Himmel und Erde _________________________________________________________________________________ Montag bis Freitag, 9.15 Uhr (NDR 1 Niedersachsen) 22. bis 26. Februar 2016: Menschen, die man nicht vergisst Von Anton Reinert, Diakon in Meppen Für Anton Reinert sind sie „Lichtgestalten“: Seine Eltern oder der Kollege, der ihm einmal das Leben gerettet hat. Auch Heilige und Märtyrer gehören dazu. Redaktion: Ruth Beerbom Katholische Kirche im NDR Redaktion Osnabrück Schillerstraße 15, 49074 Osnabrück Tel. 0541 - 318 656 www.radiokirche.de Der Autor Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf nur für private Zwecke des Empfängers benutzt werden. Jede andere Verwendung (z.B. Mitteilung, Vortrag oder Aufführung in der Öffentlichkeit, Vervielfältigung, Bearbeitung, Übersetzung) ist nur mit Zustimmung der Kath. Kirche im NDR zulässig. Die Verwendung für Rundfunkzwecke bedarf der Genehmigung des NDR. www.radiokirche.de – Katholische Kirche im NDR Montag, 22. Februar 2016: Tage, die man nicht vergisst Heinz und ich stehen in einem schmalen Graben. Kies muss verteilt werden. Die Drainagerohre brauchen eine stabile, durchlässige Grundlage. Noch ist vom zukünftigen Deich wenig zu sehen, der einmal die Aller bei Hochwasser begrenzen soll. Bis zum Horizont eine gewaltige Baustelle. Viele Maschinen sind im Einsatz an diesem Freitag, ständig wird Sand gebracht und verteilt. Und heiß ist es an diesem Vormittag, weit über 30 Grad. Nach einer Woche harter Arbeit geht es bald zurück ins Emsland. Wochenende. In den letzten Wochen sind wir ein gutes Duo geworden, Heinz und ich. Fast könnte man von einer Freundschaft sprechen. Noch eine Viertelstunde. Mit einem Ruck werde ich zu Boden gerissen. Im gleichen Augenblick ein leises Zischen. Der Ausleger des großen Baggers saust samt der Schaufel über uns hinweg. Wie erstarrt bleiben wir im Graben liegen. Dann rappeln wir uns auf. Glück gehabt, denke ich und klopfe Heinz auf die Schulter: Dankeschön! Was war geschehen? Unser Baggerfahrer hatte bei laufendem Motor den Bagger aufgeräumt und hatte dabei den Hebel für den Ausleger berührt. Der war herumgeschwenkt auf uns zu. Heinz hatte mich gerade noch rechtzeitig gepackt und von den Beinen gerissen. War es wirklich nur Glück oder mehr? Diesen Tag jedenfalls werde ich nicht vergessen - damals - wenige Tage vor der Mondlandung im Juli 1969. Nicht vergessen, dass ich mein Leben dem beherzten Zupacken des Arbeitskollegen verdanke. Danken und Denken, so habe ich vor kurzem gelesen, gehören zusammen. Im täglichen Leben bin ich auf die Hilfe anderer angewiesen. Wie soll ich sicher zur Arbeitsstelle kommen, ohne ausgebaute Wege und Straßen? Wie gesund bleiben ohne ein fundiertes Gesundheitssystem? Wie essen und leben ohne ausreichende Versorgung? Dafür möchte ich danke sagen und Gott danken. Ja, besonders Gott danken, der uns den Morgen schenkt mit dem Erwachen des Tages; den Tag mit seiner ganz eigenen Prägung, den Abend und die Nacht zur Erholung. Und die besonderen Tage, wie damals, im Sommer 1969. Und Menschen, damals wie heute, die da sind, wenn wir sie brauchen. Dienstag, 23. Februar 2016: Gebote und Vorschriften Ob ich ein guter Autofahrer bin? „Eher nein“, werde ich antworten. Für den Straßenverkehr der Großstadt bin ich eh nicht geschaffen. Lieber bin ich dann Beifahrer. Auch im heimatlichen Meppen, einer Kleinstadt, fahre ich mit dem Auto nicht gerne zu den Zeiten des Berufs- und Schulbeginns. Radfahrer ohne Licht, Fußgänger, die an den unmöglichsten Stellen noch schnell die Straße überqueren wollen, ungeduldiges Hupen hinter mir. In Meppen ist es so wie an vielen Orten zur Rush Hour. Es wird vielen so ergehen, die morgens und abends im Berufsverkehr stecken. Viele Hinweisschilder, manchmal auf engstem Raum, gilt es zu beachten. War da nicht gerade ein Tempo-30-Schild? Gestern stand es da noch nicht, denke ich. 613 Gebote und Vorschriften und Verbote gab es zu Zeiten Jesu. Von einem gläubigen Juden sollten sie alle befolgt werden. Als die Apostel am Sabbat Ähren pflücken, um ihren Hunger zu stillen, müssen sie sich den Vorwurf gefallen lassen, dass Arbeiten am Feiertag verboten ist. 613 Gebote: Mich erinnert das an den heutigen Schilderwald an vielen Straßen. Wer kann sie alle erfassen und dann noch beachten! „Das Gesetz ist für den Menschen da, nicht der Mensch für das Gesetz“, ist die Antwort Jesu. Wie gut ist es dann, wenn einige sich bisweilen über Vorschriften hinwegsetzen. Papst Franziskus, der gegen alle Sicherheitsbedenken mit dem Linienbus durch Rom fuhr mit all den Menschen, die jeden Tag mit dem Bus www.radiokirche.de – Katholische Kirche im NDR zur Arbeit fahren müssen - der gegen den Rat seiner Begleiter bei öffentlichen Auftritten sein Fahrzeug stoppen lässt, Menschen in den Arm nimmt, mit ihnen spricht und sie tröstet. Wie befreiend können solche Bilder sein. Gesetze und Vorschriften: Ohne sie kann eine Gesellschaft nicht funktionieren. Doch dort, wo sie Menschlichkeit und Zuwendung verhindern, verlieren sie ihren Sinn. Oder bedienen eben wie damals nur den Machterhalt. Und wenn Jesus im Evangelium des Tages den Jüngern dann sagt: „Ihr sollt euch nicht Lehrer nennen lassen“, meint er gerade diese Besserwisserei und Belehrung: ‚Wir als Gelehrte da oben, ihr da unten’. Und Christus als Lehrer meint den Diener aller, als Gegenentwurf zu den Herrschenden, als Vorbild - damals wie heute. Mittwoch. 24. Februar 2016: Menschen, die man nicht vergisst Wie immer saß ich unter dem Esstisch und las im Märchenbuch 1.001 Nacht oder im Buch der großen Heiligenlegenden. Immer dann, wenn mein Vater und der Nachbar sich zu einem Plausch trafen und dabei eine dicke Zigarre rauchten. Die Geschichten, die sie sich da erzählten, interessierten mich nicht und den Rauch mochte ich auch nicht. Aber gemütlich war es, und so saß ich mit einer Taschenlampe unter dem Tisch und las - in den Märchen und die Geschichten von großen Heiligen. Die Legenden von den Märtyrern hatten es mir besonders angetan: sich zu opfern für den Glauben, Gott treu bleiben bis in den Tod. Überwältigend und unfassbar. Diese Heiligen waren die Stars meiner Kindheit. Heute weiß ich, dass manche Heiligengeschichten eher fromme Erzählungen zur persönlichen Erbauung waren und mit dem wirklichen Leben dieser Menschen wenig zu tun hatten. Und doch bleiben diejenigen, die vor langer Zeit Zeugnis gaben und für ihre Überzeugung eintraten und dafür mit dem Leben bezahlen mussten. In diesen Tagen denke ich oft an Dietrich Bonhoeffer. Eine Lichtgestalt im Widerstand gegen die Unmenschlichkeit und den Terror der Nazis. Bonhoeffer, der noch im Jahr 1940 eine Professur in den Vereinigten Staaten ausschlug, nach Deutschland zurückkehrte, sich mit all seiner Kraft für die Rechte der Menschen und für die Freiheit des Glaubens einsetzte. Kurz vor Kriegsende wird er im KZ Flossenbürg umgebracht. Ich denke an die Journalisten in heutiger Zeit, die sich nicht dem Terror in ihrer Heimat abfinden wollen. Viele von ihnen sind, so berichtet die UNO, verschleppt, gefoltert und auch umgebracht worden. Sind nur die Märtyrer gemeint, wenn Jesus im heutigen Tagesevangelium davon spricht, dass es keine größere Liebe gibt, als wenn einer sein Leben für die Freunde gibt (vgl. Joh. 15,13.)? Sind nicht auch die gemeint, die in Krisengebieten medizinisch, bei der Versorgung, in der Infrastruktur sich mit aller Kraft einbringen. Oft unter Einsatz ihres Lebens. Ganz sicher nicht nur für mich sind das Lichtgestalten, die Leuchttürme unserer Zeit und auch Zeugen der Liebe Christi zu den Menschen. Donnerstag, 25. Februar 2016: Heimat finden Gegenüber an der Wand hängt dieses Bild. Bei jedem Besuch bei dem älteren Ehepaar fällt mein Blick darauf. Es zeigt ein kleines westfälisches Dorf im 19. Jahrhundert. Wie Küken schmiegen sich die niedrigen Häuser um die Kirche. Ein gepflasterter Weg ist zu sehen, der durch den Ort führt. Häuser und Kirche sind eingebettet in eine Landschaft mit Feldern und einem Wäldchen. Bald ist Erntezeit, das Korn ist schon goldgelb. Das Bild selbst hat keinen Titel. Heimat, denke ich, das könnte passen. Heimat, ein Wort, das tiefe Gefühle weckt und die Frage: was ist für mich Heimat? Dort, wo ich zuhause bin, dort, wo meine Seele ist, könnte die Antwort lauten. In diesen Wochen verlieren viele Menschen ihre Heimat. www.radiokirche.de – Katholische Kirche im NDR In Syrien, wo ihnen ihre Häuser und Städte weggebombt werden. Im Süden Afrikas, wo die Natur verdorrt und überall dort, wo die wirtschaftliche Not die Menschen zum Aufbruch zwingt. Dorthin zu gehen, wo sie eine neue Grundlage zum Leben finden. „Aus Europa darf keine Festung werden“. Das haben viele Menschen in Deutschland in den vergangenen Monaten mit einem großen Herz gezeigt. Vom Krieg traumatisierten Familien einen sicheren Ort bereitet, Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit, regelmäßig zur Kita beziehungsweise zur Schule zu gehen. Und: Wieder ein menschenwürdiges Leben zu führen. Von dem zu geben, was wir bisweilen im Überfluss haben, wird uns nicht schwer fallen. Im Evangelium des heutigen Tages indes lehnt der reiche Prasser auch das ab. Lazarus verhungert neben den überreich gedeckten Tischen der Reichen. Ist das so anders heute, wenn große Fischtrawler vor der Küste Ghanas den heimischen Fischern ihre Lebensgrundlage wegnehmen und diese dann hungern müssen? Eine große Aufgabe wird es sein, den Menschen, die bei uns Schutz vor Terror und Verfolgung suchen, Platz und Heimat in unserer Gesellschaft zu geben. „Das Recht ströme wie Wasser“ heißt es im Alten Testament beim Propheten Amos. Und so heißt auch das Thema der Misereor-Fastenaktion in diesem Jahr. Gerechtigkeit zu schaffen, hier und anderswo die große Herausforderung für die nächsten Jahre. Freitag, 26. Februar 2016: Familie leben Sie singen mit vollem Einsatz. Jungen und Mädchen - ein Kinderchor - und die ganze Gemeinde singt mit: ‚Lobet den Herren ...’ Die Taufe des kleinen Piet ist ein richtiges Fest. Viele sind gekommen, Verwandte und Freunde der Eltern und junge Paare, die demnächst ein Kind erwarten. Auch deshalb ein Fest, weil so viele bei der Feier eine Aufgabe übernehmen. Eine Lektorin für das Evangelium, die Kinder tragen die Fürbitten vor, und eine Band begleitet die Gemeinde und den Chor. ‚Unser Leben sei ein Fest‘, mit dem Lied endet die Taufe. Nach dem Gottesdienst gilt mein besonderer Dank den jungen Sängerinnen und Sängern. Die Antwort der Chorleiterin fällt dabei ganz anders aus als erwartet: „Diese Kinder haben keine Familie – wir, das Kinderheim, sind die Familie.“ Lange nach dem Verlassen der Kirche denke ich daran: „Wir, das Kinderheim, sind die Familie.“ Und an die Familie, in der ich aufgewachsen bin. An Mama und Papa, an meine Geschwister. Wie hart der Vater arbeiten musste, wie Mutter sich mühte, in der täglichen Hektik eines Handwerksbetriebes den Kindern ein gutes Zuhause zu geben. Familie zu leben und offen für die Hilfe für andere zu sein. Zusammenhalt und Solidarität, sich engagieren in der Kirchengemeinde, in der dörflichen Gemeinschaft und in der Gesellschaft: Die Eltern haben es uns vorgelebt. Ja, auch Salz der Erde zu sein, meine Eltern – wie viele Eltern damals wie heute. Und Vorbild zu sein. Das traute Heim, seinen Glauben nicht für sich zu behalten. Für mich heißt das auch: Weitergabe des Glaubens, in der Familie, in der Kirchengemeinde, im dörflichen Umfeld. Hoffnung von Gottes lebendiger Gegenwart in kleinen und kleinsten Schritten zu geben. Solidarität mit denen, die unserer Hilfe bedürfen, die nie die Chance hatten und haben, in einer Familie aufzuwachsen. Viele leben diese Hoffnung auch heute, im Dorf, in den Stadtteilen, und auch in meiner emsländischen Heimat. Ja, bisweilen kann Engagement nervend, aufreibend und belastend sein. Es kostet Zeit. Zeit, die Verzicht einfordert zum Beispiel bei der Gestaltung der Freizeit. Aber Spaß kann man auch dabei haben - damals wie heute, bei der Taufe des kleinen Piet. www.radiokirche.de – Katholische Kirche im NDR
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