder vierte Einwohner lebt
ohne Stromanschluss.
Hinzu kommt, dass die Stadt generell Mühe
bekundet, komplexe Projekte umzusetzen. Ein
Grund dafür sind unkoordinierte Verwaltungsabläufe: So sind oftmals mehrere Ämter gleichzeitig
involviert, was zu mangelhafter Budgetkontrolle
und unklaren Verantwortlichkeiten führen kann.
Kanalisation und öffentlicher
Verkehr als Grundlage
Diese Herausforderungen werden von der südafrikanischen Regierung unter anderem durch
das City-Support-Programm angegangen. Dieses
24 Die Volkswirtschaft 3 / 2016
Mädchen trägt einen
Eimer mit Wasser
in ihre Wohnung im
Armenviertel Nyanga
in Kapstadt. Viele
Hütten verfügen über
keinen Wasseranschluss.
hat zum Ziel, dass die acht grössten südafrikanischen Metropolitanregionen nachhaltig wachsen und damit wettbewerbsfähiger und finan­
ziell effi­zienter verwaltet werden.
Dank einer innovativen und nachhaltigen
Planung der öffentlichen Finanzen und der städtischen Infrastruktur werden die Qualität und
der Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen
(z. B. im Wasser- und Abwassersektor) verbessert, wovon insbesondere die ärmsten Bevölkerungsschichten profitieren.
Weitere Schwerpunkte sind Verbesserungen des öffentlichen Transports und der Rah-
Strategie des Seco in Südafrika
Seit 2009 ist Südafrika ein Partnerland des
Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco). Die
Seco-Strategie für Südafrika 2013 – 2016 definiert folgende Bereiche für die wirtschaftliche Entwicklungszusammenarbeit:
–– Standortförderung von südafrikanischen
Städten und Regionen;
–– klimafreundliches Wachstum;
–– Südafrika als Wirtschaftsmotor der Subsahara-Region stärken.
Dem Bund steht für die Umsetzung von
Projekten und Programmen im Rahmen
der Kooperationsstrategie für Südafrika
(2013 – 2016) ein Budget von rund 60 Millionen Franken zur Verfügung. Für die Jahre 2017
bis 2020 ist eine neue Länderstrategie für
Südafrika geplant, welche sich an der neuen
Botschaft über die Internationale Zusammenarbeit orientiert und die Themenschwerpunkte der bisherigen Strategie weiter stärkt.
SCHWERPUNKT
menbedingungen für kleine und mittlere Unternehmen. Das Projekt setzt nicht nur in den
einzelnen Städten an, sondern ist direkt mit der
nationalen Ebene – dem Finanzministerium –
verknüpft. Aus einzelnen Interventionen können so die Lehren für das ganze Land gezogen
werden und in nationale Politikmassnahmen
münden.
Im Rahmen des Programms wurde die Expertise
der Weltbank beigezogen. Für Kapstadt schlägt
diese vor, die technischen Kenntnisse und das
Wissen der städtischen Mitarbeiter zu stärken
und bei den öffentlichen Dienstleistungen in informellen Siedlungen die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Verwaltungseinheiten
der Stadt zu verbessern.
Interdisziplinäre Teams
in der Stadtverwaltung
Seit Juli 2015 unterstützt das Seco im Rahmen
der wirtschaftlichen Entwicklungszusammenarbeit (siehe Kasten 1) das City-Support-Programm. Dank diesem Projekt ist Kapstadt besser
gerüstet, die Grundversorgung in armen Stadtgebieten zu verbessern. Eine Zusammenarbeit
über die Verwaltungseinheiten hinweg hilft,
die Planung und Umsetzung solcher Projekte
über ein koordiniertes Vorgehen zu verbessern.
Gemäss diesem Ansatz bringt die Weltbank die
involvierten Ämter an einen Tisch und unterstützt die Bildung von interdisziplinären Teams,
die über die Grenzen der Departemente hinweg
kooperieren.
Die städtischen Mitarbeiter werden dazu in
Trainings geschult. Denn: Effiziente Planungsund Budgetprozesse gewährleisten die Grundversorgung in den informellen Siedlungen.
Das City-Support-Programm stärkt somit die
Institutionen und Dienstleistungen in den südafrikanischen Städten. Dies manifestiert sich unter
anderem in gesunden öffentlichen Finanzen, mit
welchen die nötigen staatlichen Ausgaben finanziert werden, sowie in einer funktionierenden
Infrastruktur mit Basisdienstleistungen für Bevölkerung und Wirtschaft. Starke Institutionen
führen letztlich zu einem inklusiven Wachstum
und damit zu einer Reduktion der Armut.
Das Engagement der Schweiz in den südafrikanischen Städten ist bereits auf die Seco-­Strategie
2017–2020 als Teil der neuen Bundesratsbotschaft über die Internationale Zusammenarbeit
ausgerichtet.1 Diese sieht wirksame Institutionen
und Dienstleistungen auch in Zukunft als wichtige Pfeiler für eine nachhaltige Entwicklung.
Franziska Spörri
Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Ressort Makroökonomische Unterstützung, Staatssekretariat für
Wirtschaft (Seco), Bern
1 S iehe Artikel von
Patrick Stadler (Seco) in
dieser Ausgabe.
Sibylle Hägler
Wissenschaftliche
Mitarbeiterin, Ressort
Infrastrukturfinanzierung,
Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco), Bern
Die Volkswirtschaft 3 / 2016 25
ENTWICKLUNGSZUSAMMENARBEIT
Wirksame Entwicklungshilfe
baut auf Fakten
In der Entwicklungszusammenarbeit kann die Wirksamkeit gesteigert werden. Dazu
müssen die Entwicklungsinterventionen professionell analysiert werden. Ebenso wichtig ist es für jede Organisation, sich zu fokussieren und ihre Aktivitäten zu koordinieren. Isabel Günther
Abstract Vor dem Hintergrund einer steigenden Anzahl an Entwicklungszielen
bei gleichzeitig knappen Ressourcen bleibt eine kritische Auseinandersetzung
mit der Wirksamkeit von Entwicklungshilfe relevant. Eine generelle Bewertung
von Entwicklungszusammenarbeit als Instrument zur Überwindung von Armut
ist weder zielführend noch methodisch möglich. Allerdings können spezifische
Politikmassnahmen der Entwicklungszusammenarbeit auf ihre Wirksamkeit analysiert werden. Bestehendes Wissen sollte vermehrt genutzt werden und in globales Wissen zur Armutsreduktion investiert werden: Erfolgversprechende Projekte können gefördert, Verbesserungspotenziale identifiziert und Misserfolge
vermieden werden. Eine konsequente Wirkungsorientierung erfordert spezialisierte Entwicklungsorganisationen, eine koordinierte Schweizer Politik und auch
eine fehlertolerante Öffentlichkeit.
D 1 Channing Arndt, Sam
Jones und Finn Tarp
(2015). 2 Vgl. Datenbank
«Impact Evaluations»
der Non-Profit-Organisation 3ie unter
www.3ieimpact.org. 3 Angrist, Joshua und
Jörn-Steffen Pischke
(2014).
ie UNO hat letztes Jahr mit der Agenda
2030 die Anzahl der internationalen Entwicklungsziele erhöht: von 8 Millenniumszielen auf 17 Nachhaltigkeitsziele (SDG) mit 169
Unterzielen. Fast gleichzeitig wurde in einigen
Ländern – darunter die Schweiz – das Budget
für Entwicklungszusammenarbeit gekürzt. Wie
passt das zusammen? Wie soll mit weniger Mitteln mehr erreicht werden? Klar ist: Begrenzte
Mittel erfordern einen effektiven Einsatz von
Geldern und eine wirksame Entwicklungszusammenarbeit.
Ein Massstab für die Wirksamkeit ist weder
die plangetreue Umsetzung von Projekten noch,
ob jeder Rappen bei den Armen ankommt. Sondern es geht darum, wie stark jeder Rappen, der
ankommt, die Lebensbedingungen armer Menschen langfristig verbessert (siehe Kasten).
In den letzten 25 Jahren wurde die globale
Armut halbiert. Welchen Beitrag die Entwicklungszusammenarbeit hierzu geleistet hat, ist
mit makroökonomischen Studien nicht präzise
zu analysieren.1 Allerdings zeigen viele wissenschaftliche Studien auf, dass spezifische Interventionen in unterschiedlichen Kontexten
effektiv die Lebensbedingungen ärmerer Bevölkerungsgruppen verbessert haben.2 Trotz
grosser Fortschritte in der Vergangenheit bleibt
jedoch die weltweite Reduktion von Armut und
Ungleichheit eine Herausforderung für die Zukunft.
Mit wissenschaftlichen
Methoden lernen
Wie kann die Wirksamkeit erhöht werden? Von
Erfolgen und Fehlern in der Entwicklungszusammenarbeit muss noch mehr gelernt werden. Es ist
an der Zeit, endlich von der alten Debatte «Wirkt
Entwicklungshilfe, ja oder nein?» wegzukommen und eine neue Debatte anzustossen: «Welche Form der Entwicklungszusammenarbeit in
welchen Kontexten wirkt und welche nicht?» Die
Identifizierung von wirksamen Entwicklungsin-
Wirkungsstudien
Wirkungsstudien in der Entwicklungszusammenarbeit quantifizieren die
Veränderung der Lebensbedingungen der
Bevölkerung (Individuen, Haushalte, Dörfer
oder Firmen), die einem Projekt oder einer
Politikmassnahme direkt zugeschrieben
werden kann. Die Frage, welche hierzu
26 Die Volkswirtschaft 3 / 2016
beantwortet werden muss, ist: Was wäre
gewesen, hätte keine Entwicklungsintervention stattgefunden? Die methodische
Herausforderung besteht darin, dass dieselbe Person nicht gleichzeitig mit und ohne
Intervention betrachtet werden kann. Mithilfe einer geeigneten Stichprobengrösse
und verschiedener (meist statistischer)
Methoden wird deshalb eine Vergleichsgruppe konstruiert, die der Bevölkerung, die
Teil des zu analysierenden Projekts ist, so
ähnlich wie möglich ist.
APA, MENSCHEN FÜR MENSCHEN, KEYSTONE
SCHWERPUNKT
terventionen mithilfe von wissenschaftlich anerkannten Methoden3 sollte nicht nur im Interesse der Befürworter der Entwicklungshilfe sein,
zu denen 9 von 10 Einwohnern in der Schweiz
zählen,4 sondern auch im Sinne der Kritiker.
Armutsbekämpfung ist komplex. Das sollte
uns aber nicht davon abhalten, bessere Mittel
und Wege zu suchen, um diese Herausforderung
anzugehen. Dazu muss bestehendes Wissen genutzt und Wissenslücken müssen identifiziert
und geschlossen werden. Entwicklungszusammenarbeit sollte so weit wie möglich auf Fakten
und nicht auf Meinungen aufbauen.
Das heisst nun nicht, dass jedes einzelne Projekt oder Programm der Entwicklungszusammenarbeit evaluiert werden muss. Es muss auch
nicht jedes Unterfangen seinen eigenen Daten-
Die Reduktion von
Armut bleibt eine
Herausforderung.
Hilfswerkmitarbeiter
verteilen in Äthiopien
Nahrungsmittel.
4 GFS (2014).
friedhof generieren. Daten werden gesammelt,
aber oft fehlen die Zeit und die Kapazität, diese
Daten auszuwerten und die daraus gewonnenen
Erkenntnisse anzuwenden. Studien zur Wirksamkeit der Entwicklungshilfe sollten nicht nur
der Rechenschaftspflicht einer Organisation
dienen, sondern sollten vor allem zu einer kontinuierlichen Verbesserung von Entwicklungsprogrammen führen, ganz im Sinne des französischen Schriftstellers André Gide: «Croyez
ceux qui cherchent la vérité, doutez de ceux qui
la trouvent.»
Die Generierung von entwicklungspolitisch
relevantem Wissen sollte sich nicht auf die eigene Organisation beschränken: Lernen muss
über Institutionen hinweg stattfinden. Die Zukunft der Entwicklungszusammenarbeit liegt
Die Volkswirtschaft 3 / 2016 27
KEYSTONE
ENTWICKLUNGSZUSAMMENARBEIT
auch darin, mehr in globales Wissen zur Armutsreduktion zu investieren5 und dieses zu nutzen.
Ehrlichkeit auch bezüglich
der Herausforderungen
Entwicklungszusammenarbeit soll in Zukunft
nicht nur zur Armutsreduktion beitragen, sondern soll sich gemäss der Agenda 2030 zusätzlich
noch anderen globalen Problemen (wie Klimawandel und internationaler Sicherheit) stellen.
Es ist sicher richtig, dass zur Verbesserung von
weltweiten Lebensbedingungen nicht nur ökonomische, sondern genauso soziale, politische
und ökologische Entwicklung gehört und ein
ganzheitlicher Ansatz gefragt ist. Aber können
wir all diese Herausforderungen mit den Instrumenten der Entwicklungszusammenarbeit angehen, deren Finanzierung noch reduziert wird?
Entwicklungshilfe ist nicht die Lösung für alle
globalen Probleme.
Die Arbeitsgemeinschaft Schweizer Hilfswerke Alliance Sud hat 2015 ein Buch mit dem Titel
«Zur Unübersichtlichkeit der Welt»6 publiziert.
Dieser Unübersichtlichkeit der Entwicklungszusammenarbeit würde ich gerne eine neue Ehr-
28 Die Volkswirtschaft 3 / 2016
Mithilfe von Analysen
können die Entwicklungsprojekte
verbessert werden.
Eine Agrarexpertin
berät einen Bauer in
Ecuador.
5 Levine, Ruth und William Savedoff (2015). 6 Alliance Sud (2015).
7 3ieimpact.org.
8 Stichwort Poverty–­
Overview unter
Weltbank.org. 9 Deza, Zahlen und
Statistiken.
lichkeit der Entwicklungszusammenarbeit an die
Seite stellen: Durch unzählige Studien7 haben wir
in den letzten Jahren viel darüber gelernt, welche
Art von Interventionen funktionieren und welche
nicht. Sowohl über Erfolge als auch über Misserfolge sollte offener kommuniziert und diskutiert
werden, ohne dabei unsere humanitäre Pflicht gegenüber den eine Milliarde Armen der Welt8 jedes
Mal infrage zu stellen. Nur so können wir lernen
und Verbesserungspotenziale identifizieren.
Ebenso gilt es, offener zu kommunizieren,
was mit den begrenzten Mitteln von insgesamt
rund 3,5 Milliarden Franken öffentlicher und privater Entwicklungsgeldern,9 die in der Schweiz
zur Verfügung stehen, weltweit überhaupt erreicht werden kann. Ehrlichkeit bezüglich der
offenen Fragen von Entwicklungszusammenarbeit ist gefragt. Denn: Für viele scheinbar einfache Entwicklungsprobleme, wie zum Beispiel die
kostengünstige und nachhaltige Bereitstellung
von sauberem Trinkwasser in ruralen Gebieten,
gibt es (noch) keine guten Lösungen. Auch müssen wir akzeptieren, dass aus methodischer Sicht
nicht alle Entwicklungsprojekte und -­ programme
bezüglich ihrer Wirksamkeit evaluiert werden
können.
SCHWERPUNKT
Kernkompetenzen stärken
Kontinuierliches Lernen für einen bestmöglichen Einsatz von Entwicklungsgeldern erfordert
Fokussierung. Eine Entwicklungsorganisation
kann nicht auf allen Gebieten der Entwicklungszusammenarbeit Spezialistin sein. Bei 169 Unterzielen der Agenda 2030 besteht des Weiteren die
Gefahr, die Reduzierung der weltweiten Armut
und Ungleichheit aus den Augen zu verlieren: Die
Beendigung des weltweiten Hungers (Ziel 2.1) ist
dort genauso aufgelistet wie die Förderung von
nachhaltigem Tourismus (Ziel 8.9).
Nach der breiten Auslegung der Agenda 2030,
die richtigerweise die Komplexität von Entwicklung und Entwicklungszusammenarbeit widerspiegelt, sollten wir uns jetzt wieder fokussieren.
Die Agenda 2030 ist nicht als Zielekatalog für Organisationen zu verstehen, sondern nur als normativer Rahmen für eine lebenswerte Zukunft,
zu der jede Organisation ihren ganz spezifischen
Beitrag leisten kann.
Fokus erlaubt es einer Organisation, sich zu
professionalisieren, um ihre Mittel effektiv einzusetzen. Er ermöglicht es ihr, mehr Verantwortung für durchgeführte Programme zu tragen.
Fokus ist auch nötig, um zu vermeiden, dass Gelder, die für Entwicklungszusammenarbeit vorgesehen wurden, für sachfremde Zwecke, wie zum
Beispiel den Klimaschutz, verwendet werden.
Dafür sind andere Budgets erstellt worden.
Denn: Entwicklungszusammenarbeit ist ein
wichtiger Baustein zur Armutsreduktion, aber
nicht der einzige. Exemplarisch seien hier unlautere Finanzflüsse aus den Entwicklungsländern
genannt, die jährlich ungefähr das Zehnfache
der internationalen Entwicklungszusammen­
arbeit ausmachen.10
Eine vollkommene Politikkohärenz wird man
nie erreichen. Zu gegensätzlich sind die Interessen und Ziele von verschiedenen
Akteuren. Jedoch kann eine verbesserte Politikkoordination und
Entwicklungshilfe ist
-kooperation mit Abwägen von
nicht die Lösung für alle
verschiedenen Interessen zu einer
globalen Probleme.
wirksameren Schweizer Entwicklungszusammenarbeit führen.
Eine verstärkte Koordination der Politikbereiche führt nicht nur zu einer erhöhten Kohärenz
der Schweizer Entwicklungspolitik, sondern
kann zusätzlich zu einer sinnvollen Arbeitsteilung führen, um mit verschiedenen Instrumenten und Mitteln verschiedene globale Ziele wirksam anzugehen. Entwicklungsorganisationen
können sich dafür engagieren, dass auch andere
Politikbereiche ökonomische, soziale und politische Entwicklungsziele stärker in ihren Agenden
10 Kar, Dev und Joseph
Spanjers (2014). berücksichtigen.
Koordination der gesamten Politik
Will man die Wirksamkeit der Entwicklungszusammenarbeit erhöhen, müssen die verschiedenen Politikbereiche – darunter etwa die Finanzund Handelspolitik – besser koordiniert werden.
Isabel Günther
Professorin für Entwicklungsökonomie, Leitung NADEL
– Center for Development and Cooperation, ETH Zürich
Literatur
Alliance Sud (2015). Zur Unübersichtlichkeit der
Welt. Alliance Sud. Schweiz: Lausanne.
Angrist, Joshua und Jörn-Steffen Pischke (2014).
Mastering Metrics: The Path from Cause to
Effect. Princeton University Press. United
Kingdom: Woodstock.
Channing Arndt, Sam Jones und Finn Tarp (2015).
Assessing Foreign Aid’s Long-Run Contribution
to Growth and Development. World Development, 69: 6–18.
GFS (2014). Monitorstudie Entwicklungszusammenarbeit 2014. Studie im Auftrag der Direktion
für Entwicklung und Zusammenarbeit DEZA.
Schweiz: Bern.
Kar, Dev und Joseph Spanjers (2014). Illicit
Financial Flows from Developing Countries:
2003 – 2012. Global Financial Integrity.
Levine, Ruth und William Savedoff (2015). The
Future of Aid: Building Knowledge Collectively.
Center for Global Development Policy Paper,
050.
Weblinks:
3ieimpact.org/en/evidence/impact-evaluations
(20.01.2016)
Eda.admin.ch/deza/de/home/aktivitaeten_­
projekte/zahlen_und_statistiken.html
(20.01.2016)
Worldbank.org/en/topic/poverty/overview
(20.01.2016)
Die Volkswirtschaft 3 / 2016 29
ENTWICKLUNGSZUSAMMENARBEIT
Koordiniertes Vorgehen
bei Interessengegensätzen
Die Interessen von Wirtschaft und Entwicklungszusammenarbeit sind nicht immer deckungsgleich – wie sich etwa im Rohstoffhandel zeigt. Deshalb will der Bundesrat der
Politik­kohärenz konsequent Beachtung schenken. Werner Thut
Abstract Entwicklungszusammenarbeit ist seit über 50 Jahren Teil der Schweizer
Aussenpolitik. Trotz Umwälzungen im internationalen Umfeld sind die strategischen Ziele und die Handlungsmotive im Wesentlichen gleich geblieben. Hierzu
gehört, dass die Entwicklungszusammenarbeit nicht durch Massnahmen anderer Politikbereiche unterlaufen werden soll. Eine breite öffentliche Debatte über
die sogenannte Politikkohärenz für Entwicklung hat seit den Neunzigerjahren
nicht mehr stattgefunden. In der Botschaft zur internationalen Zusammenarbeit
2017 – 2020 greift der Bundesrat die Thematik als strategische Priorität neu auf.
Die institutionellen Voraussetzungen für entsprechende Fortschritte sind günstig. Letztlich ist eine kohärente Politik gegenüber Entwicklungsländern jedoch
abhängig von der Zusammenarbeit von Bundesrat und Parlament und allenfalls
sogar vom Souverän.
E 1 Der Autor dankt Prof. Gilles Carbonnier (Graduate
Institute, Genf), Dr. Elisabeth Bürgi Bonanomi
(Universität Bern) und
Roland Widmer (Seco)
für Kommentare und
Anregungen.
2 Deza (1994). Bericht des
Bundesrates über die
Nord-Süd-Beziehungen
der Schweiz in den
90er Jahren (Leitbild
Nord-Süd) vom 7. März
1994, Bern.
3 Kontrovers diskutiert
wurden beispielsweise
die Verankerung von
Sorgfaltspflichten im
Schweizer Rechtsrahmen
für multinationale Unternehmen der Rohstoffbranche zur Vermeidung
von Menschenrechtsverletzungen und Umweltzerstörung. Siehe
dazu die gegensätzlichen
Würdigungen der OECD
im Länderexamen 2013
zur Schweizer Entwicklungszusammenarbeit,
S. 29 einerseits und der
regierungskritischen
NGO Erklärung von Bern
in der Analyse «Endlich
mehr Transparenz?!»
vom 28. März 2013
andererseits.
30 ntwicklungsziele werden einfacher erreicht,
wenn verschiedene Politikbereiche unter Berücksichtigung gewisser Grundsätze aufeinander
abgestimmt sind.1 Damit ist die Politik gefordert:
Sie muss dafür sorgen, dass unterschiedliche sektorielle Politiken die Ziele und Massnahmen der
Entwicklungszusammenarbeit nicht unterlaufen.
Dieses gemeinsame Vorgehen der Akteure ist als
«Politikkohärenz für Entwicklung» (Policy Co­
herence for Development) bekannt.
In der Schweiz geht die Debatte zu den Auswirkungen der Politik auf Entwicklungsländer
bis in die Siebzigerjahre zurück. Ein Markstein
in dieser Diskussion ist das bundesrätliche Leitbild Nord-Süd von 1994. Diese Gesamtschau
der politischen, wirtschaftlichen und sozialen
Beziehungen der Schweiz zu den Entwicklungsländern war geprägt durch das Ende der bipolaren Weltordnung und die UNO-Konferenz für
Umwelt und Entwicklung von 1992. Darin postulierte der Bundesrat eine «kohärente Südpolitik»,
in welcher er mögliche Widersprüche zwischen
verschiedenen Zielen nationaler Politik zur Diskussion und Lösung bringen wollte.2 Nach der
Jahrtausendwende intensivierte sich die Diskussion auch in anderen Ländern und in der Organi-
Die Volkswirtschaft 3 / 2016
sation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung (OECD).
Als Schlagwort ist «Politikkohärenz für Entwicklung» in politischen Diskussionen jeweils
schnell zur Hand: Ein prominentes Beispiel ist
die Debatte um den Rohstoffabbau in Entwicklungsländern.3 Fundierte Konzeptdiskussionen
sind hingegen – auch im Ausland – bisher vor allem ein Thema für Insider geblieben. Ist Politikkohärenz für Entwicklung deshalb ein Papier­
tiger? Im Gegenteil. Denn das Konzept macht
sich ein Kernelement von Politik zum Thema:
den Umgang mit Interessengegensätzen.
Dementsprechend wird das Konzept hinsichtlich seiner Ansätze, seiner Legitimation und
des bisher Erreichten sowie seiner Bedeutung
für die Gestaltung künftiger Politik kon­trovers
diskutiert. Wie das Regierungssystem mit Inte­
ressengegensätzen umgeht, wird allerdings
meist im Rahmen von Entscheiden zu konkreten
Sachthemen geklärt. Beispiele hierfür sind Waffenexporte in Konfliktgebiete, Gewinnverlagerungen beim Rohstoffabbau oder Patentschutz
und Preisbildung bei Medikamenten für Entwicklungsländer.4
Diese Themen – teilweise seit über 30 Jahren
Teil der Politikkohärenz-Agenda – haben mit zunehmender Intensivierung der internationalen
Wirtschafts- und Finanzbeziehungen zusätzlich
an Aktualität gewonnen. Hinzu kamen globale
Risiken, hervorgerufen durch Klima, Konflikte
und Migration. Mit der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung hat die UNO einen uni­
versellen, für alle gültigen Orientierungsrahmen
geschaffen, um globale Probleme gemeinsam
anzugehen.5 Indem die internationale Gemeinschaft insbesondere die Wechselwirkungen
zwischen sozialen, wirtschaftlichen und öko-
SCHWERPUNKT
logischen Zielen anerkennt, hat auch die Kohärenzdiskussion weiter an Bedeutung gewonnen:
Ein koordiniertes Handeln von Regierungen wird
heute als mitentscheidend für einen effizienten
Einsatz knapper (Finanz-)Ressourcen und für die
Erreichung der gesetzten Ziele angesehen.
Umgang mit Zielkonflikten ist Teil
der Regierungsroutine
KEYSTONE
Zielkonflikte im Regierungshandeln sind keine
Besonderheit des schweizerischen Regierungssystems. In den meisten Verfassungen lassen
sich Spannungsfelder zwischen verschiedenen
Verfassungszielen ausmachen.6 Der Umgang mit
diesen Herausforderungen ist selbstverständlicher Teil des Regierungs- und Verwaltungsalltags. So stellen seit Jahrzehnten etablierte
verwaltungsinterne Abläufe sicher, dass der
Bundesrat in seiner Beschlussfassung routinemässig und bewusst Güterabwägungen vornehmen kann.7 Dabei können im Bundesrat mögliche
Zielkonflikte frühzeitig identifiziert und gemindert, Synergiepotenziale zwischen Politikfeldern
erkannt und ausgeschöpft sowie negative Auswirkungen schweizerischer Politiken thematisiert werden.
Damit folgt der Bundesrat dem, was die OECD
als «Gute Praxis» postuliert (siehe Abbildung).8 Es
ist Aufgabe der für die internationale Zusammen-
arbeit zuständigen Bundesstellen, dem Bundesrat
die nötigen Informationen zu liefern, damit er in
Kenntnis der Politikdilemmata informierte Entscheidungen treffen kann. Allein die ­Direktion
für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza)
kommentiert jährlich mindestens 70 Bundesratsgeschäfte. Am anderen Ende der Wirkungskette
der Entwicklungspolitik – bei der konkreten Umsetzung von Zusammenarbeitsprogrammen in
Partnerländern – sind geografische oder thematische Gesamtstrategien darauf ausgerichtet, dass
die konkreten Aktivitäten verschiedener Bundes­
stellen aufeinander abgestimmt werden.
Zusammenarbeit in der
Verwaltung verstärken
In den letzten 15 Jahren fand Politikkohärenz
als Politikansatz in verschiedenen europäischen
Ländern Eingang in Planung, Umsetzung und Rechenschaftsablage. Vereinzelt erreichte Politikkohärenz gar Verfassungsrang – etwa in der EU. In
der Schweiz kam die Diskussion trotz guter Vor­
aussetzungen Ende der Neunzigerjahre hingegen
zum Stillstand. Dank der Agenda 2030 findet der
Ansatz nun in die Schweizer Politik zurück.
Welche Akzente der Bundesrat in seiner
Kohärenzpolitik gegenüber Entwicklungs-,
Transitions- und Schwellenländern setzt, hat
er in seiner Botschaft über die Internationale
4 Für eine Gesamtschau
siehe beispielsweise
Policy Coherence for
Development (PCD)
2015 EU Report. Mit
der Perspektive auf die
Politikformulierung
wird allerdings die Frage
ausgeblendet, ob die
beschlossenen Politiken
in Partnerländern tatsächlich die intendierten
Wirkungen zeigen.
5 Für die Nachhaltigen
Entwicklungsziele
siehe UNO-Resolution
A/RES/70/1 vom 25.
Sept. 2015; siehe auch
Outcome Document
der Addis Ababa Action
Agenda vom 17. Juli 2015.
6 Artikel 54 Absatz 2 der
Bundesverfassung zu
den Auswärtigen Angelegenheiten zeigt dies exemplarisch: Während der
Bund verpflichtet ist, sich
einerseits für die Wahrung der Unabhängigkeit
der Schweiz und ihre
Wohlfahrt einzusetzen,
soll er andererseits Beiträge zur Lösung globaler
Probleme leisten, was in
kürzeren Zeiträumen mit
deutlichen Einschränkungen der innerstaatlichen Handlungsfreiheit
in gewissen Politikbereichen verbunden sein
kann. Je langfristiger
die Betrachtungsweise,
desto mehr nähern sich
indessen global bedingte
Handlungserfordernisse und unmittelbare
Wohlfahrtinteressen der
Schweiz an.
7 Die Bundesverwaltung
kennt ein zweistufiges
Konsultationsverfahren zur Vorbereitung
von Bundesratsentscheiden: Ämterkonsultationsverfahren
(technische Ebene) und
Mitberichtsverfahren
(politische Konsultation
zwischen Mitgliedern
des Bundesrats). Siehe
auch: European Centre
for Development Policy
Management (2013). Putting Policy Coherence for
Development into Perspective. Switzerland’s
Promotion of PCD in
Commodities, Migration
and Tax Policy.
Mutter mit Kind
holt in der Nähe
einer Kupfermine in
Sambia Wasser. Der
Rohstoffabbau führt
mancherorts zu Inte­
ressenkonflikten.
Die Volkswirtschaft 3 / 2016 31
ENTWICKLUNGSZUSAMMENARBEIT
Die wichtigsten OECD-Ziele der Politikkohärenz
Förderung von Synergien zwischen Politikbereichen mit wirtschaftlicher,
sozialer und umweltbezogener Ausrichtung
Nutzung und Bewältigung von grenzüberschreitenden Wirkungen
innerstaatlicher Politiken
Zusammenarbeit 2017–2020 umrissen.9 Besondere Aufmerksamkeit lässt er künftig Themenbereichen zukommen, wo die Schweiz und der
Wirtschaftsstandort Schweiz eine besonders bedeutsame Rolle spielen und eine besondere Verantwortung haben. Dazu zählen Finanzdienstleistungen, Landwirtschaft und Ernährung,
Chemie und pharmazeutische Produkte sowie
der Rohstoffhandel.
Schwerpunkte bei ihren Bemühungen für
mehr Politikkohärenz werden die zuständigen
Bundesämter – gemeinsam mit weiteren Akteuren – deshalb insbesondere in den Politikfeldern
Internationale Finanzflüsse und Steuerfragen,
Umwelt, Handel, Investitionen und Unternehmensverantwortung, Migration sowie Gesundheitsfragen setzen. Der Bund sucht dabei, wo
es möglich und zielführend ist, den Austausch
und die Kooperation mit anderen Geberländern,
internationalen Organisationen sowie regierungsunabhängigen Akteuren aus Zivilgesellschaft, Wissenschaft und Wirtschaft.
Bundesrat als zentraler Akteur
Die reale Bedeutung und der damit verbundene Handlungsbedarf für eine konsequente Umsetzung der Kohärenzperspektive haben zugenommen. Mit der Botschaft zur internationalen
Zusammenarbeit 2017–2020 signalisiert der Bundesrat, dass er bereit ist, diesem Ansatz bei der
Umsetzung der Agenda 2030 hohe Priorität einzuräumen.
32 Die Volkswirtschaft 3 / 2016
Nachhaltige
Entwicklung
OECD 2015 / DIE VOLKSWIRTSCHAFT
Identifikation von Zielkonflikten und Ausgleich zwischen Zielen
innerstaatlicher Politik und international vereinbarten Zielen
8 OECD (2015). Better
Policies for Development
2015, S. 41.
9 Die Position des Bundesrats stand bei Redaktionsschluss noch nicht
fest. Die Abstimmung
war für den 17. Februar
geplant.
10 Monitoringsysteme
regierungsunabhängiger
Organisationen wie
etwa der Commitment
to Development Index
des Center for Global
Development oder der
Sustainable Governance
Indicator der Bertelsmann-Stiftung kommen
zu unterschiedlichen
Resultaten. Teilweise
weisen sie zudem beträchtliche methodische
Schwächen auf.
11 In der Peer Review 2013
hat der OECD-Entwicklungsausschuss die
Schweiz eingeladen, ihre
Politiken mit Auswirkungen auf Entwicklungsländer systematisch zu
monitorieren und analysieren. Vgl. in diesem Zusammenhang European
Centre for Development
Policy Management
(2015). Monitoring and
Reporting on Policy Coherence for Sustainable
Development (PCD): the
Example of Switzerland.
Case Studies on Food
Security, Illicit Financial
Flows and Migration &
Development.
Das Schweizer Regierungs- und Verwaltungssystem zeichnet sich durch institutionelle
Eigenheiten aus, welche Politikkohärenz tendenziell positiv beeinflussen. Namentlich die
weitreichenden Beteiligungsmöglichkeiten der
Fachämter für Internationale Zusammenarbeit
an der Vorbereitung von Regierungsentscheiden
liefern dafür eine wichtige Basis. Gleiches gilt
für den traditionell gepflegten Einbezug nicht
staatlicher Akteure in Politikformulierung und
Umsetzung bei der internationalen Zusammenarbeit. Denn: Offene Diskussionsräume sind unabdingbar für informierte und tragfähige Entscheide der Behörden.
Günstige institutionelle Voraussetzungen und
eine langjährige Kohärenzdebatte haben jedoch
nicht zwingend kohärentere Politiklösungen zur
Folge. So ist eine informierte Diskussion mangels
zuverlässiger Daten und Instrumente faktisch
kaum möglich.10 Der Bundesrat will diesen Fragen
deshalb künftig mehr Raum geben und dazu regelmässig Bericht erstatten. Damit entspricht er einer
Forderung der OECD. Diesbezügliche Grundlagen
gilt es aber erst noch zu schaffen.11
Günstige institutionelle Voraussetzungen, solide methodische Ansätze und eine gute Datenlage
sind zwar eine wichtige Grundlage für mehr Poli­
tik­kohärenz. Dies lassen bisherige Erfahrungen
vermuten. Entscheidend sind letztlich aber die
Akteure – so namentlich die Zusammensetzung
des Bundesrats. Dazu kommt, dass der Bundesrat
nur einer unter mehreren gewichtigen Akteuren
ist, neben Parlament und letztlich Souverän. In
diesem Sinne bleibt Politikkohärenz für Entwicklung auch in Zukunft eine Herausforderung.
Werner Thut
Dr. phil., Senior Policy Advisor, Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza), Bern
20
1996 – 2016
Jahre
Europa Forum
Luzern
Frühjahr
2. Mai 2016
KKL Luzern
HERAUSFORDERUNG
U R O
www.europaforum.ch
unter andern mit:
ÖFFENTLICHE VERANSTALTUNG
Thomas J.
Jordan
Präsident des
Direktoriums der SNB
Sabine
Lautenschläger
Mitglied des EZBDirektoriums
SYMPOSIUM
Johann N.
Schneider-Ammann
Bundespräsident 2016,
Vorsteher WBF
Josef
Ackermann
ehem. Vorstandsvorsitzender Deutsche Bank
Jan
Mischke
Senior Fellow McKinsey
Global Institute (MGI)
Franziska A.
Tschudi Sauber
CEO WICOR
ENTWICKLUNGSZUSAMMENARBEIT
Nachhaltige Entwicklung
kennt keine Grenzen
Zum Erreichen einer nachhaltigen Entwicklung bedingen sich Innen- und Aussenpolitik
gegenseitig: Phänomene wie der Klimawandel oder der Ressourcenverbrauch machen vor
der Grenze nicht halt. Deshalb richtet der Bundesrat seine «Strategie Nachhaltige Entwicklung 2016–2019» auf die Agenda 2030 der UNO aus. Till Berger, Daniel Dubas
Abstract Die Schweiz unterstützt die Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDG)
der Agenda 2030 der UNO. Die Strategie Nachhaltige Entwicklung 2016 – 2019
des Bundesrates hat bereits wichtige Punkte daraus aufgenommen. Künftig
wird eine umfassende Ausrichtung auf die Agenda 2030 angestrebt. Der Bund
will dazu noch stärker mit Kantonen, Gemeinden sowie Wirtschaft, Gesellschaft
und Wissenschaft zusammenarbeiten und auch die nationale und internationale
Nachhaltigkeitspolitik besser verbinden. Die notwendigen Umsetzungsstrukturen werden in den nächsten beiden Jahren aufgebaut.
M 1 Bundesrat, Strategie
Nachhaltige Entwicklung 2016 – 2019,
27. Januar 2016.
34 it der Verabschiedung der Agenda 2030
haben sich die UNO-Mitgliedsstaaten letzten Herbst dazu bereit erklärt, die globalen Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDG) bis 2030
gemeinsam zu erreichen. Die Agenda ist sowohl
ein Referenzrahmen für die nationalen Nachhaltigkeitsstrategien als auch für die Umsetzung
auf internationaler Ebene. Sie ist rechtlich nicht
verbindlich. Für die Schweiz, wo die nachhaltige Entwicklung in der Verfassung verankert
ist, stellt sie dennoch einen wichtigen Orientierungsrahmen dar. Der Bundesrat setzt sich international und national für die Umsetzung der
Agenda ein.
Bei der innenpolitischen Umsetzung kommt
der erneuerten Strategie Nachhaltige Entwicklung 2016 – 20191 des Bundesrates eine wichtige
Rolle zu. Neu verfügt die seit 1997 bestehende Strategie auch über Ziele, die der Bundesrat
bis 2030 erreichen will. Diese orientieren sich
bereits jetzt in zentralen Punkten an den SDG
und sollen künftig noch stärker mit diesen abgestimmt werden.
Längerfristig ist eine möglichst umfassende Ausrichtung der Strategie Nachhaltige Entwicklung auf die Agenda 2030 anzustreben,
um damit den Schweizer Beitrag zur Erreichung der SDG bis 2030 sicherzustellen. Dabei
Die Volkswirtschaft 3 / 2016
ist es besonders wichtig, dass Bund, Kantone
und Gemeinden eng mit Akteuren der Zivilgesellschaft, der Privatwirtschaft und der Wissenschaft zusammenarbeiten. Auch wird die
Schweiz gegenüber der UNO regelmässig über
die Fortschritte bei der Umsetzung der Agenda
2030 Bericht erstatten.
Innen- und Aussenpolitik
koordinieren
Für eine kohärente und effektive Umsetzung
der Agenda 2030 ist eine verstärkte Abstimmung zwischen Innen- und Aussenpolitik wichtig. Dies ist etwa bei Konsumgütern der Fall,
bei deren Produktion mehr als zwei Drittel der
Umweltbelastung im Ausland anfallen. Um die
Energieversorgung umwelt- und klimaverträglich zu machen, müssen die Nachbarländer
intelligent vernetzt werden. Weitere Beispiele
sind die Gewährleistung des wirtschaftlichen
Wohlstands und der Sicherheit.
Aus diesem Grund legt der Bundesrat in der
Strategie Nachhaltige Entwicklung neben den
innenpolitischen Schwerpunkten neu auch einen verstärkten Fokus auf das internationale
Engagement der Schweiz. Die entsprechenden
innen- und aussenpolitischen Instrumente des
Bundes sind dahin gehend konsequent aufeinander abzustimmen. Bei der internationalen
Zusammenarbeit unterstützt die Schweiz ausserdem ihre Partnerländer bei der Erarbeitung und der Umsetzung kohärenter Politiken
und beteiligt sich in internationalen Gremien
und Prozessen für eine gut abgestimmte und
möglichst widerspruchsfreie Nachhaltigkeitspolitik.
KEYSTONE
SCHWERPUNKT
Analyse und Umsetzung
Während der Übergangsphase sind in den nächsten beiden Jahren weitere Grundlagen zu schaffen; die institutionellen Vorkehrungen sind genauer zu klären, und erste Umsetzungsschritte
sind einzuleiten. Das Ziel ist es, einen effizienten bundesinternen Prozess zur Umsetzung der
Agenda 2030 zu schaffen, der möglichst auf bestehenden Strukturen aufbaut. Dadurch werden
Synergien genutzt und Doppelspurigkeiten vermieden. Folgende Arbeiten stehen an:
–– Es wird analysiert, wo die Schweiz in Bezug
auf die Umsetzung der SDG steht. Anschliessend wird der künftige Handlungsbedarf ermittelt, welcher notwendig ist, um die Nachhaltigkeitsziele bis 2030 zu erreichen.
–– Der Umsetzungsprozess und die Modalitäten
für die Überführung der SDG in die Zustän-
digkeit der verantwortlichen Bundesstellen
werden festgelegt.
–– Das Indikatorensystem des Bundes für nachhaltige Entwicklung (Monet) wird erweitert.
Dies gewährleistet ein umfassendes Monitoring der nationalen und internationalen Berichterstattung.
–– Es wird festgelegt, welche bundesexternen
Stakeholder (einschliesslich der Kantone und
Gemeinden) zur Partizipation eingeladen
werden. Die Beiträge der verschiedenen Stakeholder zur Agenda 2030 werden ausgewiesen.
Die Nachhaltigkeitsstrategie des Bundes
für die Schweiz
richtet sich an den
UNO-Zielen aus.
Vogelbeobachter am
Pfäffikersee.
Die Umsetzung der Agenda 2030 erfolgt dabei
begleitend zu den strukturellen Vorbereitungen.
Bis zum Abschluss der Transitionsphase werden
die entsprechenden Arbeiten in den bestehenden
Strukturen durchgeführt. Anfang 2018 soll der
Bundesrat über das Vorgehen zur Umsetzung der
Die Volkswirtschaft 3 / 2016 35
KEYSTONE
ENTWICKLUNGSZUSAMMENARBEIT
Agenda 2030 entscheiden und Mitte 2018 einen
ersten Länderbericht an die Vereinten Nationen
senden.
Austauschplattform «Dialog 2030
für nachhaltige Entwicklung»
Nachhaltige Entwicklung ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Dies erfordert neben
einer koordinierten Zusammenarbeit der drei
Staatsebenen auch eine konstruktive Zusammenarbeit mit der Privatwirtschaft, Nicht­
regierungsorganisationen, Verbänden und der
Wissenschaft. Nur wenn alle gesellschaftlichen Akteure ihren Teil beitragen, kann die
nachhaltige Entwicklung erfolgreich umgesetzt werden.
Eine breite Abstützung ist hilfreich: Die bestehenden partizipativen Prozesse zur nationalen und internationalen Nachhaltigkeitspolitik
werden daher künftig im gemeinsamen «Dialog
2030 für nachhaltige Entwicklung» zusammengeführt. Dadurch sollen die Expertise und die
Interessen aller Akteure möglichst frühzeitig integriert und eine breite und transversale Diskussion zur nachhaltigen Entwicklung ermöglicht
werden.
36 Die Volkswirtschaft 3 / 2016
Der Dialog 2030 startete im November 2015
mit einer ersten Veranstaltung. Er beinhaltet
Konsultationen zur Nachhaltigkeitspolitik des
Bundes, den Austausch zu Partnerschaften für
die Umsetzung der Agenda 2030 sowie Aktivitäten im Kommunikationsbereich. Im Rahmen der
Transitionsphase werden der Handlungsbedarf
der Schweiz, Umsetzungsfragen sowie die Rollen
und Beiträge der verschiedenen Akteure im Vordergrund stehen.
Die Agenda 2030 und ihre Umsetzung auf internationaler Ebene sind für die nachhaltige Entwicklung der Schweiz ein wichtiger Impulsgeber.
Es gilt, diesen Schwung nun aufzunehmen, zu
verstärken und gemeinsam umzusetzen.
Till Berger
Koordinator Strategie
Nachhaltige Entwicklung,
Bundesamt für Raumentwicklung (ARE), Ittigen
Daniel Dubas
Leiter Sektion Nachhaltige
Entwicklung, Bundesamt
für Raumentwicklung
(ARE), Ittigen
Nicht nachhaltig:
Weisse Planen
schützen den Rhone­
gletscher im Wallis
vor der Sonne.
SCHWERPUNKT
«Wir haben eine hohe Erfolgsquote»
Die Entwicklungszusammenarbeit des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco) will die
Rahmenbedingungen in den Partnerländern verbessern. Dies sagt Raymund Furrer, Leiter
des Leistungsbereichs Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, gegenüber der
«Volkswirtschaft». Herr Furrer, braucht es die Entwicklungszusammenarbeit überhaupt?
Absolut. Selbst die grössten Kritiker der Entwicklungszusammenarbeit bestreiten nicht,
dass viele Projekte Armut und Leid effektiv lindern und die Rahmenbedingungen verbessern.
Es gibt Menschen, die haben dank unseren Projekten wieder eine Perspektive. Ich habe das
kürzlich in Peru und in Serbien gesehen. Wir
müssen den Hebel dort ansetzen, wo wir mit
innovativen Projekten und kalkuliertem Risiko
etwas in Gang bringen und die Nachhaltigkeit
von Verbesserungen sichern können. Ich bin erfreut, dass wir insgesamt eine hohe Erfolgsquote haben.
Sie leiten seit vergangenem Oktober den Leistungsbereich Wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung im Seco. Was macht Ihre Abteilung?
Wir unterstützen unsere Partnerländer dabei,
ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum zu erzielen. Schauen Sie, um Armut lindern zu können,
braucht es in erster Linie gute Jobs. Hier ist vor allem der Privatsektor gefordert. Damit Unternehmen aber Arbeitsplätze schaffen können, sind
sie beispielsweise auf eine gute Versorgung mit
Wasser und Energie angewiesen. Deshalb versuchen wir die staatlichen Rahmenbedingungen zu
stärken – etwa in Indonesien, Ghana oder Kolumbien. Weiter unterstützen wir Projekte, welche
klimaschädigende Emissionen reduzieren oder
den nachhaltigen Handel mit Naturprodukten
fördern. Dann gibt es natürlich noch globale Risiken wie Wirtschafts- und Finanzkrisen: Das
Seco arbeitet hier mit Entwicklungsbanken wie
der Weltbank zusammen.
Gibt es konkrete Erfolge?
In den letzten Jahren hat das Seco dazu beigetragen, dass Tausende von Stellen geschaffen wurden,
etwa über den Swiss Invest­ment Fund for Emerging
Markets (Sifem), der in Unternehmen in Entwicklungsländern
investiert. Unter anderem dank
dieser Unterstützung konnte
beispielsweise eine Muschel­
auf­
zucht in Südafrika ihre Produktion massiv ausbauen und die Ar- Raymund Furrer
beitsplätze auf 500 verdoppeln. Der 55-jährige Raymund Furrer leitet seit
Die neuen Stellen kommen nicht Oktober 2015 den Leistungsbereich Wirtschaftzuletzt weniger gut ausgebildeten liche Zusammenarbeit und Entwicklung des
Menschen in einer Region mit ho- Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco). Zuvor
war er Chef des Business Hubs der Exportförher Arbeitslosigkeit zugute.
derorganisation Switzerland Global Enterprise
(S-GE) in Dubai. In den Jahren 2008 bis 2012
Wo sehen Sie grosse Herausfor- arbeitete er als Leiter des Ressorts Multilaterale
Finanzierungsinstitutionen im Seco; zuvor war
derungen bis 2030?
er bei der Weltbank tätig gewesen.
In vielen Ländern wächst die Ungleichheit zwischen den Bevölke- Seco zieht Bilanz
rungsschichten. Deshalb müssen Resultate der wirtschaftlichen Entwicklungswir uns dafür einsetzen, dass zusammenarbeit der Schweiz zwischen 2012
Wirtschaftswachstum inklusiv und 2015 finden sich in der Broschüre «SECO
zieht Bilanz» unter
ausfällt, also allen Menschen eine www.seco-cooperation.admin.ch.
Perspektive bietet. Gleichzeitig
wird die Umweltdimension immer wichtiger – die
Herausforderungen im Klimabereich haben zugenommen. Im Weiteren werden wir mit der zunehmenden Verstädterung in Entwicklungsländern
konfrontiert.
Die Volkswirtschaft 3 / 2016 37
CHRISTOPH BIGLER / DIE VOLKSWIRTSCHAFT
Die UNO-Agenda 2030 begrüssen beide:
Jan Atteslander von Economiesuisse (l.) und
Hugo Fasel von Caritas Schweiz vor dem
Restaurant Grosse Schanze in Bern.
SCHWERPUNKT
Wie können wir die Entwicklungshilfe
verbessern?
Die Entwicklungspolitik der Schweiz soll an ihren Resultaten gemessen werden. Dies fordert Jan
Atteslander, Leiter Aussenwirtschaftspolitik von Economiesuisse. Caritas-Schweiz-­Direktor Hugo
Fasel sagt, in seiner Organisation sei dies schon längst der Fall. Die «Volkswirtschaft» wollte von
den beiden wissen, wie die Schweiz die UNO-Agenda 2030 umsetzen soll. Susanne Blank
Spenden Sie privat, Herr Fasel?
Hugo Fasel: Auf jeden Fall spende ich. Ich will ja ein
Beispiel sein für die Caritas.
Und wenn es nicht um die Beispielfunktion ginge?
Fasel Ich habe auch früher immer gespendet. Das
ist ein Teil meiner Lebenshaltung.
Jan Atteslander: Ich spende auch.
Herr Atteslander, als Leiter Aussenwirtschaftspolitik
bei Economiesuisse waren Sie involviert bei der Erarbeitung der Agenda 2030. Was halten Sie davon?
Atteslander: Wir waren erst am Schluss dabei, als
die grundsätzlichen Entscheide schon gefallen
waren. Trotzdem finden wir das Resultat gut: Ein
umfassender Zielkatalog ist der richtige Weg und
wird unterstützt von der Wirtschaft.
Kritiker sagen, diese Agenda mit ihren vielen Zielen
und Unterzielen sei naiv und unrealistisch.
Fasel: Dieser Katalog hochgesteckter Ziele ent-
spricht einer Art Verfassungsgrundlage, die man
nun konkretisieren muss. Die Welt ist global vernetzt, insofern war der Schritt auf politischer Ebene schon längst überfällig.
Atteslander: Die Agenda ist zwar unverbindlich,
aber sie wirkt. Das hat sich beim Klimaabkommen
von Paris gezeigt. Wichtig ist, dass sie eine Dynamik auslöst: Es entstehen nun Initiativen auf nationaler Ebene im staatlichen, aber auch im privaten
Bereich.
Fasel: Wichtig im internationalen Bereich sind Monitoringberichte, in welchen die Entwicklung in
den einzelnen Ländern beobachtet wird. Das sieht
man auch in der Schweiz: Sobald sie international
aufgrund solcher Berichte unter Druck gerät, bewegt sie sich.
Hat sich die Schweiz zwingend an diesen Zielen auszurichten?
Atteslander: In den Kernbereichen der Nachhaltigkeit sollte man die Politik in aller Ruhe überprüfen.
Die Gesprächspartner
Jan Atteslander ist seit sieben Jahren als Leiter
Aussenwirtschaft in der Geschäftsleitung des
Wirtschaftsdachverbands Economiesuisse. Von
2000 bis 2008 war er Mitglied der Geschäftsleitung von Swissholdings, dem Verband der Industrie- und Dienstleistungskonzerne der Schweiz.
Der 52-jährige Ökonom studierte an der Universität Bern, wo er einen Doktortitel erwarb. Er ist in
Biel aufgewachsen und lebt im Waadtland.
Agenda 2030
Der 60-jährige Hugo Fasel ist seit 2008
Direktor des Hilfswerks Caritas Schweiz.
Zuvor sass der deutschsprachige Freiburger
17 Jahre für die Christlich-soziale Partei (CSP)
im Nationalrat. Neben seiner Tätigkeit als
Nationalrat leitete der Ökonom die Gewerkschaftsdachorganisation Travailsuisse.
Die Agenda 2030 für nachhaltige
Entwicklung der UNO ist ab 2016 der
global geltende Rahmen für nationale
und internationale Bemühungen zur
nachhaltigen Entwicklung und Armutsbekämpfung. Die 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDG) ersetzen die
Millenniumsentwicklungsziele.
Die Volkswirtschaft 3 / 2016 39
ENTWICKLUNGSZUSAMMENARBEIT
Da würde man sehen: Mit der jetzt eingeschlagenen
Energiepolitik erreichen wir die CO2-Ziele nicht.
Auch in der Forschung müsste man wahrscheinlich mehr tun. Wir haben in der
Schweiz keine Ahnung, wie sich
«Im Parlament hätte
die Entwicklungszusammenarbeit auf die Nachhaltigkeit ausdie Botschaft des Bunwirkt. Es fehlen grundlegende
desrats eine bessere
Entscheidungs­informationen in
Chance, wenn die Deza
der Schweiz.
aufzeigen könnte, welche Ziele sie erreicht
hat.» Jan Atteslander
Es soll mehr gemessen werden?
Atteslander: Ja, unbedingt. In
der internationalen Entwicklungszusammenarbeit – einer
der grössten Bundesausgaben – gibt es keine
publizierte Messung der Zielerreichung.
Sie sprechen von einer Wirksamkeitsanalyse.
Atteslander: Ja. Wir wissen nicht genau, wo wir
in der Entwicklungszusammenarbeit welche Ziele erreicht haben. In den anderen wichtigen politischen Bereichen weiss man das. Es ist sicher
40 Die Volkswirtschaft 3 / 2016
auch leichter zu erfassen. Ich darf das schon sagen: Die NGOs sind in ihren Publikationen viel
weiter – was das Management ihrer Programme
anbelangt und die Überprüfung ihrer Zielsetzungen – als die Deza in ihrer Publikation.
Herr Fasel, wissen Sie, was Sie in Ihren Programmen
bei der Caritas erreicht haben?
Fasel: Messungen haben gerade in unserer Organisation einen hohen Standard erreicht. Unsere internationalen Geldgeber wie die EU oder
die USA verlangen Wirkungsergebnisse. Wirkung heisst aber auch, Misserfolge zu zeigen.
Denn: Misserfolge sind das beste Lernstück. Der
Begriff Messung ist dabei nicht technisch zu
verstehen. Sondern es geht um die Idee, Rechenschaft abzulegen über das, was man erreicht
hat. Da gibt es in der Entwicklungszusammenarbeit einen Nachholbedarf – leider hat man
häufig Hemmungen.
Zurück zur Agenda 2030. Es wird oft von einem neuen Denkansatz gesprochen. Inwiefern?
SCHWERPUNKT
Atteslander: Und dann machen wir in armen
Ländern, wo Tuberkulose kein Problem ist, einfach nichts? Das wäre ja unethisch. Die Armutsbekämpfung ist eines der wichtigsten Themen.
Es gibt keine Nachhaltigkeit ohne die Bekämpfung der Armut.
Fasel: Diese Aussage von Lom«Sobald die Schweiz
borg ist doch Blödsinn. Dass
Dinge miteinander verknüpft
international aufgrund
sind, lernt man heute in der Privon Monitoring-­
marschule. Es ist naiv, zu sagen,
Berichten unter Druck
wir erreichen diese globalen
gerät, bewegt sie sich.»
Ziele, wenn wir mehr bei der
Malaria­bekämpfung machen.
Hugo Fasel
Atteslander: Der neue Schritt ist, dass eine Verantwortlichkeit für alle – auch für den Norden
– aufgezeigt wird. Vieles, was im Süden passiert,
hat einen Effekt auf den Norden und umgekehrt.
Deshalb macht es keinen Sinn, Nord und Süd zu
trennen. Das ist eine entscheidende Weiterentwicklung.
Fasel: Die nachhaltige Bekämpfung der Armut ist
für die Caritas das wichtigste der 17 UNO-Ziele –
auch in der Schweiz: Gerade für Jugendliche, die
keine Ausbildung haben, ist das Armutsrisiko besonders gross. Es darf nicht sein, dass sie ein Leben
lang auf Sozialhilfe angewiesen sind.
Der Direktor des Copenhagen Consensus Center, Bjørn Lomborg, sagt, die Agenda 2030 sei
gar nicht notwendig: Es wäre viel besser, sich auf
ausgewählte Massnahmen zu konzentrieren. Beispielsweise auf die Reduktion von Krankheiten wie
Tuberkulose und Malaria oder auf die Aufhebung
der Subventionierung von fossilen Treibstoffen.
Dies gäbe den betroffenen Ländern einen solchen
Schub, dass die Agenda überflüssig werde.
Können die Länder des Südens mit der Agenda 2030
mehr fordern?
Atteslander: Es geht eben gerade nicht darum,
wer welche Forderung hat und wer welche Zahlung macht. Das Ziel ist ein anderes: Man muss
Prozesse, welche eine nachhaltige Entwicklung stärken, in Gang setzen. Man könnte bei
den SDG allenfalls kritisieren, dass die Bedeutung von Reformen in der Wirtschaft und in
der Politik relativ schwach formuliert ist. Die
Millenniumsziele, die Vorläufer, konnten dank
wirtschaftspolitischer und gesellschaftlicher
Reformen in zwei Ländern erreicht werden:
China und Indien. Das hat Wachstumsprozesse
ermöglicht, welche die Armut stark reduzierten.
Die Dinge sind miteinander verknüpft: Was wir
in der Schweiz in der Finanz-, der Handels- und
der Landwirtschaftspolitik machen, wirkt sich
global aus.
Fasel: Nehmen wir die Landwirtschaftsinitia­
tive, welche die Selbstversorgung in der Schweiz
noch erhöhen möchte. Es macht keinen Sinn, mit
Subventionen bei uns noch mehr zu produzieren.
Denn es gibt viele Länder, die ihre Überschüsse
loswerden wollen.
(Atteslander nickt)
Fasel: Eine andere konkrete Ableitung aus den
SDG ist der Automatische Informationsaustausch: Mit der EU haben wir diesen eingeführt.
Das Gleiche muss nun weltweit auch gegenüber
den Ländern des Südens – gegenüber Diktatoren – passieren, damit wir das Abfliessen von
Milliarden transparent machen können.
Die Volkswirtschaft 3 / 2016 41
ENTWICKLUNGSZUSAMMENARBEIT
Atteslander: Das können wir abhaken. Bei Diktatorengeldern oder bei Geldern mit unbekannter
Herkunft ist die Schweiz kein geeigneter Landeplatz mehr. Da geht man besser in ein anderes
Land.
Der Punkt ist doch: Die anderen Länder sollten diese
Gelder auch nicht in Empfang nehmen.
Atteslander: Im Zusammenhang mit dem Arabischen Frühling hat sich gezeigt, wie schnell Gelder
weltweit blockiert werden können. Gleichzeitig ist
es wichtig, dass die Finanzströme in diese Staaten
nicht behindert werden. Wenn Sie heute Geld in
ein Land überweisen, das kein entwickeltes Bankensystem hat, verlieren Sie bis zu 20 Prozent davon wegen der Gebühren. Ein erschwerter Zugang
zu Finanzdienstleistungen ist ein grosses Investitionshemmnis – auch für die Privaten, für die Familien.
Es gibt Studien, die besagen, dass doppelt so viel
Geld vom Süden in den Norden fliesst als umgekehrt. Insbesondere geht es
um unlautere Finanzflüsse und
Steueroptimierungen von Kon«Es geht nicht darum,
zernen. Hier geht es um riesige
wer mehr Geld transSummen.
ferieren kann. Das Ziel
Atteslander: Das sind alles Symmuss sein, qualitativ
ptome. Die zentralen Fragen
sind nämlich: Stimmen in diemehr zu erreichen.»
sen Ländern die Rahmenbedin
Jan Atteslander
gungen für Investitionen? Und:
Sind die Länder offen für die
Investitionen von Privaten – auch ausserhalb der
herrschenden Klassen? Wenn zum Beispiel in afrikanischen Grossstädten die Rahmenbedingungen
einigermassen stabil sind, wird sofort investiert.
In zwei, drei Jahren sieht man bereits einen Unterschied in solchen Pockets of Stability. Da findet
Wachstum statt. Deshalb muss man die Ursachen
und nicht die Symptome angehen.
Was ist mit den Geldflüssen innerhalb von Konzernen?
Atteslander: Bei diesen Transaktionen sind die
Konzerne transparent: Das sind alles deklarierte
Einkommen. Das Problem liegt anderswo: Nicht
in allen Ländern sind die Steuersysteme genügend
entwickelt. Hier hat die Schweiz interessante Programme, bei denen Staaten beigebracht wird, wie
42 Die Volkswirtschaft 3 / 2016
man ein funktionierendes Steuersystem entwickelt. Das ist bei den lokalen Eliten nicht immer
beliebt, wenn sie plötzlich Steuern zahlen müssen.
Fasel: Herr Atteslander gibt diese klassische
Antwort: Investoren ziehen ab, weil Instabilität
herrscht. Aber wir wollen die Instabilität ja beseitigen. Wir haben in der Schweiz die Rohstoffkonzerne, was mit einem Reputationsrisiko verbunden ist. Jetzt kann man rein marktwirtschaftlich
argumentieren: Die Konzerne wälzen in Ländern,
wo Rohstoffe abgebaut werden, die Risiken voll
auf die örtliche Bevölkerung ab. Wenn der Weltmarktpreis sinkt, werden die Leute nach Hause
geschickt – ersatzlos. Und die Gewinne stabilisiert man weiterhin. In der Schweiz wäre das nicht
möglich, denn der Arbeitgeber hat bei Entlassungen eine gewisse Verantwortung. Da sind unsere
Rohstoffkonzerne noch im 19. Jahrhundert stecken geblieben.
Atteslander: (schüttelt den Kopf) Im Mining sind
wir in einem kolossalen Lernprozess – hin zu globalen Standards. Es gibt eine Schweizer Firma,
deren Social-Investment-Budget in Afrika 40 Prozent des Budgets der Deza auf diesem Kontinent
ausmacht. Zum Teil in Gegenden, wo Deza-Mitarbeiter aus Sicherheitsgründen nicht mehr hinkommen.
Was ist das für eine Firma?
Atteslander: Das ist Glencore. Die bauen Schulen,
Strassen, Spitäler in einem ganz schwierigen Umfeld. Ich kenne kein einziges Unternehmen, das
seine Gewinne auf Kosten der Lokalbevölkerung
stabilisiert. Im Gegenteil: Die Rohstoffkonzerne
machen momentan riesige Verluste – etwa im Kohle- und Erzabbau. Bei solch langfristigen Investitionen stellt sich deshalb vielmehr die Frage: Wie
organisiert man die Abgaben – die Schürfrechte?
Fliessen die Gelder nur in den zentralen Staatshaushalt, oder schaut man, dass auch die Lokalbevölkerung davon profitiert? Das Gleiche gilt für
Umweltstandards: Die Grossen können es sich
nicht mehr leisten, flächendeckend die Regionen,
wo sie operieren, zu vergiften. Das akzeptieren weder die lokalen Behörden noch die Investoren.
Fasel: Ich bin ein bisschen erstaunt, Herr Atteslander, über diese Argumentation. Das mit Glencore
würde ich jetzt wirklich nicht verteidigen. Die haben eine riesige PR-Kampagne aufgezogen. Sie haben auch mich angefragt, ob ich nicht bereit wäre,
SCHWERPUNKT
ein bisschen zu helfen, ihr Image aufzupolieren.
Jeder und jede weiss, dass die in einigen Ländern –
zum Beispiel im Kongo – machen, was sie wollen.
Und die Umweltbelastung ist immens. Der Grund,
warum sich solche Firmen trotzdem bewegen, ist
die Mobilisierung in der Schweiz – von uns oder
anderen Organisationen. Die kürzlich lancierte
Konzernverantwortungsinitiative, die auch von
namhaften Leuten aus der Wirtschaft unterstützt
wird, ist ein Beispiel dafür.
Diese Volksinitiative will den Menschenrechten und
dem Umweltschutz in den Unternehmen einen höheren Stellenwert beimessen.
Fasel: Das ist eine nächste Etappe, um die SDG konkret umzusetzen.
Atteslander: Die Konzernverantwortungsinitiative ist das Gegenteil von SDG. Das würde bedeuten, dass ein Schweizer Richter in Bern darüber
befindet, was eine Firma X in Sambia macht. Wie
soll der arme Friedensrichter die Chance haben,
nur in die Nähe der Fakten zu kommen. Das ist
nicht umsetzbar.
Kommen wir auf die Finanzierung der Agenda zu
sprechen: Für die Umsetzung der Agenda 2030
braucht es laut UNO allein in den Entwicklungsländern jährlich zwischen 3000 und 5000 Milliarden
Dollar. Woher sollen diese Mittel kommen?
Fasel: Wir dürfen keine Angst vor dieser grossen
Zahl haben, denn sie betrifft die Weltgemeinschaft
als Ganzes. Zum Vergleich: Die USA haben in den
letzten zehn Jahren gleich viel in den Afghanistankrieg investiert wie die Zahl, die wir hier nennen.
Diese Summe muss man hinunterbrechen auf die
Schweiz. Da kommt man auf rund 3 Milliarden
Franken. Diese Zahl beinhaltet vor allem Investitionen: Jede Investition bedeutet ja auch wieder Einkommen.
Atteslander: Investitionen sind
«Der Bundesrat muss
der richtige Ansatz: Solche
Wachstumsprozesse verbessern
sich aktiv zur humanitädie Nachhaltigkeit. Der Holzweg
ren Schweiz bekennen.
wäre es aber, Transferleistungen
Das ist keine Frage der
in diesem Ausmass zu verlangen.
Die Finanzierungslücke wäre reWirtschaftspolitik, sonalpolitisch einfach zu gross.
dern der Aussenpolitik –
es ist eine Grundhal-
Sie meinen die klassische Entwicktung.» lungshilfe von G
­ eberstaaten?
Atteslander: Ja, es wäre durch
Transferleistungen nie möglich gewesen, die
gesellschaftlichen und die wirtschaftlichen Veränderungsprozesse in den Schwellenländern
auszulösen. Es waren vielmehr Verbesserungen
in der Governance und Technologietransfers im
grossen Stil. Für mich sind die fehlenden Mittel
nicht die Hauptsorge, sondern die politische Sta-
Hugo Fasel
Die Volkswirtschaft 3 / 2016 43
ENTWICKLUNGSZUSAMMENARBEIT
bilität: Es besteht die Gefahr, dass militärische
und politische Konflikte solche Prozesse behindern.
ren Ausgabenbereiche des Bundes. Denn: Die internationale Entwicklungszusammenarbeit hat
durchaus eine Lobby im Parlament.
Es gibt das UNO-Ziel, dass die Entwicklungszusammenarbeit mindestens 0,7 Prozent des Brutto­
nationaleinkommens betragen soll. Statt sich diesem Ziel anzunähern, hat nun das Parlament in der
Schweiz die Entwicklungsgelder um 100 Millionen
Franken gekürzt. Und Economiesuisse war dafür.
Atteslander: Dass man da BNP-Zahlen statt qualitativer Grössen zur Berechnung verwendet, ist
der komplett falsche Ansatz. Das gibt es in keinem anderen Bereich. Das ist ein Wunschkatalog. Es geht nicht darum, wer mehr Geld transferieren kann. Das Ziel muss sein, qualitativ mehr
zu erreichen.
Herr Fasel sagt, man müsse die Krisengebiete erst
stabilisieren, bevor man investieren könne. Wie
wollen Sie denn stabilisieren?
Atteslander: Entwicklungszusammenarbeit hat
dort eine Chance, wo man die Zusammenhänge
wirklich kennt. Dazu gehört erstens die Zielmessung. Zweitens muss die Staatengemeinschaft alles
machen, damit sich diese Regionen politisch und
militärisch stabilisieren können.
Kommt hinzu: Die Aussichten für den Staatshaushalt sind nicht rosig.
Fasel: Ich war 17 Jahre im Parlament. Ich habe
nie ein anderes Argument gehört. Es geht um die
Prioritätensetzung: In der Schweiz sind wir dabei – trotz dieses Arguments fehlender Finanzen
–, die Unternehmenssteuern milliardenhoch zu
senken. Da fehlt das Geld anscheinend nicht. Im
Budget 2016 hat man die Mittel der Landwirtschaft erhöht. Da sieht man: Das ist Machtpolitik und nicht Finanzpolitik. Wenn man die Leute
heute nach den drängendsten Problemen fragt,
nennen viele die Flüchtlingskrise. Dies zeigt
doch die Wichtigkeit der humanitären Hilfe. Mit
diesem Geld sollen Regionen stabilisiert werden,
wo eben kein Unternehmen hingeht. Anschliessend kann man mit Privatkapital zu wirken
beginnen. Die beschlossene Kürzung ist absolut
realitätsfern.
Atteslander: Man darf die Vorgeschichte nicht
vergessen: Es war ein Fehler, die Entwicklungszusammenarbeit so schnell so stark auszubauen.
Auch mit diesen Einsparungen ist diese in den
letzten Jahren stärker gewachsen als alle ande-
44 Die Volkswirtschaft 3 / 2016
Die UNO soll es richten, nicht die Schweiz?
Atteslander: Alle zusammen. Die Schweiz ist ein
neutrales Land. Wenn die Staatengemeinschaft
wirklich etwas will, können Verbesserungsprozesse eingeleitet werden. Solange das nicht der
Fall ist, bleiben Krisenregionen wie etwa Syrien
weiterhin unruhig. Ist die Sicherheit nicht gewährleistet, gibt es Hungersnöte und Migrationsströme.
Fasel: Im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise
muss man vor Ort helfen. Da sind sich alle einig.
Die Schweiz hat auf unser kontinuierliches Drängen beim Bundesrat die Hilfe in Syrien vor Ort auf
50 Millionen Franken erhöht. Der Bedarf ist hier
aber noch viel grösser. Der Bundesrat muss sich
aktiv zur humanitären Schweiz bekennen. Das ist
keine Frage der Wirtschaftspolitik, sondern der
Aussenpolitik – es ist eine Grundhaltung.
Atteslander: Es gibt viele Projekte, die hören
auf, wenn der Geldfluss versiegt. Das ist nicht
nachhaltig. Im Parlament hätte die Botschaft
des Bundesrats eine bessere Chance, wenn die
Deza aufzeigen könnte, welche Ziele sie erreicht
hat. Aber genau diese Vorarbeit wurde nicht geleistet.
Interview: Susanne Blank, Chefredaktorin
«Die Volkswirtschaft»
INVALIDENVERSICHERUNG
IV-Umbau zielt auf Jugendliche und Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen
Die geplante Revision der Invalidenversicherung will die Chancen von Menschen mit psychischen
Beeinträchtigungen auf dem Arbeitsmarkt erhöhen. Der Bundesrat hat die Vorlage im Dezember
in die Vernehmlassung geschickt. Diese endet am 18. März 2016. Patrick Cudré-Mauroux
Abstract Die Invalidenversicherung (IV) soll optimiert werden. In den letzten Revisionen
wurde zwar der Grundsatz «Eingliederung vor Rente» umgesetzt; bei Jugendlichen und Personen mit psychischen Beeinträchtigungen zeigen die Massnahmen jedoch noch nicht den
gewünschten Erfolg. Der Bundesrat richtet deshalb in der laufenden Vernehmlassungsvorlage zur «Weiterentwicklung der Invalidenversicherung» den Fokus auf diese Gruppen. Da bei
Jugendlichen der Übergang von der Schule in die Arbeitswelt zentral ist, will die IV kanto­nale
Brückenangebote mitfinanzieren. Weiter brauchen psychisch beeinträchtigte Erwachsene
eine bessere Betreuung am Arbeitsplatz. Ebenfalls mehr Aufmerksamkeit widmet die Vorlage
Kindern, denn hier sind die Kosten gestiegen. Zudem sieht sie die Einführung eines stufenlosen
Rentenmodells vor. Weiter muss die Zusammenarbeit zwischen Gesundheitswesen, Schule,
Berufsbildung, Arbeitgeber und den Sozialversicherungen ausgebaut werden.
D ie ersten Ergebnisse der Evaluationen
der vierten und der fünften IV-Revision
sowie der Revision 6a zeigen: Die Invalidenversicherung wurde in eine Eingliederungsversicherung umgestaltet (siehe Kasten).
Obwohl bei den Wiedereingliederungen aus
Rente gemäss der Revision 6a die gesetzten
Ziele noch nicht erreicht werden konnten,
ist der Rentenbestand rascher gesunken als
erwartet. Seit 2005 hat der Rentenbestand
kontinuierlich abgenommen, obwohl die versicherte Bevölkerung von 4,8 Millionen Personen (Stand Ende 2005) auf 5,2 Millionen
(Ende 20s13) angestiegen ist.
Aus den Statistiken geht jedoch hervor,
dass die Abnahme des Rentenbestands bei
jungen Erwachsenen und Personen mit psychischen Beeinträchtigungen deutlich geringer ist. Bei Letzteren fiel der Rückgang
der Neurenten im Verhältnis zur versicherten Bevölkerung bis im Jahr 2006 deutlich
geringer aus (siehe Abbildung 1). Seit 2007
verläuft die Abnahme der Anzahl Neurenten
aufgrund psychischer Leiden in etwa parallel zur Abnahme bei den übrigen Neurenten.
Das Verhältnis zwischen der Zahl der
Rentenbezüger und der versicherten Bevölkerung (Rentenbestandsquote) erreichte im Dezember 2005 mit 5,3 Prozent
seinen Höchststand (siehe Abbildung 2).
Seither ging diese Quote zurück und betrug im Dezember 2013 noch 4,5 Prozent. In absoluten Zahlen war in diesem
Zeitraum eine Abnahme von 252 000 auf
230 000 Renten zu verzeichnen. Dieser
Rückgang ist hauptsächlich eine Folge der
sinkenden Neurentenquote, die sich in den
letzten zehn Jahren halbiert hat. Die Rentenbestandsquote bei psychischen Erkrankungen ist jedoch trotz abnehmender
Neurentenquote konstant geblieben.
Der Rückgang der IV-Neurenten in
der Schweiz schliesst die 18- bis 24-jährigen Versicherten nicht ein (siehe Abbildung 3): Von 2009 bis 2013 wurde jährlich
im Durchschnitt rund 2000 Personen un-
ter 25 Jahren erstmalig eine IV-Rente zugesprochen. Seit 2011 liegt die Neurentenquote bei dieser Altersgruppe sogar über
jener der 25- bis 65-Jährigen.
Bessere Unterstützung
für Arbeitgeber
Eine Untersuchung bei den Rentenbezügern unter 25 Jahren hat ergeben, dass über
90 Prozent dieser Personen vorgängig andere IV-Leistungen zugesprochen wurden.
Zwei Drittel dieser Rentenbeziehenden litten an einer psychischen Erkrankung und
ein Drittel an einem Geburtsgebrechen.
In ihrem im Januar 2014 veröffentlichten Länderbericht zur psychischen Gesundheit und Beschäftigung in der Schweiz1 hat
die OECD anerkannt, dass die IV gut funktioniert. In diesem Bericht wurden jedoch
auch Mängel bei den Arbeitgebern festgestellt: Diese sind für den Umgang mit psychisch erkrankten Arbeitnehmenden kaum
gerüstet, und ihre Rolle bei der Wiedereingliederung ist unzureichend. Das IV-System
schenkt den Erwerbsanreizen noch zu wenig
Aufmerksamkeit. Die Regionalen Arbeitsvermittlungszentren (RAV) und die Sozialdienste können Personen mit psychischen
Problemen nur bedingt Unter­
stützung
bieten. Trotz der Interinstitutionellen Zusammenarbeit (IIZ) bestehen nach wie vor
1 OECD (2014). Psychische Gesundheit und Beschäftigung:
Schweiz; siehe auch Soziale Sicherheit CHSS 2/2014.
Von der Rente zur Wiedereingliederung
Die Invalidenversicherung (IV) wurde
seit ihrem Inkrafttreten 1960 und der
Jahrtausendwende dreimal revidiert.
Die vierte Revision trat am 1. Januar
2004 in Kraft. Mit dieser Revision wur­
den die regionalen ärztlichen Dienste
(RAD) und die Dreiviertelsrente eingeführt. Ausserdem baute sie die Leistungen für die berufliche Weiterbildung
aus und verstärkte den Anspruch auf
aktive Arbeitsvermittlung. Im Weiteren
wurde die Hilflosen­entschädigung
für Personen erhöht, die zu Hause
leben. Schliesslich wurde mit der
vierten Revision die Grundlage für die
Interinstitutionelle Zusammenarbeit
(IIZ) geschaffen.
Die fünfte Revision trat am 1. Januar
2008 in Kraft. Um ihre Leit­idee Ein­
gliederung vor Rente in die Praxis
umzusetzen, wurden verschiedene
Massnahmen eingeführt. Dazu
gehören die Früherfassung und die
Früh­intervention, Integrations-
massnahmen zur Vorbereitung auf
die berufliche Eingliederung und die
Ausweitung der beruflichen Eingliederungsmassnahmen. Ausserdem
wurden verschiedene Anreize für
Arbeitgeber geschaffen.
Das erste Massnahmenpaket der
sechsten Revision (6a) trat am 1. Januar 2012 in Kraft. Es umfasste die
folgenden vier Elemente: eingliederungsorientierte Rentenrevision,
Neuregelung des Finanzierungs-
mechanismus, Preissenkungen im
Hilfsmittelbereich und Einführung des
Assistenzbeitrags.
Das zweite Massnahmenpaket der
sechsten Revision (6b) wurde von den
eidgenössischen Räten in drei Vorlagen
unterteilt. Die Vorlage 2 (Kostenver­
gütung für stationäre Massnahmen)
trat am 1. Januar 2013 in Kraft. Im Juni
2013 wurde die Vorlage 1 vom Parlament
abgeschrieben, während die Vorlage 3
sistiert wurde.
Die Volkswirtschaft 3 / 2016 45
INVALIDENVERSICHERUNG
Dank den vorgenommenen Gesetzesrevisionen kann der Grundsatz «Eingliederung
vor Rente» im Rahmen der IV umgesetzt
werden. Trotzdem muss das System weiter
optimiert werden. Die letzten IV-Revisionen
zeigten bei den 18- bis 24-Jährigen und bei
Personen mit psychischen Beeinträchtigungen nicht den erwarteten Erfolg. Die
Zusammenarbeit mit den Akteuren des Gesundheitswesens und der schulischen und
beruflichen Bildung sowie mit den Arbeitgebern und den anderen Sozialversicherungen
muss ausgebaut werden. Im Rahmen dieser
Reform hat der Bundesrat drei Zielgruppen
definiert und für jede dieser Gruppen spe­
zifische Verbesserungen vorgesehen:
1.Kinder (bis 13 Jahre)
2.Kinder, Jugendliche und junge psychisch
erkrankte Versicherte (13 bis 25 Jahre)
3.Psychisch erkrankte Versicherte
Die Ausgaben bei Kindern in den Griff
bekommen
Bei Kindern mit einem anerkannten Geburtsgebrechen deckt die IV die Kosten
46 Die Volkswirtschaft 3 / 2016
0,6 Anteil am Total aller Versicherten, in %
0,5
25 000
0,4
20 000
0,3
15 000
0,2
10 000
0,1
5 000
0
0
2001 2002
2003 2004
2005 2006 2007 2008 2009 2010
2011
2012
2013
IV-STATISTIK / DIE VOLKSWIRTSCHAFT
Anzahl Rentenbezüger 30 000
2014
Psychische Erkrankungen (absolut) Andere Erkrankungen (absolut) Alle Erkrankungen (Quote) Psychische Erkrankungen (Quote)
Neues Verfahren ab 2006.
Abb. 2: Rentenbestand nach Invaliditätsursache
6 Anteil am Total aller Versicherten, in %
Anzahl Rentenbezüger 300 000
5
250 000
4
200 000
3
150 000
2
100 000
1
50 000
0
0
2001
2002
2003 2004
2005 2006
2007
2008 2009 2010
2011
2012
2013
IV-STATISTIK / DIE VOLKSWIRTSCHAFT
Das System optimieren
Abb. 1: Neurenten nach Invaliditätsursache
2014
Psychische Erkrankungen (absolut) Andere Erkrankungen (absolut) Alle Erkrankungen (Quote) Psychische Erkrankungen (Quote)
Neues Verfahren ab 2006.
Abb. 3: Neurenten nach Alterskategorie
0,6 Verhältnis Rentenbezüger / versicherte Bevölkerung, in %
Anzahl Rentenbezüger 3000
0,5
2500
0,4
2000
0,3
1500
0,2
1000
0,1
500
0
0
2001
2002
2003
2004
2005 2006 2007
2008
2009
2010
2011
2012
18- bis 24- Jährige (absolut) 18- bis 24- Jährige (Quote) 25- bis 65- Jährige (Quote)
Neues Verfahren ab 2006.
2013
2014
IV-STATISTIK / DIE VOLKSWIRTSCHAFT
Koordinationsprobleme zwischen den verschiedenen Akteuren. Würde das kostenintensive schweizerische Gesundheitssystem
seine bestehenden Ressourcen effizienter
einsetzen, könnte es in Bezug auf den Arbeitsmarkt noch bessere Leistungen erbringen. Schliesslich werden mit den beträchtlichen Mitteln, die für das Bildungssystem
aufgewendet werden, weder Schulabbrüche noch frühe Übergänge zur IV verhindert.
Die OECD empfiehlt deshalb:
–– Ausbau der Massnahmen am Arbeitsplatz;
–– Annäherung der Invalidenversicherung
an die Arbeitswelt, indem die Rolle der
Arbeitgeber und der Nutzen von auf den
Arbeitsplatz ausgerichteten Frühinterventionen betont werden;
–– Ausbau der Kompetenzen innerhalb der
RAV und Sozialdienste, mit denen sich
Probleme am Arbeitsplatz bewältigen
lassen, die mit der psychischen Gesundheit zusammenhängen;
–– Gleichstellung des Gesundheitssystems
mit den anderen Partnern mithilfe der IIZ
und Ausbau der Zusammenarbeit zwischen Institutionen mit teilweise entgegengesetzten Interessen;
–– Ausrichtung des psychiatrischen Versorgungssystems, das über ausreichende
Ressourcen verfügt, auf den Arbeitsplatz;
–– vermehrte Ausrichtung der Bildungspolitik auf den Übertritt ins Berufsleben.
INVALIDENVERSICHERUNG
KEYSTONE
Rahmen der Arbeitsvermittlung ist es daher
von zentraler Bedeutung, relevante Anzeichen zu einem frühen Zeitpunkt zu erkennen und adäquat zu intervenieren.
Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen benötigen spezifische Unterstützung, damit sie im Arbeitsleben verbleiben
oder Eingliederungsmassnahmen erfolgreich abschliessen können. Daher sollen
Personen mit psychisch bedingtem Invaliditätsrisiko über die Eingliederung hinaus
von der IV begleitet und beraten werden.
Die sozialberuflichen Integrationsmassnahmen müssen über einen längeren Zeitraum angewendet werden. Die Einführung
eines Personalverleihs erleichtert Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen den Wiedereinstieg ins Erwerbs­leben
und erhöht ihre Vermittlungschancen.
Junger Mann in einer therapeutischen Schlosserwerkstatt. Der Übergang ins Berufsleben ist für
Jugendliche wichtig.
von medizinischen Behandlungen. Die
Gesamtkosten dieser medizinischen Massnahmen sind von 458 Millionen Franken im
Jahr 2001 auf 784 Millionen Franken im Jahr
2013 angestiegen. Dies entspricht einer
Gesamtzunahme von 71 Prozent innerhalb
von zwölf Jahren.
Daher sind verschiedene Massnahmen
vorgesehen: Festlegung der Kriterien für
die Übernahme der medizinischen Massnahmen, Aktualisierung der Geburtsgebrechenliste, Anpassung der gewährten
IV-Leistungen gemäss den geltenden Kriterien bei der Krankenversicherung, Ausbau
und Verbesserung der Steuerung und Fallführung der medizinischen Massnahmen.
Übergang in die Arbeitswelt für
Jugendliche verbessern
Bei Kindern im Primarschulalter können
weitere Probleme wie Lern- oder Verhaltensstörungen auftreten. Der Übergang I
(Übertritt von der Volksschule zur erstmaligen beruflichen Ausbildung / beruflichen
Grundbildung) ist für die Erfolgschancen
auf dem Arbeitsmarkt von grosser Bedeutung. Dieser Übergang ist besonders heikel
für Jugendliche, die noch nicht in der Lage
sind, eine erste Ausbildung zu beginnen,
und für Jugendliche, die weder eine Lehrstelle noch eine Zwischenlösung gefunden haben. Die betroffenen Jugendlichen
müssen angemessen begleitet werden,
um die Entstehung, Verschlechterung oder
Chroni­fizierung psychischer Probleme zu
verhindern.
Die IV verfügt derzeit über keine gezielten Massnahmen, um die betreffenden Jugendlichen beim Übergang ins Erwerbsleben zu unterstützen. Neu sollen
die Instrumente, die sich bei Erwachsenen bewährt haben (Früherfassung, sozialberufliche Integrationsmassnahmen),
auf Jugendliche ausgeweitet werden. Die
IV sieht auch eine Mitfinanzierung kantonaler Brückenangebote zur Vorbereitung auf die erste Berufsausbildung sowie des kantonalen Case-Managements
Berufsbildung vor. Sie richtet die IV-finanzierten Erstausbildungen und die in
diesem Rahmen ausgerichteten Taggelder stärker auf einen erfolgreichen Einstieg in den ersten Arbeitsmarkt aus. Zudem erhalten die Jugendlichen von der IV
mehr Beratung und Begleitung. Im Weiteren werden die medizinischen Eingliederungsmassnahmen der IV über einen
längeren Zeitraum erbracht.
Psychische Krankheiten bei
Erwachsenen frühzeitig erkennen
Untersuchungen bei Erwachsenen zeigen,
dass erste Auffälligkeiten bereits mehrere
Jahre vor einer Arbeitsunfähigkeit aus psychischen Gründen festgestellt werden können. Für den Erhalt des Arbeitsplatzes des
Versicherten oder seine Neuplatzierung im
Koordination zwischen
den beteiligten Akteuren
Abgesehen von den spezifischen Massnahmen für die vorstehend aufgeführten drei
Zielgruppen sind im Hinblick auf die Koordination der beteiligten Akteure folgende
Verbesserungen angezeigt: Verstärkung
der Unterstützung für Arbeitgeber und
Abschluss einer Zusammenarbeitsvereinbarung mit Arbeitgebern, Ausbau der Zusammenarbeit mit behandelnden Ärzten,
Verlängerung des Schutzes der Versicherten im Fall von Arbeitslosigkeit nach einer
Rentenrevision, Gewährleistung ausreichender Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhalts nach der Meldung an die IV und
Einführung eines stufenlosen Rentensystems.
Patrick Cudré-Mauroux
Anwalt, Leiter des Bereichs Gesetzgebung
und Recht, Geschäftsfeld Invalidenversicherung, Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV), Bern
Literatur
Bolliger et. al. (2012). Eingliederung vor Rente. Evaluation
der Früherfassung, der Frühintervention und der Integrationsmassnahmen in der Invalidenversicherung. Beiträge
zur Sozialen Sicherheit, Forschungsbericht 13/12; Soziale
Sicherheit CHSS 2/2013, S. 88.
BSV (2014). IV zieht insgesamt positive Zwischenbilanz
der beruflichen Eingliederung. Medienmitteilung vom
18. August 2014.
Die Volkswirtschaft 3 / 2016 47
FINANZMÄRKTE
Internationale TLAC-Standards als Chance
für Schweizer Grossbanken
Die Schweiz setzt die internationalen Mindeststandards für verlustabsorbierendes Kapital
(TLAC) im Eiltempo in nationales Recht um. Dies verschafft den beiden Schweizer Grossbanken
einen Vorteil gegenüber der ausländischen Konkurrenz. Seraina Grünewald
Abstract Die anhaltenden Bemühungen der Schweizer Behörden zur Entschärfung der «Too
big to fail»-Problematik haben durch die kürzlich verabschiedeten internationalen Mindeststandards für verlustabsorbierendes Kapital (total loss-absorbing capacity, TLAC) entscheidenden Rückenwind erhalten. Dieser Kurzbeitrag würdigt die TLAC-Standards und die in Aussicht gestellte Schweizer Umsetzung. Die Stossrichtung stimmt, eine entscheidende Frage
bleibt aber offen: Wer kauft die neuen Papiere?
N ach mehrjährigen Vorarbeiten hat
das Financial Stability Board (FSB) am
9. November 2015 internationale Mindeststandards für verlustabsorbierendes Kapital
(«total loss-absorbing capacity, TLAC») verabschiedet.1 Die inzwischen von den G-20
gutgeheissenen Standards gehen über die
Kapitalvorschriften von Basel III2 hinaus, welche nicht in jedem Fall gewährleisten, dass
eine Bank ihre Geschäfte fortführen kann. Damit die Behörden systemrelevante Banken im
Krisenfall sanieren bzw. geordnet abwickeln
können, müssen die Finanzinstitute über zusätzliche finanzielle Mittel verfügen.
Die TLAC ist die Summe aus den Eigenkapitalanforderungen («going concern»)
und zusätzlichem verlustabsorbierendem Kapital («gone concern»). Durch die
Einführung der ergänzenden «Gone concern»-Anforderungen tragen künftig die
Gläubiger – und nicht der Staat – die mit
der Aufrechterhaltung systemrelevanter
Funktionen verbundenen Kosten. Dies
stellt einen Meilenstein in den internationalen Bemühungen zur Entschärfung
des «Too big to fail»-Problems dar.
Die derzeit 30 als global systemrelevant
eingestuften Banken («global systemically
important banks»)3 müssen über quantitativ und qualitativ hinreichende Verbindlichkeiten verfügen, welche die Behörden
im Bedarfsfall abschreiben bzw. in Eigenkapital umwandeln und somit zur Finanzierung von Abwicklungsmassnahmen he1 FSB, Total Loss-Absorbing Capacity (TLAC) Principles
and Term Sheet, 9. November 2015.
2 Basler Ausschuss für Bankenaufsicht, Basel III: Ein globaler Regulierungsrahmen für widerstandsfähigere Banken
und Bankensysteme, Dezember 2010.
3 Vgl. FSB, 2015 Update of List of Global Systemically
Important Banks (G-SIBs), 3. November 2015.
48 Die Volkswirtschaft 3 / 2016
ranziehen können (sogenanntes Bail-in).
Dies sehen die TLAC-Standards vor. Die
betroffenen Banken – darunter auch die
Schweizer Grossbanken UBS und Credit
Suisse – werden verpflichtet, ab 2019 ein
Verlustpolster von mindestens 16 Prozent
der risikogewichteten Aktiva (ohne Puffer) und 6 Prozent der Bilanzsumme zu halten. Ab 2022 erhöht sich diese Quote auf
18 Prozent bzw. 6,75 Prozent.
TLAC schafft Vertrauen
In erster Linie will die «total loss-absorbing
capacity» Vertrauen in die Abwicklungsfähigkeit grosser Bankkonzerne schaffen.
Das gilt insbesondere für die internationale
Zusammenarbeit: Werden verlustabsorbierende Verbindlichkeiten schon im Vorfeld
einer Abwicklung in der richtigen Qualität und am richtigen Ort innerhalb des
Konzerns platziert, ist die Versuchung der
Aufnahmestaaten von Konzerneinheiten
kleiner – so hofft man –, lokale Einheiten
im Krisenfall vom Konzern abzuspalten und
dadurch eine geordnete grenzüberschreitende Abwicklung zu unterlaufen.
An die TLAC-Quoten anrechenbar sind
nur Verbindlichkeiten, die im Abwicklungsfall einem Bail-in unterliegen würden. Somit fallen gesicherte Einlagen sowie privilegierte, verrechenbare oder
durch Sicherheiten unterlegte Forderungen prinzipiell ausser Betracht. Umgekehrt
bildet die TLAC jedoch nur eine Teilmenge der im Rahmen eines Bail-in wandel­
baren oder abschreibbaren Verbindlichkeiten. Um das nötige Vertrauen zu schaffen,
muss die TLAC erhöhten Anforderungen
genügen, die international gelten. Dazu
gehören eine Mindestrestlaufzeit von einem Jahr sowie die Nachrangigkeit von
TLAC-Verbindlichkeiten gegenüber anderen ungesicherten und unprivilegierten
Verbindlichkeiten der Bank.
Die erforderliche Nachrangigkeit lässt
sich prinzipiell gesetzlich, vertraglich oder
strukturell sicherstellen. Eine gesetzlich
festgelegte Nachrangigkeit generiert dabei am ehesten die gewünschte Rechtssicherheit – sie ist aber ein rechtliches
Novum, welches von den FSB-Mitgliedstaaten erst implementiert werden müsste. Eine vertragliche Umsetzung birgt
grös­sere Anfechtungsrisiken und ist träger
in der Umsetzung.
Holding-Strategie für CS und UBS
Für die beiden Schweizer Grossbanken
drängt sich eine strukturelle Lösung auf: Die
Konzernholding gibt dabei nur TLAC-kompatible Verbindlichkeiten aus, welche
nachrangig zu den Verbindlichkeiten der
unteren Konzernstufen ausgestaltet sind.
Diese Lösung fügt sich nahtlos in die von
der Eidgenössischen Finanzmarktaufsicht
(Finma) bevorzugte Abwicklungsstrategie
eines «single point of entry» (siehe Kasten)
für Grossbanken ein, wonach die Struktur
des Gesamtkonzerns erhalten bleiben soll.4
4 Vgl. Finma, Positionspapier Sanierung und Abwicklung
von G-SIBs, 7. August 2013.
Single und Multiple Point of Entry
Wird ein Konzern über eine einzige Anlaufstelle
abgewickelt, spricht man von einem single point
of entry (SPE). Somit ist die Abwicklung unabhängig davon, wo die finanziellen Schwierigkeiten
ihren Ursprung haben. Dies soll eine einheitliche
Abwicklung durch eine einzige Behörde ermöglichen.
Beim multiple point of entry (MPE) findet
die Abwicklung dezentral statt. Es kommt zur
Aufspaltung des Konzerns in Untergruppen
(z. B. entlang von Geschäftsbereichen oder von
Ländergrenzen), die einzeln abgewickelt werden.
In diesem Verfahren sind mehrere Behörden
parallel aktiv.
FINANZMÄRKTE
KEYSTONE
«Too big to fail»-Bestimmungen integrieren.5 Dies erfolgt per 1. Juli 2016 durch eine
Revision der Eigenmittelverordnung.6
Dass die TLAC-Quoten mit 28,6 Prozent
der risikogewichteten Aktiva und 10 Prozent der Bilanzsumme (ohne Rabatte) höher
als die internationalen Mindeststandards
ausfallen, ist angesichts der nationalen Bedeutung der Schweizer Grossbanken begrüssenswert. Der «Gone concern»-Teil
(14,3% bzw. 5%) ist im Prinzip vollumfänglich durch sogenannte Bail-in-Bonds zu erfüllen. Das sind Schuldinstrumente, welche
die Grossbanken spezifisch zur Verlusttragung im Fall von Insolvenzmassnahmen
ausgeben. Für die inländischen systemrelevanten Banken (Zürcher Kantonalbank,
Raiffeisen, Postfinance) sollen «Gone concern»-Anforderungen mit der nächsten
Überprüfung der «Too big to fail»-Bestimmungen Ende 2017 folgen.
Mit den TLAC-Standards schwenkt die
internationale Gemeinschaft auf ein Kongelten für systemrelevante Banken Halte­ zept ein, das die Schweiz mit ihrem «Too
verbote, um direkte Ansteckungseffekte big to fail»-Regime schon früh angestoszu vermeiden, und ausserhalb der Schweiz sen und national bereits teilweise implewird teilweise der Kauf durch Retailkunden mentiert hat. Trotz der internationalen Eiunterbunden. Ob Pensionskassen und Versi- nigung verbleiben aber Unterschiede im
cherungen zu den Hauptabnehmern solcher Vergleich zum Ausland: So können sich
Papiere zählen sollten, ist aus volkswirt- in der EU niedergelassene Grossbanken
schaftlicher Sicht wiederum fraglich. Es wird Mittel aus sogenannten Abwicklungssich weisen, ob der Markt ausserhalb dieser fonds in einem gewissen Umfang an ihre
Gruppen – und in Zeiten weniger expansiver TLAC-Quote anrechnen lassen. Zwar sind
Geldpolitik – genügend Nachfrage generie- die EU-Abwicklungsfonds primär durch
ren wird. Immerhin geniessen die Schweizer Beiträge der Banken (vor)finanziert. DenGrossbanken dank der raschen Umsetzung noch führen sie durch ihren kollektiven
der internationalen Standards als «First-­ «Versicherungsschutz» unter Umständen
Mover» möglicherweise einen Vorteil ge- zu Wettbewerbsvorteilen für Banken im
genüber der ausländischen Konkurrenz.
Vergleich zur Schweiz, die kein analoges
Der Frage nach der «idealen» Käufer- Instrument kennt.
schaft von TLAC-Anleihen liegt die Sorge
zugrunde, die finanziellen Probleme we- 5 Vgl. Bundesrat legt Eckwerte zur Anpassung der Toobig-to-fail-Bestimmungen fest, Medienmitteilung
niger Bankkonzerne könnten auf andere
des Staatssekretariats für Internationale Finanzfragen
Finanz­marktakteure übergreifen oder sich
(SIF), 21. Oktober 2015; Finma, Faktenblatt: Die neuen
Too-big-to-fail-Kapitalanforderungen für global systemgar in einen Flächenbrand verwandeln.
Banken in der Schweiz, 21. Oktober 2015.
Diese Sorge ist nicht unberechtigt und 6 relevante
Vgl. die Vernehmlassungsunterlagen vom 22. Dezember
2015 unter Admin.ch.
könnte die Behörden im Krisenfall dazu
veranlassen, die Verluste von Grossbanken
doch nicht im vollen Umfang auf die Anleihegläubiger abzuwälzen. Ungelöst bleibt
mit der TLAC auch das Liquiditätsproblem: Woher kommen die substanziellen
liquiden Mittel, auf die jede angeschlagene Bank während und nach ihrer Sanierung
bzw. Abwicklung angewiesen ist?
Der Vorsitzende des Financial Stability Board,
Mark Carney (r.), in Basel. Das Gremium hat die
Vorschriften für global systemrelevante Banken
verschärft.
Gemäss dieser Strategie gibt die Holding
als einzige Abwicklungseinheit der Gesamtgruppe sämtliche externen TLAC-Verbindlichkeiten aus. Sofern sich wesentliche
Teilkonzerne («material sub-groups») in der
Abwicklungsgruppe befinden, müssen diese eine hinreichende Menge an «interner
TLAC» – d. h. Verbindlichkeiten gegenüber
der Holding – halten. Bei einer Abwicklung
können dadurch die Verluste eines Teilkonzerns auf die Holding übertragen werden.
Dies geschieht durch ein konzerninternes
Bail-in. Es kommt also zu einer Art Schuldenerlass der Holding gegenüber dem Teilkonzern und zur Bündelung der Gesamtschulden auf oberster Konzernstufe.
Sieht die Abwicklungsplanung für eine
Grossbank hingegen vor, dass ein Bail-in
bei verschiedenen Einheiten des Gesamtkonzerns ansetzen soll, spricht man von einem «multiple point of entry» (siehe Kasten). Dies wirkt sich auch auf die Verteilung
der TLAC im Konzern aus: Jede der so entstehenden Abwicklungsgruppen muss
in diesem Fall die externen und internen
TLAC-Standards für ihre Gruppe erfüllen.
Suche nach geeigneten Käufern
Die internationale Einigung zur TLAC ist
gerade für die Schweiz ein Meilenstein. Die
Wunderwaffe TLAC wirft aber auch neue
Probleme auf: Wer soll diese neuartigen Anleihen im erforderlichen Umfang kaufen? So
Schweiz als Musterschülerin
Der Bundesrat will die internationalen
Vorgaben zur TLAC rasch in die Schweizer
Seraina Grünewald
Assistenzprofessorin für Finanzmarktrecht,
UFSP Finanzmarktregulierung, Universität
Zürich
Die Volkswirtschaft 3 / 2016 49
ALAMY
EINBLICK
Das Verbot von Verhütungsmitteln
in Manila
Viele arme Länder sehen sich mit einer Bevölkerungsexplosion konfrontiert. Diese ist auf weiterhin hohe Geburtenraten zurückzuführen, während die Sterberaten dank
den medizinischen Fortschritten und einer besseren Hygiene deutlich zurückgegangen sind. Für diese Entwicklung
der Geburtenraten gibt es mehrere Gründe: Selbst wenn
jede Frau weniger Kinder zur Welt bringt, bleibt der Anteil
der Geburten pro tausend Einwohner sehr hoch, wenn die
Bevölkerung insgesamt jung – d. h. im fortpflanzungsfähigen Alter – ist. Zu einer solchen Ausgangslage kommt es,
wenn die Geburtenrate die Sterberate übersteigt und so
dieses Phänomen aufrechterhält. Die Bevölkerung in den
Entwicklungsländern ist deutlich jünger als in den Indus­
trieländern: Ein Drittel der Einwohnerinnen und Einwohner ist weniger als 15 Jahre alt. Zudem ist die Geburtenkontrolle für viele Frauen schwierig. Entweder weil sie keinen
Zugang zu verlässlichen Verhütungsmethoden haben oder
weil ihr Ehemann jegliche Empfängnisverhütung ablehnt.
In armen Ländern haben Frauen im Durchschnitt ein Kind
mehr als gewünscht.
Trotzdem wird der Zugang zu Verhütungsmitteln in einigen
Ländern oder an bestimmten Orten eingeschränkt. So hat
in Manila, der Hauptstadt der Philippinen, der Stadtpräsident nach seiner Wahl 1998 beschlossen, die Abgabe von
empfängnisverhütenden Mitteln in den öffentlichen Gesundheitszentren zu verbieten. Während sich die Frauen
zuvor zu sehr tiefen Kosten die Pille oder Verhütungsimplantate beschaffen konnten, ist ihnen der Zugang zu den
gewünschten Verhütungsmitteln seither verwehrt.
Eine Einschränkung mit gravierenden Folgen
In einem Arbeitspapier1 haben wir kürzlich untersucht, wie
sich das Verbot von Verhütungsmitteln auf die Bildung der
Kinder auswirkt. Ein Vergleich zwischen Manila und den
Nachbargemeinden hat Folgendes ergeben: In der Hauptstadt, die einen höheren Entwicklungsstand aufweist als
der Rest des Landes, wurden vor der Einführung des Verbots mehr Verhütungsmittel benutzt als in den anderen
Gemeinden. Doch im Verlauf der Nullerjahre haben diese
Gemeinden ihren Rückstand gegenüber Manila aufgeholt.
Dies liegt daran, dass die Bewohnerinnen der Hauptstadt
Schwierigkeiten haben, sich Verhütungsmittel zu beschaffen. Die Geburtenzahl steigt an, vor allem bei den jüngsten
und somit fruchtbarsten Frauen. Dies hat sofortige Folgen:
Die Zunahme der Kinderzahl pro Frau geht mit einem Rückgang des Bildungsniveaus einher. Die geschätzte Wirkung
ist sogar verhältnismässig stark: Ein zusätzliches Kind erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass das älteste Geschwister
eine Klasse wiederholen muss, um 13 Prozent. Dies liegt
hauptsächlich daran, dass bei mehr Geschwistern weniger
Ressourcen pro Kind zur Verfügung stehen. Dabei geht es
nicht nur um die finanziellen Mittel, sondern auch um die
Zeit und die Aufmerksamkeit, die Eltern für ihre Kinder aufbringen können. Entsprechend verringern sich die Chancen
auf schulischen Erfolg: entweder weil die Eltern das Schulgeld nicht bezahlen können oder weil die Mutter nicht in der
Lage ist, den bereits eingeschulten Kindern zu helfen, da sie
von ihren jüngeren Kindern vereinnahmt wird. Eine solche
Politik wirkt sich somit negativ auf das Wohl der Frauen und
auf die Bildung ihrer Kinder aus. Längerfristig werden dadurch auch die Einkommen abnehmen. Und letztlich leiden
auch die menschliche Entwicklung und das wirtschaftliche
Wachstum unter diesem Verbot.
Die Forschungstätigkeit fortsetzen
Deshalb ist es von entscheidender Bedeutung, dass der Zugang zu Verhütungsmitteln ausgebaut wird und mehr Informationen zu den Methoden zur Verfügung stehen, die
optimal auf die Bedürfnisse der Frauen abgestimmt sind. In
meiner neuesten Forschung beschäftige ich mich mit dem
Zugang zu Verhütungsmitteln in Indien. Die Sterilisation bei
Frauen ist dort das häufigste Mittel zur Geburtenkontrolle.
Dies wirft grundlegende Fragen zu den Menschenrechten,
zur Gesundheit der Mütter und der Rolle des Staates auf.
Christelle Dumas
Professorin am Lehrstuhl für Entwicklungsökonomie und Wirtschafts­
geschichte, Universität Freiburg
1 Diese Arbeit wurde in Zusammenarbeit mit Arnaud Lefranc verfasst: Sex in Marriage Is a
Divine Gift: For Whom? Evidence from the Manila Contraceptive Ban, IZA Working Paper,
7503, 2013.
Die Volkswirtschaft 3 / 2016 51
STANDORTFAKTOREN
Exportunternehmen setzen auf Swissness
Unternehmen, die mit der Marke Schweiz werben, haben nur noch wenige Monate Zeit, sich
auf das sogenannte Swissness-Gesetz einzustellen. Dieses tritt Anfang 2017 in Kraft. Für viele
Exporteure ist die Werbung mit dem Schweizer Kreuz zentral. Ralph Lehmann, Manuel Heinzle,
Lukas Horrer, Kathrin Zogg
Abstract Anfang 2017 treten in der Schweiz ein revidiertes Wappenschutzgesetz und ein angepasstes Markenschutzgesetz in Kraft. Diese Gesetze regeln die Verwendung des Schweizer
Wappens und definieren Kriterien, die erfüllt werden müssen, um mit der Herkunftsbezeichnung Schweiz werben zu dürfen. Eine Studie der Hochschule für Technik und Wirtschaft Chur
hat untersucht, welche Bedeutung die Herkunftsbezeichnung für international tätige Schweizer Unternehmen hat, wie gut diese den Anforderungen der neuen Gesetzgebung entsprechen
und welche Unterstützung sie bei deren Umsetzung benötigen. Dabei zeigt sich: Während
Industrie- und Dienstleistungsunternehmen relativ gut aufgestellt sind, herrscht bei vielen
Lebensmittelherstellern noch Unklarheit, ob sie weiterhin mit der Marke Schweiz werben dürfen. Erstaunlich wenig betroffen vom Swissness-Gesetz scheinen innovative und technologie­
getriebene Firmen, da die Herkunftsangabe für sie eine untergeordnete Rolle spielt.
D ie Schweiz hat bei Konsumenten im
Ausland einen guten Ruf. Sie wird mit
Schokolade, Käse, Uhren, Banken und Bergen
assoziiert und steht für eine schöne Landschaft, hohe Lebensqualität, Zuverlässigkeit,
Vertrauenswürdigkeit und Sauberkeit.
Unternehmen nutzen dieses positive Image, indem sie den Begriff Schweiz
in ihren Namen einbauen. Sie integrieren
das Schweizer Kreuz in ihr Logo und wählen für ihre Marke Symbolbilder wie das
Matterhorn. Beispiele dafür sind die Fluggesellschaft Swiss, der Messerhersteller Victorinox und die Schokoladenmarke
Toblerone.
Ein solches Co-Branding zwischen
der Marke des Produktes und der Marke
Schweiz generiert einen Mehrwert, wenn
die Produkteigenschaften und die Merkmale der Marke Schweiz gut harmonieren.1 So sind ausländische Konsumenten
bereit, für Schweizer Schokolade einen
Aufpreis von nahezu einem Drittel zu zahlen. Bei Uhren erhöht die «Swissness» die
1 Bruhn, Schwarz und Batt (2011), S. 153.
Zahlungsbereitschaft um 43 Prozent, bei
Kosmetika um 14 Prozent und bei Computerzubehör um 7 Prozent im Vergleich zu
Produkten ohne Herkunftsangabe.2
Bei der internationalen Vermarktung
von Produkten spielt das Herkunftsland
eine bedeutende Rolle.3 Während Schweizer Unternehmen vor zehn Jahren noch befürchteten, als rückständig und provinziell
wahrgenommen zu werden, liegen Produkte mit der Herkunftsbezeichnung Schweiz
im Trend. So vervierfachte sich die Zahl der
beim Eidgenössischen Institut für Geistiges Eigentum (IGE) eingegangenen Neuanmeldungen von Marken mit dem Co-Brand
«Swiss» in der ersten Dekade des Jahrtausends auf rund 5700 im Jahr 2010.
Die Marke Schweiz wird aber nicht nur
genutzt, sie wird auch missbraucht. So
warb ein Kosmetikahersteller für seine
Produkte mit einer angeblichen Schweizer Herkunft, obwohl die zur Herstellung
verwendeten Rohstoffe aus dem Ausland
2 Feige et al. (2013), S. 42.
3 Pharr (2005), S. 34.
stammten und die Produkte in Frankreich
produziert wurden. Eine Bank bezeichnete sich als schweizerisch, obwohl sich der
Schweizer Anteil auf drei in der Schweiz
domizilierte Briefkastenfirmen und die Kapitalgeber beschränkte.4
Einheimische Rohstoffe verlangt
Solche Missbräuche waren der Anlass für
zwei parlamentarische Vorstösse zum
Schutz der Marke Schweiz im Jahr 2006.
Daraus resultierte zum einen das revidierte Wappenschutzgesetz, welches die
Verwendung des Schweizer Wappens und
anderer öffentlicher Zeichen regelt. Zum
andern hält das revidierte Markenschutzgesetz fest, wann ein Produkt oder eine
Dienstleistung mit der Herkunftsbezeichnung Schweiz werben darf.
So können Lebensmittel neu nur noch
dann mit dem Schweizer Kreuz versehen werden, wenn der wesentliche Produktionsschritt in der Schweiz stattfindet und die Rohstoffe zu mindestens 80
Prozent aus der Schweiz kommen.5 Industrieprodukte dürfen mit der Marke
Schweiz gekennzeichnet werden, wenn
die Herstellkosten zu 60 Prozent und der
wesentliche Produktionsschritt in der
Schweiz anfallen.6 Dienstleistungen können unter dem Schweizer Kreuz angeboten werden, wenn der Sitz und das Verwaltungszentrum des Unternehmens in
der Schweiz angesiedelt sind und die ge4 Feige et al. (2013), S. 73.
5 Ausnahmen für Milch und Rohstoffe, die in der Schweiz
nicht oder nicht in genügender Menge hergestellt werden.
6 Ausnahmen für Rohstoffe wie oben.
Studiendesign
Im Juni 2015 hat die Hochschule für
Technik und Wirtschaft Chur 199
international tätige Schweizer Unternehmen aus dem Mitgliederverzeichnis
von Switzerland Global Enterprise
befragt. 15 Prozent der Unternehmen
können als gross, ein Drittel als mittel
und über die Hälfte als klein eingestuft
52 Die Volkswirtschaft 3 / 2016
werden. 52 Prozent der befragten
Firmen stammen aus dem industriellen
Sektor, 23 Prozent aus dem tertiären,
13 Prozent aus dem Lebensmittelbereich und 12 Prozent aus anderen
Wirtschaftsbereichen. Die Unternehmen erhielten einen elektronischen
Fragebogen, welcher in einem ersten
Teil Fragen zur Grösse, zur Branche
und zum Innovationsgrad (gemessen
als Umsatzanteil von Produkten, die
jünger als drei Jahre sind) enthielt. Im
zweiten Teil wurden sie aufgefordert,
anzugeben, ob und allenfalls in welcher
Form sie «Swissness» im Marketing
verwenden. Im dritten Teil mussten die
Firmen einschätzen, inwieweit sie die
vom Swissness-Gesetz vorgegebenen
Anforderungen erfüllen. Im letzten Teil
des Fragebogens gaben die Unternehmen an, wie gut sie sich über die neue
Gesetzgebung informiert fühlen und
welche Art von Unterstützung sie für
deren Umsetzung benötigen.
STANDORTFAKTOREN
KEYSTONE
Das Matterhorn steht für die Schweiz: Unter­
nehmen wie die Fluggesellschaft Swiss setzen
bei der Werbung auf diese Symbolik.
Die Volkswirtschaft 3 / 2016 53
STANDORTFAKTOREN
schäftsführende Person einen Schweizer
Pass oder Wohnsitz hat.
Das revidierte Marken- und Wappenschutzgesetz wurde vom Parlament im
Juni 2013 verabschiedet und tritt Anfang
2017 in Kraft. Für international tätige
Schweizer Unternehmen verändern sich
dadurch die Rahmenbedingungen massgeblich. So müssen sie prüfen, inwieweit
sie die neuen Bedingungen des Swissness-Gesetzes erfüllen und welche Veränderungen im Rahmen von Einkauf und
Produktion nötig werden.
organisation Switzerland Global Enterprise
untersucht, welche Bedeutung die Herkunftsbezeichnung für international tätige
Schweizer Unternehmen hat. Die Unternehmen wurden befragt, ob ihre Produkte den
Anforderungen des Swissness-­
Gesetzes
genügen und ob sie Unterstützung bei der
Umsetzung der Gesetzgebung benötigen
(zum Design der Studie siehe Kasten).
Dabei zeigt sich: 72 Prozent der befragten
Unternehmen verwenden die Herkunftsbezeichnung im Marketing. Die grösste Bedeutung scheint «Swissness» bei den Lebensmitteln zu haben, wo 83 Prozent der
Unternehmen angaben, dass sie darauf
hinweisen. Im industriellen Sektor tun dies
74 Prozent und im Bereich der Dienstleistungen 56 Prozent (siehe Abbildung 1).
Swissness im Marketing beliebt
Die Hochschule für Technik und Wirtschaft
Chur hat im Auftrag der Exportförderungs-
Abb. 1: Unternehmen, die Swissness im Marketing verwenden
Dienstleistungen
HTW CHUR / DIE VOLKSWIRTSCHAFT
Lebensmittel
Industrieprodukte
0
10
20
30
40
50
60
70
80
90
In %
Ja Nein Anzahl befragte Unternehmen = 197
Abb. 2: Erfüllung der Swissness-Kriterien in der Industrie
HTW CHUR / DIE VOLKSWIRTSCHAFT
Herstellungskosten
mind. 60 Prozent in der Schweiz
wesentlicher Produktionsschritt
in der Schweiz
0
10
20
30
40
In %
50
60
70
80
90
Swissness wird von den meisten Unternehmen verbal und bildhaft hergestellt:
Der Begriff Schweiz erscheint im Namen
oder in Slogans und wird durch die Abbildung des Schweizer Kreuzes oder durch
Bilder, die einen Bezug zur Schweiz aufweisen, zusätzlich verstärkt.
Die Möglichkeit zur Auszeichnung einzelner Wertaktivitäten als schweizerisch
(«designed in Switzerland» usw.) wird von
den Firmen jedoch kaum genutzt. Lediglich 5 Prozent der Industrie- und 13 Prozent
der Dienstleistungsunternehmen gaben an,
eine solche Kennzeichnung zu verwenden.
Mehr als jedes vierte Unternehmen verzichtet auf eine Herkunftsbezeichnung.
Als Gründe dafür gaben die Befragten
an, Swissness stelle keinen Mehrwert dar
(15%) oder die Produkte würden nicht in
der Schweiz hergestellt (31%).
Zusätzlich zeigen die Analysen, dass
der Bezug zur Schweiz für innovative Unternehmen eine signifikant kleinere Bedeutung aufweist und seltener verwendet
wird als für weniger innovative Betriebe.
Dies deckt sich mit dem Ergebnis einer
Studie der Universität St. Gallen und des
Beratungsunternehmens HTP zur Marke
Schweiz, wonach das Land von Konsumenten bezüglich Technologie und Innovation
nicht als führend wahrgenommen wird.7
Industrie- und Dienstleistungs­
unternehmen gut unterwegs
Die Branchen sind unterschiedlich auf die
Gesetzesänderung vorbereitet. In der Lebensmittelsparte erfüllen nur 17 Prozent
der befragten Unternehmen die Anforderung, dass mindestens 80 Prozent der verwendeten Rohstoffe aus der Schweiz stammen. Das Kriterium, dass der wesentliche
Produktionsschritt in der Schweiz stattfindet, halten dagegen fast alle (96%) ein.
In der Industrie erfüllen 72 Prozent das
Kriterium bezüglich der Herstellungskosten.
Den Swissness-Vorschriften zur Produktion
kommen 82 Prozent der befragten Industriefirmen nach (siehe Abbildung 2). Dabei
zeigt sich: Kleine und mittlere Unternehmen
erfüllen diese Vorgaben deutlich besser als
Grossunternehmen. Dienstleistungsbetriebe scheinen den Anforderungen am besten zu genügen: 93 Prozent der befragten
Dienstleister haben den Firmensitz und das
Verwaltungszentrum in der Schweiz.
Eine Mehrheit der befragten Firmen
hat zwar eine Vorstellung davon, was An-
Ja Nein Anzahl befragte Unternehmen = 118
54 Die Volkswirtschaft 3 / 2016
7 Feige et al. (2013), S. 14.
STANDORTFAKTOREN
Abb. 3: Informationsstand der Unter­
nehmen bezüglich des Swissness-­
Gesetzes
2 %
19 %
HTW CHUR / DIE VOLKSWIRTSCHAFT
31 %
48 %
sehr gut gut genügend ungenügend KEYSTONE
Anzahl befragte Unternehmen = 182
Für die Lebensmittelbranche ist der Schweizbezug besonders wichtig. Toblerone-Fabrik in Bern.
fang 2017 auf sie zukommt. Der Informationsstand könnte aber besser sein: Lediglich 2 Prozent der befragten Firmen geben
an, sehr gut orientiert zu sein (siehe Abbildung 3). 46 Prozent der Unternehmen benötigen bei der Umsetzung Unterstützung. Dabei wünscht mehr als die Hälfte
aller Befragten eine Beratung durch Experten, ein Fünftel bevorzugt einen vermehrten Austausch mit anderen Unternehmen
innerhalb der gleichen Branche, 10 Prozent möchten eine Hotline, wo sie Fragen
zum Swissness-Gesetz stellen können, und
2 Prozent erhoffen sich Musterdokumente,
die ihnen bei der Analyse des Erfüllungsgrades des Swissness-Gesetzes helfen.
Lebensmittelhersteller vor
grossen Herausforderungen
Insgesamt zeigt die Studie: Swissness hat
für international tätige Schweizer Unternehmen eine grosse Bedeutung. In ausländischen Märkten scheint das positive
Image der Schweiz die Wertschätzung der
Produkte zu erhöhen. Einzig innovative und
technologieorientierte Unternehmen vermögen weniger vom Schweizer Image zu
profitieren, da die Schweiz im Vergleich zu
anderen Industrieländern – trotz entgegengesetzten Experteneinschätzungen8 – von
Konsumenten als weniger innovativ eingestuft wird. Der Grund dafür könnte darin
liegen, dass innovative, forschungsintensive Schweizer Unternehmen beispielsweise aus der Pharmabranche ihre Schweizer
Herkunft nicht betonen.9 Einschränkend
muss jedoch angemerkt werden: Der Innovationsgrad wurde durch den Umsatzanteil
von Produkten mit einer Lebensdauer von
weniger als drei Jahren gemessen. Dieses
Kriterium repräsentiert die Innovativität
von Unternehmen in Branchen mit längeren
Produktlebenszyklen nicht optimal.
Die grösste Herausforderung aus der
Swissness-Gesetzgebung scheint für die
Hersteller von Lebensmitteln zu entstehen, da viele von ihnen die Rohstoffanforderungen des Gesetzes nicht erfüllen.
Die Unternehmen müssen prüfen, inwieweit die Ausnahmeregelungen bezüglich
der Herkunft von Rohstoffen für sie relevant sind und welche Anpassungen im Bereich der Beschaffung und Produktion nötig werden.
8 Schwab und Sala-i-Martin (2014).
9 Feige et al. (2013), S. 14.
Angesichts der hohen Bedeutung der
Herkunftsbezeichnung und des baldigen
Inkrafttretens der Gesetzgebung ist der
Informationsstand der international tätigen Schweizer Unternehmen relativ tief.
Es scheint deshalb wichtig, dass die Unternehmen differenziert über die neue
Gesetzgebung orientiert werden und Erfahrungen austauschen können. Nützlich
wären zudem Instrumente zur Einschätzung des unternehmensspezifischen Erfüllungsgrades der neuen Gesetzgebung
und Methoden zur Anpassung der Wertschöpfungskette im Sinne eines ökonomisch bewussten Entscheides für oder gegen Swissness.
Ralph Lehmann
Professor für International Business, Hochschule für Technik und Wirtschaft Chur
Manuel Heinzle
Master-Student Business Administration,
Hochschule für Technik und Wirtschaft
Chur
Lukas Horrer
Master-Student Business Administration,
Hochschule für Technik und Wirtschaft
Chur
Kathrin Zogg
Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Hochschule für Technik und Wirtschaft Chur
Literatur
Bruhn M., Schwarz J., Batt, V. (2011). Swissness als
Erfolgsfaktor, in: Die Unternehmung, 2011 (2).
Feige, S., Fischer, P., von Matt, D., Reinecke S. (2013).
Swissness Worldwide 2013: Image und internationaler
Mehrwert der Marke Schweiz, St. Gallen.
Pharr J. (2005), Synthesizing Country of Origin
Research from the Last Decade (2005). In: Journal of
Marketing Theory and Practice, 2005 (Vol. 13, Issue 4).
Schwab K., Sala-i-Martin X. (2014). The Global
Competi­tiveness Report 2014 – 2015, Geneva.
Die Volkswirtschaft 3 / 2016 55
FINANZMÄRKTE
Die Kapitalmarktunion: Ein Paradigmenwechsel in der EU soll Wachstum bringen
Mit der Integration der nationalen Kapitalmärkte will die EU den Grundstein für eine neue
Wachstumspolitik legen. Für den Erfolg des Projekts braucht es allerdings den Willen zu Veränderung bei den politischen Institutionen und den Marktteilnehmern. Auch die Schweiz könnte
von einem EU-Kapitalmarkt profitieren. Aline Jörg, Lea Hungerbühler
Abstract Die Kapitalmärkte in den EU-Mitgliedstaaten sind stark fragmentiert und spielen bei
der Unternehmensfinanzierung eine weit geringere Rolle als Bankkredite. Während der Finanz­
krise 2008 vermochten sie daher die rückläufigen Investitionen der Banken nicht zu kompensieren. Um das Wachstum zu fördern und dazu nötiges Kapital zu mobilisieren, lancierte die
EU-Kommission das Vorhaben der Kapitalmarktunion. Tiefere, stärker integrierte Kapitalmärkte sollen die Bankenfinanzierung ergänzen und mehr Investitionen ermöglichen. Dadurch
vergrössert sich das Angebot für Kreditsuchende, und Kreditklemmen wird entgegengewirkt.
Anders als die regulatorische Erstreaktion auf die Finanzkrise strebt die Kapitalmarktunion
die Eliminierung unnötiger regulatorischer Belastungen an. Der Erfolg der Kapitalmarkt­
union hängt schliesslich entscheidend davon ab, ob das Projekt in den Mitgliedstaaten und bei
Marktteilnehmern Anklang findet. Aufgrund der wirtschaftlichen Verflechtung ist anzunehmen, dass auch die Schweiz davon profitiert.
D ie Finanzkrise 2008 hat die EU mit voller Wucht erfasst. Das Wachstum wurde gebremst, die Stabilität des Bankwesens infrage gestellt, und die Finanzierung
der Wirtschaft geriet ins Stocken. Die ersten gesetzgeberischen Reaktionen auf die
Finanz- und Wirtschaftskrise fokussierten
primär auf Systemstabilität und Anlegerschutz. Diese fanden ihren Ausdruck in zahlreichen neuen Regulierungen, so auch in der
EU. Mitte 2014 legte die Kommission mit der
Investitionsoffensive demgegenüber Massnahmen vor, welche nicht regulatorische
Aktivitäten, sondern die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit und des Wachstums in
der EU zum Ziel haben. Teil dieses Massnahmenpakets ist die Kapitalmarktunion, welche eine Vertiefung und Integration der Kapitalmärkte in der EU anstrebt und so einen
weiteren Schritt zur Vollendung der Wirtschaftsunion darstellt.
Als Vorbild fungieren die USA: Der
US-Kapitalmarkt ist trotz vergleichbarer Grösse der Volkswirtschaften rund
doppelt so gross wie jener der EU. Während in der EU die Finanzierung von KMU
heute zu 75 Prozent durch Bankkredite1
sicher­gestellt wird, ist die Kapitalmarkt­
finanzierung eher von untergeordneter
Bedeutung.2 Dadurch entsteht eine hohe
Abhängigkeit von Bankkrediten, was im
Krisenfall zu Finanzierungsengpässen, sogenannten Kreditklemmen, führen kann.
Um dem entgegenzuwirken, sollen die gegenwärtig unterentwickelten Märkte für
Eigenkapital und Anleihen in der EU belebt
werden.
Angestrebt wird ein optimales Zusammenspiel von Bankfinanzierungen und einem starken, integrierten Kapitalmarkt.
Dies soll Kapital mobilisieren sowie die
­Risiken auf verschiedene Träger verteilen
und in Krisenzeiten helfen, das Risiko abzufedern. Dadurch sollen zukünftige Bankenkrisen in der EU keine derart massiven
Auswirkungen mehr auf die Realwirtschaft
zeitigen, und das Wachstum soll weder
durch Kreditklemmen noch durch natio­
nale Grenzen im Kapitalmarkt eingeschränkt werden.
1 Siehe den Aktionsplan zur Schaffung einer Kapitalmarktunion vom 30. September 2015, S. 7.
2 Dabei gibt es grosse Unterschiede zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten.
56 Die Volkswirtschaft 3 / 2016
Kapitalmarktzugang
für KMU fördern
Im Herbst 2015 publizierte die Kommission
einen Aktionsplan zur Kapitalmarktunion,
welcher konkrete Massnahmen vorschlägt
und Berichte sowie Konsultationen in Aus-
sicht stellt. Da die KMU über die Hälfte der
Wertschöpfung im EU-Raum erwirtschaften3 und Start-ups als Wachstums- und
Innovationstreiber schlechthin gelten, legt
der Plan einen besonderen Fokus auf die
Finanzierung für Innovation, Start-ups und
nicht börsennotierte Unternehmen. Die
Anpassung verschiedener Verordnungen4
soll die grenzüberschreitende Finanzierung
von KMU und Start-ups vereinfachen und
so entsprechende Investitionen auch für
private Sparer attraktiv machen.
Weitere Massnahmen sieht die Kommission für kapitalsuchende Unternehmen
vor, um den Gang an die Kapital­märkte
zu erleichtern und die Abhängigkeit von
Bankkrediten zu reduzieren. Neben hohen
Notierungsgebühren von bis zu 15 Prozent
des Emissionswertes halten momentan
vor allem regulatorische Vorgaben die Unternehmen in der EU davon ab, sich über
den Kapitalmarkt zu finanzieren.5 Durch
niedrigere Anforderungen an die Prospekte, welche über Art und Risiko von Wertpapieren informieren, sollen KMU kostengünstigeren Zugang zum Kapitalmarkt
erhalten.
Ein weiterer Schwerpunkt ist die Förderung langfristiger und nachhaltiger
Investitionen, insbesondere Infrastrukturinvestitionen. Dafür plant die Kommission eine eigene Anlageklasse, bei
welcher eine geringere Eigenkapitaldeckung für Versicherer zulässig sein soll.
Zudem soll die im Dezember 2015 in Kraft
getretene Verordnung über europäische langfristige Investmentfonds6 neue
Möglichkeiten eröffnen, um grenzüber3 Europäische Kommission (2014). Annual Report on
European SMEs 2014/2015, S. 10.
4 Verordnung (EU) Nr. 345/2013 vom 17. April 2013 über
europäische Risikokapitalfonds (EuVECA); Verordnung
(EU) Nr. 346/2013 vom 17. April 2013 über Europäische
Fonds für soziales Unternehmertum (EuSEF).
5 European IPO Task Force, EU IPO Report, 23. März 2015,
S. 30.
6 Verordnung (EU) 2015/760 vom 29. April 2015 über
europäische langfristige Investmentfonds (ELTIF).
FINANZMÄRKTE
schreitend in Infrastrukturprojekte zu investieren.
Zur Mobilisierung von Kapital möchte die
Kommission die Anlagetätigkeit von Kleinanlegern und institutionellen Anlegern fördern. Besonders für Kleinanleger werden erhöhte Transparenz und besser verständliche
Informationen über Investitionen an Kapitalmärkten angestrebt. Im Bereich der institutionellen Anleger sieht der Aktionsplan die
Förderung von langfristigen Investitionen
und KMU-Finanzierungen vor. Ausserdem
sollen Onlinedienstleistungen zu einer zusätzlichen Kapitalmobilisierung führen. Die
Kommission hat zu dieser Thematik Ende
2015 eine Konsultation eröffnet.
Auch die Banken werden vom Aktionsplan erfasst. Der Kapitalmarkt soll zwar
parallel zur Bankenfinanzierung gefördert
werden, diesen aber nicht verdrängen. So
setzt mehr Kapital bei den Unternehmen
auch neue Kapazitäten für die Fremdkapitalfinanzierung frei, welche durch die Banken gewährt werden kann. Für die Kapitalmobilisierung soll zudem die Verbriefung
als Risikotransferinstrument dienen: Standardisierte Verbriefungsprodukte sollen
das Vertrauen der Investoren fördern, den
Verwaltungsaufwand reduzieren und die
Bankbilanzen entlasten. Auch eine Anpassung der Eigenkapitalanforderungen für
Banken wird dafür diskutiert.
Die Kapitalmärkte in den EU-Mitgliedstaaten sind heute weitgehend lokal ausgerichtet. Um grenzüberschreitende
Investitionen anzukurbeln, soll dieser sogenannte Home Bias überwunden werden. Dazu überprüft die Kommission die
Regulierungskonvergenz innerhalb der EU,
schlägt Massnahmen zur Erhöhung der
Rechtssicherheit bei grenzüberschreitenden Verbriefungsgeschäften und Forderungsabtretungen vor und erwägt Harmonisierungen im Steuer- und Insolvenzrecht.
Im Steuerkontext wird in erster Linie die
steuerliche Bevorzugung des Fremd­
kapitals gegenüber dem Eigen­kapital hin-
KEYSTONE
Investitionen ankurbeln
Händler in Frankfurt: Unternehmen in der EU
sollen sich einfacher Geld auf dem Kapitalmarkt beschaffen können.
terfragt. Aufgrund der häufigen Doppelbesteuerung innerhalb der EU und der
Schwierigkeiten bei der Rückforderung
zieht die Kommission zudem Erleichterungen bei der Quellensteuer in Erwägung.
Grössere Wahlmöglichkeit
und mehr Wettbewerb
Während die erste Reaktion der EU auf die
Finanzkrise in einer eigentlichen Regulierungswelle resultierte, geht der Aktionsplan in die entgegengesetzte Richtung. So
sieht dieser eine weitgehende Überprüfung der bereits erlassenen Rechtsakte auf
Widersprüchlichkeiten und unnötige regulatorische Belastungen, die sich langfristig
negativ auf Investitionen und Wachstum
niederschlagen, vor.
Der Aktionsplan umfasst die verschiedenen Wachstumsphasen eines Unternehmens: vom Start-up über die Expansionsphase bis hin zum etablierten
Grossunternehmen. Dieser ganzhei­
tliche Ansatz scheint zielführend, da er
den Investoren eine grosse Wahlmöglichkeit zwischen unterschiedlichen Risiko-­
Rendite-Konstellationen bietet. Auch die
Marktintegration erweitert mittels grenz­
überschreitender Geschäfte das Anlagespektrum. Die Massnahmen vergrössern zudem das Angebot auf der Seite
der Kapitalgeber, was mehr Wettbewerb
unter diesen und damit tiefere Finanzierungspreise nach sich ziehen könnte. Eine
grössere Auswahl auf beiden Marktseiten
führt in einem funktionierenden Markt
zu einer effizienteren Ressourcenallokation. Ausserdem verteilt die breitere Angebotspalette die Risiken auf verschiedene
Schultern.
Die Kapitalmarktunion
birgt auch Risiken
Diese Risikostreuung birgt aber auch Gefahren: Risiken werden nicht mehr lokal
getragen – wo sie womöglich besser eingeschätzt werden können –, sondern über
Auch die Schweiz kann profitieren
Auch hierzulande hat der Kapitalmarkt
eine geringere Bedeutung als die Bankenfinanzierung. Aufgrund der engen
wirtschaftlichen Verflechtung zwischen
der Schweiz und der EU ist anzunehmen,
dass auch die Schweiz von einem vertieften EU-Kapitalmarkt profitieren wird.
Kooperationen mit Drittstaaten sind im
Aktionsplan nur am Rande erwähnt: Zur
Stärkung der Integration der Kapitalmärkte soll die Kommission mit wichtigen
Drittländern einen Rahmen für die regulatorische Zusammenarbeit im Bereich der
Finanzdienstleistungen ausarbeiten.a
Aufgrund der Globalität der Finanzmärkte ist ein Blick über die EU-Grenzen
hinweg für den Erfolg der Kapitalmarkt­
union essenziell. Gerade die Schweiz
als wichtiger Standort für Wealth- und
Asset-Management hätte das Potenzial und die Mittel, um massgeblich
zur Finan­zierung der europäischen
Wirtschaft beizutragen. Die regulatorischen Entwicklungen in der EU werden
von der Schweiz verfolgt, um allfälligen
Handlungsbedarf zur Wahrung der
Wettbewerbsfähigkeit oder zur Verbesserung der Marktzutrittsbedingungen
rechtzeitig zu erkennen.
a Aktionsplan zur Schaffung einer Kapitalmarktunion vom 30. September 2015, S. 31.
Die Volkswirtschaft 3 / 2016 57
FINANZMÄRKTE
den gesamten EU-Raum verteilt. Gleichzeitig bringt die zunehmende Vernetzung
in Krisen eine erhöhte Ansteckungsgefahr
mit sich. Bei der Förderung innovativer
Finan­zierungsformen und den geplanten
Massnahmen zur Erleichterung des Kapital­
marktzugangs durch eine Reduktion des
Kosten- und Verwaltungsaufwands ist es
von grosser Bedeutung, dass auch Aspekte des Anlegerschutzes Beachtung finden.
Durch gewisse Vorhaben der Kommission
ist eine Verschiebung typischer Banken­
tätigkeiten vom regulierten Banken- in den
nicht regulierten Schattenbankenbereich
möglich, womit systemische Gefahren und
Anlegerschutzfragen verbunden sind.
Ein weiteres Spannungsfeld betrifft die
Eigenkapitalanforderungen von Banken
und Versicherungen. So ist beim vorgesehenen Ausbau von Bankfinanzierungen
und der Förderung von Infrastruktur­
finanzierungen durch Versicherungen den
Bedenken hinsichtlich einer genügenden
Eigenkapitalausstattung Rechnung zu tragen. Beim Verbriefungsmarkt ist schliesslich zu beachten, dass Verbriefungen je
nach Ausgestaltung auch Gefahren mit
sich bringen können, wie die Finanzkrise
2008 eindrücklich zeigte. Diese sind bei
der Ausgestaltung der Regulierung nicht
ausser Acht zu lassen – eine Vertiefung
der Kapitalmärkte darf nicht über die Gefahr möglicher neuer systemischer Risiken
hinwegtäuschen.
Als grösste Hürde für einen einheitlichen Kapitalmarkt werden schliesslich regelmässig die nationalstaatlich geprägten Steuerregime angesehen.7 Wenngleich
die Kommission diese Problematik erkannt
hat, ist eine zeitnahe Verbesserung der Situation kaum möglich, da die Besteuerungskompetenz weiterhin bei den einzelnen Mitgliedstaaten liegt. Die Kommission
kann somit lediglich Anregungen geben,
deren Umsetzung liegt aber im Belieben
der einzelnen Mitgliedstaaten.
7 CFA Institute, Capital Markets Union Survey Report,
April 2014, S. 5 ff.
58 Die Volkswirtschaft 3 / 2016
Ob die Ausrichtung am Vorbild der
USA mit einem international angelegten
Kapital­markt zielführend ist, wird sich weisen müssen: So verfügen in der EU beispielsweise gegenwärtig die Banken vor
Ort, nicht aber andere Kapitalgeber über
die notwendige Expertise, um die Finanzierung lokaler KMU zu gewährleisten. Ausserdem gelten europäische Anleger als
risikoaverser, wodurch eine Kopie des amerikanischen Kapitalmarktmodells nur in beschränktem Masse als aussichtsreich erscheint.
Der Erfolg hängt von
den Akteuren ab
Zusammengefasst stellt die Kapitalmarkt­
union einen Paradigmenwechsel in der
EU-Finanzmarktregulierung dar, wenngleich kritisiert wird, dass das Bestreben
noch zu wenig konkrete Aktionen vorsehe.
Der Hauptfokus wechselt von weitgreifenden Regulierungen in den Bereichen
Anlegerschutz und Systemstabilität hin zu
einem Integrationsprojekt, bei welchem
das Wirtschaftswachstum im Vordergrund
steht. Die Balance zwischen diesen sich
teilweise widersprechenden, teilweise aber
auch ergänzenden Zielen zu finden, wird für
die EU eine grosse Herausforderung sein.
Die Komplementarität des Kapitalmarktes zur Bankenfinanzierung sollte als Chance wahrgenommen werden, ohne aber dazu
zu führen, dass Banktätigkeiten in hohem
Ausmass in den nicht regulierten Schattenbankenbereich verschoben werden.
Eine Vereinheitlichung und Vertiefung
des Kapitalmarktes dürfte sich als schwierig erweisen, wenn zentrale Aspekte wie
das Steuer- und Konkursrecht nicht in der
ganzen EU harmonisiert werden können.
Damit wird der Erfolg der Kapitalmarktunion zu einem beträchtlichen Teil von den
Harmonisierungsmöglichkeiten im national geprägten Wirtschaftsrecht und der
Bereitschaft der EU-Mitgliedstaaten zu
entsprechenden Anpassungen abhängen.
Zudem wird das Verhalten der Marktteil-
nehmer ein wichtiger Erfolgsfaktor sein,
um beispielsweise das Vertrauen der Anleger wiederherzustellen.
Die Kapitalmarktunion ist ein langfristiges Vorhaben mit einer Vielzahl involvierter Akteure, deren Massnahmen
noch nicht vollends feststehen, sondern
in der Entwicklung begriffen sind. Der
Erfolg der Kapitalmarktunion wird sich
dann einstellen, wenn es gelingt, sämtliche EU-Mitglieder sowie die wichtigen
Partnerstaaten und Finanzmarktakteure in den Prozess mit einzubeziehen und
das richtige Gleichgewicht zwischen Banken- und Kapitalmarktfinanzierung sowie
zwischen Anlegerschutz und administrativen Erleichterungen zu finden. Wenngleich eine abschliessende Prognose, ob
die Kapitalmarktunion tatsächlich zu einer
Steigerung von Investitionen und Wachstum führen wird, zum jetzigen Zeitpunkt
kaum möglich ist, kann das Projekt als zielgerichteter Ansatz gewertet werden, um
europaweit einen integrierten, tieferen
­Finanzmarkt hervorzubringen.
Aline Jörg
Sektion Finanzmarktbeziehungen, Staatssekretariat für internationale Finanzfragen
(SIF), Bern
Lea Hungerbühler
Sektion Finanzmarktbeziehungen, Staatssekretariat für internationale Finanzfragen
(SIF), Bern
Mit Kontrollen zur
Lohngleichheit
Die in der Verfassung festgeschriebene Lohngleichheit zwischen Mann
und Frau ist in der Schweiz nicht immer gewährleistet. So sind gemäss
dem Bundesamt für Statistik rund 40 Prozent der Lohndifferenz zwischen
Frauen und Männern nicht durch Faktoren wie etwa Alter oder
Ausbildung erklärbar. Nachdem der freiwillige Lohngleichheitsdialog
nicht die gewünschte Resonanz gezeigt hat, geht der Bundesrat im Entwurf zur Änderung des Gleichstellungsgesetzes deshalb einen
Schritt weiter: Er will grosse Unternehmen mit mehr als 50 Mitarbeitenden gesetzlich dazu verpflichten, regelmässig die Lohngleichheit im
Betrieb zu analysieren. Doch wie lässt sich Lohndiskriminierung feststellen? Und wie muss die Regulierung aus betrieblicher und
volkswirtschaftlicher Perspektive beurteilt werden?
Die Studien im Dossier geben Antworten auf diese Fragen. Sie zeigen
auch, dass viele Unternehmen Lohnanalysen als grundsätzlich sinnvoll
beurteilen.
CORBIS
DOSSIER
LOHNGLEICHHEIT
Ein neuer Anlauf zur Herstellung der Lohngleichheit
Die bisherigen Versuche, die Lohngleichheit zwischen den Geschlechtern herzustellen, blieben
erfolglos. Der Entwurf zur Änderung des Gleichstellungsgesetzes sieht nun für grössere Unternehmen verbindliche Lohnanalysen vor. Doch bei der Umsetzung lässt der Bundesrat den
Unternehmen viele Freiheiten. Marc Schinzel
eit 1981 hält die Bundesverfassung fest,
dass Mann und Frau für gleichwertige
Arbeit gleich zu entlöhnen sind.1 Am 1. Juli
1996 trat zudem das Bundesgesetz über die
Gleichstellung von Frau und Mann (Gleichstellungsgesetz, GlG) in Kraft. Dieses untersagt geschlechterbezogene Diskriminierungen im Erwerbsleben, insbesondere bei den
Löhnen.
2006 wurde das Gleichstellungsgesetz evaluiert. Es zeigte sich, dass die
Lohngleichheitsklagen zwar deutlich zugenommen hatten.2 Trotzdem hielten
die Angst vor Arbeitsplatzverlust und die
schwierige Informationsbeschaffung aber
noch immer viele Arbeitnehmende davon
ab, sich gegen vermutete Lohndiskriminierungen zur Wehr zu setzen. Der Bundesrat
hielt deshalb fest, dass sich die Gleichstellung im Erwerbsleben mit dem geltenden
Gesetz nicht erreichen lässt.3
2009 lancierten die Sozialpartner mithilfe des Bundes das Projekt «Lohngleichheitsdialog». Mittels freiwilliger Lohnanalysen sollte die Lohndiskriminierung
von Frauen in ihren Unternehmen möglichst rasch beseitigt werden. Der freiwillige Ansatz war indes nicht erfolgreich:
Mit 51 Unternehmen blieb die Teilnahme
hinter den Erwartungen von mindestens
100 Unternehmen deutlich zurück. Fast
die Hälfte der Teilnehmer waren überdies
staatliche oder staatsnahe Betriebe. Die
Projektevaluation ergab, dass der freiwillige Lohngleichheitsdialog zur Verwirklichung der Lohngleichheit nicht genügte.4
Als Reaktion darauf beschloss der Bundesrat im Oktober 2014, mit zusätzlichen
staatlichen Mitteln für eine Verwirkli1 Siehe Artikel 8, Absatz 3 der Bundesverfassung.
2 Vor Inkrafttreten des Gleichstellungsgesetzes gab es auf
der Basis des Lohngleichheitsartikels in der Bundesverfassung etwa 15 Lohngleichheitsklagen, in den ersten
zehn Jahren des Gleichstellungsgesetzes dagegen 153
Gerichtsentscheide zur Lohngleichheit.
3 Bericht des Bundesrates vom 15.02.2006 über die
Evaluation der Wirksamkeit des Gleichstellungsge­
setzes: Abrufbar unter www.admin.ch.
4 Der Lohngleichheitsdialog. Ein Projekt der Sozialpartner
und des Bundes. Bericht vom 30.06.2014 zuhanden der
Trägerschaft des Lohngleichheitsdialogs. Abrufbar unter
www.bj.admin.ch.
60 Die Volkswirtschaft 3 / 2016
KEYSTONE
S Der Bundesrat will Lohnkontrollen für
Unternehmen mit mehr als 50 Mitarbeitern
einführen. Davon wäre beispielsweise auch
die Post betroffen.
chung der Lohngleichheit zwischen Frau
und Mann zu sorgen. Denn auch über
dreissig Jahre nach der Einführung des
Verfassungsanspruchs auf gleiche Entlöhnung zeigt die Lohnstrukturerhebung
2012 des Bundesamtes für Statistik deutlich tiefere Frauenlöhne: So liegen die
Löhne von Frauen in der Privatwirtschaft
durchschnittlich um 21,3 Prozent und im
öffentlichen Sektor um 16,5 Prozent tiefer. Von dieser Lohndifferenz sind in der
Privatwirtschaft 40,9 Prozent nicht erklärbar.5 Diese potenzielle Lohndiskriminierung entspricht rund 8,7 Prozent oder 678
Franken eines durchschnittlichen Männerlohns.
5 Als objektive Gründe für Lohnunterschiede gelten
persönliche Merkmale wie Alter, Ausbildung und Dienstjahre oder mit der Art der Arbeitsstelle im Unternehmen
und der ausgeübten Tätigkeit zusammenhängende
Kriterien.
Lohnanalysen sollen
zur Pflicht werden
Der im November 2015 vom Bundesrat in
die Vernehmlassung geschickte Entwurf
zur Änderung des Gleichstellungsgesetzes
(VE GlG) setzt weiterhin auf eine möglichst
grosse Eigenverantwortung der Unternehmen. Das Kernelement des Entwurfs ist die
Pflicht von Arbeitgebern6, alle vier Jahre eine
Lohnanalyse durchzuführen. Diese Pflicht
gilt aber nur für Unternehmen mit 50 oder
mehr Mitarbeitenden und mit mindestens
10 Beschäftigten beider Geschlechter. Diese Kriterien dienen dazu, statistisch relevante Ergebnisse aus der Lohngleichheitsanalyse zu erhalten. Sie entsprechen dem
Standard-Analysemodell des Bundes und
der auf dieser Grundlage entwickelten Datenanalysesoftware namens Logib, welche
der Bund den Unternehmen für die Lohn6 Aus Gründen der einfacheren Lesbarkeit wird im
Folgenden für beide Geschlechter die männliche Form
verwendet.
DOSSIER
analyse gratis zur Verfügung stellt. Auch
wenn sich die Pflicht zur Lohnanalyse nicht
auf sie erstreckt, müssen auch Arbeitgeber mit weniger als 50 Mitarbeitenden die
Lohngleichheit einhalten.
Gemäss Entwurf sind nur anerkannte
Analysemethoden zugelassen. Der Bundesrat legt nach Anhörung der Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände die
Anerkennungskriterien für diese Analysemethoden fest und veröffentlicht diese in
einer Liste. So wird garantiert, dass die zugelassenen Methoden wissenschaftlichen
Ansprüchen genügen.
Viele Freiheiten bei der Prüfung
Dem Obligationenrecht unterstehende Arbeitgeber, die zur Analyse ihrer Löhne verpflichtet sind, müssen diese von einer externen Kontrollstelle überprüfen lassen. Bei
öffentlich-rechtlichen Arbeitgebern geht
man davon aus, dass diese Prüfung intern
stattfindet. Wichtig dabei ist: Die Kontrollstellen überprüfen nicht das Ergebnis der
Lohnanalyse, sondern nur, ob diese richtig
durchgeführt wurde, was den Zeitraum der
Analyse, die Methode und die Erfassung aller Arbeitnehmenden angeht.
Als externe Kontrollstellen kommen
wahlweise Revisionsunternehmen mit einer Zulassung nach dem Revisionsaufsichtsgesetz oder anerkannte Selbstregulierungsorganisationen (SRO) infrage.
Denkbar sind SRO für einzelne oder mehrere Unternehmen oder für eine ganze
Branche. Damit sie anerkannt werden können, müssen sie jedoch gewisse Anforde-
rungen erfüllen: So müssen sie etwa über
ein Reglement verfügen und eine einwandfreie Kontrolltätigkeit gewährleisten
können. Mit einem Bericht informieren
die Kontrollstellen die Führung des kon­
trollierten Unternehmens darüber, ob die
Lohnanalyse korrekt durchgeführt wurde.
Wichtig ist daher, dass die SRO von den zu
kontrollierenden Unternehmen unabhängig sind.
Die Arbeitgeber haben alternativ auch
die Möglichkeit, für beides – die Lohn­
analyse und deren Kontrolle – eine externe Organisation beizuziehen. Dies kann
eine betriebsinterne Arbeitnehmervertretung, eine Gewerkschaft oder eine Frauen­
organisation sein, welche gemäss ihren
Sta­tuten die Gleichstellung von Frau und
Mann fördert. Die Unternehmen vereinbaren mit diesen Organisationen, wie die
Lohnanalyse durchgeführt werden soll. Das
den Frauen­
organisationen und Gewerkschaften zustehende Klagerecht wird aber
nicht eingeschränkt, es sei denn, es wird
zwischen dem Arbeitgeber und der Organisation ausdrücklich so vereinbart.
Für den Fall, dass die Lohnanalyse oder
die Lohnkontrolle unterlassen wird, stellt
der Gesetzesentwurf eine Variante zur
Diskussion, die zusätzliche Rechtsfolgen
vorsieht: So sollen die Kontrollstellen der
zuständigen Behörde7 Meldung erstatten, wenn innert Frist keine Lohn­analyse
oder keine externe Kontrolle durchgeführt
wurde. Die Behörde trägt säumige Arbeitgeber, die gemeldet wurden oder von denen sie auf anderem Weg Kenntnis erhielt, in eine öffentlich zugängliche Liste
ein. Betroffene Arbeitgeber können eine
beschwerdefähige Verfügung verlangen.
Sind sie der Ansicht, die Voraussetzungen für einen Eintrag seien entfallen, können sie gestützt auf das Verwaltungsverfahrensgesetz jederzeit dessen Aufhebung
verlangen.
Die Vernehmlassung läuft noch bis Anfang März. Gestützt auf die Ergebnisse
wird der Bundesrat über die Änderung zum
Gleichstellungsgesetz befinden. 7 Die zuständige Behörde wäre voraussichtlich das Eidgenössische Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann
(EBG).
Eine öffentliche Liste
als Möglichkeit
Um ihre Mitarbeitenden über das Ergebnis der Kontrolle zu informieren, haben die
Arbeitgeber Zeit bis maximal ein Jahr nach
Empfang des Kontrollberichts. An der Börse kotierte Gesellschaften informieren im
Anhang zur Bilanz. In anderen Fällen kann
die Information zum Beispiel mit einem
Rundschreiben erfolgen.
Marc Schinzel
Dr. iur., wissenschaftlicher Mitarbeiter
Öffentliches Recht, Bundesamt für Justiz
(BJ), Bern
Die Mehrheit der Unternehmen begrüsst
Lohngleichheitsanalysen
Mit der Änderung des Gleichstellungsgesetzes plant der Bundesrat Lohngleichheitsanalysen
einzuführen. Viele Unternehmen sprechen sich dafür aus. Auch aus gesamtwirtschaft­licher
Perspektive scheint die Massnahme sinnvoll. Susanne Stern, Judith Trageser
N ach dem Scheitern des freiwilligen
Lohngleichheitsdialogs möchte der
Bundesrat die Lohngleichheit zwischen
Frauen und Männern mit zusätzlichen Massnahmen auf Gesetzesstufe durchsetzen. So
ist in der Vorlage zur Änderung des Gleichstellungsgesetzes etwa vorgesehen, dass
Unternehmen mit mehr als 50 Mitarbeitenden in regelmässigen Abständen eine
Lohngleichheitsanalyse durchführen müssen, um die Lohngleichheit zwischen Männern und Frauen zu untersuchen. Zudem
müssen die Unternehmen eine unabhängige
Prüfstelle beauftragen, um die durchgeführ-
te Lohngleichheitsanalyse zu kontrollieren,
und im Anschluss die Mitarbeitenden über
das Ergebnis informieren.
Für die Durchführung der Lohngleichheitsanalyse stellt der Bund den Unternehmen kostenlos das Analyseinstrument
Logib zur Verfügung. Logib vergleicht die
Die Volkswirtschaft 3 / 2016 61
LOHNGLEICHHEIT
Lob und Kritik an Logib
Die Hauptstossrichtung der geplanten
staatlichen Massnahmen besteht darin, dass Unternehmen mit 50 oder mehr
Mitarbeitenden verpflichtet werden, periodisch eine betriebsinterne Lohnanalyse durchzuführen und diese durch Dritte
kontrollieren zu lassen. Gemäss unseren
Befragungen finden rund zwei Drittel der
befragten Unternehmen die geplanten
Massnahmen grundsätzlich sinnvoll (siehe
Abbildung 1). Die grössten Bedenken der
Unternehmen betreffen den erwarteten
administrativen Mehraufwand.
Auch das vom Bund bereitgestellte
Analysetool Logib wird von den befragten
Unternehmen in der Mehrheit positiv beurteilt (siehe Abbildung 2). Geschätzt wird
vor allem die Einfachheit des Instruments.
Es gibt jedoch auch Kritik an Logib, insbesondere in Bezug auf die grobe Abbildung
von Funktionsstufen. Weiter wird kritisiert, dass die Leistung oder Per­formance
der Mitarbeitenden in der Analyse nicht
berücksichtigt wird. Viele befragte Experten1 würden es deshalb begrüssen, wenn
neben Logib auch andere Analysemethoden zugelassen würden, wie es die Vorlage
nun auch vorsieht.
Abb. 1: So beurteilen Unternehmen Lohngleichheitsanalysen
In %
STERN ET AL. (2015) / DIE VOLKSWIRTSCHAFT
mittlere Unternehmen
(50–249 Mitarbeitende)
grosse Unternehmen
(250–999 Mitarbeitende)
sehr grosse Unternehmen (>=1000
Mitarbeitende)
0
10
30
40
50
60
70
80
90
100
Anteil Unternehmen
sehr sinnvoll eher sinnvoll weniger sinnvoll überhaupt nicht sinnvoll weiss nicht
In der Onlinebefragung wurden Unternehmen, die noch keine Lohngleichheitsanalyse durchgeführt haben,
gefragt: «Finden Sie eine Analyse der Lohnpraxis in Bezug auf die Gleichstellung von Frauen und Männern sinnvoll?» (Anzahl befragte Unternehmen=954, davon 732 mittlere, 191 grosse und 31 sehr grosse Unternehmen).
Abb. 2: So beurteilen Unternehmen das Standardinstrument für Lohngleichheitsanalysen (LGA) Logib
Unternehmen ohne
Erfahrung LGA
In %
Unternehmen mit
Erfahrung LGA
0
10
20
30
40
50
60
70
80
90
100
70
80
90
100
Anteil Unternehmen
mittlere Unternehmen
(50–249 Mitarbeitende)
In %
In %
grosse Unternehmen
(250–999 Mitarbeitende)
sehr grosse Unternehmen (>=1000
Mitarbeitende)
0
Zwei bis acht Tage zusätzlicher
Aufwand
20
STERN ET AL. (2015) / DIE VOLKSWIRTSCHAFT
Löhne von Frauen und Männern mit gleichen Voraussetzungen mittels statis­
tischer Regression und zeigt, ob es im Unternehmen unerklärte Lohnunterschiede
gibt. Gemäss Vorlage können auch andere anerkannte Analysemethoden verwendet werden.
Im Auftrag des Bundesamtes für Justiz
hat das Beratungsunternehmen Infras eine
Regulierungsfolgeabschätzung durchgeführt (siehe Kasten). Das Ziel war es, die
Auswirkungen der geplanten staatlichen
Massnahmen auf die Unternehmen und
die Volkswirtschaft sowie auf die Verringerung der Lohndiskriminierung abschätzen
zu können und mögliche Optimierungsmöglichkeiten zu liefern.
10
20
30
40
50
60
Anteil Unternehmen
sehr geeignet eher geeignet weniger geeignet überhaupt nicht geeignet weiss nicht
Mittlere Unternehmen mit 50 bis 249 Mitarbeitern, welche Erfahrung mit Logib
haben, schätzen den Durchführungsaufwand auf 2 Tage. Grosse Unternehmen mit
250 bis 999 Mitarbeitern rechnen dafür
In der Onlinebefragung wurden die Unternehmen gefragt: «Ein Teil der Lohndifferenzen zwischen Frauen
und Männern kann durch verschiedene Faktoren erklärt werden. Im Fall des Standard-Analysemodells werden die folgenden Faktoren berücksichtigt, um Lohndifferenzen zu erklären: Ausbildungsniveau, potenzielle
Erwerbserfahrung (d. h. ohne evtl. Erwerbsunterbrüche), Dienstalter, Anforderungsniveau der ausgeübten
beruflichen Tätigkeit, berufliche Stellung: Als wie geeignet beurteilen Sie dieses Modell, um nicht gerechtfertigte Lohnungleichheiten zwischen Frauen und Männern im Unternehmen aufzudecken?»
1 Aus Gründen der einfacheren Lesbarkeit wird im
Folgenden für beide Geschlechter die männliche Form
verwendet.
Auswertung nach Erfahrung Lohngleichheitsanalysen: (Anzahl befragte Unternehmen= 1082 Unternehmen,
davon 731 ohne Erfahrung und 351 mit Erfahrung). Auswertung nach Grösse des Unternehmens: (Anzahl befragte Unternehmen= 1300 Unternehmen, davon 911 mittlere, 301 grosse und 88 sehr grosse Unternehmen).
62 Die Volkswirtschaft 3 / 2016
KEYSTONE
DOSSIER
Studien zufolge wirkt sich die Lohngleichheit
zwischen Männern und Frauen positiv auf die
Wohlfahrt und das Wirtschaftswachstum aus.
mit 3 Tagen und sehr grosse Unternehmen
mit über 1000 Mitarbeitern mit einem Arbeitsaufwand von 8 Tagen. Insgesamt belaufen sich die Umsetzungskosten für alle
Schweizer Unternehmen mit mehr als 50
Mitarbeitenden bei der ersten Durchführung auf rund 18 Millionen Franken. Die
Höhe des Aufwands hängt stark von den
Voraussetzungen in den Unternehmen
ab, beispielsweise ob sie über eine ausformulierte Lohnpolitik verfügen und in welchem Umfang und welcher Qualität sie ihre
Personaldaten erfassen. Der grösste Aufwand entsteht bei der Datenaufbereitung
und der Interpretation der Ergebnisse der
Lohngleichheitsanalyse mit Logib. Bei einer wiederholten Durchführung – z. B. alle
vier Jahre – dürfte sich der Aufwand um
rund die Hälfte auf 9 Millionen Franken pro
Durchführung reduzieren.
Für die Überprüfung der Lohngleichheitsanalysen entsteht bei den Prüfstellen ein weiterer Aufwand von circa einem
halben bis einem ganzen Arbeitstag pro
geprüftem Unternehmen. Insgesamt belaufen sich die Kosten der Prüfstellen auf
rund 4 Millionen Franken pro Durchführung. Der mit der Gesetzesvorlage verbundene Aufwand der Behörden hängt stark
von der Ausgestaltung des Zulassungsverfahrens für die Prüfstellen ab und konnte
deshalb im Rahmen dieser Regulierungsfolgenabschätzung nicht quantitativ abgeschätzt werden.
Die Hälfte der Unternehmen
passt Frauenlöhne an
Die geplanten Massnahmen würden rund
2 Prozent der Unternehmen und 54 Prozent der Beschäftigten in der Schweiz betreffen. Bei den befragten Unternehmen,
welche bereits auf freiwilliger Basis eine
Lohngleichheitsanalyse durchgeführt haben, hat die Hälfte in der Folge die Löhne
der Frauen angepasst.
Gemäss einer sehr groben Schätzung
dürfte sich der Umfang der Lohnanpassungen bei Frauen mittelfristig auf 1 Milliarde
Franken belaufen.2 Grundlage der Schätzung bilden die von Donzé (2013) im Auftrag des Bundesamts für Statistik berechneten nicht erklärten Lohnunterschiede je
Wirtschaftsbranche. Gemäss dieser Studie
beträgt der nicht erklärte Anteil der Lohndifferenz zwischen Männern und Frauen in der gesamten Privatwirtschaft rund
8,7 Prozent. Bei diesem Anteil besteht der
2 Die Schätzung geht von einer heute geltenden Toleranzschwelle von 5 Prozent nicht erklärter Lohnungleichheit
aus.
Forschungsdesign
Das Beratungsunternehmen Infras hat die vorliegende Regulierungsfolgenabschätzung (RFA) im
Auftrag des Bundesamts für Justiz durchgeführt
(siehe Stern et al. 2015). Die Fachhochschule
Nordwestschweiz hat Infras dabei mit Koreferaten und Fachinputs unterstützt. Methodisch
basiert die RFA auf einem Mix aus unterschiedlichen Forschungsmethoden. Den Schwerpunkt
bildeten eine Onlinebefragung und qualitative
Interviews. Insgesamt haben 1305 Unternehmen
die Onlineumfrage beantwortet, und es wurden
50 qualitative Interviews mit Unternehmen
sowie weitere 26 qualitative Interviews mit Experten geführt. Die Befragungen wurden durch
Literatur- und Datenanalysen ergänzt.
Verdacht, dass es sich um unbegründete
Lohndiskriminierung handelt.3
Volkswirtschaftlich gesehen handelt es sich bei diesen Lohnanpassungen
nicht um eigentliche Regulierungskosten, sondern um einen Umverteilungseffekt zugunsten der Frauenlöhne. Kurzfristig kann es Übergangskosten geben,
falls die Unternehmen grössere Lohnanpassungen innerhalb einer kurzen Frist
umsetzen müssen. Dies kann aber abgemildert werden, indem den Unternehmen genügend Zeit für die Anpassungen eingeräumt wird. Die nötigen
3 Siehe auch Infras und Universität St. Gallen (2015).
Die Volkswirtschaft 3 / 2016 63
LOHNGLEICHHEIT
Lohn­anpassungen sind laut den befragten Unternehmen und Experten in der Regel im Rahmen der normalen Lohnrunden
umsetzbar. Bei grösseren Anpassungen
braucht es laut Experten eine längere Umsetzungsfrist.
Unternehmen, die bereits Lohngleichheitsanalysen durchgeführt haben, berichten mehrheitlich von positiven Auswirkungen. So kann eine Lohngleichheitsanalyse
die Diskussion über Löhne versachlichen
und diesbezüglich mehr Transparenz
schaffen. Sie fördert auch die Motivation,
die Zufriedenheit und die Produktivität
der Beschäftigten. Unternehmen, die ihren
Verpflichtungen nicht nachkommen, können potenziell auch negative Folgen der
geplanten Massnahmen zu spüren bekommen, indem sie z. B. vom öffentlichen Beschaffungswesen ausgeschlossen werden.
Zur Förderung der Erwerbstätigkeit von Frauen nicht ausreichend
Auch aus einer gesamtwirtschaftlichen
Perspektive scheinen die geplanten Massnahmen sinnvoll. Laut empirischen Studien aus anderen Ländern dürfte sich die
Lohngleichheit positiv auf Wohlfahrt und
Wirtschaftswachstum auswirken. Dies in
erster Linie über Produktivitätseffekte und
vermiedene
Wettbewerbsverzerrungen.
Bezüglich der gesamtwirtschaftlichen Nettobeschäftigungswirkung einer durchgesetzten Lohngleichheit sind die empirischen
Ergebnisse hingegen nicht einheitlich. Es
gibt sowohl Studien, die positive, wie auch
solche, die negative Wirkungen auf die
Erwerbsbeteiligung von Frauen zeigen.
Strukturelle Rahmenbedingungen, wie die
Verfügbarkeit von bezahlbaren und quali­
tativ guten Kinderbetreuungsangeboten,
dürften einen weit stärkeren Einfluss auf die
Erwerbsbeteiligung von Frauen haben als
die Verminderung der Lohndiskriminierung.
Lohndiskriminierung ist in der ökonomischen Perspektive eine Folge von Marktversagen, das dazu führt, dass der Produktionsfaktor Arbeit nicht effizient eingesetzt wird.
Studien auf internationaler Ebene weisen
darauf hin, dass die mit Lohndiskriminierung
verbundenen Wohlfahrtsverluste quanti­
tativ bedeutend sein dürften. Es ist deshalb
aus ökonomischer Sicht sinnvoll, wenn dieses Marktversagen durch eine geeignete
Regulierung so weit wie möglich verhindert
wird. Dabei ist es wichtig, eine möglichst
schlanke und wirksame Regulierung umzusetzen, damit die erzielbaren Nettowohlfahrtseffekte auch tatsächlich positiv sind.
Unternehmen brauchen
genügend Spielraum
Aus unserer Sicht scheint es besonders
wichtig, den Unternehmen genügend
grossen Spielraum zu lassen und nicht zu
starre Vorgaben zu machen. Die Unternehmen praktizieren in der Regel nicht
bewusst direkte Lohndiskriminierungen.
Diese erfolgen eher auf unbewusste und
indirekte Weise. Es dürfte deshalb bereits
ein grosser Schritt in die richtige Richtung
bedeuten, wenn sich die Unternehmen mit
dem Thema Lohngleichheit vertieft ausei­
nandersetzen und ihre Lohnsysteme kri-
tisch unter die Lupe nehmen. Dies kann
erreicht werden, indem die Unternehmen
aus verschiedenen Analysemethoden auswählen können und in ihren Bemühungen
möglichst gut unterstützt werden.
Susanne Stern
Partnerin Bereichsleiterin Familien- und
Gleich­s tellungspolitik, Infras, Zürich
Judith Trageser
PartnerinBereichsleiterin Sozial- und
­Gesundheitspolitik, Infras, Zürich
Literatur
Donzé L. (2013). Analyse des salaires des femmes et des
hommes sur la base des enquêtes sur la structure des
salaires 2008 et 2010, Fribourg.
Stern, S.; J. Trageser; A. Schultheiss; B. Ruegge und R.
Iten (Infras) (2015). Regulierungsfolgenabschätzung
zu den geplanten Massnahmen zur Durchsetzung der
Lohngleichheit. Mit einem Koreferat von N. Amstutz und
E. Lüthi (Fachhochschule Nordwestschweiz). Im Auftrag
des Bundesamts für Justiz. Zürich.
Felfe, C.; J. Trageser und R. Iten (Infras und Universität St.
Gallen) (2015). Studie zu den statistischen Analysen der
Eidgenossenschaft betreffend die Lohngleichheit von
Frau und Mann. Im Auftrag des Eidgenössischen Büros für
die Gleichstellung von Frau und Mann. Zürich.
Die Messmethoden des Bundes zur Lohngleichheit
sind aussagekräftig
Wissenschaftlich, rechtskonform und verhältnismässig – laut dem Bundesrat erfüllen die Messmethoden des Bundes zur Lohngleichheit diese Ziele. Einzig für die nationale Statistik sollen weitere Modelle und Erklärungsfaktoren geprüft werden. Oliver Schröter, Claudio Marti Whitebread
D ie Messung von geschlechtsspezifischer Lohngleichheit ist momentan ein
stark diskutiertes Thema. 2014 reichte der
damalige FDP-Nationalrat und heutige Ständerat Ruedi Noser ein Postulat1 zur Erhebung
1 Postulat 14.3388 «Erhebung zur Lohngleichheit. Verbesserung der Aussagekraft» vom Juni 2014.
64 Die Volkswirtschaft 3 / 2016
der Lohngleichheit und zur Verbesserung
der Aussagekraft ein. Damit beauftragte der
Nationalrat den Bundesrat, die Analyse zur
Lohndiskriminierung des Eidgenössischen
Büros für die Gleichstellung von Frau und
Mann (EBG) zu überprüfen und Bericht zu
erstatten. Gemäss dem Postulat Noser sollte
die bisherige Methodik aufgezeigt und auf
den neuesten Stand der wissenschaftlichen
Erkenntnisse aktualisiert werden. In diesem
Rahmen sollten zwei Punkte geprüft werden: zum einen die Aufnahme zusätzlicher
Faktoren zur Erklärung von Lohnunterschieden, wie Berufs- oder Führungserfahrung,
DOSSIER
Weiter­bildungen, Sprachkenntnisse und der
Beschäftigungsgrad in der Berufskarriere;
zum anderen soll überprüft werden, ob der
aktuell verwendete Mittelwert als Referenz
für die Ermittlung der Lohnunterschiede tatsächlich am geeignetsten ist.
(EBG) auf betrieblicher Ebene für
Lohngleichheitskontrollen im Beschaffungswesen angewendet.3
–– Eine repräsentative Umfrage zum
EBG-Analysemodell bei den Unternehmen.4
Sind die Analysemodelle
noch aktuell?
Hinsichtlich der beiden Analysemodelle sollte die Studie überprüfen, ob diese aus wissenschaftlicher Sicht und mit
Blick auf den administrativen Aufwand
für die Unternehmen und die Verwaltung geeignet sind, um Lohnunterschiede auf nationaler Ebene zu erklären bzw.
Lohndiskriminierungen auf betrieblicher
Ebene festzustellen. Dazu wurden die
verwendete statistische Methode, die
Faktoren, die zur Erklärung oder Rechtfertigung von Lohnunterschieden zwischen Frauen und Männern in die Analysen einbezogen werden, sowie die beim
EBG-Analysemodell angewendete Toleranzschwelle von fünf Prozent untersucht.5
Das EBG beauftragte in diesem Zusammenhang das Schweizer Institut für Empirische Wirtschaftsforschung der Universität St. Gallen, gemeinsam mit dem
Beratungsbüro Infras eine unabhängige
Expertenstudie2 zu erstellen. Im Fokus
standen drei zentrale Punkte:
–– BFS-Analysemodell: Das «Analysemodell der nationalen Statistik» des Bundesamtes für Statistik (BFS). Dieses
Modell wird verwendet, um mit Daten
der Lohnstrukturerhebung (LSE) eine
Spezialauswertung zur Lohngleichheit
auf nationaler Ebene zu erstellen.
–– EBG-Analysemodell:
Das
«Standard-Analysemodell des Bundes», das
vom Eidgenössischen Büro für die
Gleichstellung von Frau und Mann
Zwei Modelle –
zwei Zielsetzungen
Die zwei in der Studie untersuchten Analysemodelle unterscheiden sich in zahlreichen Aspekten deutlich (siehe Tabelle).
Hervorzuheben sind hierbei insbesondere die unterschiedlichen Analyseebenen
und Zielsetzungen.
Das BFS-Analysemodell für die Spezial­
auswertung «Lohngleichheit» der LSE
analy­siert Daten auf nationaler Ebene und
zeigt, auf welche Faktoren Lohnunterschiede in welchem Ausmass zurückgeführt werden können. Im Rahmen einer
sogenannten Dekompositionsanalyse werden ein durch eine Vielzahl an kontrollierten Einflussfaktoren erklärter sowie ein un-
KEYSTONE
2 Aus Gründen der einfacheren Lesbarkeit wird im
Folgenden für beide Geschlechter die männliche Form
verwendet.
3 Siehe Schröter und Marti Whitebread (2016).
4 Siehe dazu den Artikel von Stern und Trageser in dieser
Ausgabe.
5 Auch objektive, diskriminierungsfreie Faktoren, die im
Analysemodell nicht berücksichtigt werden, können
sich auf den Lohn auswirken. Systematische Lohndiskriminierung wird deshalb nur dann vermutet, wenn
die ermittelte geschlechtsspezifische Lohnungleichheit statistisch signifikant über fünf Prozent liegt.
Zusätzliche Relevanz erlangen Lohn­
ungleichheiten und Lohndiskriminierung
auch in anderer Hinsicht: Der Bundesrat
eröffnete am 18. November 2015 die Vernehmlassung zur Änderung des Bundesgesetzes über die Gleichstellung von Frau
und Mann, des sogenannten Gleichstellungsgesetzes. Gemäss diesem Entwurf
sollen Arbeitgebende mit 50 oder mehr
Mitarbeitenden gesetzlich dazu verpflichtet werden, in ihren Unternehmen alle vier
Jahre eine Lohnanalyse durchzuführen.
Trägt auch die Berufserfahrung zur Erklärung von Lohnunterschieden bei? Dies soll das Bundesamt für Statistik weiter prüfen.
Die Volkswirtschaft 3 / 2016 65
LOHNGLEICHHEIT
erklärter Anteil am Lohnunterschied nach
verschiedenen Branchen und Grossregionen ausgewiesen. Diese Analyse nimmt
folglich eine erklärende Perspektive ein.
Das vom EBG verwendete Analysemodell kommt bei den Kontrollen im Beschaffungswesen jeweils auf Ebene einzelner Unternehmen zur Anwendung. Es
dient dazu, die Einhaltung der Lohngleichheit zu überprüfen, und ist darauf ausgerichtet, eine Vermutung systematischer
Lohndiskriminierung begründen zu können. Diese Analyse nimmt somit eine
rechtfertigende Perspektive ein.
Alternative Methoden für nationale Statistik sind zu prüfen
Die bislang vom BFS verwendete statistische Methode, die sich am Mittelwert
orientiert, ist wissenschaftlich anerkannt. Sie bildet den Anteil der einzelnen
Faktoren zur Erklärung von Lohnunterschieden gut ab. Weil sich die aktuelle
Methode am Mittelwert orientiert, können die Ergebnisse allerdings von sehr
hohen oder tiefen Löhnen beeinflusst
sein. Deshalb sollen weitere statistische
Methoden vertieft geprüft werden, welche sich unter anderem am Medianwert6
orientieren.7
6 Der Medianlohn ist derjenige Lohn, der an der mittleren
Stelle steht, wenn alle Löhne nach der Grösse sortiert
werden. Der Mittelwert bezeichnet hingegen das arithmetische Mittel, d. h. den Durchschnitt aller beobachteten Löhne.
7 Siehe Felfe et al. (2015), S. 119–121.
Die gegenwärtig verwendeten Faktoren
zur Erklärung von Lohnunterschieden8 sind
gut geeignet, um Lohnunterschiede zwischen Frauen und Männern zu erklären. Sie
sind wissenschaftlich anerkannt und sollten
beibehalten werden. Die drei im Postulat genannten Faktoren Weiterbildungen, Sprachkenntnisse und Führungserfahrung sollen
hingegen nicht in das BFS-Analysemodell
aufgenommen werden. Deren zusätzlicher
Erklärungsgehalt ist tief, da Führungserfahrung durch den Faktor berufliche Stellung
bereits gut abgebildet wird. Ausserdem sind
Sprachkenntnisse nicht in allen Branchen
lohnrelevant und eine zuverlässige Erhebung der notwendigen Informationen kann
nicht gewährleistet werden.9
Hingegen soll für die Faktoren Arbeitszeitmodell, physische und psychische Belastungen sowie Beschäftigungsgrad in der
Berufskarriere – welcher zur genaueren Ermittlung der tatsächlichen Berufserfahrung verwendet werden könnte – vertieft
geprüft werden, ob die dafür notwendigen Informationen administrativen Registern entnommen oder objektiv und geschlechtsneutral erhoben werden könnten.
Mehraufwand für Betriebe
wäre unverhältnismässig
Auch die verwendete statistische Methode des EBG-Analysemodells ist wis8 Siehe Felfe et al. (2015), S. 33.
9 Siehe Felfe et al. (2015), S. 121–124.
senschaftlich und juristisch anerkannt
und sollte deshalb gemeinsam mit der in
der Praxis bewährten Toleranzschwelle
von fünf Prozent beibehalten werden. Das
EBG verwendet bei seinem Analysemodell
eine ähnliche statistische Methode wie
das BFS. Die geprüften alternativen Methoden haben auf der betrieblichen Ebene insbesondere den Nachteil, dass sie
nur mit grossem technischem Aufwand
für die Unternehmen anwendbar sind.10
Die bislang verwendeten Faktoren zur
Rechtfertigung von Lohnunterschieden
– Ausbildungsjahre, Dienstalter, potenzielle Erwerbserfahrung, Anforderungsresp. Kompetenzniveau sowie berufliche
Stellung – sind gut geeignet, um Lohn­
unterschiede zu erklären, und weisen
kein Diskriminierungspotenzial auf. Wie
schon beim BFS-Analysemodell sind die
im Postulat genannten Faktoren Weiterbildungen, Sprachkenntnisse und Führungserfahrung auch hier nicht geeignet, um neu aufgenommen zu werden.
So birgt beispielsweise der Faktor Führungserfahrung Diskriminierungspotenzial, weil die Gefahr besteht, dass diese
von den Arbeitgebenden bei Frauen anders bewertet würde als bei Männern.
Doch auch der Beschäftigungsgrad in der
Berufskarriere eignet sich nicht zur Aufnahme in das Modell für die betriebliche
Ebene: Neben dem Diskriminierungs­
potenzial wäre insbesondere auch der ad10 Siehe Felfe et al. (2015), S. 124f.
Die Analysemodelle des EBG und des BFS im Vergleich
Zuständige Behörde
Eidg. Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann (EBG)
Bundesamt für Statistik (BFS)
Analyseebene
Unternehmen
Schweizerische Gesamtwirtschaft
Zweck
Zur Kontrolle der Lohngleichheit von Firmen, die im öffentlichen Beschaffungswesen einen Auftrag erhalten haben
Zur Erstellung der Spezialauswertung «Lohngleichheit» basierend
auf den Daten der Lohnstrukturerhebung
Rechtliche Grundlagen
Bundesgesetz über das öffentliche Beschaffungswesen
Verordnung über die Durchführung von statistischen Erhebungen
des Bundes
Vergleichsgruppe
Alle Arbeitnehmenden eines Unternehmens
1,7 Millionen Arbeitnehmende aus rund 35’000 Unternehmen verschiedenster Branchen
Analysemethode
OLS-Regressionsanalyse
OLS-Regressionsanalyse
Berücksichtigte Faktoren
Eine Vielzahl an objektiven Faktoren mit Bezug auf die gesamte
Eine begrenzte Anzahl auf ein gesamtes Unternehmen bezogene, standardisierte, objektive, nicht diskriminierende Fakto- schweizerische Volkswirtschaft
ren
Toleranzschwelle
Statistisch signifikant über 5 Prozent
Keine
Rechtliche Folgen für
die Unternehmen
Verschiedene mögliche Sanktionen: Konventionalstrafe; Ausschluss aus dem Beschaffungsverfahren; Widerruf des Zuschlags oder Kündigung des Vertrags
Keine
(BöB)
66 Die Volkswirtschaft 3 / 2016
DOSSIER
ministrative Aufwand für die Erhebung
der benötigten Informationen im Vergleich zum zusätzlichen Erklärungsgehalt
für Lohnunterschiede unverhältnismässig hoch.11 Informationen zum Beschäftigungsgrad während der beruflichen
Laufbahn und allfällige Erwerbsunterbrechungen müssten von den Arbeitgebenden erhoben werden, wobei die Qualität
der Angaben nicht sichergestellt werden
könnte.
Die Lernkurven – d. h. die Akkumula­
tion von Humankapital und die damit einhergehenden Produktivitätssteigerungen
– verlaufen in verschiedenen Berufen und
in verschiedenen Phasen des Erwerbslebens unterschiedlich. Qualitative Aspekte wie Arbeitsinhalte sind mitunter ebenso relevant wie der im Postulat erwähnte
Beschäftigungsgrad. Inwieweit bestimmte Weiterbildungen oder Erfahrungen
die Leistung und damit den Lohn beeinflussen und was als Karriereunterbrechung beurteilt wird, müsste subjektiv
durch die Arbeitgebenden eingeschätzt
werden, wodurch bei der Operationalisierung die Objektivität nicht gewährleistet wäre. Diese Schwierigkeiten sprechen
gegen die Aufnahme dieser Faktoren in
ein möglichst einfach zu haltendes Standard-Analysemodell.12
Unternehmen schätzen die
­Einfachheit des Analysemodells
Bezüglich des BFS-Analysemodells wird
der Bundesrat den oben geschilderten
Empfehlungen nachkommen und die Faktoren Arbeitszeitmodell, physische und
11 Siehe Felfe et al. (2015), S. 126f.
12 Siehe Felfe et al. (2015), S. 87f.
psychische Belastungen, sowie Beschäftigungsgrad in der Berufskarriere vertieft
prüfen. Hinsichtlich des EBG-Analysemodells vertritt er die Ansicht, dass hier
dreierlei Zielsetzungen gleichermassen
zu berücksichtigen sind: Wissenschaftlichkeit und Aussagekraft des Modells,
Rechtskonformität von Methode und
berücksichtigten Faktoren sowie Verhältnismässigkeit des Aufwands für die
Unternehmen. Daher sollen Standards
verwendet werden, die auf nationaler wie
internationaler Ebene breit akzeptiert
sind und für die Unternehmen und die
Verwaltung einen möglichst geringen administrativen Aufwand mit sich bringen.
Die statistische Methode der OLS-Regressionsanalyse ist vor Bundesgericht
zugelassen. Lohngleichheitsanalysen in
anderen europäischen Ländern13 basieren
ebenfalls auf dem Standard-Analysemodell.
In einer breit angelegten, repräsentativen Umfrage14 wurden Unternehmen zum Standard-Analysemodell des
Bundes befragt. Dabei nahmen von 2712
kontaktierten Unternehmen 1305 teil.
Die befragten Unternehmen beurteilten
das Standard-Analysemodell des Bundes
mehrheitlich als geeignet, wobei insbesondere die Einfachheit des Modells geschätzt wird. Gleiche Ergebnisse gehen
zudem auch aus einer vom Arbeitgeberverband Centre Patronal in Auftrag gegebenen Umfrage hervor.15 Gestützt darauf,
13 Siehe das Projekt equal pace, an dem unter anderen
Ländern auch Deutschland und Frankreich beteiltigt
sind. Abrufbar unter www.equal-pace.eu.
14 Siehe den Artikel von Stern und Trageser in dieser
Ausgabe.
15 Paschoud, S. (2015). Egalité salariale: la manipulation
d’un juste principe. Etudes & Enquêtes n° 44, Centre
Patronal.
ist für den Bundesrat das EBG-Analysemodell für das Beschaffungswesen in
der bisherigen Form geeignet und beizu­
behalten. Oliver Schröter
Dr. rer. pol., Fachbereich Arbeit, Eidgenössisches Büro für die Gleichstellung von Frau
und Mann (EBG), Bern
Claudio Marti Whitebread
Fachbereich Recht, Eidgenössisches Büro
für die Gleichstellung von Frau und Mann
(EBG), Bern
Literatur
Schröter, O.; Marti Whitebread, C. (2016):
Lohngleichheitskontrollen im Beschaffungswesen
des Bundes, in: Dunand, J-P., Lempen, K., Mahon, P.
(Hrsg.): Die Gleichstellung von Frau und Mann in der
Arbeitswelt. 1996 – 2016: 20 Jahre Gleichstellungsgesetz, CERT, BFEG, Schulthess.
Stern, S.; J. Trageser; A. Schultheiss; B. Ruegge und R.
Iten (Infras) (2015). Regulierungsfolgenabschätzung
zu den geplanten Massnahmen zur Durchsetzung der
Lohngleichheit. Abrufbar unter www.bj.admin.ch.
Felfe, C.; Tragesser, J.; Iten, R. (2015). Studie zu den
statistischen Analysen der Eidgenossenschaft betreffend die Lohngleichheit von Frau und Mann. Abrufbar
unter www.ebg.admin.ch.
Die Volkswirtschaft 3 / 2016 67
DER STANDPUNKT
Daniella Lützelschwab
Mitglied der Geschäftsleitung, Ressort Arbeitsmarkt
und Arbeitsrecht, Schweizerischer Arbeitgeberverband (SAV), Zürich
Der Bund muss die freiwilligen
Bemühungen der Arbeitgeber
anerkennen
Der Schweizerische Arbeitgeberverband lehnt staatlich
vorgeschriebene Lohnkontrollinstrumente und Meldestellen
wie das Eidgenössische Gleichstellungsbüro sowie schwarze
Listen für Firmen ab. Vielmehr fordert er vom Bund, die bisherigen Bemühungen der Unternehmen endlich zu würdigen. ken, frühzeitig das Interesse der Frauen an sogenannten Mint-Berufen (Mathematik, Informatik,
Naturwissenschaft und Technik) zu wecken, damit
diese öfter solche Berufe wählen.
Dafür braucht es auch die richtigen Rahmen­
bedingungen wie familienergänzende Tagesstrukturen und die volle steuerliche Abzugsfähigkeit
von Kinderfremdbetreuungskosten im Sinne von
Gewinnungskosten. Das ermöglicht es den Frauen, in Berufe und Positionen vorzudringen, die bisher tendenziell Männerdomänen waren.
Die Verschärfung des Gleichstellungsgesetzes ist unnötig
Die vom Bund verwendete Analysemethodik zur
Feststellung von Lohndiskriminierung ist nicht
unbestritten und als Mittel für die betriebliche
Lohnkontrolle unpräzise. Dies bestätigt eine vom
Schweizerischen Arbeitgeberverband (SAV) im
April 2015 in Auftrag gegebene Studie des volkswirtschaftlichen Beratungsbüros BSS. Insbesondere bleiben lohnrelevante Kriterien wie effektive
Unter dem Schlagwort «Lohndiskriminierung» werden immer Berufserfahrung, Führungserfahrung, Weiterbildung oder Sprachwieder heftige Diskussionen über die ungleiche Entlöhnung von kenntnisse unberücksichtigt. Das führt zu falschen Resultaten.
Frauen und Männern ausgetragen. Sogar von «34 Jahren Ver- Deshalb hat der SAV bereits früh davon abgeraten, den Unterfassungsbruch» ist die Rede. Was dabei übersehen wird: Lohn­ nehmen solche untauglichen Analyseinstrumente als zusätzliche
diskriminierung und Lohnunterschied sind nicht dasselbe.
Pflichtübung aufzubürden.
Gemäss Bundesgericht liegt eine Lohndiskriminierung nur dann Für den SAV ist nicht nachvollziehbar, weshalb in den Berichten
vor, wenn Frauen und Männer mit gleichen Fähigkeiten, gleichen des Bundes immer nur von den 51 Unternehmen gesprochen wird,
Tätigkeiten und gleicher Arbeitsleistung im
die am Lohngleichheitsdialog teilgenommen
selben Unternehmen ungleich entschädigt
haben. Die geringe Teilnahme hatte aus Arwerden. Im Gegensatz dazu spricht der BunDie vom Bund verwen- beitgebersicht gute – und diskriminierungsdesrat bereits dann von Diskriminierung,
freie – Gründe. Von den rund 86 000 Löhnen,
dete Analysemethodik die alleine im Salärvergleich der Maschinen-,
wenn bei der statistischen Untersuchung von
Lohnunterschieden eine Restgrösse verbleibt,
Elektro- und Metallindustrie erfasst werden,
zur Feststellung von
die durch Merkmale wie Alter, Ausbildung oder
dagegen nicht die Rede. Damit wird in der
Lohndiskriminierung ist
Tätigkeitsbereich nicht erklärt werden kann.
Öffentlichkeit das falsche Bild gezeichnet,
ist nicht unbestritten dass die Arbeitgeber freiwillig nichts unterDiese von der Verwaltung selbst festgelegte,
nicht abschliessende Auswahl von Merkmalen
nehmen, um betriebsintern für korrekte Löhne
und als Mittel für
ist jedoch unzulänglich.
zu sorgen.
die betriebliche Lohn- Der Schweizerische Arbeitgeberverband lehnt
Wie eine aktuelle Studie der liberalen Denk­
fabrik Avenir Suisse aufzeigt, hat der so verLohndiskriminierung in den Unternehmen
kontrolle unpräzise.
bliebene Lohnunterschied andere Ursachen
ab. Er lehnt aber auch staatlich vorgeschrieals die Diskriminierung von Frauen. Er lässt
bene Lohnkontrollinstrumente, Meldestellen
sich auf gesellschaftliche Gepflogenheiten und Wertvorstellungen und schwarze Listen für Firmen ab. Die vom Bundesrat vorgelegte
zurückführen, die schon bei der Berufswahl und später in der Auf- Verschärfung des Gleichstellungsgesetzes ist aus den genannten
teilung der Erziehungsarbeit in der Familie zum Tragen kommen. Gründen nicht nur unverhältnismässig, sondern auch unnötig und
Dass Unternehmen diese Normen steuern können, ist illusorisch. bürokratisch. Sie stellt einen massiven Eingriff in den flexiblen ArStattdessen sollten die Unternehmen ihre Bemühungen verstär- beitsmarkt dar. Eine solche Verschärfung braucht es nicht.
68 Die Volkswirtschaft 3 / 2016
DOSSIER
DER STANDPUNKT
der Arbeitnehmenden, wäre dies verfehlt. Gegen
eine Ablehnung spricht die vom Bundesamt für
Justiz in Auftrag gegebene RegulierungsfolgenabValérie Borioli Sandoz
schätzung (RFA). Gemäss dieser RFA, welche dem
Leiterin Gleichstellungspolitik, Travail Suisse, Bern
Erläuternden Bericht zum Entwurf zur Änderung
des Gleichstellungsgesetzes zugrunde liegt, ergriff
die Hälfte der 1305 beteiligten Unternehmen nach
der durchgeführten Lohnanalyse Korrekturmassnahmen, obwohl sie dazu nicht verpflichtet waren.
Dieses Ergebnis ist erfreulich. Für Travail Suisse
besteht das Hauptinteresse des bundesrätlichen
Vorschlags darin, dass betroffene Frauen mit eiIst die Revision des Gleichstellungsgesetzes nur ein zahnloser ner Lohnanalyse von nicht objektiv erklärbaren
Papiertiger, der gegen die Lohndiskriminierung, die vor allem Lohnunterschieden Kenntnis erhalten würden.
Diese Analyse wäre von den Unternehmen intern
Frauen betrifft, nichts ausrichten kann? Die Auswertung
zu erstellen und anschliessend durch ein Organ
entsprechender Umfragen bei Unternehmen spricht für eine
zu überprüfen, das sie selber wählen können (Sozialpartner, anerkannte Revisionsgesellschaft oder
differenzierte Beurteilung des Vorschlags, den der Bundesrat
staatlich anerkannte Selbstregulierungsorganiin die Vernehmlassung geschickt hat. sation). Das Hauptverdienst des vom Bundesrat
vorgesehenen Mechanismus besteht darin, dass
er die Transparenz in einem sehr undurchsichtigen
Der Vorschlag des Bundesrats zur Bekämpfung der LohndiskrimiBereich, der fast schon ein Tabu darstellt, deutlich erhöht.
nierung weist gewisse Eigenschaften eines Papiertigers auf. Denn
Denn tatsächlich gilt es in erster Linie in Erfahrung zu bringen, ob
die vorgelegte Revision des Gleichstellungsgesetzes (GlG) beinhaldas Problem der Lohndiskriminierung in Unternehmen mit mehr
tet keinerlei Sanktionen für Unternehmen, welche nicht regelmäsals 50 Mitarbeitenden überhaupt besteht und allenfalls in welchem
sig alle vier Jahre die vorgesehene Lohnanalyse durchführen oder
Umfang. Denn Lohndiskriminierungen sind häufig das Ergebnis
dazu eine andere statistische Methode verwenden als die sogeindirekter Auswirkungen, unbewusster Vorurteile oder einer unnannte Regressionsanalyse, welche als einzige Methode wissengünstigen Personalpolitik. Eine kürzlich von Waadtländer Arbeitschaftlich und rechtlich anerkannt ist.
geberkreisen bei 660 Westschweizer UnterDass zur Durchsetzung der in der Bundesvernehmen durchgeführte Studie1 bestätigt die
fassung verankerten Lohngleichheit schlagGegen Unternehmen, bisherigen Erkenntnisse: Unternehmen diskrikräftige juristische Mittel vollkommen fehlen,
minieren Frauen nicht bewusst. Noch erfreulidenen es an gutem
ist mehr als erstaunlich. Bei anderen Grundcher ist, dass drei Viertel dieser Unternehmen
prinzipien, die ebenfalls im Gründungstext
eine Selbstkontrolle für annehmbar und sinnWillen fehlt und die
unseres Rechtsstaats verankert sind, wäre dies
halten. Ausserdem akzeptiert eine Mehreinfach die Augen ver- voll
undenkbar. Nehmen wir als Beispiel die Eigenheit der in der RFA befragten Unternehmen die
schliessen, muss kon- vorgesehene Form dieser Kontrolle. Das ist ein
tumsgarantie. Wenn jemand plötzlich auf die
Idee kommt, das Eigentum des Nachbars in
sequenter vorgegangen Plädoyer für Transparenz.
Beschlag zu nehmen, wird er zur Rechenschaft
Deshalb unterstützt Travail Suisse den Vorwerden.
gezogen, damit die gesetzlichen Bestimmunschlag des Bundesrats, auch wenn sie bedaugen nicht Makulatur bleiben. Den Frauen hinert, dass er keinerlei Sanktionen vorsieht. Sie
gegen werden bei den Löhnen seit Jahrzehnten erhebliche Sumwird deshalb Vorschläge mit dieser Stossrichtung unterbreiten,
men vorenthalten (jährlich gegen 7 Milliarden Franken), ohne dass
da es unter den Arbeitgebern auch einige schwarze Schafe gibt.
irgendwelche objektiven Gründe diesen «Diebstahl» rechtfertigen
Denn gegen Unternehmen, denen es an gutem Willen fehlt und die
könnten. Trotzdem sehen weder das geltende Gleichstellungsgesetz
einfach die Augen verschliessen, muss konsequenter vorgegangen
werden.
noch der Revisionsentwurf Strafen für säumige Unternehmen vor.
Mit Transparenz gegen
Lohndiskriminierung
Ungerechtfertigte Lohnunterschiede
werden für Frauen sichtbar
Ist deshalb der bundesrätliche Vorschlag rundweg abzulehnen? In
den Augen von Travail Suisse, der unabhängigen Dachorganisation
1 Centre patronal (2015). Egalité salariale : la manipulation d’un juste principe, in : Etudes &
Enquêtes Nr. 44
Die Volkswirtschaft 3 / 2016 69
ZAHLEN
Der kleine Unterschied – Männer und Frauen im Arbeitsmarkt
Die Muster der Erwerbstätigkeit haben sich im Zuge der Emanzipation angeglichen. Trotzdem sind es mehrheitlich immer noch die
Frauen, welche bei familiären Verpflichtungen auf einen Erwerb verzichten. Auch bei der Teilzeitarbeit liegt der Frauenanteil höher.
Dies kann ein Grund dafür sein, dass auch deutlich mehr Frauen überqualifiziert oder unterbeschäftigt sind. Die unterschiedlichen
Erwerbsmuster manifestieren sich teilweise auch in den Löhnen. Gemäss einer Analyse des Bundesamts für Statistik1 sind jedoch nur
ungefähr 60 Prozent der Lohndifferenz durch erklärbare Merkmale begründet.
63%
10%
Erwerbsbeteiligung
Anteil Erwerbspersonen (Erwerbstätige
und Erwerbslose) an der über 15-jährigen
Bevölkerung, Stand 2014.
Unterbeschäftigung
75%
3%
Teilzeiterwerbstätige, welche mehr arbeiten
möchten und dies auch könnten, Stand 2014.
17%
Teilzeitarbeit
Anteil Erwerbstätige, die weniger als
90 Prozent arbeiten, Stand 2014
Überqualifikation
16%
12%
Tertiärgebildete mit einem Beruf, für den
keine solche Ausbildung notwendig ist,
Stand 2014.
5808.–
Löhne
Standardisierter monatlicher
Bruttomedianlohn in Franken, Stand 2012.
1 Bei den untersuchten Löhnen handelt es sich um Durchschnittslöhne im privaten Sektor. Abrufbar unter www.bfs.admin.ch
70 Die Volkswirtschaft 3 / 2016
6840.–
BFS LSE, SAKE / SHUTTERSTOCK / DIE VOLKSWIRTSCHAFT
59%
Wirtschaftskennzahlen
Auf einen Blick finden Sie hier die Kennzahlen Bruttoinlandprodukt, Erwerbslosenquote und Inflation von acht Ländern, der EU und
der OECD. Zahlenreihen zu diesen Wirtschaftszahlen sind auf der Internetseite www.dievolkswirtschaft.ch aufgeschaltet.
Bruttoinlandprodukt:
Reale Veränderung in % gegenüber dem
Vorjahr
Bruttoinlandprodukt:
Reale Veränderung in % gegenüber dem Vorquartal1
2014
4/2014
1/2015
2/2015
3/2015
Schweiz
2,0
Schweiz
0,7
–0,2
0,2
0,0
Deutschland
1,6
Deutschland
0,6
0,3
0,4
0,3
Frankreich
0,2
Frankreich
0,1
0,7
0,0
0,3
Italien
–0,4
Italien
0,0
0,4
0,3
0,2
Grossbritannien
3,0
Grossbritannien
0,8
0,4
0,7
0,5
EU
1,3
EU
0,5
0,5
0,4
0,4
USA
2,4
USA
0,5
0,2
1,0
0,5
Japan
–0,1
Japan
0,3
1,1
–0,2
–0,2
China
7,4
China
1,7
1,3
1,8
1,8
OECD
1,9
OECD
0,5
0,5
0,6
0,4
Bruttoinlandprodukt:
In Dollar pro Einwohner 2014 (PPP2)
Erwerbslosenquote:3
in % der Erwerbstätigen, Jahreswert
2014
Erwerbslosenquote:3
in % der Erwerbstätigen, Quartalswert
2014
3/2015
Schweiz
57 744
Schweiz
4,5
Schweiz
4,9
Deutschland
44 788
Deutschland
5,0
Deutschland
4,5
Frankreich
38 870
Frankreich
10,3
Frankreich
10,7
Italien
35 067
Italien
12,7
Italien
11,9
Grossbritannien
39 225
Grossbritannien
6.2
Grossbritannien
EU
36 175
EU
10,2
EU
9,4
USA
54 640
USA
6,2
USA
5,2
Japan
36 485
Japan
3,6
Japan
3,4
China
–
China
–
China
–
OECD
38 902
OECD
7,4
OECD
6,7
Inflation:
Veränderung in % gegenüber dem
­Vorjahresmonat
2014
November 2015
0,0
Schweiz
–1,4
0,9
Deutschland
0,4
Frankreich
0,5
Frankreich
0,0
Italien
0,2
Italien
0,1
Grossbritannien
1,5
Grossbritannien
0,1
EU
0,6
EU
0,1
USA
1,6
USA
0,5
Japan
2,7
Japan
0,3
China
2,0
China
1,5
OECD
1,7
OECD
0,7
Schweiz
Deutschland
1 Saisonbereinigt und arbeitstäglich bereinigte Daten.
2 Kaufkraftbereinigt.
3 Gemäss ILO (Internationale Arbeitsorganisation).
SECO, BFS, OECD
Inflation:
Veränderung in % gegenüber dem
Vorjahr
–
Weitere Zahlenreihen
www.dievolkswirtschaft.ch d Zahlen
Die Volkswirtschaft 3 / 2016 71
CARTOON
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17 Ziele und
169 Unterziele
72 Die Volkswirtschaft 3 / 2016
VORSCHAU
e
année N° 7/2015
5 /2015 sFr.
Frs.12.–
12.–
88.88
Jahrgang Nr.
La
économique
DieVie
Volkswirtschaft
Plattformdefür
Wirtschaftspolitik
Plateforme
politique
économique
SCHWERPUNKT
Wie ticken die Konsumenten?
Die Konsumentenstimmung bleibt in der Schweiz insgesamt angespannt. Gut sieht es hingegen beim
Privatkonsum aus. Das ist entscheidend, denn mit mehr als der Hälfte trägt der private Konsum am
meisten zum Schweizer Bruttoinlandprodukt bei. Die «Volkswirtschaft» blickt hinter die Fassade
und fragt nach, welche Aspekte beim Kaufentscheid eine Rolle spielen und wie rational sich die
Konsumenten dabei verhalten. Mit der Digitalisierung hat sich das Kaufverhalten deutlich verändert.
Aber auch gesellschaftliche Werte haben sich gewandelt. Der Einkaufstourismus ist eine Folge des
Preisgefälles zwischen der Schweiz und dem nahen Ausland. Doch wie legen Unternehmen die Preise
ihrer Produkte fest? Und ist alles nur eine Frage der Kostenstruktur?
Lesen Sie mehr darüber in unserer nächsten Ausgabe.
Wie sich das Konsumentenverhalten der Menschen verändert
Mirjam Hauser, GIM Suisse AG
Verhaltensökonomie – Wie wählen Konsumenten?
Professor Luis Pedro Santos-Pinto, Universität Lausanne
Die Hochpreisinsel Schweiz aus ökonomischer Sicht
Markus Langenegger und Simon Jäggi, Seco
Preismanagement unter dem Aspekt der Konsumentenpsychologie
Professor Hans Peter Wehrli, Universität Zürich
Konsumentenstimmung in der Schweiz im internationalen Vergleich
Felicitas Kemeny und Vincent Pochon, Seco
Warum Gesundheits- und Konsumprofile Datenschutzrisiken bilden
Jean-Philippe Walter, Datenschutzbeauftragter