Menschen, die man nicht vergisst

Himmel und Erde
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Montag bis Freitag, 9.15 Uhr (NDR 1 Niedersachsen)
22. bis 26. Februar 2016: Menschen, die man nicht vergisst
Von Anton Reinert, Diakon in Meppen
Für Anton Reinert sind sie „Lichtgestalten“: Seine Eltern oder der Kollege, der ihm einmal
das Leben gerettet hat. Auch Heilige und Märtyrer gehören dazu.
Redaktion: Ruth Beerbom
Katholische Kirche im NDR
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Montag, 22. Februar 2016: Tage, die man nicht vergisst
Heinz und ich stehen in einem schmalen Graben. Kies muss verteilt werden. Die
Drainagerohre brauchen eine stabile, durchlässige Grundlage. Noch ist vom
zukünftigen Deich wenig zu sehen, der einmal die Aller bei Hochwasser begrenzen
soll. Bis zum Horizont eine gewaltige Baustelle. Viele Maschinen sind im Einsatz an
diesem Freitag, ständig wird Sand gebracht und verteilt. Und heiß ist es an diesem
Vormittag, weit über 30 Grad. Nach einer Woche harter Arbeit geht es bald zurück
ins Emsland. Wochenende. In den letzten Wochen sind wir ein gutes Duo geworden,
Heinz und ich. Fast könnte man von einer Freundschaft sprechen. Noch eine
Viertelstunde. Mit einem Ruck werde ich zu Boden gerissen. Im gleichen Augenblick
ein leises Zischen. Der Ausleger des großen Baggers saust samt der Schaufel über
uns hinweg. Wie erstarrt bleiben wir im Graben liegen. Dann rappeln wir uns auf.
Glück gehabt, denke ich und klopfe Heinz auf die Schulter: Dankeschön! Was war
geschehen? Unser Baggerfahrer hatte bei laufendem Motor den Bagger aufgeräumt
und hatte dabei den Hebel für den Ausleger berührt. Der war herumgeschwenkt auf
uns zu. Heinz hatte mich gerade noch rechtzeitig gepackt und von den Beinen
gerissen. War es wirklich nur Glück oder mehr?
Diesen Tag jedenfalls werde ich nicht vergessen - damals - wenige Tage vor der
Mondlandung im Juli 1969. Nicht vergessen, dass ich mein Leben dem beherzten
Zupacken des Arbeitskollegen verdanke. Danken und Denken, so habe ich vor
kurzem gelesen, gehören zusammen. Im täglichen Leben bin ich auf die Hilfe
anderer angewiesen. Wie soll ich sicher zur Arbeitsstelle kommen, ohne ausgebaute
Wege und Straßen? Wie gesund bleiben ohne ein fundiertes Gesundheitssystem?
Wie essen und leben ohne ausreichende Versorgung? Dafür möchte ich danke
sagen und Gott danken. Ja, besonders Gott danken, der uns den Morgen schenkt
mit dem Erwachen des Tages; den Tag mit seiner ganz eigenen Prägung, den
Abend und die Nacht zur Erholung. Und die besonderen Tage, wie damals, im
Sommer 1969. Und Menschen, damals wie heute, die da sind, wenn wir sie
brauchen.
Dienstag, 23. Februar 2016: Gebote und Vorschriften
Ob ich ein guter Autofahrer bin? „Eher nein“, werde ich antworten. Für den
Straßenverkehr der Großstadt bin ich eh nicht geschaffen. Lieber bin ich dann
Beifahrer. Auch im heimatlichen Meppen, einer Kleinstadt, fahre ich mit dem Auto
nicht gerne zu den Zeiten des Berufs- und Schulbeginns. Radfahrer ohne Licht,
Fußgänger, die an den unmöglichsten Stellen noch schnell die Straße überqueren
wollen, ungeduldiges Hupen hinter mir. In Meppen ist es so wie an vielen Orten zur
Rush Hour. Es wird vielen so ergehen, die morgens und abends im Berufsverkehr
stecken. Viele Hinweisschilder, manchmal auf engstem Raum, gilt es zu beachten.
War da nicht gerade ein Tempo-30-Schild? Gestern stand es da noch nicht, denke
ich. 613 Gebote und Vorschriften und Verbote gab es zu Zeiten Jesu. Von einem
gläubigen Juden sollten sie alle befolgt werden. Als die Apostel am Sabbat Ähren
pflücken, um ihren Hunger zu stillen, müssen sie sich den Vorwurf gefallen lassen,
dass Arbeiten am Feiertag verboten ist. 613 Gebote: Mich erinnert das an den
heutigen Schilderwald an vielen Straßen. Wer kann sie alle erfassen und dann noch
beachten! „Das Gesetz ist für den Menschen da, nicht der Mensch für das Gesetz“,
ist die Antwort Jesu. Wie gut ist es dann, wenn einige sich bisweilen über
Vorschriften hinwegsetzen. Papst Franziskus, der gegen alle Sicherheitsbedenken
mit dem Linienbus durch Rom fuhr mit all den Menschen, die jeden Tag mit dem Bus
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zur Arbeit fahren müssen - der gegen den Rat seiner Begleiter bei öffentlichen
Auftritten sein Fahrzeug stoppen lässt, Menschen in den Arm nimmt, mit ihnen
spricht und sie tröstet. Wie befreiend können solche Bilder sein. Gesetze und
Vorschriften: Ohne sie kann eine Gesellschaft nicht funktionieren. Doch dort, wo sie
Menschlichkeit und Zuwendung verhindern, verlieren sie ihren Sinn. Oder bedienen
eben wie damals nur den Machterhalt. Und wenn Jesus im Evangelium des Tages
den Jüngern dann sagt: „Ihr sollt euch nicht Lehrer nennen lassen“, meint er gerade
diese Besserwisserei und Belehrung: ‚Wir als Gelehrte da oben, ihr da unten’. Und
Christus als Lehrer meint den Diener aller, als Gegenentwurf zu den Herrschenden,
als Vorbild - damals wie heute.
Mittwoch. 24. Februar 2016: Menschen, die man nicht vergisst
Wie immer saß ich unter dem Esstisch und las im Märchenbuch 1.001 Nacht oder im
Buch der großen Heiligenlegenden. Immer dann, wenn mein Vater und der Nachbar
sich zu einem Plausch trafen und dabei eine dicke Zigarre rauchten. Die
Geschichten, die sie sich da erzählten, interessierten mich nicht und den Rauch
mochte ich auch nicht. Aber gemütlich war es, und so saß ich mit einer
Taschenlampe unter dem Tisch und las - in den Märchen und die Geschichten von
großen Heiligen. Die Legenden von den Märtyrern hatten es mir besonders angetan:
sich zu opfern für den Glauben, Gott treu bleiben bis in den Tod. Überwältigend und
unfassbar. Diese Heiligen waren die Stars meiner Kindheit.
Heute weiß ich, dass manche Heiligengeschichten eher fromme Erzählungen zur
persönlichen Erbauung waren und mit dem wirklichen Leben dieser Menschen wenig
zu tun hatten. Und doch bleiben diejenigen, die vor langer Zeit Zeugnis gaben und
für ihre Überzeugung eintraten und dafür mit dem Leben bezahlen mussten. In
diesen Tagen denke ich oft an Dietrich Bonhoeffer. Eine Lichtgestalt im Widerstand
gegen die Unmenschlichkeit und den Terror der Nazis. Bonhoeffer, der noch im Jahr
1940 eine Professur in den Vereinigten Staaten ausschlug, nach Deutschland
zurückkehrte, sich mit all seiner Kraft für die Rechte der Menschen und für die
Freiheit des Glaubens einsetzte. Kurz vor Kriegsende wird er im KZ Flossenbürg
umgebracht. Ich denke an die Journalisten in heutiger Zeit, die sich nicht dem Terror
in ihrer Heimat abfinden wollen. Viele von ihnen sind, so berichtet die UNO,
verschleppt, gefoltert und auch umgebracht worden. Sind nur die Märtyrer gemeint,
wenn Jesus im heutigen Tagesevangelium davon spricht, dass es keine größere
Liebe gibt, als wenn einer sein Leben für die Freunde gibt (vgl. Joh. 15,13.)? Sind
nicht auch die gemeint, die in Krisengebieten medizinisch, bei der Versorgung, in der
Infrastruktur sich mit aller Kraft einbringen. Oft unter Einsatz ihres Lebens. Ganz
sicher nicht nur für mich sind das Lichtgestalten, die Leuchttürme unserer Zeit und
auch Zeugen der Liebe Christi zu den Menschen.
Donnerstag, 25. Februar 2016: Heimat finden
Gegenüber an der Wand hängt dieses Bild. Bei jedem Besuch bei dem älteren
Ehepaar fällt mein Blick darauf. Es zeigt ein kleines westfälisches Dorf im 19.
Jahrhundert. Wie Küken schmiegen sich die niedrigen Häuser um die Kirche. Ein
gepflasterter Weg ist zu sehen, der durch den Ort führt. Häuser und Kirche sind
eingebettet in eine Landschaft mit Feldern und einem Wäldchen. Bald ist Erntezeit,
das Korn ist schon goldgelb. Das Bild selbst hat keinen Titel. Heimat, denke ich, das
könnte passen. Heimat, ein Wort, das tiefe Gefühle weckt und die Frage: was ist für
mich Heimat? Dort, wo ich zuhause bin, dort, wo meine Seele ist, könnte die Antwort
lauten. In diesen Wochen verlieren viele Menschen ihre Heimat.
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In Syrien, wo ihnen ihre Häuser und Städte weggebombt werden. Im Süden Afrikas,
wo die Natur verdorrt und überall dort, wo die wirtschaftliche Not die Menschen zum
Aufbruch zwingt. Dorthin zu gehen, wo sie eine neue Grundlage zum Leben finden.
„Aus Europa darf keine Festung werden“. Das haben viele Menschen in Deutschland
in den vergangenen Monaten mit einem großen Herz gezeigt. Vom Krieg
traumatisierten Familien einen sicheren Ort bereitet, Kindern und Jugendlichen die
Möglichkeit, regelmäßig zur Kita beziehungsweise zur Schule zu gehen. Und: Wieder
ein menschenwürdiges Leben zu führen. Von dem zu geben, was wir bisweilen im
Überfluss haben, wird uns nicht schwer fallen. Im Evangelium des heutigen Tages
indes lehnt der reiche Prasser auch das ab. Lazarus verhungert neben den überreich
gedeckten Tischen der Reichen. Ist das so anders heute, wenn große Fischtrawler
vor der Küste Ghanas den heimischen Fischern ihre Lebensgrundlage wegnehmen
und diese dann hungern müssen? Eine große Aufgabe wird es sein, den Menschen,
die bei uns Schutz vor Terror und Verfolgung suchen, Platz und Heimat in unserer
Gesellschaft zu geben. „Das Recht ströme wie Wasser“ heißt es im Alten Testament
beim Propheten Amos. Und so heißt auch das Thema der Misereor-Fastenaktion in
diesem Jahr. Gerechtigkeit zu schaffen, hier und anderswo die große
Herausforderung für die nächsten Jahre.
Freitag, 26. Februar 2016: Familie leben
Sie singen mit vollem Einsatz. Jungen und Mädchen - ein Kinderchor - und die ganze
Gemeinde singt mit: ‚Lobet den Herren ...’ Die Taufe des kleinen Piet ist ein richtiges
Fest. Viele sind gekommen, Verwandte und Freunde der Eltern und junge Paare, die
demnächst ein Kind erwarten. Auch deshalb ein Fest, weil so viele bei der Feier eine
Aufgabe übernehmen. Eine Lektorin für das Evangelium, die Kinder tragen die
Fürbitten vor, und eine Band begleitet die Gemeinde und den Chor. ‚Unser Leben sei
ein Fest‘, mit dem Lied endet die Taufe. Nach dem Gottesdienst gilt mein besonderer
Dank den jungen Sängerinnen und Sängern. Die Antwort der Chorleiterin fällt dabei
ganz anders aus als erwartet: „Diese Kinder haben keine Familie – wir, das
Kinderheim, sind die Familie.“ Lange nach dem Verlassen der Kirche denke ich
daran: „Wir, das Kinderheim, sind die Familie.“ Und an die Familie, in der ich
aufgewachsen bin. An Mama und Papa, an meine Geschwister. Wie hart der Vater
arbeiten musste, wie Mutter sich mühte, in der täglichen Hektik eines
Handwerksbetriebes den Kindern ein gutes Zuhause zu geben. Familie zu leben und
offen für die Hilfe für andere zu sein.
Zusammenhalt und Solidarität, sich engagieren in der Kirchengemeinde, in der
dörflichen Gemeinschaft und in der Gesellschaft: Die Eltern haben es uns vorgelebt.
Ja, auch Salz der Erde zu sein, meine Eltern – wie viele Eltern damals wie heute.
Und Vorbild zu sein. Das traute Heim, seinen Glauben nicht für sich zu behalten. Für
mich heißt das auch: Weitergabe des Glaubens, in der Familie, in der
Kirchengemeinde, im dörflichen Umfeld. Hoffnung von Gottes lebendiger Gegenwart
in kleinen und kleinsten Schritten zu geben. Solidarität mit denen, die unserer Hilfe
bedürfen, die nie die Chance hatten und haben, in einer Familie aufzuwachsen. Viele
leben diese Hoffnung auch heute, im Dorf, in den Stadtteilen, und auch in meiner
emsländischen Heimat. Ja, bisweilen kann Engagement nervend, aufreibend und
belastend sein. Es kostet Zeit. Zeit, die Verzicht einfordert zum Beispiel bei der
Gestaltung der Freizeit. Aber Spaß kann man auch dabei haben - damals wie heute,
bei der Taufe des kleinen Piet.
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