Himmel und Erde _________________________________________________________________________________ Montag bis Freitag, 9.15 Uhr (NDR 1 Niedersachsen) 23. bis 27. Mai 2016: Menschengeschwister Von Ruth Schmitz, Theologin in Ankum Ihre Bitte um Frieden ist nicht allein ihr persönlicher frommer Wunsch. Diese Bitte geht um die ganze Welt. Das hat Ruth Schmitz bei einer Reise nach Dublin festgestellt. Redaktion: Ruth Beerbom Katholische Kirche im NDR Redaktion Osnabrück Schillerstraße 15, 49074 Osnabrück Tel. 0541 - 318 656 www.ndr.de/kirche Die Autorin Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf nur für private Zwecke des Empfängers benutzt werden. Jede andere Verwendung (z.B. Mitteilung, Vortrag oder Aufführung in der Öffentlichkeit, Vervielfältigung, Bearbeitung, Übersetzung) ist nur mit Zustimmung der Kath. Kirche im NDR zulässig. Die Verwendung für Rundfunkzwecke bedarf der Genehmigung des NDR. Katholische Kirche im NDR – www.radiokirche.de Montag, 23. Mai 2016 - Sorgen Vor Kurzem war wieder einmal Küste angesagt. Ostfriesland. Einige Tage ans Meer, frischen Wind um die Nase wehen lassen. Am frühen Abend kamen wir an der Ferienwohnung an. Das Auto war schnell ausgeladen und wir sind gleich wieder los zu einem Abstecher ins nahe gelegene Greetsiel. Wollten ein nettes Lokal suchen, um den Abend bei einem leckeren Essen ausklingen zu lassen. Auf halbem Weg taucht auf dem Deich der Leuchtturm von Pilsum auf, rot-gelb-gestreift steht er da strahlend im Sonnenlicht. "Lass uns mal hinfahren!", sage ich. Wo ein Leuchtturm steht, kann das Meer nicht weit sein. Wir parken und öffnen die Autotüren. Da dringt uns ein lautes Schnattern entgegen und beim Blick auf das angrenzende Feld sehen wir den Grund dafür. Weit mehr als 100 Wildgänse hatten sich auf dem Feld niedergelassen und schnatterten nun wild durcheinander. Der Leuchtturm ist noch gut 300 Meter entfernt, als unvermittelt ein weiterer, weit größerer Schwarm Gänse am Horizont auftaucht. Hunderte und aberhunderte Gänse, die direkt auf das Watt vor dem Leuchtturm zufliegen. Die Luft ist erfüllt vom Flügelschlag und dem Geschrei der Gänse, die sich im feuchten Gras und im Watt niederlassen. Der Leuchtturm rückt in den Hintergrund, staunend vergessen wir die Zeit und bewundern dieses einzigartige Naturschauspiel. „Seht euch die Vögel des Himmels an: Sie säen nicht, sie ernten nicht; euer Vater im Himmel ernährt sie." Ein Satz aus dem Neuen Testament, der mir durch den Kopf schießt. "Wie wahr!", denke ich. "Völlig unbeschwert sind diese Vögel unterwegs, sicher in ihrer Gemeinschaft. Und trotz der riesigen Zahl ist genug Platz und Futter für alle da." Während ich noch dort stehe und die Bilder in mich aufnehme, vollendet sich das Schriftwort in Gedanken: "Wer von euch kann mit all seiner Sorge sein Leben auch nur um eine kleine Zeitspanne verlängern?" Eine tiefe Dankbarkeit erfüllt mich. Der Alltag ist vergessen. Mir wird bewusst: Dieser Moment ist ein großes Geschenk; ein unvergessliches Erlebnis, das mich noch lange begleiten wird. Dienstag, 24. Mai 2016 - Nur für heute "Jetzt aber los!" Ich bin spät dran, die anderen warten sicher schon. Zügig eile ich die Treppe hinunter. Raus aus dem Haus. Da erwischt mich fast ein Radfahrer, der um die Kurve gerast kommt! "Pass doch auf!" Der Schreck fährt mir in die Glieder. Das hätte schief gehen können! „Tschuldigung“ kommt es dem Jugendlichen etwas betreten über die Lippen. Er tritt schon wieder in die Pedale; ist wohl auch spät dran. „Schon gut“, murmele ich. Ist ja alles gut gegangen. Nun aber schnell zum Auto. Was ist das denn? Es hatte tatsächlich noch einmal gefroren letzte Nacht. „Wieso mache ich morgens eigentlich immer alles auf die letzte Minute?“ ärgere ich mich über mich selbst. Ich laufe zurück in die Wohnung. Wo ist der Eiskratzer? Endlich bin ich unterwegs. Die Zeit läuft. Auf der Landstraße ist weniger Verkehr, als ich dachte. "Vielleicht fangen wir etwas später an“, rede ich mir ein, als einige hundert Meter vor mir ein LKW mit Anhänger auf die Straße einbiegt. Ich bremse ab. Überholverbot bis die Straße in etwa fünf Kilometer vierspurig wird. Na toll! Wenn es nicht läuft, dann richtig! Die Kolleginnen und Kollegen sind sicher schon zur Besprechung eingetroffen. Den Termin hatten wir schon vor Wochen vereinbart und laut Tagesordnung soll ich gleich zu Beginn von einem Projekt berichten. Mein Blick fällt auf die Uhr. Ich setze den Blinker und biege ab auf den nächsten Parkplatz, um die Kollegen zu informieren: Ich komme später, 15 bis 20 Minuten. Als ich aufgelegt habe, lehne ich mich zurück und atme durch. Heute werde ich es wohl am besten mit Papst Johannes XIII. halten: Nur für heute werde ich mich an die Umstände anpassen, ohne zu verlangen, dass die Umstände sich an meine Wünsche anpassen. Mittwoch, 25. Mai 2016 - Seht, hier ist der Mensch, Katholikentag Es ist ein Jubiläum: Heute beginnt der 100. Deutsche Katholikentag. In diesem Jahr sind die Besucherinnen und Besucher in das Bistum Dresden-Meißen eingeladen - nach Leipzig. In eine Stadt, in der nur etwa vier Prozent der Menschen katholisch und elf Prozent evangelisch getauft sind. Ein Fest des Glaubens soll es werden unter dem Leitwort: Seht, da ist der Mensch! Der Katholikentag will alle willkommen heißen: auch Neugierige, Suchende und Zweifelnde. Katholische Kirche im NDR – www.radiokirche.de Das Leitwort gibt dabei die Blickrichtung vor: Der Mensch soll der Maßstab sein, wenn es um die Suche nach Antworten auf Fragen unserer Zeit geht. „Seht, da ist der Mensch!“ Das fordert auch heraus zu einem offenen Blick über die konfessionellen Grenzen hinaus. Viele Tausende Menschen werden der Einladung nach Leipzig bis Sonntag folgen. Und sie werden einiges erleben. Das Programm umfasst über 600 Seiten. Es gibt große Podien und Diskussionen, Vorträge auf kleineren Bühnen, Gottesdienste, Kreativangebote und Ausstellungen. Es wird wieder ein buntes Treiben werden, unzählige Begegnungen, Gespräche über Gott, die Welt und das eigene Leben, lang ersehnte und unverhoffte Wiedersehen, neue Bekanntschaften. Welchen Eindruck werden die vielen Gäste in der Stadt wohl hinterlassen? Welchen Eindruck möchten Sie hinterlassen Vielleicht geht es den Katholikentagsbesuchern so, wie dem Kabarettisten und Autor Hanns Dieter Hüsch. Er hat einmal gesagt: "Denn wir sind Kinder Gottes: Gottes Kinder! Und jeder soll es sehen und ganz erstaunt sein Dass Gottes Kinder so leicht und fröhlich sein können Und sagen: Donnerwetter Jeder soll es sehen und jeder soll nach Hause laufen Und sagen: er habe Gottes Kinder gesehen Und die seien ungebrochen freundlich Und heiter gewesen."1 Ich wünsche allen, die sich aufgemacht haben, um in Leipzig dabei zu sein, eine gesegnete und frohe Zeit; allen die sich noch spontan entscheiden eine gute Fahrt und uns allen ein immer offeneres Herz für unsere Menschengeschwister. Donnerstag, 25. Mai - Einheit und Frieden Vier Tage Dublin. Es ist wieder soweit. Gemeinsam mit vier Freunden aus dem Studium bin ich unterwegs. Diesmal in der Hauptstadt Irlands. Wir treffen uns einmal im Jahr, verbringen Zeit miteinander, tauschen uns aus, lachen viel und erkunden eine Stadt. Am Sonntag steht auch der Besuch der Heiligen Messe auf dem Programm. Mit Alltagsenglisch und einem Zettel mit dem Ablauf in der Hand finde ich mich gut zurecht. Und es fasziniert mich jedes Mal wieder: Durch die bekannte Folge von Liedern und Gebeten fühle ich mich trotz fremder Sprache sehr schnell heimisch. Mein Blick wandert durch den Kirchenraum. Wir sitzen in einer Runde. Etwa 60 Gläubige haben sich eingefunden, viele Ältere, sehr wenig Jüngere. Ich blicke in freundliche Gesichter. Der Gottesdienst nimmt seinen Lauf. Die Lieder gefallen mir gut. Nach dem Vater unser bittet der Priester um den Frieden. Ich weiß nicht, wie oft ich diese Worte schon gehört habe. Heute höre ich sie auf Englisch und spreche sie in Gedanken auf Deutsch mit: „Schau auf den Glauben deiner Kirche und schenke ihr und der ganzen Welt Einheit und Frieden.“ Unvermittelt schießen mir die Tränen in die Augen. Die mir so bekannten Worte, sie werden auch hier gebetet, an einem mir fremden Ort. Die Bitte um Frieden - sie ist nicht mein persönlicher frommer Wunsch; sie geht um die ganze Welt. Wir reichen uns die Hände zum Friedensgruß. Ich wünsche Menschen den Frieden, die ich nicht kenne und vermutlich nicht wieder sehen werde. Aber in diesem Moment wissen wir uns verbunden als Geschwister im Glauben, die den Frieden in der Welt ersehnen. Heute Morgen ist der Friedensgruß viel mehr für mich als ein routiniertes Händeschütteln. Es ist der Ausdruck einer tiefen Hoffnung, dass die Welt, die von Kriegen, Brutalität, Ungerechtigkeit erschüttert ist, ein klein wenig friedvoller werde. Wir werden in unserer kleinen Alltagswelt nicht die Geschicke der großen Politik verändern. Aber es gibt Kraft zu wissen, dass an unzählig vielen Orten Menschen aller Völker und Nationen zu einem friedvollerem Miteinander beitragen; Männer, Frauen und Kinder, die in ihrem Alltag kleine Zeichen des Friedens setzen; die sich die Hände reichen 1 http://www.hüsch.org/html/fuehrenundleiten.html Katholische Kirche im NDR – www.radiokirche.de und wünschen: Der Friede sei mit dir. Freitag, 27. Mai - Toleranz "Können Sie das bitte leiser machen? Ich möchte arbeiten." Reflexartig stelle ich sofort das Video, das ich meinem Freund auf dem Handy vorspiele, aus. Ich schaue aus dem Zugfenster. War die Musik wirklich so laut? Oder ist die Mitfahrerin vor mir gestresst? Wie dem auch sei. In solchen kleinen und alltäglichen Situationen wird er erprobt und eingeübt, der Wert, der im Moment wieder in vieler Munde ist: der Wert der Toleranz. Das lateinische Wort heißt übersetzt “den anderen ertragen”. Vielleicht würde man eher sagen: Rücksicht nehmen. Eingeübt von Kindesbeinen an gehört die Toleranz zu den Werten, die notwendig dafür sind, dass unser Miteinander gelingt. Das alltägliche Miteinander im Kleinen und im Großen kann nur dann gelingen, wenn man Rücksicht aufeinander nimmt. Gerade in dieser Zeit, in der geflüchtete Menschen bei uns Schutz suchen, ist die Toleranz eine wichtige Säule für ein gelingendes Miteinander. Eins finde ich dabei interessant: Jesus geht die Forderung nach Toleranz nicht weit genug. “Was ist das wichtigste Gebot?” wird er einmal gefragt. Seine Antwort: “Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben. Das ist das wichtigste und erste Gebot. Ebenso wichtig ist das zweite: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ Nicht nur Toleranz, sondern Liebe erwartet Jesus von uns. Ich soll meine Mitmenschen auch noch lieben, und dann noch so, wie mich selbst. Eine Herausforderung? Allemal. Eine Überforderung? Sicherlich auch das. Warum ist Jesus nicht zufrieden damit, dass wir uns gegenseitig tolerieren? Warum ist gut nicht gut genug? Ich glaube, es geht ihm nicht darum, eine noch höhere moralische Forderung zu stellen. Mit dem Doppelgebot der Selbst- und Nächstenliebe nimmt Jesus eine neue Perspektive ein. Die Liebe ist hier nicht so sehr ein Gefühl, sondern eine Entscheidung. Die Entscheidung dafür, dass es jeder Mensch, dem ich begegne, verdient hat, dass er sich angenommen fühlt; dass er er selbst sein darf; dass er sein Leben als sinnvoll empfindet - kurz: dass er glücklich ist. Toleranz ist ein wichtiges Instrument, damit wir miteinander gut leben können. Die Entscheidung, den Nächsten zu lieben wie sich selbst, ist ein kleines Stück Himmel auf Erden. Katholische Kirche im NDR – www.radiokirche.de
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