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BEGRÜßUNG DES PRÄSIDENTEN SASCHA SPOUN ZUR KONFERENZWOCHE 2016
UNTER DEM MOTTO: "WIE WOLLEN WIR IM JAHRE 2030 LEBEN?"
23. Februar 2016
Liebe Studierende,
wie wollen wir in Zukunft leben? Wie soll unsere Zukunft aussehen im Jahre 2030? Anders als jetzt, wie eine
großangelegte Studie in der ZEIT zu genau diesem Thema zeigt, die jüngst erschienen ist. Viele Menschen
wünschen sich, dass die nachfolgende Generation mehr Verantwortung übernimmt, als sie es heute selber
tun. Ist das nicht paradox? Wir selbst haben es doch in der Hand, wie wir jetzt leben und stellen damit
unweigerlich die Weichen für die Zukunft. Statt sich mehr Verantwortung zu wünschen, muss es daher
darum gehen, sie jetzt selber zu übernehmen.
Ich bin sicher, das haben Sie längst erkannt. Und dennoch ist zu fragen, wie wir uns unsere Zukunft
vorstellen. Die Dringlichkeit dieser Frage wird Ihnen klar sein, und daher sind Sie auch motiviert, diese
Konferenzwoche mitzugestalten, sich einzubringen, und nicht daran zu denken, dass die anderen schon in
den Semesterferien sind. Verantwortung kennt keine Ferien, und dennoch haben Sie sich nach dieser
Konferenzwoche und damit nach dem Leuphana-Semester Ihre Ferien redlich verdient.
Ich bin überzeugt, dass Sie spannende Fragen und Ideen in Laufe dieser Konferenzwoche entwickeln, dass
Sie Einsichten mitnehmen, an die Sie zuvor gar nicht gedacht haben. Um Sie darauf einzustimmen, möchte
ich gemeinsam mit Ihnen eine Frage betrachten, die Ihnen vermutlich zunächst banal erscheint:
Wer ist "wir"? Und warum soll ich fragen, wie unsere Zukunft aussehen soll? Ist es für mich nicht viel
wichtiger zu fragen, wie meine Zukunft aussehen soll?
Darauf lassen sich zwei Antworten geben, eine nahe liegende und eine reflektierte (und Sie können sich
denken, dass ich die reflektierte vorziehe).
1. Antwort:
Wie meine Zukunft aussehen wird, hängt auch davon ab, wie unser aller Zukunft aussieht. Was nützt es mir,
wenn ich meine Karriere plane und eine große wirtschaftliche Rezession meine Pläne durchkreuzt? Was nützt
es mir, wenn ich eine Familie plane und ein Bürgerkrieg mein Vorhaben zunichte macht? Was hilft es mir,
wenn ich nach Glück strebe und um mich herum nur Verzweiflung sehe? Für mich zu sorgen verlangt daher
auch, mich um die Welt zu sorgen. Folglich hängen die Fragen: "Wie will ich in Zukunft leben?" und "Wie
wollen wir in Zukunft leben?" irgendwie zusammen. Aber wie genau?
Hier setzt die Reflexion ein, die ich Ihnen versprochen habe.
2
2. Antwort:
Die Moral sagt uns:
"Hier bist du, dort sind die anderen. Schaue nicht nur auf dich." Weniger Egoismus, mehr Altruismus.
Doch die Moral tut so, als wäre klar, wer wir sind und wer die anderen, um die wir uns auch kümmern sollen.
Aber ist das so klar?
Eine Mutter, die ihr Kind hungern lässt und selber in Luxus schwelgt, handelt nicht einfach unmoralisch,
sondern vor allem unnatürlich. Wir vermuten, dass sie beim Anblick ihres hungernden Kindes mindestens
denselben Schmerz empfindet, wie wenn sie selber hungerte. Das Kind ist Teil von ihr.
Auf ähnliche Weise können auch Eltern Teil meiner selbst sein oder Freunde. Das Ich und Selbst, es ist
nichts anderes als ein generiertes Zentrum mit veränderlichen Rändern und Grenzen. Die Frage, was zu mir
gehört und was nicht, lässt sich nicht ein für alle Mal beantworten. Die Ränder verändern sich, so lange wir
leben. Und die Grenze meiner selbst lässt sich unendlich ausdehnen, nicht nur auf die eigenen Kinder.
Denken sie an den buddhistischen Mönch oder den christlichen Heiligen, die dasselbe Leid empfinden, wenn
sie selbst hungern oder wenn irgendjemand anders hungert. Leid und Mitleid haben dieselbe Wurzel. Was sie
voneinander trennt, ist nur unser fortlaufend konstruiertes Selbst.
Sie sehen jetzt: Die Fragen "Wie will ich in Zukunft leben?" und "Wie wollen wir in Zukunft leben?" liegen viel
näher beieinander, als es zunächst den Anschein hat. Denn die Grenze zwischen "ich" und "wir" ist
undeutlicher und konstruierter, als wir zumeist denken.
Sie werden fragen: Sollten wir alle wie buddhistische Mönche das Ich im Wir auflösen und das Leid aller
Menschen als eigenes empfinden? Ja und nein. Ja, weil Mitgefühl keine Grenzen haben sollte. Nein, weil es
ein gutes Kriterium gibt, wodurch sich das Ich vom Wir unterscheidet. Es ist die Verantwortung. Bei sich
selbst zu sein, heißt nicht, Eigeninteressen über Fremdinteressen zu stellen. Sondern es heißt, dass man
selbst und allein für sein Handeln verantwortlich ist. "Ich" zu sagen, bedeutet dann nicht, etwas zu
begehren oder zu beanspruchen, sondern es heißt, Verantwortung zu übernehmen für sein Handeln und
Unterlassen.
Sagen Sie also ganz egozentrisch "ich", wenn es um Verantwortung geht und sagen Sie "wir", wenn es um
Mitgefühl geht. Dann werden Sie verstehen, dass die Fragen "Wie soll meine Zukunft aussehen?" und "Wie
soll unsere Zukunft aussehen?" am Ende ein und dieselbe Frage sind. Sie sind dieselbe Frage, da es sowohl
um Mitgefühl als auch um Verantwortung geht.
Nehmen Sie diese Überlegungen mit und fragen sich, wer Sie sind und wer die anderen und was Sie da so
sicher macht. Ich bin mir sicher, diese Frage wird Sie bereichern im Laufe der Konferenzwoche. Ich wünsche
Ihnen spannende, erfahrungsreiche (und das heißt lehrreiche) Tage! Helfen Sie mit, damit wir als
Universität der Gesellschaft eine Antwort darauf geben können, wie wir im Jahre 2030 leben wollen!