Bochner-Räume Johannes Daube, Philipp Nägele 25. Februar 2016 Inhaltsverzeichnis 0 Einführung 5 1 Das 1.1 1.2 1.3 Bochner-Integral Bochner-Messbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bochner-Integrierbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schwache Messbarkeit und Satz von Pettis . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 9 10 13 2 Der 2.1 2.2 2.3 2.4 Bochnerraum Definition und erste Eigenschaften . Vollständigkeit . . . . . . . . . . . . Dichte Teilmengen und Separabilität Die Sätze von Vitali und Lebesgue . 23 23 25 28 30 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Dualräume und Reflexivität von Bochnerräumen 35 3.1 Charakterisierung der Dualräume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 3.2 Reflexivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 4 Vektorwertige Distributionen und verallgemeinerte Zeitableitung 45 4.1 Verallgemeinerte Zeitableitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 5 Verallgemeinerte Sobolevräume und deren 5.1 Definition und erste Eigenschaften . . 5.2 Einbettungen . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Fortsetzbarkeit und dichte Teilmengen 5.4 Partielle Integration . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis Eigenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 59 61 65 70 75 3 0 Einführung Sei Ω ⊂ R3 ein beschränktes Gebiet. Zum Ausgangszeitpunkt t = 0 werde die Temperaturverteilung in Ω durch die Funktion u0 : Ω → R beschrieben. Es gebe in Ω keine Wärmequelle und der Rand ∂Ω werde konstant auf eine Temperatur von 0 Grad gekühlt. Dann gehorcht die Temperaturverteilung u : I × Ω → R, die sich über den Zeitraum I = (0, T ) in Ω durch Diffusion einstellt, der Wärmeleitungsgleichung ∂t u − ∆u = 0 in I × Ω, u = 0 in I × ∂Ω, (0.0.1) u(0) = u0 in Ω. P Hierbei bezeichnet ∂t die partielle Ableitung nach der Zeitvariable t und ∆ := 3i=1 ∂i2 den üblichen Laplace-Operator. Die Wärmeleitungsgleichung ist somit eine Evolutionsgleichung, d.h. eine partielle Differentialgleichung, die explizit von der Zeit abhängt. Da partielle Differentialgleichungen sich nur in speziellen Fällen direkt“ lösen lassen, ” beschäftigt sich die moderne Theorie dieser Probleme vorrangig mit der Existenz sowie den quantitativen Eigenschaften sogenannter schwacher Lösungen“. Oft liefert diese ” Existenztheorie aber auch Hinweise auf die Konstruktion möglicher numerischer Verfahren zur computerbasierten Behandlung partieller Differentialgleichungen. Die Existenztheorie selbst nutzt meist abstrakte funktionalanalytische Hilfsmittel, die wiederum auf speziellen Eigenschaften der zugrunde liegenden Funktionenräume aufbauen. Um die naheliegenden Funktionenräume in unserem Beispiel genauer auszuarbeiten und zu motivieren, stellen wir zunächst eine Vorüberlegung an. Wir sehen der Gleichung (0.0.1) direkt an, dass eine potentielle Lösung u unterschiedliche Differenzierbarkeitseigenschaften bzgl. der Zeit- und Ortsvariablen erfüllen muss: Eine klassische Lösung müsste einmal stetig differenzierbar in der Zeit und zweimal stetig differenzierbar im Ort sein. Wir könnten also zunächst nach Lösungen im Funktionenraum X = {u : I × Ω → R | ∂t u ∈ C 0 (I × Ω), ∂i2 u ∈ C 0 (I × Ω) für i = 1, 2, 3} suchen. Andererseits können wir einer Funktion u : I × Ω → R durch die Vorschrift [ũ(t)](x) := u(t, x) eine Abbildung ũ : I → Y (Ω), t 7→ ũ(t), mit Werten in einem Funktionenraum Y (Ω), dessen Elemente auf Ω definierte Funktionen sind, zuordnen. Wir könnten also auch 5 0 Einführung nach einer Funktion ũ ∈ C 1 (I, Y (Ω)) suchen, wobei eine sinnvolle Wahl von Y (Ω) noch zu klären ist. Für klassische Lösungen ũ erwarten wir mit Blick auf Gleichung (0.0.1) ¯ C 2 (Ω)), also Y (Ω) = C 2 (Ω). ũ ∈ C 1 (I, Diese zweite Sichtweise wird sich im Folgenden als nützlich erweisen, denn sie erlaubt uns gewissermaßen, die Zeit- und Ortsvariablen zu entkoppeln, was im Hinblick auf die Struktur der Gleichung (0.0.1) durchaus sinnvoll erscheint. Um uns weiter an die richtige“ Wahl der Funktionenräume heranzutasten, nehmen ” wir nun an, wir hätten bereits eine hinreichend glatte Lösung u von (0.0.1) gefunden. Multiplizieren wir Gleichung (0.0.1)1 mit u und integrieren wir über Ω zu einem festen, aber beliebigen Zeitpunkt t ∈ I, so erhalten wir Z Z ∂t u(t, x)u(t, x) dx − ∆u(t, x)u(t, x) dx = 0. Ω Ω Der Satz von Gauß angewandt auf u(t, x)∇u(t, x) liefert dann zusammen mit der Randbedingung (0.0.1)2 Z Z ∂t u(t, x)u(t, x) dx + ∇u(t, x)∇u(t, x) dx = 0. Ω Ω Mit der Kettenregel ist 1 ∂t u(t, x)u(t, x) = ∂t u(t, x)2 2 und somit Z Z 1 ∂t u(t, x)2 dx + |∇u(t, x)|2 dx = 0. 2 Ω Ω Nach formaler Vertauschung von Integration und Ableitung erhalten wir schließlich Z Z 1 ∂t u(t, x)2 dx + |∇u(t, x)|2 dx = 0. (0.0.2) 2 Ω Ω Um von u zu ũ zu wechseln, müssen wir eine sinnvolle Wahl von Y (Ω) treffen. Im Hinblick auf die Größe Z |∇u(t, x)|2 dx Ω und die Randbedingung (0.0.1)2 ist eine naheliegende Wahl für Y (Ω) der Sobolevraum W01,2 (Ω) = {v ∈ L2 (Ω) | ∇v ∈ L2 (Ω, R3 ), v|∂Ω = 0} ausgestattet mit der Norm kvkW 1,2 (Ω) := k∇vkL2 (Ω,R3 ) , 0 die auf W01,2 (Ω) zur üblichen W 1,2 (Ω)-Norm äquivalent ist. Damit ist nun (0.0.2) äquivalent zu 1 ∂t kũ(t)k2L2 (Ω) + kũ(t)k2W 1,2 (Ω) = 0. 2 0 6 Integration dieser Gleichung über (0, s) ⊂ I liefert zusammen mit der Anfangsbedingung (0.0.1)3 für eine Anfangstemperaturverteilung u0 ∈ L2 (Ω) Z s 1 1 1 2 kũ(t)k2W 1,2 (Ω) dt = kũ(0)k2L2 (Ω) = ku0 k2L2 (Ω) . kũ(s)kL2 (Ω) + 2 2 2 0 0 Da die rechte Seite unabhängig von s ist, folgt schließlich Z T 1 2 kũ(t)k2W 1,2 (Ω) dt ≤ ku0 k2L2 (Ω) . sup kũ(s)kL2 (Ω) + 2 s∈I 0 0 (0.0.3) Aus dieser sogenannten Energiegleichung können wir nun eine Reihe von Schlüssen ziehen. Zunächst sehen wir, dass die Gesamtenergie Z s 1 2 kũ(t)k2W 1,2 (Ω) dt kũ(s)kL2 (Ω) + 2 0 0 des Systems zum Zeitpunkt s ∈ I der Energie 1 ku0 k2L2 (Ω) 2 zum Zeitpunkt t = 0 entspricht. Dabei beschreibt der erste Summand die kinetische Energie zum Zeitpunkt s ∈ I und der zweite Summand die bis zum Zeitpunkt s durch Reibung verloren gegangene Energie. Darüberhinaus ist der zweite Summand der linken Seite von (0.0.3) wohldefiniert, falls für fast alle t ∈ I gilt ũ(t) ∈ W01,2 (Ω) und außerdem die Abbildung t 7→ kũ(t)kW 1,2 (Ω) 0 in L2 (I) liegt. Wir schreiben dafür zunächst formal ũ ∈ L2 (I, W01,2 (Ω)). Analog liefert der erste Summand formal ũ ∈ L∞ (I, L2 (Ω)). Ausgehend von der Existenz einer klassischen Lösung u von (0.0.1) erhalten wir somit geeignete Funktionenräume für eine zugehörige (schwache) Lösung ũ: Die Funktion ũ muss in einem sogenannten Bochnerraum, nämlich in L∞ (I, L2 (Ω)) ∩ L2 (I, W01,2 (Ω)) 7 0 Einführung liegen. Vergleichen wir unsere ursprünglichen Differenzierbarkeitsanforderungen an u mit den durch die Struktur der Gleichung induzierten Anforderungen an ũ, so sehen wir Folgendes: Zunächst kommt in (0.0.3) keine Zeitableitung mehr vor. Außerdem sind wir durch partielle Integration eine Ortsableitung losgeworden und (0.0.3) ist wohldefiniert falls u(t, ·) = ũ(t) ∈ W01,2 (Ω) gilt, u also nur noch einmal schwach differenzierbar im Ort ist. (Dieses Vorgehen kennen wir bereits von der Laplace-Gleichung −∆u = 0.) Man nennt daher eine Funktion u : I × Ω → R schwache Lösung der Wärmeleitungsgleichung (0.0.1) zu Anfangsdaten u0 ∈ L2 (Ω), falls gilt: • Regularität: ũ ∈ L∞ (I, L2 (Ω)) ∩ L2 (I, W01,2 (Ω)), • Anfangswerte: ũ(0) = u0 , wobei wir noch nicht geklärt haben 1) in welchem Raum die Gleichheit aufzufassen ist und 2) ob die Auswertung von ũ zur Zeit 0 überhaupt wohldefiniert ist. • schwache Formulierung: Z Z Z Z u(t, x)∂t ϕ(t, x) dxdt + ∇u(t, x) · ∇ϕ(t, x) dxdt = 0 I Ω I Ω für alle geeigneten“ Testfunktionen ϕ. ” Am Beispiel der Wärmeleitungsgleichung haben wir erste typische Schritte in der Behandlung von Evolutionsproblemen kennengelernt. Die Vorlesung beschäftigt sich mit den technischen Hilfsmitteln, die für die schwache Existenztheorie von linearen und nichtlinearen Evolutionsproblemen notwendig sind. Im Mittelpunkt stehen dabei die Bochnerräume selbst, da sie den natürlichen funktionalanalytischen Rahmen für Evolutionsprobleme bilden. Der Begriff der Zeitableitung im Sinne vektorwertiger Distributionen wird uns in zweierlei Hinsicht begegnen: Einerseits liefert er die Grundlage für eine allgemeine Regel zur partiellen Integration Banachraum-wertiger Funktionen. Andererseits ist er aber auch Ausgangspunkt für das Kompaktheitslemma von Aubin und Lions. Diese beiden Werkzeuge gehören zu den Grundbausteinen für die moderne Existenztheorie für Evolutionsgleichungen. 8 1 Das Bochner-Integral Wir haben in der Einführung gesehen, dass Evolutionsprobleme Anlass geben, Funktionen zwischen einem beschränkten Zeitintervall I und einem Banachraum X zu betrachten. Aus der Lebesgue’schen Integrationstheorie wissen wir, dass eine Funktion auf I mit Werten in X = R genau dann (Lebesgue-)messbar ist, falls sie fast überall der punktweise Grenzwert einer Folge von Treppenfunktionen ist. Das Lebesgue-Integral von nichtnegativen Funktionen kann dann als Grenzwert von Integralen einer geeigneten Folge von Treppenfunktionen definiert werden. Unser erstes Ziel besteht darin, die Lebesgue’sche Integrationstheorie auf Banachraumwertige Funktionen zu erweitern. In diesem Zusammenhang dient die Approximierbarkeit mittels Treppenfunktionen als Ausgangspunkt für einen geeigneten Messbarkeitsbegriff. 1.1 Bochner-Messbarkeit Definition 1.1.1 (Treppenfunktion). Eine Funktion s : I → X heißt Treppenfunktion, falls paarweise disjunkte, Lebesguemessbare Mengen Bi ⊂ I mit λ(Bi ) < ∞, i = 1, ..., n und xi ∈ X, i = 1, ..., n existieren, sodass sich s schreiben lässt als n X s= xi χBi , i=1 wobei die charakteristische Funktion χBi : I → R definiert ist als ( 1, t ∈ Bi , χBi (t) = 0, t ∈ / Bi . Die Menge der Treppenfunktionen auf I mit Werten in X bezeichnen wir mit S(I, X). Definition 1.1.2 (Bochner-Messbarkeit). Eine Funktion u : I → X heißt Bochner-messbar, falls eine Folge (sn )n∈N ⊂ S(I, X) von Treppenfunktionen existiert, sodass für fast alle t ∈ I gilt lim ksn (t) − u(t)kX = 0. n→∞ Lemma 1.1.3 (u Bochner-messbar ⇒ ku(·)k Lebesgue-messbar). Falls u : I → X Bochner-messbar ist, so ist die reellwertige Funktion ku(·)kX : I → R, t 7→ ku(t)kX 9 1 Das Bochner-Integral Lebesgue-messbar. Beweis. Da u Bochner-messbar ist, exisitiert eine Folge (sn )n∈N ⊂ S(I, X) mit sn (t) → u(t) in X für fast alle t ∈ I. Die Funktionen ksn (·)kX : I → R sind Treppenfunktionen mit Werten in R und somit Lebesgue-messbar. Außerdem gilt für fast alle t ∈ I lim ku(t)kX − ksn (t)kX ≤ lim ku(t) − sn (t)kX = 0. n→∞ n→∞ Die Funktion ku(·)kX ist somit als fast-überall-Grenzwert einer Folge von Lebesguemessbaren Funktionen selbst Lebesgue-messbar. 1.2 Bochner-Integrierbarkeit Definition 1.2.1 (Bochner-Integral von Treppenfunktionen). Sei n X s= xi χBi : I → X i=1 eine Treppenfunktion. Dann ist das Bochner-Integral von s definiert als Z s(t) dt := I n X xi λ(Bi ). i=1 Korollar 1.2.2 (Elementare Eigenschaften I). R 1. Für s ∈ S(I, X) gilt I s(t)dt ∈ X. 2. Das Bochner-Integral ist unabhängig von der Darstellung der Treppenfunktion, d.h. falls n m X X s= xi χBi = yj χCj , i=1 so gilt Z s(t) dt = I n X j=1 xi λ(Bi ) = i=1 m X yj λ(Cj ). j=1 3. Für α, β ∈ R und s1 , s2 ∈ S(I, X) gilt Z Z Z (αs1 + βs2 )(t) dt = α s1 (t) dt + β s2 (t) dt. I 10 I I 1.2 Bochner-Integrierbarkeit 4. Für s ∈ S(I, X) gilt Z s(t) dt I Z ≤ X ks(t)kX dt I und die rechte Seite ist wohldefiniert als Lebesgue-Integral. Beweis. Blatt 2, Aufgabe 2 Definition 1.2.3 (Bochner-integrierbar, Bochner-Integral). Eine Funktion u : I → X heißt Bochner-integrierbar, falls eine Folge von Treppenfunktionen (sn )n∈N ⊂ S(I, X) existiert mit (1) lim sn (t) = u(t) für fast alle t ∈ I und n→∞ Z (2) lim ksn (t) − u(t)kX dt = 0. n→∞ I (1.2.1) (1.2.2) Für eine Bochner-integrierbare Funktion u : I → X definieren wir das BochnerIntegral als Z Z u(t) dt := lim sn (t) dt. (1.2.3) n→∞ I I Die Menge der Bochner-integrierbaren Funktionen auf I mit Werten in X bezeichnen wir mit L1 (I, X). Bemerkung 1.2.4 (Wohldefiniertheit in Definition 1.2.3). 1. Die Forderung (1.2.1) besagt insbesondere, dass u Bochner-messbar ist. 2. Die Forderung (1.2.2) ist sinnvoll, denn nach Lemma 1.1.3 ist für jedes n ∈ N die reellwertige Funktion t → ksn (t) − u(t)kX (zumindest) Lebesgue-messbar und damit ist Z ksn (t) − u(t)kX dt I als Lebesgue-Integral definiert. 3. Das Bochner-Integral einer Bochner-integrierbaren Funktion ist unabhängig von der approximierenden Folge von Treppenfunktionen, denn für zwei approximierende Folgen (s1n )n∈N und (s2n )n∈N gilt Z Z s1n (t) − s2n (t) dt ≤ ks1n (t) − s2n (t)kX dt I X ZI Z 1 ≤ ksn (t) − u(t)kX dt + ku(t) − s2n (t)kX dt I I → 0 für n → ∞ 11 1 Das Bochner-Integral und somit folgt (da beide Grenzwerte existieren) Z Z Z 1 2 lim sn (t) dt = lim sn (t) dt = u(t) dt. n→∞ I n→∞ I I Satz 1.2.5 (Bochner-Kriterium). Eine Funktion u : I → X ist genau dann Bochner-integrierbar wenn u Bochner-messbar und die Funktion ku(·)kX : I → R Lebesgue-integrierbar ist. Beweis. Sei zunächst u Bochner-integrierbar. Damit ist u nach Bemerkung 1.2.4 Teil 1. Bochner-messbar, d.h. es existiert eine Folge (sn )n∈N ⊂ S(I, X) mit lim sn (t) = u(t) in X n→∞ für fast alle t ∈ I. Nach Lemma 1.1.3 ist ku(·)kX Lebesgue-messbar und außerdem gilt Z Z Z ku(t)kX dt ≤ ksn (t) − u(t)kX dt + ksn (t)kX dt < ∞, I I I da der erste Summand gegen Null konvergiert und der zweite wegen sn ∈ S(I, X) beschränkt ist. Also ist ku(·)kX auch Lebesgue-integrierbar. Sei nun u Bochner-messbar und ku(·)kX Lebesgue-integrierbar. Für eine approximierende Folge (sn )n∈N ⊂ S(I, X) mit lim sn (t) = u(t) in X n→∞ für fast alle t ∈ I, definieren wir eine weitere Folge von Treppenfunktionen durch kn := sn χ{t∈I | ksn (t)kX ≤2ku(t)kX } . Dann gilt, wie man leicht nachrechnet, für fast alle t ∈ I lim kn (t) = u(t) in X. n→∞ Außerdem gilt kkn (t) − u(t)kX ≤ 3ku(t)kX , wobei ku(·)kX nach Voraussetzung Lebesgue-integrierbar ist. Der Satz über majorisierte Konvergenz liefert daher Z lim kkn (t) − u(t)kX dt = 0 n→∞ I und somit ist u Bochner-integrierbar. 12 1.3 Schwache Messbarkeit und Satz von Pettis Definition 1.2.6. Wir definieren wie in der Lebesgue’schen Theorie L1 (I, X) := L1 (I, X)/∼ , wobei die Äquivalenzrelation ∼ gegeben sei durch Gleichheit fast überall“. Wir definie” ren außerdem Z kukL1 (I,X) := ku(t)kX dt. I Man überzeuge sich davon, dass k · kL1 (I,X) eine Norm auf L1 (I, X) liefert. Lemma 1.2.7 (Elementare Eigenschaften II). 1. Für u ∈ L1 (I, X) gilt Z u(t) dt I Z ≤ X ku(t)kX dt. I 2. Seien X, Y Banachräume und T : X → Y linear und stetig. Ist u ∈ L1 (I, X), so gilt T u ∈ L1 (I, Y ) und Z Z T u(t) dt = T u(t) dt. I I 3. Für u ∈ L1 (I, X) und jedes Funktional F ∈ X ∗ gilt hF, u(·)iX ∈ L1 (I) = L1 (I, R) und Z Z F, u(t)dt = hF, u(t)iX dt. I X I Hierbei bezeichnet h·, ·iX die duale Paarung im Banachraum X. Beweis. Blatt 2, Aufgabe 2 1.3 Schwache Messbarkeit und Satz von Pettis Im vorangegangenen Abschnitt haben wir das Konzept der Bochner-Messbarkeit, in der Literatur meist auch starke Messbarkeit genannt, kennengelernt. Als unmittelbare Folgerung der Bochner-Messbarkeit einer Funktion u : I → X ergab sich in Lemma 1.1.3 die Lebesgue-Messbarkeit der Funktion ku(·)kX : I → R und, unter der zusätzlichen Voraussetzung der Bochner-Integrierbarkeit von u, die Lebesgue-Integrierbarkeit der Funktion ku(·)kX in Satz 1.2.5. Man sollte an diesem Punkt bemerken, dass die Bochner-Messbarkeit einerseits wesentlich für die bisherigen Resultate war, wir aber andererseits noch kein wirklich handli” ches“ Kriterium für ihren Nachweis haben. Der Satz von Pettis liefert genau solch ein 13 1 Das Bochner-Integral Kriterium im Falle der Separabilität des Bildraums X. Die Forderung der Separabilität von X ist dabei keine wesentliche Einschränkung für die Anwendung: In der Motivation mit Hilfe der Wärmeleitungsgleichung war X entweder ein klassischer Lebesgue- oder ein Sobolevraum. Diese Räume sind jedoch für die Skala von Integrationsexponenten 1 < p < ∞ stets separabel. Den Preis, den wir für den Satz von Pettis bezahlen müssen, ist das Konzept der sogenannten schwachen Messbarkeit. Zur Motivation dieses Konzepts wollen wir zunächst an den Satz von Hahn-Banach oder besser gesagt an eine Folgerung aus diesem Satz zur Fortsetzbarkeit linearer Funktionale erinnern. Satz 1.3.1 (Folgerung aus Hahn-Banach). Sei X ein Banachraum mit Norm k · kX . Dann existiert für alle x ∈ X (mindestens) ein fx ∈ X ∗ mit kfx kX ∗ = kxkX und hfx , xiX = kxk2X . Setzen wir f = kxk−1 fx so sehen wir, dass für alle x ∈ X (mindestens) ein f ∈ X ∗ existiert mit kf kX ∗ = 1 und hf, xiX = kxkX . Auch wenn uns der Satz von Hahn-Banach die Fortsetzbarkeit linearer Funktionale sichert, so liefert uns doch erst der eben zitierte Satz die Tatsache, dass der Dualraum X ∗ eines Banachraums X in gewisser Weise reichhaltig genug ist. Es ist also durchaus sinnvoll, zu einer gegebenen Funktion u : I → X, die zugehörige Schar reeller Funktionen t 7→ hf, u(t)iX für f ∈ X ∗ (1.3.1) zu betrachten und die Lebesgue-Messbarkeit dieser Funktionen zu untersuchen. Die finale Rechtfertigung dafür liefert dann der Satz von Pettis, denn er besagt, dass die LebesgueMessbarkeit der Abbildungsschar in (1.3.1) äquivalent ist zur Bochner-Messbarkeit der Funktion u : I → X, solange der Raum X separabel ist. Bevor wir jedoch zu diesem Ergebnis gelangen, brauchen wir einige technische Hilfsmittel. Wir orientieren uns dabei an der Darstellung von [Wlo82]; formulieren die Ergebnisse jedoch direkt für Banachräume und nicht nur ausschließlich für Hilberträume. Im Folgenden sei wieder I ⊂ R ein beschränktes Intervall und (X, k·kX ) ein Banachraum. Definition 1.3.2 (Schwache Messbarkeit, separabelwertig,...). Eine Funktion u : I → X heißt 1. schwach messbar, falls die reelle Funktion hf, u(·)iX : I → R für alle f ∈ X ∗ Lebesgue-messbar ist; 14 1.3 Schwache Messbarkeit und Satz von Pettis 2. abzählbarwertig, falls Im(u) := {x ∈ X | ∃t ∈ I mit u(t) = x} abzählbar ist und für alle x ∈ Im(u) die Menge Bx := u−1 (x) = {t ∈ I | u(t) = x} Lebesgue-messbar ist, d.h. dass Bx ∈ B(I) gilt, wobei wir mit B(I) die Borel’sche σ-Algebra auf I bezeichnen; 3. separabelwertig, falls Im(u) separabel ist; 4. fast separabelwertig, falls eine Lebesgue-Nullmenge B0 ∈ B(I) existiert, sodass Im(u|I\B0 ) separabel ist; 5. endlichwertig oder Treppenfunktion, falls paarweise disjunkte und Lebesguemessbare Mengen Bi mit λ(Bi ) < ∞ und Funktionswerte xi 6= 0, i = 1, ..., n existieren, sodass u(t) = xi für alle t ∈ Bi und n [ u(t) = 0 für alle t ∈ I \ Bi . i=1 Nun haben wir alle notwendigen Definitionen für den folgenden Satz. Satz 1.3.3 (Pettis). Eine Funktion u : I → X ist genau dann Bochner-messbar, wenn u schwach messbar und fast separabelwertig ist. Insbesondere gilt: Ist X ein separabler Banachraum, so sind Bochner-Messbarkeit und schwache Messbarkeit äquivalent. Beweis. Sei zunächst u : I → X Bochner-messbar. Nach Definition 1.1.2 existiert dann eine Folge (sn )n∈N ⊂ S(I, X) von Treppenfunktionen mit lim sn (t) = u(t) n→∞ für fast alle t ∈ I. Insbesondere existiert ein B0 ∈ B(I) mit λ(B0 ) = 0 und lim sn (t) = u(t) für alle t ∈ I \ B0 . n→∞ Dann gilt aber für jedes f ∈ X ∗ und für alle t ∈ I \ B0 lim hf, sn (t)iX = hf, u(t)iX . n→∞ 15 1 Das Bochner-Integral Da hf, sn (·)iX für alle n ∈ N als reelle Treppenfunktion Lebesgue-messbar ist, ist auch hf, u(·)iX als fast-überall-Grenzwert Lebesgue-messbar, also ist u schwach messbar. Darüber hinaus ist jede Treppenfunktion sn endlichwertig und damit gilt [ Im(sn ) ist abzählbar und n∈N [ k·kX Im(sn ) ist separabel. n∈N Wegen Im(u|I\B0 ) = [ {u(t)} ⊂ [ Im(sn ) n∈N t∈I\B0 ist u somit fast separabelwertig. Sei nun u schwach messbar und fast separabelwertig. Wir können ohne Beschränkung der Allgemeinheit annehmen, dass X selbst separabel ist, da wir andernfalls X durch den separablen Banachraum span Im(u|I\B0 ) ⊂ X ersetzen können. In einem ersten Schritt zeigen wir jetzt, dass ku(·)kX Lebesgue-messbar ist. Anschließend konstruieren wir in einem zweiten Schritt eine Folge von Treppenfunktionen, die u im Sinne der Bochner-Messbarkeit approximiert. Für den ersten Schritt benötigen wir folgende technische Aussage, die in [Bré11] oder in [Yos80] bewiesen wird: Sei X ein separabler Banachraum. Dann gibt es eine Folge (fn )n∈N ⊂ X ∗ mit kfn kX ∗ ≤ 1, sodass für alle f0 ∈ X ∗ mit kf0 kX ∗ ≤ 1 eine Teilfolge (fnk )k∈N ⊂ (fn )n∈N existiert mit lim hfnk , xiX = hf0 , xiX für alle x ∈ X. k→∞ Für beliebiges a ∈ R sei A := {t ∈ I | ku(t)kX ≤ a} und Af := {t ∈ I | |hf, u(t)iX | ≤ a} für f ∈ X ∗ . Da u schwach messbar ist, ist Af für jedes f ∈ X ∗ eine Lebesgue-messbare Menge. Wenn wir zeigen können, dass es eine Folge (fj )j∈N ⊂ X ∗ gibt mit A= ∞ \ A fj , j=1 so ist A eine Lebesgue-messbare Menge und somit ku(·)kX : I → R Lebesgue-messbar. Mit der Normformel gilt kxkX = supkf kX ∗ ≤1 hf, xiX und daher \ A⊂ Af . kf kX ∗ ≤1 16 1.3 Schwache Messbarkeit und Satz von Pettis Wegen der Folgerung 1.3.1 aus dem Satz von Hahn-Banach existiert für festes t ∈ I ein f ∈ X ∗ mit kf kX ∗ = 1 und ku(t)kX = hf, u(t)iX . Daher gilt \ \ Af = A. Af ⊂ A und somit kf kX ∗ ≤1 kf kX ∗ ≤1 Dank unserer Zwischenbehauptung existiert eine Folge (fj )j∈N ⊂ X ∗ mit kfj kX ∗ ≤ 1 und ∞ \ \ A fj = j=1 Af = A. kf kX ∗ ≤1 Nun konstruieren wir die gesuchte Folge von Treppenfunktionen: Da X separabel ist, j existieren zu jedem festen n ∈ N offene Kugeln K1/n (xj,n ), j ∈ N, mit Mittelpunkten xj,n ∈ X, j ∈ N und Radius 1 n, sodass gilt Im(u) ⊂ [ j K1/n (xj,n ). j∈N Da ku(·)kX Lebesgue-messbar ist, ist für jedes j ∈ N und jedes n ∈ N auch ku(·) − xj,n kX Lebesgue-messbar, d.h. j Bj,n := {t ∈ I | u(t) ∈ K1/n (xj,n )} ist eine Lebesgue-messbare Menge und es gilt [ I= Bj,n . j∈N Wir definieren daher Funktionen ei,n := Bi,n \ sen (t) := xi,n , falls t ∈ B i−1 [ Bj,n . j=1 ei,n Lebesgue-messbar und paarweise disjunkt und es gilt Dann sind die B I= [ ei,n . B i∈N Wegen ku(t) − sen (t)kX < 1 für alle t ∈ I n 17 1 Das Bochner-Integral gilt lim sen (t) = u(t) in X für alle t ∈ I. n→∞ Die sen sind nur abzählbarwertig; unsere Definition der Bochner-Messbarkeit verlangt jedoch, dass die approximierende Folge von Treppenfunktionen aus endlichwertigen Funktionen besteht. Die Tatsache, dass man im separablen Fall abzählbarwertige Funktionen durch endlichwertige Treppenfunktionen approximieren kann ist naheliegend, der Beweis ist jedoch nicht ganz einfach, da er noch zwei weitere Sätze aus der Maßtheorie benutzt. Wir werden den Beweis dieser Aussage später zeigen, nehmen ihre Gültigkeit aber für den Moment an, um den Beweis des Satzes von Pettis zu beenden. Als Nächstes wenden wir uns noch einigen Folgerungen aus dem Satz von Pettis zu. Folgerung 1.3.4. Sei X ein separabler Banachraum und u : I → X eine Funktion. Sei (un )n∈N : I → X eine Folge Bochner-messbarer Funktionen und es gelte un (t) * u(t) für fast alle t ∈ I. Dann ist auch u Bochner-messbar. Beweis. Blatt 3, Aufgabe 1 Folgerung 1.3.5. 1. Sei H ein separabler Hilbertraum und u, v : I → H schwach messbar. Dann ist die Funktion (u(·), v(·))H : I → R Lebesgue-messbar. 2. Sei X ein separabler, reflexiver Banachraum und u : I → X und f : I → X ∗ seien schwach messbar. Dann ist die Funktion hf (·), u(·)iX : I → R Lebesgue-messbar. Beweis. Blatt 3, Aufgabe 2 Bevor wir die noch ausstehende Behauptung im Beweis des Satzes von Pettis nachholen, erwähnen wir noch zwei weitere Sätze, die sinngemäß aus der klassischen Maßtheorie bekannt sein sollten. Die Beweise findet der interessierte Leser in [Wlo82]. Definition 1.3.6 (Fast gleichmäßige Konvergenz). Eine Folge (un )n∈N : I → X konvergiert fast gleichmäßig gegen u : I → X, falls für alle ε > 0 eine messbare Menge F mit λ(F ) < ε existiert, so dass für n → ∞ gilt un (t) → u(t) gleichmäßig auf I \ F. Satz 1.3.7 (Egorov). Sei X ein separabler Banachraum. Seien (un )n∈N , u : I → X schwach messbar und es gelte limn→∞ un (t) = u(t) für fast alle t ∈ I. Dann konvergiert (un )n∈N fast gleichmäßig gegen u. 18 1.3 Schwache Messbarkeit und Satz von Pettis Definition 1.3.8 (Konvergenz nach Maß). Eine Folge (un )n∈N : I → X schwach messbarer Funktionen konvergiert nach Maß gegen eine schwach messbare Funktion u : I → X, falls für alle ε > 0 gilt lim λ ({t ∈ I | kun (t) − u(t)kX ≥ ε}) = 0. n→∞ Wie auch im klassischen Fall impliziert fast gleichmäßige Konvergenz Konvergenz nach Maß. Hat I endliches Maß, so ist die Konvergenz nach Maß außerdem metrisierbar, d.h. auf dem Raum der schwach messbaren Funktionen existiert eine Metrik, die die gleiche Topologie wie die Konvergenz nach Maß erzeugt. Diese Metrik ist gegeben durch Z := min{1, ku(t) − v(t)kX } dt. (1.3.2) d(u, v) I Es gilt dann der folgende Kompaktheitssatz: Satz 1.3.9. Sei X ein separabler Banachraum. Seien (un )n∈N , u : I → X schwach messbar und es gelte limn→∞ un = u nach Maß. Dann exisitert eine Teilfolge (unk )k∈N , die fast gleichmäßig gegen u konvergiert. Kommen wir nun zum noch ausstehenden Beweis der Behauptung aus dem letzten Teil des Beweises vom Satz von Pettis. Lemma 1.3.10. Sei X ein separabler Banachraum und u : I → X schwach messbar. Dann ist u Bochnermessbar; insbesondere existiert eine Folge (sn )n∈N ⊂ S(I, X) mit lim sn (t) = u(t) in X für fast alle t ∈ I. n→∞ Beweis. Im Beweis des Satzes von Pettis hatten wir bereits eine Folge abzählbarwertiger, schwach messbarer Funktionen (e sl )l∈N konstruiert mit lim sel (t) = u(t) in X l→∞ für alle t ∈ I. Aufgrund des Satzes von Egorov konvergiert (e sl )l∈N fast gleichmäßig gegen u. Diese Tatsache impliziert die Konvergenz von (e sl )l∈N gegen u nach Maß und schließlich gilt mit der in (1.3.2) definierten Metrik auch lim d(e sl , u) = 0. l→∞ Betrachten wir nun eine beliebige abzählbarwertige Funktion v : I → X mit v= ∞ X yk χBk , k=1 19 1 Das Bochner-Integral wobei für alle k ∈ N gelte yk ∈ X und Bk ∈ B(I). Setzen wir vn := n X yk χBk , k=1 so gilt vn ∈ S(I, X) und vn = v auf I \ ∞ [ Bk . k=n+1 Wegen I = S k Bk und λ(I) < ∞ existiert zu jedem ε > 0 ein n0 (ε) ∈ N mit ! ∞ ∞ [ X λ Bk = λ(Bk ) < ε für alle n ≥ n0 (ε). k=n+1 k=n+1 Das bedeutet, dass (vn )n∈N ⊂ S(I, X) fast gleichmäßig gegen v konvergiert. Für festes l ∈ N finden wir daher eine Folge (slm )m∈N ⊂ S(I, X), die für m → ∞ fast gleichmäßig gegen sel konvergiert. Mit der gleichen Begründung wie oben gilt dann auch lim d(slm , sel ) = 0. m→∞ Zu jedem k ∈ N finden wir also Zahlen lk ∈ N und mk ∈ N mit 1 , 2k 1 d(slmk k , sf . lk ) ≤ 2k d(f slk , u) ≤ Daraus folgt d(slmk k , u) ≤ d(slmk k , sf slk , u) ≤ lk ) + d(f 1 k und daher lim d(slmk k , u) = 0. k→∞ Wegen der Metrisierbarkeit der Konvergenz nach Maß gilt daher äquivalent slmk k → u nach Maß für k → ∞. Nach dem Kompaktheitssatz 1.3.9 existiert eine Teilfolge (sn )n∈N ⊂ (slmk k )k∈N ⊂ S(I, X), die fast gleichmäßig gegen den gleichen Grenzwert, also gegen u, konvergiert. Das heißt also: Für jedes ε > 0 exisitiert eine Menge Fε ∈ B(I) mit λ(Fε ) < ε und sn → u gleichmäßig auf I \ Fε . 20 1.3 Schwache Messbarkeit und Satz von Pettis Wir setzen schließlich F := \ Fε . ε>0 Dann gilt λ(F ) ≤ λ(Fε ) ≤ ε für alle ε > 0, d.h. F ist eine Lebesgue-Nullmenge, und es ist lim sn (t) = u(t) in X für alle t ∈ I \ F. n→∞ Also haben wir eine Folge (sn )n∈N ⊂ S(I, X) gefunden mit lim sn (t) = u(t) in X für fast alle t ∈ I. n→∞ Damit haben wir die Bochner-Messbarkeit von u gezeigt. Bemerkung 1.3.11. Die Definition der Bochner-Messbarkeit ist in der Literatur nicht einheitlich: In [Yos80] wird Bochner-Messbarkeit direkt durch fast-überall-Approximierbarkeit mittels abzählbarwertiger Funktionen definiert. Um mit [Růž04] konsistent zu bleiben, halten wir uns aber an die dortigen Definitionen. 21 2 Der Bochnerraum Nachdem wir uns im vorherigen Abschnitt ausführlich mit verschiedenen Konzepten der Messbarkeit vektorwertiger Funktionen auseinandergesetzt haben, kommen wir nun endlich zur Definition der Bochnerräume Lp (I, X). Neben der Vollständigkeit von Lp (I, X) für 1 ≤ p ≤ ∞ interessieren wir uns auch für die Separabilität von Bochnerräumen. Außerdem formulieren wir die für die Anwendung nützlichen Sätze von Vitali, den Satz über majorisierte Konvergenz von Lebesgue und einen Satz über Vertauschbarkeit von Integral und Ableitung im Setting von Bochnerräumen. So nützlich diese Sätze zweifelsohne sind, so nachvollziehbar machen ihre Beweise jedoch auch folgendes Zitat von Kurt Friedrichs: What I don’t like about measure theory is ” that you have to say ‘almost everywhere’ almost everywhere...“ 2.1 Definition und erste Eigenschaften Definition 2.1.1 (Lp (I, X)). Sei I ⊂ R ein beschränktes Intervall und (X, k·kX ) ein Banachraum. Wir definieren 1. für 1 ≤ p < ∞ Z p L (I, X) := {u : I → X | u Bochner-messbar mit I ku(t)kpX dt < ∞}/∼ mit Norm Z kukLp (I,X) := I ku(t)kpX 1/p dt 2. und für p = ∞ L∞ (I, X) := {u : I → X | u Bochner-messbar und es existiert C > 0 mit ku(t)kX ≤ C für fast alle t ∈ I}/∼ mit Norm kukL∞ (I,X) := ess sup ku(t)kX t∈I := inf{C > 0 | ku(t)kX ≤ C für fast alle t ∈ I}. Dabei ist in beiden Fällen die Äquivalenzrelation ∼ durch Gleichheit fast überall“ ge” geben. 23 2 Der Bochnerraum Bevor wir zur Vollständigkeit von Lp (I, X) kommen, notieren wir einige einfache Folgerungen. Korollar 2.1.2. 1. Die Räume Lp (I, X) sind reelle Vektorräume. 2. Gilt X ,→ Y für einen weiteren Banachraum (Y, k·kY ), dann gilt auch Lp (I, X) ,→ Lp (I, Y ). 3. Ist T : X → Y linear und stetig, so induziert T einen linearen, stetigen Operator (den wir wieder mit T bezeichnen) T : Lp (I, X) → Lp (I, Y ). Beweis. Übung Auch die Hölder-Ungleichung gilt in Bochnerräumen weiterhin. Zu beachten ist natürlich Folgendes: Sind X, Y beliebige Banachräume und u, v Funktionen mit Werten in X bzw. Y , so ist das Produkt u(t)v(t) in der Regel nicht definiert. Umgehen können wir dieses Problem einfach, falls Y = X ∗ gilt. Lemma 2.1.3 (Hölder). Seien 1 ≤ p, q ≤ ∞ mit p1 + 1q = 1. Für u ∈ Lp (I, X) und v ∈ Lq (I, X ∗ ) gilt dann hv(·), u(·)iX ∈ L1 (I, R) mit Z |hv(t), u(t)iX | dt ≤ kvkLq (I,X ∗ ) kukLp (I,X) . I Beweis. Da u und v Bochner-messbar sind, exisitieren Folgen von Treppenfunktionen (sn )n∈N ⊂ S(I, X), (kn )n∈N ⊂ S(I, X ∗ ) mit lim sn (t) = u(t) in X für fast alle t ∈ I, n→∞ lim kn (t) = v(t) in X ∗ für fast alle t ∈ I. n→∞ Daher konvergiert die Folge Lebesgue-messbarer Funktionen hkn (·), sn (·)iX fast überall gegen hv(·), u(·)iX , also ist hv(·), u(·)iX Lebesgue-messbar. Satz 1.2.5 liefert ku(·)kX ∈ Lp (I) und kv(·)kX ∗ ∈ Lq (I). Mit der klassischen HölderUngleichung folgt schließlich Z Z |hv(t), u(t)iX | dt ≤ kv(t)kX ∗ ku(t)kX dt I I ≤ kvkLq (I,X ∗ ) kukLp (I,X) < ∞. 24 2.2 Vollständigkeit Korollar 2.1.4. Sei I ⊂ R ein beschränktes Intervall und X, Y und Z Banachräume. 1. Falls u ∈ Lp (I, X) ist, so ist auch u ∈ Lq (I, X) für alle 1 ≤ q ≤ p. 2. Für p ≤ r ≤ q gilt Lp (I, X) ∩ Lq (I, X) ,→ Lr (I, X). 3. Seien 1 ≤ p, q, r ≤ ∞ mit 1r = p1 + 1q und sei B : X × Y → Z eine stetige, bilineare Abbildung. Dann induziert B eine stetige, bilineare Abbildung (die wir wieder mit B bezeichnen) B : Lp (I, X) × Lq (I, Y ) → Lr (I, Z), (u, v) 7→ B(u, v) mit B(u, v)(t) := B(u(t), v(t)). Beweis. Blatt 4, Aufgabe 4 2.2 Vollständigkeit Wir kommen nun zu einem der zentralen Resultate dieses Abschnitts, nämlich der Vollständigkeit der Bochnerräume. Satz 2.2.1 (Vollständigkeit der Bochnerräume). Sei (X, k·kX ) ein Banachraum. Dann sind die Bochnerräume Lp (I, X) für 1 ≤ p ≤ ∞ ebenfalls Banachräume. Beweis. Wir unterscheiden die Fälle 1 ≤ p < ∞ und p = ∞. In beiden Fällen definiert k·kLp (I,X) eine Norm, sodass nur die Vollständigkeit zu zeigen bleibt. 1. Fall: 1 ≤ p < ∞. Sei (un )n∈N ⊂ Lp (I, X) eine Cauchyfolge, d.h. es gilt lim kun − uk kLp (I,X) = 0. n,k→∞ Wir finden daher eine wachsende Folge (kj )j∈N ⊂ N mit un − uk p p < 4−j für alle n ≥ kj . j L (I,X) (2.2.1) Für die Teilfolge (vj )j∈N ⊂ (un )n∈N mit vj = ukj gilt wegen kj+1 ≥ kj und (2.2.1) Z p kvj+1 − vj kLp (I,X) = kvj+1 (t) − vj (t)kpX dt < 4−j . (2.2.2) I 25 2 Der Bochnerraum Für die Lebesgue-messbaren Mengen Mj := {t ∈ I | kvj+1 (t) − vj (t)kpX ≥ 2−j } und Ni := [ Mj j≥i folgt aus (2.2.2) Z λ(Mj ) = χMj (t) dt IZ ≤ 2j I kvj+1 (t) − vj (t)kpX dt ≤ 2j · 4−j = 2−j . Daraus ergibt sich λ(Ni ) ≤ X λ(Mj ) ≤ j≥i Für N := T i≥1 Ni X 2−j = 21−i . j≥i gilt wegen N1 ⊃ N2 ⊃ ... und den Eigenschaften des Lebesguemaßes λ(N ) ≤ lim sup λ(Ni ) = lim 21−i = 0. i→∞ i→∞ Für t ∈ I \ N existiert ein i ∈ N mit t ∈ / Ni , was t ∈ / Mj für alle j ≥ i nach sich zieht. Dann gilt aber kvj+1 (t) − vj (t)kpX < 2−j für alle j ≥ i. Damit folgt für alle t ∈ I \ N lim kvj+1 (t) − vj (t)kpX = 0. j→∞ Das bedeutet, dass die Folge (vj (t))j∈N für alle t ∈ I \N eine Cauchyfolge im Banachraum X ist. Daher existiert für alle t ∈ I \ N ein Element u(t) ∈ X für das gilt lim kvj (t) − u(t)kX = 0. j→∞ Setzen wir noch u(t) := 0 für t ∈ N , so haben wir nun einen möglichen Kandidaten u : I → X für den Grenzwert der Cauchyfolge (un ) gefunden. Als Teilfolge der Bochner-messbaren Folge (un ) ist die Folge (vj ) ebenfalls Bochnermessbar. Die Funktion u ist somit als fast-überall-Grenzwert der Folge (vj ) Bochnermessbar. Mit dem Lemma von Fatou angewandt auf die Folge Lebesgue-messbarer Funktionen kvj (·) − vi (·)kX gilt kvj − ukpLp (I,X) ≤ lim inf kvj − vi kpLp (I,X) i→∞ 26 2.2 Vollständigkeit und wegen (vj ) ⊂ (un ) folglich lim kvj − ukLp (I,X) = 0. j→∞ Wegen kukLp (I,X) ≤ ku − vj kLp (I,X) + kvj kLp (I,X) < ∞ gilt u ∈ Lp (I, X). Abschließend erhalten wir wegen der für alle j ∈ N gültigen Ungleichung kun − ukLp (I,X) ≤ kun − vj kLp (I,X) + kvj − ukLp (I,X) die gewünschte Konvergenz un → u in Lp (I, X). 2. Fall: p = ∞. Sei (un )n∈N ⊂ L∞ (I, X) eine Cauchyfolge, d. h. es gilt lim ess sup kun (t) − uk (t)kX = 0. n,k→∞ t∈I Für alle i ∈ N existiert daher ein n(i), sodass für alle n, k ≥ n(i) gilt 1 ess sup kun (t) − uk (t)kX < . i t∈I Nach Definition des essentiellen Supremums gilt also kun (t) − uk (t)kX < 1 i i i und für alle mit einer von n, k und i abhängigen Nullmengen Nn,k für alle t ∈ I \ Nn,k n, k ≥ n(i). Mit [ i N := Nn,k i≥1 n,k≥n(i) gilt λ(N ) = 0 und kun (t) − uk (t)kX < 1 i für alle t ∈ I \ N und n, k ≥ n(i). Damit ist (un (t))n∈N für alle t ∈ I \ N eine Cauchyfolge im Banachraum X. Daher existiert für alle t ∈ I \ N ein Element u(t) ∈ X für das gilt lim kun (t) − u(t)kX = 0. n→∞ 27 2 Der Bochnerraum Setzen wir noch u(t) := 0 für t ∈ N , so haben wir wieder einen möglichen Kandidaten u : I → X für den Grenzwert der Cauchyfolge (un ) gefunden. Wie im 1. Fall folgt, dass u Bochner-messbar ist und kukL∞ (I,X) < ∞ aufgrund der Dreiecksungleichung gilt. Da für t ∈ I \ N und n ≥ n(i) die Abschätzung kun (t) − u(t)kX ≤ lim inf kun (t) − uk (t)kX < k→∞ 1 i gilt, folgt sofort lim kun − ukL∞ (I,X) = 0. n→∞ 2.3 Dichte Teilmengen und Separabilität Satz 2.3.1 (Dichtheit von Treppenfunktionen). Für 1 ≤ p < ∞ liegt die Menge der Treppenfunktionen S(I, X) dicht in Lp (I, X). Beweis. Für p = 1 haben wir die Behauptung bereits in Satz 1.2.5 gezeigt. Der Beweis für 1 < p < ∞ verläuft völlig analog. Korollar 2.3.2. Sei 1 ≤ p < ∞, I ⊂ R ein offenes, beschränktes Intervall und D ⊂ X eine dichte Teilmenge eines Banachraums X. Dann ist die Menge ( n ) X ∞ M := φi di | n ∈ N, φi ∈ C0 (I), di ∈ D für i = 1, ..., n ⊂ Lp (I, X) i=1 dicht in Lp (I, X). Beweis. Zunächst zeigen wir: Jede stetige Funktion φ : I → X ist Bochner-messbar. Sei dazu K ⊂ I kompakt. (Es S reicht, diesen Fall zu betrachten, denn für I ⊂ R gibt es kompakte Mengen Kk mit I ⊂ k≥1 Kk .) Dann existieren zu jedem n ∈ N abgeschlossene (und damit insbesondere Lebesgue-messbare) Mengen K1n , ..., Klnn mit diam(Kin ) < n1 für i = 1, ..., ln und K⊂ ln [ i=1 28 Kin . 2.3 Dichte Teilmengen und Separabilität Wählt man ti ∈ Kin für i = 1, ..., ln , so konvergieren die Treppenfunktionen sn (t) := ln X φ(ti )χKin i=1 gleichmäßig gegen φ und φ ist daher Bochner-messbar. Insbesondere ist somit jede Funktion n X φi di ∈ M i=1 Bochner-messbar. Wegen Satz 2.3.1 reicht es, Funktionen der Form u(t) = xχB (t) mit x ∈ X und B ⊂ I Lebesgue-messbar durch Funktionen aus M in Lp (I, X) zu approximieren. Durch Faltung finden wir aber eine Folge (φn )n∈N ⊂ C0∞ (I) mit φn → χB in Lp (I). Zu x ∈ X existiert eine Folge (dn )n∈N ⊂ D mit dn → x in X. Daher gilt kxχB − φn dn kLp (I,X) ≤ kx − dn kX kχB kLp (I,X) + kdn kX kχB − φn kLp (I) → 0 für n → ∞. Das letzte Korollar zeigt insbesondere Korollar 2.3.3. Sei 1 ≤ p < ∞, I ⊂ R ein offenes, beschränktes Intervall und (X, k·kX ) ein Banachraum. Dann gilt C0∞ (I, X) ,→ Lp (I, X) mit dichter Einbettung. Korollar 2.3.4 (Separabilität von Lp (I, X)). Sei 1 ≤ p < ∞, I ⊂ R ein offenes, beschränktes Intervall und (X, k·kX ) ein separabler Banachraum. Dann ist Lp (I, X) ebenfalls separabel. 29 2 Der Bochnerraum Beweis. Es reicht, eine abzählbare Menge anzugeben, die dicht in der in Korollar 2.3.2 definierten Mengen M liegt. Sei dazu D ⊂ X abzählbar und dicht in X. Wir wählen P φ = li=1 φi di ∈ M . Sei außerdem K := Bn (0) ∩ {t ∈ I | dist(t, R \ I) ≥ 1 }. n Dann ist Kn kompakt und für hinreichend großes n gilt l [ supp(φi ) ⊂ Kn . i=1 Nach dem Weierstraß’schen Approximationssatz gibt es für alle φi , i = 1, ..., n eine Folge von reellen Polynomen (P̃ki )k∈N , die auf Kn gleichmäßig gegen φi konvergiert. Außerdem existiert zu jedem P̃ki ein reelles Polynom Pki mit rationalen Koeffizienten sodass gilt max |Pki (t) − P̃ki (t)| ≤ t∈Kn 1 . k Die Menge P ={ r X i i P|K n di | r ∈ N, P Polynom mit rat. Koeff., di ∈ D für i = 1, ..., r} i=1 ist dann offensichtlich abzählbar und liegt dicht in M . 2.4 Die Sätze von Vitali und Lebesgue Nachdem die Fragen nach dichten Teilmengen und der Separabilität nun geklärt sind, kommen wir zu zwei weiteren klassischen Sätzen der allgemeinen Integrationstheorie. Zum einen formulieren wir den Satz von Vitali, der gleichgradige Integrierbarkeit und starke Konvergenz miteinander verknüpft und insbesondere in der Wahrscheinlichkeitstheorie (Martingalkonvergenz-Sätze ...) Anwendung findet. Zum anderen folgern wir aus dem Satz von Vitali den (allgemeinen) Satz von Lebesgue über majorisierte Konvergenz, der ein handliches Kriterium zur Vertauschbarkeit von (Bochner-)Integration und Grenzwertbildung liefert. Zunächst aber wollen wir klären, was unter p-gleichmäßiger Integrierbarkeit zu verstehen ist. Definition 2.4.1 (p-gleichmäßige Integrierbarkeit). Sei 1 ≤ p < ∞. Eine Folge (un )n∈N ⊂ Lp (I, X) heißt p-gleichmäßig integrierbar, falls gilt: 30 2.4 Die Sätze von Vitali und Lebesgue 1. Für alle ε > 0 existiert eine Menge K ⊂ I mit λ(K) < ∞, sodass für alle n ∈ N gilt Z sup kun (t)kpX dt ≤ ε. n∈N K C 2. Für alle ε > 0 existiert ein δ > 0, sodass für alle n ∈ N und für alle Teilmengen A ⊂ I mit λ(A) ≤ δ gilt Z sup kun (t)kpX dt ≤ ε. n∈N A Bemerkung 2.4.2. Sei Λ eine endliche Indexmenge. Dann ist jede Familie (un )n∈Λ ⊂ Lp (I, X) p-gleichmäßig integrierbar. Der Satz von Vitali lautet nun Satz 2.4.3 (Vitali). Sei 1 ≤ p < ∞ und für (un )n∈N ⊂ Lp (I, X) gelte lim un (t) = u(t) n→∞ für fast alle t ∈ I. Dann gilt: Die Folge (un )n∈N konvergiert stark gegen u in Lp (I, X) genau dann, wenn die Familie (un )n∈N p-gleichmäßig integrierbar ist. Beweis. Der Beweis des Satzes verläuft völlig analog zum Beweis im Lebesgue’schen Fall. Wir verweisen daher auf [Els09]. Eine sehr nützliche Folgerung aus dem Satz von Vitali ist das folgende Kompaktheitsresultat. Korollar 2.4.4 (Lp -Lq Kompaktheit). Sei I ⊂ R ein beschränktes Intervall und sei 1 ≤ p < ∞. Für die beschränkte Folge (un )n∈N ⊂ Lp (I, X) gelte lim un (t) = u(t) n→∞ für fast alle t ∈ I. Dann gilt für alle q < p lim un = u in Lq (I, X). n→∞ Beweis. Übung 31 2 Der Bochnerraum Die nächste Folgerung aus dem Satz von Vitali ist als (allgemeiner) Konvergenzsatz von Lebesgue bekannt. Satz 2.4.5 (allgemeiner Satz von Lebesgue). Seien (X, k·kX ) und (Y, k·kY ) Banachräume und es gelte 1 < q < ∞, 1 ≤ p < ∞. Sei (hn )n∈N ⊂ Lq (I, Y ) eine Folge mit lim hn = h in Lq (I, Y ). n→∞ Seien u, un : I → X Bochner-messbar für alle n ∈ N und es gelte lim un (t) = u(t) n→∞ für fast alle t ∈ I. Außerdem gelte für alle n ∈ N kun (t)kpX ≤ khn (t)kqY für fast alle t ∈ I. Dann gilt auch lim un = u in Lp (I, X). n→∞ Beweis. Wegen Satz 1.2.5 gilt (un )n∈N ⊂ Lp (I, X). Nach Voraussetzung gilt für alle A ⊂ I und für alle n ∈ N Z Z p kun (t)kX dt ≤ khn (t)kqY dt. A A Daraus können wir die p-gleichmäßige Integrierbarkeit von (un )n∈N ⊂ Lp (I, X) folgern, da (hn )n∈N als stark konvergente Folge in Lq (I, Y ) beschränkt. Der Satz von Vitali liefert daher die starke Konvergenz lim un = u in Lp (I, X). n→∞ Ohne Beweis wollen wir außerdem folgende Umkehrung des Satzes über majorisierte Konvergenz zitieren. Satz 2.4.6 (Umkehrung Lebesgue). Sei 1 ≤ p < ∞ und (un )n∈N konvergiere stark gegen u in Lp (I, X). Dann existiert eine Teilfolge (unk )k∈N und ein h ∈ Lp (I) mit 1. limk→∞ unk (t) = u(t) für fast alle t ∈ I, 2. supn∈N kunk (t)kX ≤ h(t) für fast alle t ∈ I. 32 2.4 Die Sätze von Vitali und Lebesgue Der Satz von Egorov liefert außerdem die fast gleichmäßige Konvergenz von (unk )k∈N gegen u. Wir beschließen diesen Abschnitt mit zwei Sätzen über Parameterintegrale. Satz 2.4.7 (Stetigkeit unter dem Integral). Sei Λ ein metrischer Raum und sei V eine offene Umgebung des Punktes λ0 ∈ Λ. Die Funktion u : V × I → X erfülle folgende Carathéodory- und Wachstumsbedingungen: 1. u(·, t) sei stetig in λ0 für fast alle t ∈ I. 2. u(λ, ·) sei Bochner-messbar für alle λ ∈ V . 3. Es existiere eine Funktion h ∈ L1 (I), sodass ku(λ, t)kX ≤ h(t) für alle λ ∈ V und für fast alle t ∈ I gilt. Dann ist die Funktion u(λ, ·) Bochner-integrierbar für alle λ ∈ V und die Funktion Z U (λ) := u(λ, t) dt I ist stetig in λ0 . Satz 2.4.8 (Vertauschbarkeit von Integral und Ableitung). Sei J ⊂ R ein offenes Intervall. Die Funktion u : J ×I → X erfülle folgende Eigenschaften: 1. u(·, t) sei differenzierbar auf J für fast alle t ∈ I. 2. u(s, ·) sei Bochner-messbar für alle s ∈ J. 3. Es existiere eine Funktion h ∈ L1 (I), sodass ∂u ∂s (s, t) X ≤ h(t) für alle s ∈ J und für fast alle t ∈ I gilt. 4. Es existiere ein s0 ∈ J mit u(s0 , ·) ∈ L1 (I, X). Dann ist die Funktion u(s, ·) Bochner-integrierbar für alle s ∈ J und die Funktion Z U (s) := u(s, t) dt I ist differenzierbar auf J mit ∂U (s) = ∂s Z ∂u (s, t) dt. I ∂s 33 3 Dualräume und Reflexivität von Bochnerräumen Das Ziel dieses Kapitels sind die Charakterisierung des Dualraums Lp (I, X)∗ sowie der Nachweis der Reflexivität von Bochnerräumen unter geeigneten Voraussetzungen an p und an den Banachraum X. Wir wollen zunächst unser Interesse an der Reflexivität genauer begründen und dabei nocheinmal ein paar grundlegende Ergebnisse aus der Funktionalanalysis wiederholen. In endlich-dimensionalen Vektorräumen liefert der Satz von Heine-Borel ein handliches Kriterium für die (Folgen-)Kompaktheit einer Menge M : Die Menge M ist kompakt genau dann, wenn sie abgeschlossen und beschränkt ist. Dass man mit dieser Charakterisierung von Kompaktheit jedoch in unendlich-dimensionalen Räumen an Grenzen stößt zeigt das Lemma von Riesz: Die abgeschlossene Einheitskugel eines Banachraums X ist (folgen-)kompakt genau dann, wenn der Raum X endlich-dimensional ist. Da kompakte Mengen notwendigerweise beschränkt sein müssen, besteht der erste Schritt darin, von der durch die Norm induzierten Topologie zu einer schwächeren Topologie überzugehen. Die schwache Topologie ist (in unendlich-dimensionalen Räumen strikt) gröber als die Norm-Topologie, was die Chancen“ auf Kompaktheit erhöht. Andererseits zeigt die ” Folgerung aus dem Satz von Hahn-Banach, dass der Dualraum eines Banachraums reichhaltig genug ist, sodass die schwache Topologie zunächst einmal eine naheliegende und legitime Alternative zur Norm-Topologie darstellt. Dass der Übergang zu schwächeren Topologien unser ursprüngliches Problem der Charakterisierung kompakter Mengen löst, zeigen dann die harten“ Sätze der Funktionalanalysis. ” Zunächst gilt der fundamentale Satz 3.0.9 (Banach-Alaoglu-Bourbaki). Sei X ein Banachraum. Dann ist die abgeschlossene Einheitskugel BX ∗ := {f ∈ X ∗ | kf kX ∗ ≤ 1} des Dualraums X ∗ kompakt bezüglich der ∗-schwachen Topologie ω(X ∗ , X). Obwohl dieser Satz formal das Analogon des Satzes von Heine-Borel ist, sei darauf hingewiesen, dass die Kompaktheit im Satz von Banach-Alaoglu-Bourbaki im Sinne von Überdeckungskompaktheit zu verstehen ist, der Satz von Heine-Borel jedoch die für Anwendungen wesentlich handlichere Folgenkompaktheit einer Menge klärt. In einem 35 3 Dualräume und Reflexivität von Bochnerräumen metrischen Raum sind die Begriffe der Folgen- und Überdeckungskompaktheit äquivalent. Der folgende Satz erlaubt uns daher die Folgenkompaktheit der Einheitskugel BX ∗ zurück zu gewinnen. Satz 3.0.10 (Metrisierbarkeit der ∗-schwachen Topologie). Sei X ein Banachraum. Dann gilt: Die Einheitskugel BX ∗ ist genau dann metrisierbar bzgl. der ∗-schwachen Topologie, wenn der Banachraum X separabel ist. Die Frage nach der Separabilität von Bochnerräumen Lp (I, X) haben wir bereits im vorherigen Kapitel beantwortet. Wir können daher schon einmal festhalten: Satz 3.0.11 (∗-schwache Folgenkompaktheit). Sei X ein separabler Banachraum und sei 1 ≤ p < ∞. Dann ist die Einheitskugel B(Lp (I,X))∗ := {f ∈ (Lp (I, X))∗ | kf k(Lp (I,X))∗ ≤ 1} ∗-schwach folgenkompakt. Insbesondere gilt: Ist (fn )n∈N ⊂ (Lp (I, X))∗ beschränkt, so existiert f ∈ (Lp (I, X))∗ und eine Teilfolge (fnk )k∈N ⊂ (fn )n∈N mit ∗ fnk − * f in (Lp (I, X))∗ für k → ∞. Offensichtlich ist dieser Satz ziemlich blutleer solange wir keine Charakterisierung der Dualräume (Lp (I, X))∗ haben! Darüberhinaus wollen wir natürlich eine anwendungsfreundliche Charakterisierung kompakter Mengen im Raum X selbst, um nicht immer klären zu müssen, ob ein Banachraum Y exisitiert mit X = Y ∗ . Um diesem Ziel näher zu kommen sei an dieser Stelle noch einmal an den Begriff der Reflexivität erinnert: Ein Banachraum X heißt reflexiv genau dann, wenn die kanonische Isometrie JX : X → X ∗∗ hJX x, f iX ∗ := hf, xiX surjektiv ist. Es gilt dann der fundamentale Satz 3.0.12 (Kakutani). Sei X ein Banachraum. Dann ist X reflexiv genau dann, wenn die Einheitskugel BX := {x ∈ X | kxkX ≤ 1} in X kompakt bzgl. der schwachen Topologie ω(X, X ∗ ) ist. 36 3.1 Charakterisierung der Dualräume Auch im Satz von Kakutani ist Überdeckungskompaktheit gemeint, was wiederum nicht der Kompaktheitsbegriff ist, den wir uns für Anwendungen wünschen. Dieser scheinbare Wermutstropfen wird schlussendlich vom Satz von Eberlein-Šmuljan beseitigt: Satz 3.0.13 (Eberlein-Šmuljan). Ist X ein reflexiver Banachraum, so sind beschränkte Mengen in X schwach folgenkompakt. Umgekehrt gilt: Enthält in einem Banachraum X jede beschränkte Folge (xn )n∈N ⊂ X eine schwach konvergente Teilfolge (xnk )k∈N ⊂ (xn )n∈N , so ist X reflexiv. Dieser Satz liefert die Rechtfertigung dafür, uns mit der Reflexivität von Bochnerräumen zu befassen. 3.1 Charakterisierung der Dualräume Ist Ω ⊂ Rn und 1 ≤ p < ∞ so wissen wir, dass wir den Dualraum von Lp (Ω) mit 0 p dem Raum Lp (Ω) identifizieren können, wobei p0 = p−1 den zu p dualen Exponenten bezeichnet. Genauer gilt: Die Abbildung 0 T : Lp (Ω) → (Lp (Ω))∗ , g 7→ Tg Z mit hTg , f iLp (Ω) := g(x)f (x) dx für jedes f ∈ Lp (Ω) Ω ist ein isometrischer Isomorphismus. Ein analoges Ergebnis wollen wir für Bochnerräume beweisen. Die erste Idee dabei ist, das Produkt g(x)f (x) durch duale Paarung zu ersetzen: Wir wissen bereits aus Folgerung 0 1.3.5, dass für f ∈ Lp (I, X ∗ ) und u ∈ Lp (I, X) mit 1 ≤ p < ∞ gilt: t 7→ hf (t), u(t)iX ist Lebesgue-messbar. Dank der Hölder-Ungleichung gilt sogar Korollar 3.1.1. Für 1 ≤ p < ∞ ist die Abbildung 0 T : Lp (I, X ∗ ) → (Lp (I, X))∗ , f 7→ Tf Z mit hTf , uiLp (I,X) := hf (t), u(t)iX dt (3.1.1) I linear und stetig mit kTf k(Lp (I,X))∗ ≤ kf kLp0 (I,X ∗ ) . Die Tatsache, dass T eine surjektive Isometrie (und damit auch injektiv) ist, ist technisch aufwendig. Ein wichtiger Schritt im Beweis ist die Existenz einer Funktion u ∈ Lp (I, X), sodass punktweise gilt hf (t), u(t)iX = kf (t)kX ∗ . 37 3 Dualräume und Reflexivität von Bochnerräumen Für festes t ist die Existenz eines Elements u(t) ∈ X mit der obigen Eigenschaft eine Konsequenz des Satzes von Hahn-Banach. Das Element muss allerdings nicht eindeutig sein und auch die Bochner-Messbarkeit der induzierten Abbildung t 7→ u(t) ist keineswegs offensichtlich. Wir stellen der weiteren Untersuchung der Abbildung (3.1.1) daher noch zwei technische Aussagen voran. Theorem 3.1.2 (Existenz Bochner-messbarer Auswahlfunktion). Sei X ein endlich-dimensionaler Vektorraum und f : I → X ∗ Bochner-messbar. Dann existiert eine Bochner-messbare Funktion u : I → X, sodass für alle t ∈ I gilt: ku(t)kX = 1 und hf (t), u(t)iX = kf (t)kX ∗ . Beweis. Für t ∈ I sei A(t) := {x ∈ X | kxkX = 1 und hf (t), xiX = kf (t)kX ∗ }. Nach Hahn-Banach gilt A(t) 6= ∅. Da X endlich-dimensional ist, können wir n = dim X setzen. Nach Wahl einer Basis gilt u = (u1 , ..., un ) für die gesuchte Funktion u : I → X und es reicht, die Koordinatenfunktionen u1 , ..., un zu finden. Da X endlich-dimensional ist, ist BX := {x ∈ X | kxkX = 1} kompakt. Außerdem ist für jedes t ∈ I die Funktion x 7→ hf (t), xiX stetig. Wir erhalten daher wohldefinierte Koordinatenfunktionen u1 , ..., un durch u1 (t) := min{x1 | kxkX = 1 und hf (t), xiX = kf (t)kX ∗ }, u2 (t) := min{x2 | kxkX = 1 und hf (t), xiX = kf (t)kX ∗ und x1 = u1 (t)}, .. . un (t) := min{xn | kxkX = 1 und hf (t), xiX = kf (t)kX ∗ und xi = ui (t) für alle i < n}, wobei wir die Schreibweise x = (x1 , ..., xn ) verwendet haben. Für jedes t ∈ I haben wir nun ein u(t) ∈ X mit ku(t)kX = 1 und hf (t), u(t)iX = kf (t)kX ∗ 38 3.1 Charakterisierung der Dualräume gefunden. Es bleibt noch die Bochner-Messbarkeit von u zu zeigen. Dazu seien H : I × X → Rl und G : I × X → R messbar bzgl. t ∈ I und stetig bzgl. x ∈ X. Dann ist S := {t ∈ I | ∃x ∈ X mit kxkX = 1, |H(t, x)| = 0, G(t, x) ≤ 0} messbar. Zum Beweis dieser Behauptung sei (xi )i∈N eine abzählbare, dichte Teilmenge der Einheitssphäre ∂BX = {x ∈ X | kxkX = 1}. (Die Folge (xi ) existiert, da X endlichdimensional ist.) Dann gilt \ [ 1 1 t ∈ I | |H(t, xi )| < und G(t, xi ) < S= . j j j≥1 i≥1 Denn für t ∈ S gilt: Es existiert x ∈ X mit kxkX = 1, |H(t, x)| = 0 und G(t, x) ≤ 0. Die Funktionen H(t, ·) und G(t, ·) sind aber stetig, sodass für alle j ≥ 1 ein xi existiert mit |H(t, xi )| < 1j und G(t, xi ) < 1j . Umgekehrt gilt für t ∈ I sodass für alle j ≥ 1 ein ij ≥ 1 existiert mit |H(t, xij )| < 1j und G(t, xij ) < 1j bereits t ∈ S, denn: Für alle ij ist xij ∈ ∂BX und da die Sphäre ∂BX kompakt ist, finden wir eine konvergente Teilfoge (xik )k∈N mit xik → x ∈ ∂Bx für k → ∞ und |H(t, x)| = lim |H(t, xik )| = 0, k→∞ G(t, x) = lim G(t, xik ) ≤ 0. k→∞ Damit können wir nun die Messbarkeit der Koordinatenfunktionen u1 , ...un zeigen. Sei dazu für α ∈ R H(t, x) := hf (t), xiX ∗ X − kf (t)kX ∗ , Gi (t, x) := xi − α. Dann gilt u−1 1 ((−∞, α]) = {t ∈ I | ∃x ∈ X mit kxkX = 1, |H(t, x)| = 0, G1 (t, x) ≤ 0} und wegen der Zwischenbehauptung ist u1 somit messbar. Seien u1 , ..., uk schon messbar und H̃(t, x) := (H(t, x), x1 − u1 (t), ..., xk − uk (t)) . Dann gilt u−1 k+1 ((−∞, α]) = {t ∈ I | ∃x ∈ X mit kxkX = 1, |H̃(t, x)| = 0, Gk+1 (t, x) ≤ 0} und wegen der Zwischenbehauptung ist dann auch uk+1 messbar. 39 3 Dualräume und Reflexivität von Bochnerräumen Wir können nun zeigen Lemma 3.1.3 (Isometrischer Isomorphismus bei Endlich-Dimensionalität). Sei X ein endlich-dimensionaler Vektorraum und sei 1 ≤ p < ∞. Dann ist die Abbildung T in (3.1.1) ein isometrischer Isomorphismus. 0 Beweis. Wir zeigen zunächst die Isometrie von T . Sei dazu f ∈ Lp (I, X ∗ ) und u : I → X Bochner-messbar mit ku(t)kX = 1 und hf (t), u(t)iX = kf (t)kX ∗ für alle t ∈ I. Die Existenz dieser Funktion u wird durch Theorem 3.1.2 gesichert. Aus Definition (3.1.1) der Abbildung T folgt mit der Hölder-Ungleichung leicht die Abschätzung kTf k(Lp (I,X))∗ ≤ kf kLp0 (I,X ∗ ) . Für die umgekehrte Abschätzung betrachten wir zunächst den Fall p = 1 und p0 = ∞. Nach Definition der L∞ -Norm existiert für alle ε > 0 eine Menge A ⊂ I mit positivem Maß und kf (t)kX ∗ ≥ kf kL∞ (I,X ∗ ) − ε für alle t ∈ A. Sei ũ := uχA . Dann gilt ũ ∈ L1 (I, X) mit kũkL1 (I,X) = λ(A) und Z hTf , ũiL1 (I,X) = hf (t), u(t)iX dt ZA = kf (t)kX ∗ dt A ≥ λ(A) kf kL∞ (I,X ∗ ) − ε . Daher gilt für alle ε > 0 λ(A) kf kL∞ (I,X ∗ ) − ε ≤ hTf , ũiL1 (I,X) ≤ kTf k(L1 (I,X))∗ kũkL1 (I,X) = kTf k(L1 (I,X))∗ λ(A). Insgesamt bekommen wir also kf kL∞ (I,X ∗ ) ≤ kTf k(L1 (I,X))∗ . Nun betrachten wir den Fall 1 < p < ∞ und p0 < ∞. Wir definieren 0 ũ(t) := kf (t)kpX−1 ∗ u(t) und folgern 40 3.1 Charakterisierung der Dualräume 1. ũ : I → X ist Bochner-messbar, 0 2. kũ(t)kpX = kf (t)kpX ∗ , 3. ũ ∈ Lp (I, X), p0 /p 4. kũkLp (I,X) = kf kLp0 (I,X ∗ ) , 0 5. hTf , ũiLp (I,X) = kf kpLp0 (I,X ∗ ) und 6. kf kLp0 (I,X ∗ ) ≤ kTf k(Lp (I,X))∗ . Da die Isometrie von T Injektivität impliziert, bleibt nur noch die Surjektivität von T zu zeigen. Sei (x1 , ..., xn ) eine Basis von X und F ∈ (Lp (I, X))∗ , u = u1 x1 + ... + un xn ∈ Lp (I, X). Definiere Hi ∈ (Lp (I))∗ durch Hi (v) := F (vxi ) für v ∈ Lp (I) und i = 1, ..., n. Dann gilt F (u) = n X F (ui xi ) = i=1 n X Hi (ui ). i=1 0 Nun existiert aber für jedes Hi ∈ (Lp (I))∗ ein fi ∈ Lp (I) mit Z Hi (v) = fi (t)v(t) dt I für alle v ∈ Lp (I). Daher gilt F (u) = n X F (ui xi ) = i=1 n X Hi (ui ) = i=1 n Z X i=1 fi (t)ui (t) dt. I Definieren wir nun f : I → X ∗ durch hf (t), xiX := n X fi (t)ai i=1 für x = P i ai xi 0 ∈ X, so gilt f ∈ Lp (I, X ∗ ) und Tf = F . Wie wir gesehen haben, beruht der Beweis von Lemma 3.1.3 wesentlich auf Theorem 3.1.2 bzw. auf der Tatsache, dass X ein endlich-dimensionaler Banachraum ist. Separabilität ist eine Eigenschaft, die in vielerlei Hinsicht der Endlich-Dimensionalität am 41 3 Dualräume und Reflexivität von Bochnerräumen nächsten kommt: Ist X ein separabler Banachraum mit abzählbarer, dichter Teilmenge D = {xn | n ∈ N}, so gilt mit Xn := span{x1 , ..., xn } X= [ Xn , dim Xn < ∞ und Xn ⊂ Xn+1 . n∈N Man kann X also quasi durch endlich-dimensionale Räume Xn approximieren. Es gilt außerdem: Ist X ein Banachraum mit separablem Dualraum X ∗ , so ist X selbst separabel. Das nächste Theorem sollte daher intuitiv klar sein und wir verzichten an dieser Stelle auf den Beweis. Theorem 3.1.4 (Isometrischer Isomorphismus bei Separabilität). Sei X ein Banachraum mit separablem Dualraum X ∗ und sei 1 ≤ p < ∞. Dann ist die Abbildung T in (3.1.1) ein isometrischer Isomorphismus. Beweis. Übungsaufgabe Aufgrund der Äquivalenz X reflexiv und separabel ⇐⇒ X ∗ reflexiv und separabel gilt Theorem 3.1.4 sinngemäß auch wenn X oder X ∗ reflexiv und separabel ist. Schließlich kann man sogar zeigen, dass Theorem 3.1.4 schon gilt, wenn X reflexiv oder separabel ist. 3.2 Reflexivität Mit Hilfe von Theorem 3.1.4 können wir nun die anfangs gestellte Frage nach der Reflexivität von Bochnerräumen beantworten. Theorem 3.2.1 (Reflexivität von Lp (I, X)). Sei X ein reflexiver, separabler Banachraum und sei 1 < p < ∞. Dann ist Lp (I, X) reflexiv. Beweis. Blatt 7, Aufgabe 1 Zu zeigen ist, dass die kanonische Isometrie J : Lp (I, X) → (Lp (I, X))∗∗ hJu, f i(Lp (I,X))∗ := hf, uiLp (I,X) surjektiv ist. Da X reflexiv ist, ist die kanonische Isometrie j : X → X ∗∗ 42 3.2 Reflexivität surjektiv und lässt sich zu einer surjektiven Isometrie j : Lp (I, X) → Lp (I, X ∗∗ ) (ju)(t) := j(u(t)) fortsetzen. Diese letzte Behauptung (insbesondere die Bochner-Messbarkeit der Funktionen j(u)) folgt aus der Identität ku(t)kX = kj(u(t))kX ∗∗ = k(ju)(t)kX ∗∗ . Nach Theorem 3.1.4 wissen wir, dass 0 T : Lp (I, X ∗ ) → (Lp (I, X))∗ ein isometrischer Isomorphismus ist. Damit sind aber auch 0 T −1 : (Lp (I, X))∗ → Lp (I, X ∗ ) und der zu T −1 adjungierte Operator 0 (T −1 )∗ : (Lp (I, X ∗ ))∗ → Lp (I, X)∗∗ isometrische Isomorphismen. Analog zu Theorem 3.1.4 kann man zeigen, dass auch 0 0 0 T 0 : L(p ) (I, (X ∗ )∗ ) → (Lp (I, X ∗ ))∗ 0 0 ein isometrischer Isomorphismus ist mit L(p ) (I, X ∗∗ ) ∼ = Lp (I, X). Nun haben wir alle Hilfsmittel beisammen um zu zeigen, dass das Diagramm J Lp (I, X) (Lp (I, X))∗∗ (T −1 )∗ j Lp (I, X ∗∗ ) 0 T0 (Lp (I, X ∗ ))∗ kommutiert. Sei dazu F ∈ (Lp (I, X))∗ und u ∈ Lp (I, X). Da T surjektiv ist, existiert 0 f ∈ Lp (I, X ∗ ) mit F = Tf und es gilt hJu, F i(Lp (I,X))∗ = hF, uiLp (I,X) = hTf , uiLp (I,X) Z = hf (t), u(t)iX dt ZI = h(ju)(t), f (t)iX ∗ dt I = hT 0 (ju), T −1 F iLp0 (I,X ∗ ) = (T −1 )∗ ◦ T 0 ◦ j u, F (Lp (I,X))∗ . 43 3 Dualräume und Reflexivität von Bochnerräumen Damit ist J = (T −1 )∗ ◦T 0 ◦j als Verkettung von Isomorphismen selbst ein Isomorphismus. Als Abschluss dieses Kapitels wollen wir noch kurz auf einen alternativen und überraschend geometrischen Zugang zur Reflexivität eingehen. Ein Banachraum heißt gleichmäßig konvex, falls für alle ε > 0 ein δ > 0 existiert, sodass folgende Implikation gilt: x + y < 1 − δ. x, y ∈ X mit kxkX ≤ 1, kykX ≤ 1, kx − ykX > ε ⇒ 2 X Nun gilt das folgende Theorem 3.2.2 (Milman-Pettis: X gleichmäßig konvex ⇒ X reflexiv). Jeder gleichmäßig konvexe Banachraum ist reflexiv. Beweis. s. [Bré11]. Mit Hilfe der sogenannten Clarkson-Ungleichung (s. [Bré11]) kann man auf die gleichmäßige Konvexität der Lebesgueräume Lp (Ω) für 1 < p < ∞ schließen. Der folgende Satz liefert nun einen alternativen Beweis für die Reflexivität der Bochnerräume. Theorem 3.2.3 (Gleichmäßige Konvexität). Sei (X, k·kX ) ein gleichmäßig konvexer Banachraum und sei 1 < p < ∞. Dann sind die Bochnerräume Lp (I, X) gleichmäßig konvex. Beweis. s. [GGZ74], S. 136/137 44 4 Vektorwertige Distributionen und verallgemeinerte Zeitableitung In der Einführung haben wir (relativ formal) begründet, warum die Bochnerräume die richtigen“ Funktionenräume zur Behandlung parabolischer Differentialgleichungen, wie ” z. B. der Wärmeleitungsgleichung ∂t u − ∆u = 0 in I × Ω, u = 0 in I × ∂Ω, u(0) = u0 in Ω, darstellen. Schaut man sich die Begründung noch einmal an, so erkennt man, dass der elliptische Teil der Gleichung −∆u die Wahl des Raums X = W01,2 (Ω) bzw. des Bochnerraums L2 (I, W01,2 (Ω)) induziert. Mit der Identität ∂t u · u = 12 ∂t |u|2 liefert der für Evolutionsgleichungen maßgebliche Term ∂t u schließlich den Raum L∞ (I, L2 (Ω)). Wir haben aber noch nicht geklärt, in welchem Sinne die Zeitableitung zu verstehen ist. Dies wollen wir nun tun. Es bieten sich dazu zunächst zwei Herangehensweisen an: 1. Betrachten wir u als Funktion u : I ×Ω → R, so können wir ∂t u einfach als partielle Ableitung nach der Zeitvariablen auffassen. 2. Identifizieren wir u allerdings mit der Banachraum-wertigen Funktion ũ : I → X, t 7→ [ũ(t)], so sollten wir ∂t u ebenfalls mit der Ableitung dieser Funktion identifizieren. Wir werden im Folgenden die zweite Variante wählen, auch wenn wir uns dazu zunächst mit dem Begriff der Ableitung vektorwertiger Funktionen vertraut machen müssen. Es zeigt sich dann, dass man diesen Ableitungsbegriff mit Hilfe sogenannter vektorwertiger Distributionen noch weiter verallgemeinern kann. Was zunächst einmal technisch klingt, ist bei näherem Hinsehen der gleiche Zugang, der zur Definition der schwachen“ Ablei” tung und schließlich zur Konstruktion der klassischen Sobolevräume genutzt wird. Die Zeitableitung im Sinne vektorwertiger Distributionen und der daraus resultierende Begriff der verallgemeinerten Zeitableitung liefert uns dann konsequenterweise sogenannte verallgemeinerte Sobolevräume. Wie im Falle elliptischer Gleichungen bilden (verallgemeinerte) Sobolevräume die Grundlage für die schwache Formulierung zeitabhängiger Probleme und liefern den funktionalanalytischen Rahmen für die entsprechende Existenztheorie. 45 4 Vektorwertige Distributionen und verallgemeinerte Zeitableitung Definition 4.0.4 (starke und schwache Ableitung X-wertiger Funktionen). Sei I ⊂ R ein offenes Intervall und (X, k·kX ) ein Banachraum. Eine Funktion u : I → X heißt 1. (stark) differenzierbar in t ∈ I, falls ein Element x ∈ X existiert mit lim h→0 t+h∈I u(t + h) − u(t) = x in X, h 2. schwach differenzierbar in t ∈ I, falls ein Element x ∈ X existiert mit u(t + h) − u(t) lim f, = hf, xiX h→0 h X t+h∈I für alle f ∈ X ∗ . In beiden Fällen definieren wir dann ut (t) := x und nennen ut (t) starke bzw. schwache Ableitung von u in t. (Aus dem Zusammenhang muss man sich überlegen, ob das Symbol ut für eine starke oder eine schwache Ableitung steht.) Die Funktion u heißt stark/schwach differenzierbar auf I, falls u stark/schwach differenzierbar in jedem t ∈ I ist. Die Funktion ut : I → X heißt dann starke/schwache Ableitung von u. ¯ X). Die Menge aller stark differenzierbaren Funktionen auf I bezeichnen wir mit C 1 (I, Bemerkung 4.0.5. 1. Man sollte sich klar machen, dass eine differenzierbare Funktion u : I → X stets schwach differenzierbar ist und die schwache Ableitung dann mit der starken Ableitung überein stimmt. 2. Da sich in endlich-dimensionalen Banachräumen starke und schwache Topologie entsprechen, ist eine Funktion mit Werten in einem endlich-dimensionalen Banachraum genau dann differenzierbar, wenn sie schwach differenzierbar ist. 3. Höhere Differenzierbarkeit definiert man induktiv: Eine Funktion u : I → X ist zweimal schwach differenzierbar, falls ut : I → X schwach differenzierbar ist. Satz 4.0.6 (Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung). ¯ X) und Sei I ⊂ R ein offenes Intervall und (X, k·kX ) ein Banachraum. Sei u ∈ C(I, t1 , t2 ∈ I mit t1 < t2 . Dann gilt Z t2 u (t2 ) − u (t1 ) = ut (t) dt. t1 46 Beweis. Blatt 6, Aufgabe 4. Um die Ableitung im Sinne vektorwertiger Distributionen zu definieren, statten wir den Raum C0∞ (I) der Testfunktionen mit einer geeigneten Topologie aus. Lemma 4.0.7 (D(I)). Sei I ⊂ R ein offenes Intervall. Für jede kompakte Teilmenge K ⊂⊂ I und für jedes k ∈ N definieren wir auf C0∞ (I) eine Halbnorm durch νk,K (ϕ) := max |ϕ(l) (t)|, 0≤l≤k t∈K wobei ϕ(l) die l-te Ableitung von ϕ bezeichnet. Den Raum C0∞ (I) versehen mit der durch die Familie (νk,K ) k∈N K⊂⊂I erzeugten Topologie bezeichnen wir mit D(I). Das führt zu dem folgenden Konvergenzbegriff in D(I): Eine Folge (ϕn )n∈N ⊂ D(I) konvergiert gegen ϕ ∈ D(I), falls 1. eine kompakte Menge K ⊂⊂ I und ein n0 ∈ N existieren mit supp(ϕn ) ⊂ K für alle n ≥ n0 und (l) 2. limn→∞ maxt∈K |ϕn (t) − ϕ(l) (t)| = 0 für alle l ∈ N gilt. Definition 4.0.8 (vektorwertige Distribution). Sei I ⊂ R ein offenes Intervall und (X, k·kX ) ein Banachraum. Eine lineare Abbildung T : D(I) → X heißt vektorwertige Distribution auf I, falls T (ϕn ) → T (ϕ) in X gilt für jede Folge (ϕn )n∈N ⊂ D(I) mit ϕn → ϕ in D(I). Den Raum der X-wertigen Distributionen auf I bezeichnen wir mit D0 (I, X). Bemerkung 4.0.9. Man kann zeigen, dass genau dann T ∈ D0 (I, X) gilt, wenn für alle kompakten Teilmengen K ⊂⊂ I ein k ∈ N und ein CK ≥ 0 existieren, sodass für alle ϕ ∈ D(I) mit supp(ϕ) ⊂ K gilt kT (ϕ)kX ≤ CK νk,K (ϕ). Bemerkung 4.0.10. Die gängige Literatur benutzt die Schreibweise T (ϕ) =: hT, ϕiD0 (I,X),D(I) . Falls die Notation aus dem Zusammenhang klar ist, verwenden wir auch 0 = hT, ϕi. T (ϕ) = hT, ϕiDX 47 4 Vektorwertige Distributionen und verallgemeinerte Zeitableitung Definition 4.0.11 (Konvergenz in D0 (I, X)). Eine Folge (Tn )n∈N ⊂ D0 (I, X) konvergiert gegen T ∈ D0 (I, X), falls für alle ϕ ∈ D(I) gilt: lim hTn , ϕi = hT, ϕi in X. n→∞ Beispiel 4.0.12. 1. Für festes t ∈ I definiert δ t : D(I) → R, hδ t , ϕi := ϕ(t) eine R-wertige Distribution. 2. Sei u ∈ L1loc (I) eine gegebene Funktion. Dann definiert Z Tu : D(I) → R, hTu , ϕi := u(t)ϕ(t) dt I eine R-wertige Distribution. Definition 4.0.13 (Zeitableitung im Sinne vektorwertiger Distributionen). 0 Für T ∈ D0 (I, X) definieren wir dT dt ∈ D (I, X) durch dT , ϕ := − hT, ∂t ϕi . dt Die lineare Abbildung d : D0 (I, X) → D0 (I, X) dt heißt Zeitableitung im Sinne vektorwertiger Distributionen. Höhere Ableitungen werden induktiv definiert. d Bemerkung 4.0.14 (Wohldefiniertheit von dt ). Die Tatsache, dass die Zeitableitung im Sinne vektorwertiger Distributionen wohldefiniert ist, folgt direkt aus der Voraussetzung T ∈ D0 (I, X). Liegt eine Folge von differenzierbaren Funktionen vor, so stellt sich die Frage nach der Vertauschbarkeit von Grenzwert und Ableitung. Das folgende Korollar beantwortet diese Frage für den Fall von Distributionen. d Korollar 4.0.15 (Stetigkeit von dt ). 0 Die Folge (Tn )n∈N ⊂ D (I, X) konvergiere gegen T ∈ D0 (I, X) im Sinne von DistribudT 0 0 n tionen. Dann konvergiert auch ( dT dt )n∈N ⊂ D (I, X) gegen dt ∈ D (I, X) im Sinne von Distributionen. 48 Beweis. Sei ϕ ∈ D(I) beliebig. Dann gilt dTn dT , ϕ = −hTn , ∂t ϕi → −hT, ∂t ϕi = ,ϕ , dt dt da ∂t ϕ ∈ D(I) ist. Die folgende Proposition zeigt, dass das Verschwinden der distributionellen Ableitung (wie im klassischen Fall) die Konstanz der betrachteten Distribution zur Folge hat. Proposition 4.0.16 ( dT dt = 0 ⇒ T = const). 0 Für T ∈ D (I, X) gelte dT dt = 0. Dann existiert ein Element x ∈ X, sodass für alle ϕ ∈ D(I) gilt Z hT, ϕi = ϕ(t) dt x. I Beweis. Sei ϕ ∈ D(I) mit R I ϕ(t) dt = 0 beliebig. Für I = (a, b) definieren wir Z t ϕ(s) ds. ψ(t) := a dT dt Dann gilt ψ ∈R D(I) und ∂t ψ = ϕ. Da = 0 ist, gilt hT, ∂t ψi = 0. Also folgt für alle ϕ ∈ D(I) mit I ϕ(t) dt = R 0 sofort hT, ϕi = 0. Sei nun η ∈ D(I) mit I η(t) dt = 1 beliebig und sei x := hT, ηi ∈ X. Für beliebiges ϕ ∈ D(I) definieren wir Z ϕ̃ := ϕ − ϕ(t) dt η. I Dann gilt R I ϕ̃(t) dt = 0 und daher hT, ϕ̃i = 0. Aus der Linearität von T folgt dann Z ϕ(t) dt η hT, ϕi = T, I Z = ϕ(t) dt hT, ηi ZI = ϕ(t) dt x. I Bis zu diesem Punkt erscheinen die bisherigen Ergebnisse sicherlich sehr abstrakt; haben wir doch bisher erst zwei Beispiele von Distributionen kennengelernt. Die von integrierbaren Funktionen erzeugten Distributionen (vgl. Beispiel 4.0.12. 2.) sind im Hinblick auf partielle Differentialgleichungen wohl die wichtigsten Beispiele. Wir werden daher diese Klasse, die wir im Folgenden reguläre (vektorwertige) Distributionen nennen, näher beleuchten. 49 4 Vektorwertige Distributionen und verallgemeinerte Zeitableitung Definition 4.0.17 (reguläre Distribution). Wir nennen T ∈ D0 (I, X) reguläre Distribution, falls ein f ∈ L1loc (I, X) existiert mit T = Tf in D0 (I, X), d.h. hT, ϕi = hTf , ϕi für alle ϕ ∈ D(I). Lemma 4.0.18. R Die Abbildung T : L1loc (I, X) → D0 (I, X), f 7→ Tf mit hTf , ϕi := I f (t)ϕ(t) dt ist linear, injektiv und stetig. Wir schreiben daher L1loc (I, X) ,→ D0 (I, X). Beweis. Die Linearität von T ist klar. Die Stetigkeit von T folgt aus der Abschätzung Z Z |hTf , ϕi| = f (t) ϕ(t) dt = f (t) ϕ(t) dt ≤ kf kL1 (I,X) ν0,K (ϕ). I supp(ϕ) Die Injektivität von T folgt aus dem Fundamentallemma der Variationsrechnung“: Zu ” zeigen ist, dass aus Z f (t)ϕ(t) dt = 0 I für alle ϕ ∈ D(I) schon f = 0 fast überall in I folgt. Da I als offenes Intervall eine abzählbare Vereinigung kompakter Mengen ist, reicht es zu zeigen, dass für alle kompakten Teilmengen K ⊂⊂ I gilt: f = 0 fast überall in K. Mit δ := 21 dist(K, R \ I), a := inf K − δ und b := sup K + δ gilt K ⊂ [a + δ, b − δ]. Definieren wir außerdem ( f (t), t ∈ [a, b], f˜(t) := 0, t∈ / [a, b], so gilt f˜ ∈ L1 (R, X). R Sei ω ∈ C0∞ (−1, 1) mit R ω(t) dt = 1 ein Glättungskern. Dann gilt für ωk (t) := k ω(kt) R ωk ∈ C0∞ (− k1 , k1 ) und R ωk (t) dt = 1. Außerdem gilt fk := f˜ ∗ ωk → f in L1 (R, X). Für k > 1δ und festes s ∈ K gilt, dass die Funktion t 7→ ωk (s − t) glatt ist und der Träger dieser Funktion eine Teilmenge von 1 1 s + [− , ] ⊂ K + [−δ, δ] ⊂ [a, b] ⊂⊂ I k k 50 ist. Nach Annahme gilt also für k > 1δ Z ˜ fk (s) = f ∗ ωk (s) = f˜(t) ωk (s − t) dt R Z Z b f (t) ωk (s − t) dt = f (t) ωk (s − t) dt = 0 = I a für alle s ∈ K, d.h. fk|K = 0. Wegen fk → f˜ in L1 (R, X) folgt fk|K → f˜|K = f|K in L1 (K, X) und somit f|K = 0. Wir kommen nun zur Zeitableitung im Sinne vektorwertiger Distributionen. Mittels T erzeugt u ∈ L1loc (I, X) die reguläre Distribution Tu ∈ D0 (I, X). Auf diese so erhaltene Distribution können wir nun natürlich d : D0 (I, X) → D0 (I, X) dt anwenden. Die Injektivität von T erlaubt uns die Identifikation von u und Tu und wir erhalten für alle ϕ ∈ D(I) dTu du ,ϕ = , ϕ = − hTu , ∂t ϕi = − hu, ∂t ϕi . dt dt 1 Falls nun die Distribution du dt im Bild von Lloc (I, X) unter T liegt, d.h. falls ein Element v ∈ L1loc (I, X) existiert mit du dTu = = Tv , dt dt so erhalten wir für alle ϕ ∈ D(I) die Identität dTu hv, ϕi = hTv , ϕi = , ϕ = −hu, ∂t ϕi dt bzw. die Identität Z Z v(t) ϕ(t) dt = − I u(t) ∂t ϕ(t) dt I und wir identifizieren dann v mit du dt . Diese Vorüberlegung rechtfertigt nun Definition 4.0.19 (distributionelle Zeitableitung für lokale L1 -Funktionen). Eine Funktion u ∈ L1loc (I, X) besitzt eine (reguläre) Zeitableitung im Sinne vektorwertiger Distributionen (mit Werten in X), falls ein Element v ∈ L1loc (I, X) existiert mit dTu = Tv in D0 (I, X), dt 51 4 Vektorwertige Distributionen und verallgemeinerte Zeitableitung d.h. es gilt Z Z − v(t) ϕ(t) dt u(t) ∂t ϕ(t) dt = I I für alle ϕ ∈ D(I). Wir schreiben dann v = du dt und nennen v die distributionelle Zeitableitung von u oder die Zeitableitung im Sinne vektorwertiger Distributionen von u. Bemerkung 4.0.20 (Eindeutigkeit der Ableitung). Wegen Lemma 4.0.18 ist die Ableitung im Sinne vektorwertiger Distributionen eindeutig bestimmt. Lemma 4.0.21. 1. Für u ∈ C 1 (I, X) gilt du dTu = = Tut = ut , dt dt d.h. differenzierbare Funktionen besitzen eine Ableitung im Sinne vektorwertiger Distributionen und diese stimmt mit der klassischen Ableitung überein. 2. Besitzt u ∈ L1loc (I, X) eine distributionelle Zeitableitung für alle η ∈ C ∞ (I) die Produktregel du dt ∈ L1loc (I, X), so gilt d(uη) du = η + u∂t η. dt dt Beweis. Blatt 8, Aufgabe 1 1. Wir wissen schon von Übungsblatt 6, Aufgabe 4, dass für u der Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung in der Form Z s u(s) = u(s0 ) + ut (t) dt s0 für alle s, s0 ∈ I gilt, wobei ut hier die starke Ableitung von u bezeichnet. Ist nun η ∈ C 1 (I), so gilt uη ∈ C 1 (I, X) und (uη)t = ut η + u ∂t η im klassischen Sinn. Der Hauptsatz angewandt auf uη ergibt daher Z s Z s u(t) ∂t η(t) dt = (uη)(s) − (uη)(s0 ) − ut (t) η(t) dt. s0 s0 Für u = ϕ ∈ D(I) folgt somit Z Z u(t) ∂t ϕ(t) dt = − ut (t) ϕ(t)dt I 52 I und daher du dTu ,ϕ = , ϕ = −hu, ∂t ϕi = hut , ϕi = h(Tu )t , ϕi . dt dt 2. Seien η ∈ C ∞ (I) und ϕ ∈ D(I) beliebig. Dann gilt dTηu , ϕ = −hηu, ∂t ϕi = −hTηu , ∂t ϕi dt Z Z Z = − ηu ∂t ϕ dt = − u∂t (ϕη) dt + uϕ∂t η dt I I I du = , ϕη + hu, ϕ∂t ηi dt Z Z du = ηϕ dt + uϕ∂t η dt dt I I du = η, ϕ + hu∂t η, ϕi . dt Also gilt dTηu du = η + u∂t η. dt dt Besitzt u ∈ L1loc (I, X) eine distributionelle Ableitung im Sinne von Definition 4.0.19, so gilt dTu = T du in D0 (I, X) dt dt oder äquivalent: Für alle ϕ ∈ D(I) gilt D E dTu , ϕ = T du , ϕ , dt dt wobei diese Gleichheit als Identität im Banachraum X zu verstehen ist. Vor allem für Anwendungen ist es jedoch entscheidend, die allgemeinere Situation zu betrachten, in der T du eine Distribution in einem größeren Raum definiert. dt Seien X, Y Banachräume, die stetig und injektiv in einen dritten Banachraum Z eingebettet werden können, d.h. es gelte X, Y ,→ Z. (Ohne Beweis sei darauf verwiesen, dass diese Situation vorliegt, falls ein topologischer Vektorraum V existiert, in den sowohl X als auch Y stetig und injektiv eingebettet werden können.) Dann gilt in natürlicher Weise auch D0 (I, X) ,→ D0 (I, Z) und D0 (I, Y ) ,→ D0 (I, Z), wobei die 53 4 Vektorwertige Distributionen und verallgemeinerte Zeitableitung Einbettungen injektiv sind, und die distributionelle Ableitung von T ∈ D0 (I, X) kann vermöge dieser injektiven Einbettung mit einer Z-wertigen Distribution identifiziert werden. (Auch diese scheinbar offensichtliche Aussage verwenden wir ohne Beweis.) Wir können daher sagen, T ∈ D0 (I, X) hat eine distributionelle Ableitung in D0 (I, Y ), falls ein S ∈ D0 (I, Y ) ,→ D0 (I, Z) existiert mit dT , ϕ = hS, ϕi dt für alle ϕ ∈ D(I), wobei diese Gleichheit als Identität in Z aufzufassen ist. Die gleichen Identifikationen lassen sich für den Fall regulärer Distributionen rechtfertigen. Wir sagen, u ∈ L1loc (I, X) hat eine distributionelle Zeitableitung in L1loc (I, Y ), falls 0 u ein v ∈ L1loc (I, Y ) existiert mit dT dt = Tv . Diese Identität wird in D (I, Z) aufgefasst und ist äquivalent zu Z Z − u(t) ∂t ϕ(t) dt = v(t) ϕ(t) dt I I für alle ϕ ∈ D(I). Die Gleichheit ist als Identität in Z zu verstehen, denn vermöge der Einbettungen X ,→ Z und Y ,→ Z sind die Integrale als Z-wertige Bochnerintegrale wohldefiniert. Wir bemerken außerdem noch, dass man im Falle X ,→ Y einfach Z = Y wählen kann und alle der oben genannten Identifikationen in Y stattfinden. 4.1 Verallgemeinerte Zeitableitung Lässt man zwei unterschiedliche Wertebereiche für Funktion und distributionelle Ableitung zu, gewinnt man einiges an für Anwendungen notwendiger Flexibilität. Eine besonders reichhaltige und gleichzeitig für parabolische Probleme besonders relevante Struktur von Einbettungen zwischen Banachräumen sind die sogenannten Gelfand- oder Evolutionstripel. Wir werden zunächst Gelfand-Tripel definieren und im Anschluss daran sehen, dass diese Struktur auf einen Spezialfall der distributionellen Zeitableitung führt, der entscheidend für Anwendungen ist. Definition 4.1.1 (Gelfand-Tripel). Seien (V, k·kV ) ein Banachraum und (H, (·, ·)H ) ein Hilbertraum. Die Einbettung V ,→ H sei stetig und dicht, d.h. für alle v ∈ V gelte kvkH ≤ C kvkV mit einer von v unabhängigen Konstante C > 0 und es gelte V 54 k·kH = H. 4.1 Verallgemeinerte Zeitableitung Der Riesz’sche Darstellungssatz liefert H ∼ = H ∗ , wobei der Isomorphismus R : H → H ∗ definiert ist durch hRf, uiH := (f, u)H für f, u ∈ H. Die Einschränkung E : H ∼ = H ∗ → V ∗ , f 7→ f|V definiert eine stetige, E lineare und injektive Abbildung. Für u, v ∈ V ,→ H ,→ V ∗ gilt sogar hEu, viV = (u, v)H = (v, u)H = hEv, uiV . Insgesamt gilt dann R E dicht V ,→ H ∼ = H ∗ ,→ V ∗ und (V, H, V ∗ ) heißt Gelfand-Tripel. Ist V zusätzlich noch reflexiv, so ist auch die Einbettung H ∗ ,→ V ∗ dicht. Beweis der Behauptungen aus Definition 4.1.1. Blatt 8, Aufgabe 3 Die Linearität von E ist evident. Die Stetigkeit von E folgt aus der folgenden Abschätzung: Für alle f ∈ H ∗ gilt kEf kV ∗ = sup |hEf, uiV | kukV =1 = sup |(f, u)H | kukV =1 ≤ sup (kf kH kukH ) kukV =1 ≤ C sup (kf kH kukV ) kukV =1 ≤ C kf kH , wobei wir die Cauchy-Schwarz-Ungleichung in H und die stetige Einbettung V ,→ H verwendet haben. Um die Injektivität von E zu zeigen sei f ∈ H mit Ef = 0 in V ∗ , d.h. hEf, viV = 0 für alle v ∈ V . Nach Definition von E gilt dann (f, v)H = 0 für alle v ∈ V . Wegen der Dichtheit der Einbettung V ,→ H existiert eine Folge (vn ) ⊂ V mit vn → f in H für n → ∞. Dann gilt aber 0 = (f, vn )H → (f, f )H = kf k2H 55 4 Vektorwertige Distributionen und verallgemeinerte Zeitableitung und daher f = 0 in H. Da E linear ist, folgt daraus sofort die Injektivität von E. Nun bleibt noch die Dichtheit von E(H) in V ∗ zu zeigen. Wegen der Linearität von E ist E(H) ein linearer Teilraum von V ∗ und daher insbesondere konvex. Würde k·kV ∗ E(H) ( V ∗, gelten, so existierte wegen der geometrischen Form des Satzes von Hahn-Banach ein F ∈ (V ∗ )∗ , F 6= 0 mit hF, Ef iV ∗ = 0 für alle f ∈ H. Da V reflexiv ist, existiert ein v ∈ V mit F = JV v, wobei JV : V → V ∗∗ die kanonische Isometrie mit hJV v, f iV ∗ := hf, viV für f ∈ V ∗ , v ∈ V bezeichnet. Dann gilt aber für alle f ∈ H 0 = hF, Ef iV ∗ = hJV v, Ef iV ∗ = hEf, viV = (f, v)H . Da die Einbettung V ,→ H dicht ist, existiert eine Folge (fn )n∈N ⊂ V mit fn → v in H für n → ∞. Dann gilt aber 0 = (fn , v)H → (v, v)H = kvk2H , also v = 0 und damit F = JV v = 0. Das ist aber ein Widerspruch zu F 6= 0 und somit muss E(H) dicht in V ∗ liegen. Wir kommen nun zum Begriff der verallgemeinerten Zeitableitung. Definition 4.1.2 (verallgemeinerte Zeitableitung). Sei (V, H, V ∗ ) ein Gelfand-Tripel. Eine Funktion u ∈ Lp (I, V ) mit 1 < p < ∞ besitzt 0 0 eine verallgemeinerte Zeitableitung in (Lp (I, V ))∗ ∼ = Lp (I, V ∗ ), falls dt u ∈ Lp (I, V ∗ ) existiert, sodass für alle v ∈ V und alle ϕ ∈ D(I) gilt Z Z hdt u(t), viV ϕ(t) dt = − (u(t), v)H ∂t ϕ(t) dt. I I Dieser Ableitungsbegriff unterscheidet sich auf den ersten Blick von der distributionellen Ableitung, die wir weiter oben definiert hatten. Tatsächlich ist die Zeitableitung im Sinne vektorwertiger Distributionen das allgemeinere Objekt (auch wenn die Namensgebung in dieser Hinsicht irreführend sein mag). Unter gewissen Annahmen an die zugrundeliegenden Räume stimmen die Begriffe aber überein, wie das folgende Lemma zeigt: 56 4.1 Verallgemeinerte Zeitableitung Lemma 4.1.3 (Kompabilität der Ableitungsbegriffe). Sei (V, H, V ∗ ) ein Gelfand-Tripel und sei 1 < p < ∞. Besitzt u ∈ Lp (I, V ) eine verallgemeinerte Zeitableitung dt u im Sinne von Definition 4.1.2, so besitzt u eine Zeitableitung dTu 0 ∗ ∗ dt ∈ D (I, V ) im Sinne V -wertiger Distributionen und es gilt dTu = Tdt u . dt u Besitzt u ∈ Lp (I, V ) eine Zeitableitung im Sinne V ∗ -wertiger Distributionen dT dt in 0 0 dTu du p ∗ p ∗ L (I, V ), d. h. es exisitiert dt ∈ L (I, V ) mit dt = T du , so besitzt u eine verallgedt meinerte Zeitableitung dt u im Sinne von Definition 4.1.2 und es gilt 0 dt u = T du ∈ Lp (I, V ∗ ). dt Beweis. Sei zunächst dt u eine verallgemeinerte Zeitableitung von u im Sinne von Definition 4.1.2, d. h. für alle v ∈ V und alle ϕ ∈ D(I) gilt Z Z hdt u(t), viV ϕ(t) dt = − (u(t), v)H ∂t ϕ(t) dt. I (4.1.1) I Betrachte die konstanten Funktion f1 : I → V ∗ , Z t 7→ dt u(t)ϕ(t) dt; I f2 : I → V ,→ V ∗ , Z t 7→ u(t)∂t ϕ(t) dt; I v : I → V, t 7→ v. Mit der Darstellung der Dualität in Bochnerräumen folgt aus (4.1.1) für alle v ∈ V Z hf1 , vi = hdt u(t), viV ϕ(t) dt IZ = − (u(t), v)H ∂t ϕ(t) dt ZI = − hu(t), viV ∂t ϕ(t) dt I = hf2 , vi, 57 4 Vektorwertige Distributionen und verallgemeinerte Zeitableitung wobei wir im dritten Schritt verwenden, dass u(t) ∈ V gilt für fast alle t ∈ I und dass (V, H, V ∗ ) ein Gelfand-Tripel ist. Mit dem Satz von Hahn-Banach folgt dann f1 = f2 in V ∗ bzw. Z Z dt u(t)ϕ(t) dt = − u(t)∂t ϕ(t) dt, I I u woraus dT dt = Tdt u folgt, da ϕ ∈ D(I) beliebig war. 0 du u Sei nun dt ∈ Lp (I, V ∗ ) mit dT dt = T du , d. h. es gilt für alle ϕ ∈ D(I) dt Z dTu − u(t)∂t ϕ(t) dt = h , ϕi = hT du , ϕi = dt dt I Z du (t)ϕ(t) dt. I dt Daraus folgt für alle ϕ ∈ D(I) Z Z du − u(t)∂t ϕ(t) dt ∈ V und (t)ϕ(t) dt ∈ V ∗ . dt I I Für beliebiges v ∈ V gilt daher Z Z du du (t), v ϕ(t) dt = (t)ϕ(t), v dt I dt I dt V V Z du = (t)ϕ(t) dt, v I dt Z u(t)∂t ϕ(t) dt, v =− Z I = − hu(t)∂t ϕ(t), viV dt ZI = − hu(t), viV ∂t ϕ(t) dt ZI = − (u(t), v)H ∂t ϕ(t) dt. I Also gilt 58 du dt = dt u und dt u = dTu dt 0 = T du ∈ Lp (I, V ∗ ). dt 5 Verallgemeinerte Sobolevräume und deren Eigenschaften Nachdem wir im vorigen Kapitel einen adäquaten schwachen (Zeit-)Ableitungsbegriff für Banachraum-wertige Funktionen untersucht haben, definieren wir nun, in Analogie zur Konstruktion von Sobolevräumen im Kontext elliptischer Gleichungen, sogenannte verallgemeinerte Sobolevräume. Diese Funktionenräume bilden den natürlichen funktionalanalytischen Rahmen für die schwache Formulierung parabolischer und hyperbolischer Differentialgleichungen. Wir untersuchen die verallgemeinerten Sobolevräume zunächst auf Vollständigkeit, Separabilität und Reflexivität, um dann in einem zweiten Schritt stetige Einbettungen von verallgemeinerten Sobolevräumen in Räume stetiger Banachraum-wertiger Funktionen zu beweisen. Schließlich zeigen wir eine partielle Integrationsformel für verallgemeinerte Sobolev-Funktionen mit Werten in einem Gelfand-Tripel. Dieses Resultat gehört zu den Grundbausteinen der Theorie sogenannter (pseudo-)monotoner Operatoren zur Lösung parabolischer Gleichung. 5.1 Definition und erste Eigenschaften Definition 5.1.1 (verallgemeinerter Sobolevraum). Sei I ⊂ R ein Intervall, (X, k·kX ) ein Banachraum und 1 ≤ p ≤ ∞. Dann heißt du 1,p p p W (I, X) := u ∈ L (I, X) ∈ L (I, X) dt verallgemeinerter Sobolevraum. Wie wir im vorigen Kapitel gesehen haben, ist es sinnvoll auch den Fall zu betrachten, dass die Zeitableitung im Sinne vektorwertiger Distributionen du dt ihre Werte in einem größeren Banachraum Y ⊃ X annimmt. In diesem Fall definieren wir für 1 ≤ p, q ≤ ∞ du W 1,p,q (I, X, Y ) := u ∈ Lp (I, X) ∈ Lq (I, Y ) dt und nennen auch W 1,p,q (I, X, Y ) verallgemeinerten Sobolevraum. Bemerkung 5.1.2. Es gilt W 1,p,p (I, X, X) = W 1,p (I, X). 59 5 Verallgemeinerte Sobolevräume und deren Eigenschaften Theorem 5.1.3 (Vollständigkeit). Verallgemeinerte Sobolevräume sind Banachräume mit den Normen kukW 1,p (I,X) kukW 1,p,q (I,X,Y ) du := kukLp (I,X) + , dt p L (I,X) du := kukLp (I,X) + . dt q L (I,Y ) Beweis. Übungsaufgabe. Proposition 5.1.4 (Separabilität, Reflexivität). 1. Für 1 ≤ p, q < ∞ und separable Banachräume X, Y sind die Räume W 1,p (I, X) und W 1,p,q (I, X, Y ) ebenfalls separabel. 2. Für 1 < p, q < ∞ und reflexive Banachräume X, Y sind die Räume W 1,p (I, X) und W 1,p,q (I, X, Y ) ebenfalls reflexiv. Beweis. Wir betrachten nur die Räume W 1,p (I, X), denn für die Räume W 1,p,q (I, X, Y ) verläuft der Beweis mit offensichtlichen Modifikationen völlig analog. Sei E := Lp (I, X) × Lp (I, X) und P : W 1,p (I, X) → P W 1,p (I, X) ⊂ E, du u 7→ u, . dt Versehen wir den Raum E mit der Norm k(u, v)kE := kukLp (I,X) + kvkLp (I,X) , so vermittelt P einen isometrischen Isomorphismus zwischen W 1,p (I, X) und dem ab 1,p geschlossenen Teilraum P W (I, X) ⊂ E. Die Separabilität und Reflexivität der Bochnerräume überträgt sich daher sofort auf die verallgemeinerten Sobolevräume, da Isometrien Separabilität und Isomorphismen Reflexivität übertragen. Aufgrund der Separabilität und Reflexivität erben die verallgemeinerten Sobolevräume die (schwachen) Kompaktheitseigenschaften der entsprechenden Bochnerräume. Diese Tatsache ist von grundlegender Bedeutung für die Konstruktion von Approximationsverfahren im Kontext parabolischer Gleichungen und deren Konvergenz. 60 5.2 Einbettungen 5.2 Einbettungen Für reelle Sobolevfunktionen u ∈ W 1,p (I) gilt aufgrund ihrer Absolutstetigkeit und der Hölder-Ungleichung für 1 < p ≤ ∞ die Einbettung W 1,p (I) ,→ C 0,1− p1 (I), 0,1− p1 wobei C (I) den Raum der 1 − p1 -Hölderstetigen Funktionen bezeichnet. Insbesondere ist jede Funktion u ∈ W 1,p (I) stetig und damit ist ihre Auswertung t 7→ u(t) für alle t ∈ I wohldefiniert. Ein analoges Resultat gilt für Funktionen in verallgemeinerten Sobolevräumen. Natürlich muss man dabei die klassischen Hölderräume durch Räume Banachraum-wertiger Hölderstetiger Funktionen ersetzen. Der Raum Cb0 (I, X) in der folgenden Definition bezeichnet den Raum der stetigen, beschränkten Funktionen u : I → X. Bezüglich der Norm kukC 0 (I,X) := sup ku(t)kX b t∈I ist Cb0 (I, X) ein Banachraum. Definition 5.2.1 (Banachraum-wertige Hölderräume). Sei I ⊂ R ein Intervall, (X, k·kX ) ein Banachraum und α ∈ (0, 1]. Dann heißt C 0,α (I, X) := u ∈ Cb0 (I, X) ∃C > 0 : u(t) − u(t0 )X ≤ C|t − t0 |α ∀t, t0 ∈ I mit kukC 0,α (I,X) := kukC 0 (I,X) + sup b t6=t0 ∈I ku(t) − u(t0 )kX |t − t0 |α der Raum der α-Hölderstetigen (X-wertigen) Funktionen. Aus der Tatsache, dass Cb0 (I, X) ein Banachraum ist, folgt leicht, dass auch die Räume C 0,α (I, X) für 0 < α ≤ 1 Banachräume sind. Der erste Schritt im Beweis der Einbettung W 1,p (I, X) ,→ C 0,1− p1 (I, X) für 1 ≤ p ≤ ∞ besteht in Lemma 5.2.2 (Verallgemeinerung des Hauptsatzes). Sei u ∈ W 1,p (I, X) für 1 ≤ p ≤ ∞. Dann ist u stetig und für alle s, s0 ∈ I gilt Z s du 0 (t) dt. u(s) = u(s ) + 0 s dt 61 5 Verallgemeinerte Sobolevräume und deren Eigenschaften Beweis. Wie im entsprechenden Beweis für den reellen Fall definieren wir eine Funktion Z s du g : I → X, g(s) := (t) dt. s0 dt Man beachte, dass g wegen Lp (I, X) ,→ L1loc (I, X) wohldefiniert ist. Außerdem kann man zeigen, dass g stetig ist: Sei dazu (sn )n∈N ⊂ I eine Folge mit sn → s ∈ I für n → ∞. Wegen χ(s0 ,s ) du = χ(s0 ,s ) du ≤ χI du ∈ L1 (I, X) n n dt dt dt X X X und du χ(s0 ,sn ) dt X du → χ(s0 ,s) dt fast überall in I X folgt aus dem Satz über majorisierte Konvergenz von Lebesgue, dass g(sn ) → g(s) in X gilt. Somit ist g stetig. Wegen du kgkL1 (I,X) ≤ C dt 1 L (I,X) definiert g eine reguläre X-wertige Distribution Tg ∈ D0 (I, X). dT Nun gilt im Sinne X-wertiger Distributionen dtg = du dt , denn für ϕ ∈ D(I) gilt Z dTg , ϕ = −hg, ∂t ϕi = − g(s)∂t ϕ(s) ds dt I Z Z s du (t) dt ∂t ϕ(s) ds =− I s0 dt Z Z du =− χ(s0 ,sup I) (s)χ(s0 ,s) (t) (t)∂t ϕ(s) dtds dt ZI ZI du − χ(inf I,s0 ) (s) −χ(s,s0 ) (t) (t)∂t ϕ(s) dtds dt ZIZI du (∗) =− χ(s0 ,sup I) (t)χ(t,sup I) (s) (t)∂t ϕ(s) dsdt dt ZI ZI du + χ(inf I,s0 ) (t)χ(inf I,t) (s) (t)∂t ϕ(s) dsdt dt I I Z sup I Z t Z sup I Z s0 du du =− (t) ∂t ϕ(s) ds dt + (t) ∂t ϕ(s) ds dt dt s0 t inf I dt inf I Z sup I Z s0 du du (∗∗) = (t)ϕ(t) dt + (t)ϕ(t) dt dt inf I dt s0 du = ,ϕ . dt 62 5.2 Einbettungen Dabei gilt (∗) wegen χ(s0 ,sup I) (s)χ(s0 ,s) (t) = χ(s0 ,sup I) (t)χ(t,sup I) (s), χ(inf I,s0 ) (s)χ(s,s0 ) (t) = χ(inf I,s0 ) (t)χ(inf I,t) (s). In (∗∗) haben wir den Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung verwendet, wobei dT ϕ kompakten Träger in I hat. Also gilt dtg = du dt und daher d d (g − u) = (Tg − Tu ) = 0. dt dt Somit existiert ein x ∈ X mit u = x + g. Da g stetig ist, ist u daher fast überall gleich einer stetigen Funktion mit u(s0 ) = x + g(s0 ) = x. Also gilt Z s du u(s) = x + g(s) = u(s0 ) + (t) dt. s0 dt Wir können nun den oben angekündigten Einbettungssatz beweisen. Satz 5.2.3 (Einbettung in Hölderstetige Funktionen). Sei I ⊂ R ein beschränktes Intervall, (X, k·kX ) ein Banachraum und 1 ≤ p ≤ ∞. Dann gilt W 1,p (I, X) ,→ C 0,1− p1 (I, X). 1,p Beweis. X). Wir beginnen mit dem Beweis der Stetigkeit von u. Wegen du Sei up∈ W (I, (t) ∈ L (I) ⊂ L1 (I) definiert dt X Z du ν(A) := (t) dt A dt X nach dem Satz von Radon-Nikodym ein zum Lebesgue-Maß absolut-stetiges Maß. Insbesondere existiert für jedes ε > 0 ein δ > 0, sodass für jede messbare Menge A mit Lebesgue-Maß λ(A) ≤ δ bereits ν(A) ≤ ε gilt. Dann gilt aber für |s1 − s2 | ≤ δ mit s1 ≤ s2 wegen Z s2 du u(s2 ) = u(s1 ) + (t) dt s1 dt die Abschätzung Z ku(s1 ) − u(s2 )kX ≤ s2 s1 du (t) dt ≤ ε, dt X 63 5 Verallgemeinerte Sobolevräume und deren Eigenschaften d. h. u ist stetig. Weiter gilt für alle s, s0 ∈ I mit s0 ≤ s Z s Z du 0 du 0 ku(s)kX ≤ u(s ) X + (t) dt ≤ u(s ) X + dt (t) dt s0 dt I X X und somit kukC 0 (I,X) = sup ku(s)kX s∈I ≤ u(s0 )X + Z du (t) dt. I dt X Integration über s0 liefert mit der Hölder-Ungleichung Z 1 kukC 0 (I,X) ds0 kukC 0 (I,X) = |I| I Z Z Z du 0 1 0 0 u(s ) X ds + ≤ dt (t) dt ds |I| I I I X ! 1 du 1 1 2− 1− |I| p kukLp (I,X) + |I| p ≤ dt p |I| L (I,X) ≤ C kukW 1,p (I,X) (5.2.1) mit einer von u unabhängigen Konstante C. Jetzt unterscheiden wir die drei Fälle p = 1, 1 < p < ∞ und p = ∞. Für den Fall p = 1 gilt C 0,1− p1 (I, X) = C 0,0 (I, X) := C 0 (I, X) und somit ist mit (5.2.1) kukC 0 (I,X) ≤ C kukW 1,1 (I,X) , d. h. es gilt W 1,1 (I, X) ,→ C 0 (I, X). Im Fall 1 < p < ∞ erhalten wir mit der Hölder-Ungleichung für s1 ≤ s2 und p0 := 1 − ku(s1 ) − u(s2 )kX 64 s2 du ≤ dt (t) s1 X ≤ χ(s ,s ) p0 Z dt du 1 2 L (I) dt p L (I,X) 1− 1 du = |s1 − s2 | p . dt p L (I,X) 1 p 5.3 Fortsetzbarkeit und dichte Teilmengen Da dabei s1 , s2 ∈ I beliebig sind, folgt du ≤ ≤ kukW 1,p (I,X) . dt p L (I,X) ku(s1 ) − u(s2 )kX sup s1 6=s2 ∈I 1− p1 |s1 − s2 | (5.2.2) Zusammen liefern (5.2.1) und (5.2.2) kuk C 1 0,1− p (I,X) = kukC 0 (I,X) + sup ku(s1 ) − u(s2 )kX s1 6=s2 ∈I |s1 − s2 | 1− p1 ≤ C kukW 1,p (I,X) , d. h. es gilt W 1,p (I, X) ,→ C 0,1− p1 (I, X). Als Letztes betrachten wir noch den Fall p = ∞. Mit der Hölder-Ungleichung erhalten wir für beliebige s1 , s2 ∈ I mit s1 ≤ s2 Z s2 du ku(s1 ) − u(s2 )kX ≤ dt (t) dt s1 X du (5.2.3) ≤ |s1 − s2 | dt ∞ L (I,X) ≤ |s1 − s2 | kukW 1,∞ (I,X) , d. h. u ist Lipschitz-stetig. Zusammen ergeben (5.2.1) und (5.2.3) kukC 0,1 (I,X) = kukC 0 (I,X) + sup s1 6=s2 ∈I ku(s1 ) − u(s2 )kX ≤ C kukW 1,∞ (I,X) , |s1 − s2 | d. h. es gilt W 1,∞ (I, X) ,→ C 0,1 (I, X). Bemerkung 5.2.4. Sinngemäß gilt der Satz auch für unbeschränkte Intervalle. Der Satz besagt, dass jede Funktion im verallgemeinerten Sobolevraum W 1,p (I, X) mit einer Hölderstetigen Funktion identifiziert werden kann. 5.3 Fortsetzbarkeit und dichte Teilmengen Lemma 5.3.1 (Dichtheit). Sei I ⊂ R ein offenes, beschränktes Intervall und 1 ≤ p < ∞. Sei weiter X ein Banachraum und D ⊂ X eine dichte Teilmenge. Dann gilt ( n ) X ¯ di ∈ D ,→ W 1,p (I, X), C := ϕi di n ∈ N, ϕi ∈ C ∞ (I), i=1 wobei die Einbettung dicht ist. 65 5 Verallgemeinerte Sobolevräume und deren Eigenschaften Beweis. Wir wissen bereits aus Satz 5.2.3, dass ¯ X) W 1,p (I, X) ,→ C(I, p gilt. Nach Korollar 2.3.2 existiert für du dt ∈ L (I, X) eine Folge (vn )n∈N mit ( n ) X vn ∈ ηi di ηi ∈ C0∞ (I), di ∈ D i=1 für alle n ∈ N und mit vn → du in Lp (I, X). dt Da D dicht in X liegt, existiert für u(0) ∈ X eine Folge (dn )n∈N ⊂ D mit dn → u(0) in X. Wir definieren daher Z un (t) := dn + t vn (s) ds. 0 Dann ist un ∈ ( n X ¯ di ∈ D ϕi di ϕi ∈ C ∞ (I), ) ¯ X) ⊂ C ∞ (I, i=1 und es gilt nach Lemma 4.0.21 und Satz 4.0.6 du dun = (un )t = vn → in Lp (I, X). dt dt Mit Z Fn (τ ) := τ Z vn (s) ds und F (τ ) := 0 0 τ du (s) ds dt erhalten wir also ¯ X) Fn → F in Cb0 (I, und damit ¯ X). un = dn + Fn → u(0) + F = u in Cb0 (I, ¯ X) ,→ Lp (I, X) gilt die letzte Konvergenz auch in Lp (I, X). Für ein Element Wegen Cb0 (I, 1,p u ∈ W (I, X) haben wir also (un )n∈N ⊂ C gefunden mit un → u in W 1,p (I, X). 66 5.3 Fortsetzbarkeit und dichte Teilmengen Für die explizite Konstruktion glatter Approximationsfolgen werden wir weiter unten wie im Fall klassischer Sobolevräume mittels Faltung mit einem sogenannten mollifier“ ” argumentieren. Da die Faltung den Träger der Ausgangsfunktion ausschmiert“, muss ” man sie zunächst passend fortsetzen. Den einfachsten Zugang stellt hierbei die triviale Fortsetzung der Funktion durch Null dar. Da dabei allerdings Sprünge entstehen können, die dazu führen, dass die so fortgesetzte Funktion nicht mehr schwach differenzierbar ist, ist diese Art der Fortsetzung von Funktionen im Kontext von (verallgemeinerten) Sobolevräumen nicht geeignet. Die Fortsetzung einer Funktion durch Spiegelung hingegen erhält die schwache Differenzierbarkeit, wie das nächste Theorem zeigt. Wir nehmen im Folgenden immer an, dass X und Y Banachräume mit der Eigenschaft X ⊂ Y sind. Der Satz gilt allerdings sinngemäß auch dann, wenn X und Y jeweils stetig in einen dritten Banachraum Z eingebettet sind. Theorem 5.3.2 (Fortsetzung durch Spiegelung). Sei I = (0, T ) und u ∈ L1 (I, X). Wir definieren t ∈ (−T, 0), u(−t), ū : 3I := (−T, 2T ) → X, t 7→ u(t), t ∈ [0, T ], u(2T − t), t ∈ (T, 2T ). Dann gilt: 1. Es ist ū ∈ L1 (3I, X). 2. Für u ∈ Lp (I, X) mit 1 ≤ p ≤ ∞ gilt auch ū ∈ Lp (3I, X). 3. Für du dt ∈ Lp (I, Y ) mit 1 ≤ p ≤ ∞ gilt auch dū dt ∈ Lp (3I, Y ), wobei du t ∈ (−T, 0), − dt (−t), dū du (t) = dt (t), t ∈ [0, T ], dt du − dt (2T − t), t ∈ (T, 2T ). Beweis. Blatt 10, Aufgabe 2. Bochner-Messbarkeit sowie Lp -Integrierbarkeit der Fortsetzung ū sind klar, sodass nur die 3. Aussage zu zeigen bleibt. 1 Aufgrund der Einbettung X ⊂ Y gilt u ∈ L1 (I, X) ,→ L1 (I, Y ) und du dt ∈ L (I, Y ), d. h. ¯ Y ) mit es gilt u ∈ W 1,1 (I, Y ). Wegen Lemma 5.3.1 existiert eine Folge (un )n∈N ⊂ C ∞ (I, 1,1 1,1 0 un → u in W (I, Y ) und wegen W (I, Y ) ,→ C (I, Y ) gilt auch un → u in C 0 (I, Y ). Sei außerdem ϕ ∈ D(3I) beliebig. Dann gilt wegen des Hauptsatzes Z 0 Z un (−t)∂t ϕ(t) dt = un (0)ϕ(0) + −T 0 (un )t (−t)ϕ(t) dt −T 67 5 Verallgemeinerte Sobolevräume und deren Eigenschaften und analog Z T un (t)∂t ϕ(t) dt = un (T )ϕ(T ) − un (0)ϕ(0) − (un )t (t)ϕ(t) dt, 0 0 Z 2T Z 2T (un )t (2T − t)ϕ(t) dt. un (2T − t)∂t ϕ(t) dt = −un (T )ϕ(T ) + Z T T T Addition der drei Gleichungen und der anschließende Grenzübergang n → ∞ liefern dann die Behauptung. Kombiniert man die Spiegelung aus dem vorangegangenen Theorem noch mit einer zusätzlichen Lokalisierung in der Zeit mit Hilfe einer Abschneidefunktion, so erhält man einen linearen, stetigen Fortsetzungsoperator E : W 1,p (I, Y ) → W 1,p (R, Y ) mit Eu|I = u. Für unsere Belange ist Theorem 5.3.2 allerdings ausreichend. Wir vereinbaren trotzdem noch die folgende Schreibweise: Ist v : I ⊂ R → X eine Banachraum-wertige Funktion, so bezeichne K(v) : R → X ihre triviale Fortsetzung durch Null auf ganz R. Wir kommen nun zu einem zentralen Dichtheitsresultat, das wie im klassischen Fall im Wesentlichen die Faltung benutzt, um eine konkrete Funktion mittels glatter Funktionen zu approximieren. Theorem 5.3.3 (Dichtheit glatter Funktionen). R Sei I = (0, T ) und w ∈ C0∞ ((−1, 1)) mit R w(s) ds = 1. Setzen wir 1 t wε (t) := w , ε ε R so gilt wε ∈ C0∞ ((−1, 1)), supp wε ⊂ (−ε, ε) und R wε (s) ds = 1. Für u ∈ L1 (I, X) definieren wir uε := (K(ū) ∗ wε ) , I wobei ū wie in Theorem 5.3.2 die Fortsetzung von u auf 3I mittels Spiegelung bezeichne. Dann gilt: 1. Für u ∈ Lp (I, X) mit 1 ≤ p < ∞ gilt (uε )ε>0 ⊂ C ∞ (I, X) und uε → u in Lp (I, X). q 2. Für u ∈ Lp (I, X) mit 1 ≤ p ≤ ∞ und du dt ∈ L (I, Y ) mit 1 ≤ q < ∞ gilt ∞ (uε )ε>0 ⊂ C (I, X), duε dū (uε )t = = K ∗ wε in D0 (I, Y ) dt dt I und (uε )t → 68 du dt in Lq (I, Y ). 5.3 Fortsetzbarkeit und dichte Teilmengen Beweis. Die Glattheit der Folge (uε )ε>0 sowie die Tatsache, dass (uε )ε>0 stark gegen u in Lp (I, X) konvergiert folgen wie im klassischen Fall aus Standardresultaten über Parameterintegrale und den Eigenschaften der Faltung, sodass wir uns auf die 2. Aussage konzentrieren können. Auch hier sind die Glattheits- und Konvergenzaussagen Konsequenzen der Eigenschaften der Faltung, sodass nur die entscheidende Identität duε dū (uε )t = ∗ wε in D0 (I, Y ) = K dt dt I zu zeigen bleibt. Wir müssen also zeigen, dass die Ableitung der Faltung“ der gefalteten ” ” Ableitung“ entspricht. Da uε glatt ist, besitzt uε eine Ableitung im Sinne vektorwertiger Distributionen, die mit der klassischen Ableitung überein stimmt, sodass nur dū (uε )t = K ∗ wε in D0 (I, Y ) dt I zu zeigen bleibt. Sei dazu ϕ ∈ D(I) beliebig. Dann gilt mit dem Satz von Fubini Z T Z T Z 2T uε (t)∂t ϕ(t) dt = ū(s)wε (t − s)∂t ϕ(t) dsdt 0 −T 0 Z 2T Z ū(s) = −T 2T T w̌ε (s − t)∂t ϕ(t) dt ds 0 Z ū(s) (∂t ϕ ∗ w̌ε ) (s) ds, = −T wobei wir w̌ε (·) := wε (−·) setzen. Wegen ∂t ϕ ∗ w̌ε = ∂t (ϕ ∗ w̌ε ) mit (ϕ ∗ w̌ε )ε>0 ⊂ C ∞ (R) und supp(ϕ ∗ w̌ε ) ⊂ supp ϕ + supp w̌ε ⊂⊂ (−T, 2T ) folgt Z 2T Z T uε (t)∂t ϕ(t) dt = ū(s)∂t (ϕ ∗ w̌ε )(s) ds 0 −T Z 2T dū (s)(ϕ ∗ w̌ε )(s) ds −T dt Z 2T Z T dū (s)wε (t − s)ϕ(t) dtds =− −T 0 dt Z Z T dū =− ϕ(t) K (s)wε (t − s) ds dt dt 0 R Z T dū =− K ∗ wε (t)ϕ(t) dt, dt 0 =− was zu zeigen war. 69 5 Verallgemeinerte Sobolevräume und deren Eigenschaften 5.4 Partielle Integration Das Dichtheitsresultat aus Theorem 5.3.3 dient im Folgenden als Grundlage für den Beweis einer Formel zur partiellen Integration für Funktionen im verallgemeinerten Sobo0 levraum W 1,p,p (I, V, V ∗ ), wobei (V, H, V ∗ ) ein gegebenes Gelfand-Tripel ist. Der Beweis 0 ¯ H), die die schon dieser Formel liefert außerdem die Einbettung W 1,p,p (I, V, V ∗ ) ,→ C(I, 0 1,p,p ∗ ∗ bekannte Aussage W (I, V, V ) ,→ C(I, V ) verbessert. Die partielle Integrationsformel sowie die eben erwähnte Einbettung sind darüber hinaus von fundamentaler Bedeutung für die Existenztheorie (nicht)linearer Evolutionsgleichungen mittels der Theorie monotoner Operatoren, wie sie in [Růž04] dargestellt ist. Theorem 5.4.1 (partielle Integration und Einbettung). Sei I = (0, T ), 1 < p < ∞ und (V, H, V ∗ ) ein Gelfand-Tripel. 0 ¯ V ) ,→ W 1,p,p (I, V, V ∗ ), wobei die Einbettung dicht ist. 1. Es gilt C ∞ (I, 0 ¯ H), wobei die Einbettung stetig ist. 2. Es gilt W 1,p,p (I, V, V ∗ ) ,→ C(I, 0 3. Für u, v ∈ W 1,p,p (I, V, V ∗ ) und s, s0 ∈ I gilt die partielle Integrationsformel Z s Z s 0 0 hdt v(t), u(t)iV dt = (v(s), u(s))H − v(s ), u(s ) H − hdt u(t), v(t)iV dt. s0 s0 Für u = v gilt somit Z s 2 1 1 hdt u(t), u(t)iV dt = ku(s)k2H − u(s0 )H . 2 2 s0 ¯ V ) ,→ W 1,p,p0 (I, V, V ∗ ), Beweis. Die 1. Aussage, also die Dichtheit der Einbettung C ∞ (I, folgt mit Theorem 5.3.3. Für die 2. Aussage sei noch einmal daran erinnert, dass wir aus den Einbettungssätzen in Räume Hölderstetiger Funktionen (s. Theorem 5.2.3) bereits wissen, dass 0 ¯ V ∗) W 1,p,p (I, V, V ∗ ) ,→ C(I, gilt, sodass der entscheidende Punkt im Beweis der Tatsache besteht, dass Funktionen 0 in W 1,p,p (I, V, V ∗ ) sogar stetig als Funktionen mit Werten im kleineren Raum H ,→ V ∗ sind. 0 Wir approximieren dazu zunächst eine beliebige Funktion u ∈ W 1,p,p (I, V, V ∗ ) durch ¯ V ) und zeigen, dass (un )n∈N dann auch eine Cauchyfolge im eine Folge (un )n∈N ⊂ C ∞ (I, ¯ Banachraum C(I, H) ist. Aus der starken Konvergenz un → u in Lp (I, V ) 70 5.4 Partielle Integration folgt un (t) → u(t) in V ,→ H (zunächst nur für eine Teilfolge, aber wir können ohne Einschränkung annehmen, dass dies auch für die ganze Folge gilt). Wegen der Eindeutigkeit starker Grenzwerte muss ¯ H) sein und dann u aber identisch mit dem Grenzwert der Cauchyfolge (un )n∈N ⊂ C(I, wir können u schließlich mit diesem Grenzwert identifizieren. Da un − uk glatt ist, gilt für beliebige s, s0 ∈ I¯ auf Grund des Satzes 4.1.1 über GelfandTripel und der Hölder-Ungleichung Z s 1 1 2 0 2 ((un − uk )t (t), (un − uk )(t))H dt (un − uk )(s ) H = k(un − uk )(s)kH − 2 2 0 Zs s = h(un − uk )t (t), (un − uk )(t)iV dt s0 ≤ k(un − uk )t kLp0 (I,V ∗ ) kun − uk kLp (I,V ) . Daher folgt 2 k(un − uk )(s)k2H ≤ (un − uk )(s0 )H + 2 kun − uk k2W 1,p,p0 (I,V,V ∗ ) √ a2 + b2 ≤ a + b für a, b ≤ 0 √ k(un − uk )(s)kH ≤ (un − uk )(s0 )H + 2 kun − uk kW 1,p,p0 (I,V,V ∗ ) . bzw. wegen Unter Beachtung der Einbettungen V ,→ H und Lp (I, V ) ,→ L1 (I, H) zeigt Integration bzgl. s0 schließlich √ 1 kun − uk kL1 (I,H) + 2 kun − uk kW 1,p,p0 (I,V,V ∗ ) |I| ≤ c kun − uk kLp (I,V ) + c kun − uk kW 1,p,p0 (I,V,V ∗ ) k(un − uk )(s)kH ≤ ≤ C kun − uk kW 1,p,p0 (I,V,V ∗ ) , wobei C von |I|, p und p0 , nicht aber von n und k abhängt. Da s ∈ I¯ beliebig war, folgt schließlich kun − uk kC(I,H) = sup k(un − uk )(s)kH ≤ C kun − uk kW 1,p,p0 (I,V,V ∗ ) . ¯ i∈I 0 Nach Voraussetzung gilt un → u in W 1,p,p (I, V, V ∗ ). Folglich liefert somit die letzte ¯ H) ist. Dank unserer Abschätzung, dass (un )n∈N eine Cauchyfolge im Banachraum C(I, Vorüberlegung folgt schließlich die Einbettung 0 ¯ H). W 1,p,p (I, V, V ∗ ) ,→ C(I, 71 5 Verallgemeinerte Sobolevräume und deren Eigenschaften 0 Der dritte Punkt folgt nun ebenfalls durch Approximation: Zu u, v ∈ W 1,p,p (I, V, V ∗ ) ¯ V ), wählen wir zunächst wieder approximierende Folgen (un )n∈N und (vn )n∈N ⊂ C ∞ (I, 0 0 1,p,p ∗ 1,p,p ∗ ¯ die stark in W (I, V, V ) und wegen W (I, V, V ) ,→ C(I, H) insbesondere auch gleichmäßig auf I in H gegen u bzw. v konvergieren. Da un , vn glatte Funktionen sind, gilt dann für beliebige s, s0 ∈ I¯ (vn (s), un (s))H − vn (s0 ), un (s0 ) H Z s Z s ((un )t (t), vn (t))H dt ((vn )t (t), un (t))H dt + = s0 s0 Z s Z s = h(vn )t (t), un (t)iV dt + h(un )t (t), vn (t)iV dt s0 s0 = (vn )t , un χ(s0 ,s) Lp (I,V ) + (un )t , vn χ(s0 ,s) Lp (I,V ) . (5.4.1) Wegen der Konvergenzen 0 (vn )t → dt v in Lp (I, V ∗ ), 0 (un )t → dt u in Lp (I, V ∗ ), vn → v in Lp (I, V ), un → u in Lp (I, V ), ¯ H) und vn → v in C(I, ¯ H) un → u in C(I, liefert der Grenzübergang n → ∞ in (5.4.1) die erste Behauptung von Aussage 3. Eine analoge Argumentation zeigt schließlich Z s 1 1 2 0 2 ku(s)kH − u(s ) H = hdt u(t), u(t)iV dt 2 2 s0 0 ¯ für beliebige u ∈ W 1,p,p (I, V, V ∗ ) und beliebige s, s0 ∈ I. Bemerkung 5.4.2. Der Beweis zeigt, dass die zusätzliche Struktur des zugrunde liegenden Gelfand-Tripels (V, H, V ∗ ) von entscheidender Bedeutung ist. Insbesondere die Tatsache, dass für u, v ∈ V die Identität hu, viV = (u, v)H = (v, u)H = hv, uiV gilt, erlaubt es uns, von V ∗ nach H zu gelangen und damit die Einbettung zu verbessern. ¯ V ) dicht in W 1,p,p0 (I, V, V ∗ ) liegt, Für den Beweis ist ebenso entscheidend, dass C ∞ (I, da sich dann die Integrationsformeln leicht durch Approximation beweisen lassen. 72 5.4 Partielle Integration Abhängig von der Struktur des vorliegenden Problems und vor allem der auftretenden Funktionenräume kann die Konstruktion dichter Teilmengen schwierig sein. Hier kann aber die Beobachtung nützlich sein, dass der Beweis von Theorem 5.4.1 auch ¯ V ) derart kondann noch funktioniert, wenn die Approximationsfolge (un )n∈N ⊂ C ∞ (I, struiert werden kann, dass gilt un → u in Lp (I, V ), 0 aber (un )t nur schwach gegen dt u in (Lp (I, V ))∗ ∼ = Lp (I, V ∗ ) konvergiert. Die partielle Integrationsformel lässt sich noch weiter verallgemeinern, wenn man die Skalar- und Dualitätsprodukte aus Theorem 5.4.1 durch abstrakte stetige Bilinearformen ersetzt. Der Beweis der folgenden Proposition beruht wieder im Wesentlichen auf der Dichtheit glatter Funktionen in den entsprechenden verallgemeinerten Sobolevräumen. Daher verzichten wir an dieser Stelle auf die Details des Beweises. Proposition 5.4.3 (partielle Integration für stetige Bilinearformen). Seien X, Y und Z Banachräume. Seien 1 ≤ p, q < ∞ und 1 ≤ r ≤ ∞, sodass gilt. Sei außerdem B : X × Y → Z eine stetige Bilinearform. Dann gilt: 1 p + 1 q = 1 r 1. B induziert eine stetige Bilinearform B : W 1,p (I, X) × W 1,q (I, Y ) → W 1,r (I, Z) mit B(u, v)(t) := B(u(t), v(t)). Dabei gilt für die distributionelle Zeitableitung d du dv B(u(·), v(·)) = B (·), v(·) + B u(·), (·) . dt dt dt 2. Für alle u, v ∈ W 1,p (I, X) × W 1,q (I, Y ) und s, s0 ∈ I gilt die partielle Integrationsformel Z s Z s dv du 0 0 B u(t), (t) dt = B(u(s), v(s)) − B(u(s ), v(s )) − B (t), v(t) dt. dt dt s0 s0 Beweis. Blatt 11, Aufgabe 1 73 Literaturverzeichnis [Bré11] Haı̈m Brézis, Functional analysis, sobolev spaces and partial differential equations, Universitext, Mathematics, Springer, New York; Heidelberg [u.a.], 2011 (eng). [Els09] Jürgen Elstrodt, Maß- und Integrationstheorie, 6. ed., Springer-Lehrbuch, Grundwissen Mathematik, Springer, Berlin; Heidelberg [u.a.], 2009 (ger). 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