APM 4-2015.indd - Gebr. Storck Verlag

PHARMAZEUTISCHE WISSENSCHAFT
Gerd Bendas, Pharmazeutisches Institut,
Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn
Heparin in der Tumortherapie –
Mehr als nur ein Antithrombotikum?
Maligne Tumorerkrankungen und eine Überaktivierung des Koagulationssystems bilden eine
unheilige Allianz. Daher ist eine antithrombotische Prophylaxe ein fester Bestandteil der
Behandlung von hospitalisierten Tumorpatienten. Obwohl das Spektrum der Antikoagulantien
in den letzten Jahren deutlich erweitert wurde, stellen niedermolekulare Heparine die Mittel
der Wahl für diese Indikation dar.
Klinische Befunde, d.h. Ergebnisse von Metaanalysen klinischer
Daten sowie einzelner prospektiver klinischer Studien verweisen darauf, dass eine Heparinbehandlung mit einer über die antithrombotische Aktivität hinausgehenden Verbesserung der Überlebensprognose der Tumorpatienten assoziiert sein kann. Obwohl diese Befunde
kein einheitliches und verallgemeinerbares klinisches Bild ergeben,
sorgte dieser Zusammenhang für Furore in der Tumorforschung und
induzierte vielfältige Aktivitäten zur Aufklärung funktioneller Grundlagen. Mittlerweile haben präklinische Untersuchungen bewiesen, dass
Heparin insbesondere in den Prozess der Metastasierung solider Tumore hemmend eingreifen kann, die Forschung auf diesem Gebiet ist
weiter anhaltend.
Dieser Artikel gibt einen aktuellen Überblick über die klinischen Befunde sowie die postulierten Wirkmechanismen der antimetastatischen Wirksamkeit niedermolekularer Heparine und offenbart damit
einer Gruppe scheinbar alter Wirkstoffe einen völlig neuen therapeutischen Ausblick.
8
Stichworte:
antithrombotische Prophylaxe, Heparin (niedermolekulare Heparine/
NMH), Metastasierung, Tumore,
Maligne Tumore und Thrombosen – Eine pathologische Einheit
Seit ca. 150 Jahren ist ein pathologisches Zusammenspiel maligner
Tumorerkrankungen mit einer Hyperkoagulabilität des Blutes klinisch
bekannt. 1865 beschrieb der französische Arzt Armand Trousseau
den Zusammenhang einer Thrombophlebitis mit einem Malignom des
Gastrointestinaltraktes, so dass die Terminologie des Trousseau Syndroms seitdem klinisch für verschiedene Formen der Gerinnungsstörung bei Tumorpatienten steht (1).
Patienten mit malignen Tumorerkrankungen besitzen ein ca. vier- bis
sechsfach erhöhtes Thromboserisiko. Neben den bereits genannten
prothrombotischen Einflüssen eines Tumors wird die hämostatische
Aktivität auch durch klinische Behandlungsaspekte, wie bspw. Bestrahlung, Verweilkatheder oder die Immobilisierung der Patienten,
Abbildung 1: Schematischer Verlauf einer hämatogenen Metastasierung eines soliden Tumors. Tumorzellen migrieren nach Abtrennung vom
Primärtumor in Richtung existierender Blutgefäße durch das Gewebe. Nach Überwindung der Basalmembran der Gefäße treten die Tumorzellen in das Blutsystem ein. Durch Adhäsion am Gefäßendothel sekundärer Organe und transendotheliale Migration (TEM) in das Gewebe
bilden sich Mikrometastasen (modifiziert nach Reymond et al., Nat Rev Cancer 2013).
Zertifizierte Fortbildung
Abbildung 2: Im Verlauf der hämatogenen Passage gehen die Tumorzellen vielfältige Wechselwirkungen mit zellulären und löslichen Komponenten des Blutes ein. Die Tumorzellen werden durch Thrombozyten ummantelt, was einen entscheidenden Schutz vor natürlichen
Killerzellen (NK) darstellt. Durch Zytokine wird die Kommunikation mit Leukozyten aufgenommen, die im Bereich der „metastatischen
Niche“ die Adhäsion und Transmigration der Tumorzellen erleichtert (modifiziert nach Reymond et al., Nat Rev Cancer 2013).
aber auch durch medikamentöse Effekte forciert. Insbesondere bei
Behandlungen mit dem Antikörper Bevacizumab oder den Wirkstoffen Lenalidomid oder Thalidomid wurde über eine erhöhte Thromboseneigung der Patienten berichtet.
Ca. 15 % aller Tumorpatienten entwickeln in Abhängigkeit von Tumorentität und Krankheitsstadium eine venöse Thromboembolie
(VTE), die sich u.a. in Form tiefer Beinvenenthrombosen oder Lungenembolien manifestieren können. Thrombotische Ereignisse tragen
damit zur Mortalität der Tumorerkrankungen bei und werden als
zweit häufigste Todesursache maligner Erkrankungen beschrieben.
Generell werden VTE als prognostisch ungünstige Begleitfaktoren
einer Tumorerkrankung angesehen. Dieser Bewertung liegen auch
funktionelle Zusammenhänge zugrunde, nach denen eine verstärkte
Koagulabilität auch als Faktor eines erhöhten Metastasierungsrisikos
solider Tumore gilt.
Thromboseprophylaxe bei Tumorpatienten – Klinische Guidelines
Vor dem geschilderten Szenario einer verstärkten Thromboseanfälligkeit klinischer Tumorpatienten ist eine Thromboseprophylaxe ein
feststehender Bestandteil der Tumortherapie. Die vor Jahrzehnten mit
Vitamin K Antagonisten (VKA) oder unfraktioniertem Heparin (UFH)
durchgeführten prophylaktischen Behandlungen sind in den letzten
Jahren fast ausschließlich auf niedermolekulare Heparine (NMH) oder
das Heparin-kopierende synthetische Pentasaccharid Fondaparinux
fokussiert. Die aktuellen klinischen Leitlinien (Europa und USA)
sehen die Anwendung von NMH für alle hospitalisierten tumorchirurgischen sowie für ausgewählte ambulante Tumorpatienten für einen
postoperativen Zeitraum von mindestens 7-10 Tagen vor, solange
keine ausdrückliche Kontraindikation gegen Heparin besteht (2,3).
Klinische Meta-Analysen verweisen auch auf den potentiellen Vorteil
einer verlängerten Prophylaxe von mindestens 21 Tagen (4). Eine
aktuell veröffentlichte Studie zeigt den Vorteil einer sechsmonatlichen NMH Anwendung zur VTE Prophylaxe gegenüber VKA (CATCHStudie) (5). Alle auf dem europäischen Markt befindlichen NMH Produkte werden für diese Indikation eingesetzt und zeichnen sich gegenüber VKA durch ein günstigeres Risikoprofil aus.
Die neuen oral wirksamen Antikoagulantien hingegen haben in diesem
Spannungsfeld der verstärkten Thromboseneigung gegenüber potentiellen Blutungskomplikationen der Tumorpatienten durch eine fehlende
breite klinische Datenbasis für diese Indikation bisher keine Bewandtnis (6), erste größere Vergleichsstudien sind aber in Vorbereitung.
Heparin kann das Gesamtüberleben von Tumorpatienten
verbessern
Bereits in den frühen 80er Jahren wurden Daten veröffentlicht, dass
Patienten mit kleinzelligem Bronchialkarzinom unter einer antithrombotischen Prophylaxe mit einem verlängerten Gesamtüberleben profitierten (7). Allerdings konnten die hierbei mit VKA erreichten therapeutischen Effekte in nachfolgenden klinischen Studien nicht bestätigt werden. Durch weitere klinische Studien (8) sowie verschiedene
Metaanalysen wurde in den 90er Jahren der Blick verstärkt auf Heparine, insbesondere die zu dieser Zeit aufkommenden NMH gerichtet
(9). Diese zeigten für bestimmte Patientengruppen einen Überlebensvorteil unter einer NMH-Thromboseprophylaxe oder -behandlung.
Diese Erkenntnisse waren Anlass für eine Anzahl prospektiver Studien zur NMH-Wirkung bei Tumorpatienten.
In der CLOT-Studie wurde das NMH Dalteparin für vier Wochen mit
therapeutischer Dosierung, gefolgt von fünf Monaten mit einer auf
ca. 80% reduzierten Dosis in der Thrombosebehandlung von 672
Tumorpatienten mit VKA verglichen (10), wobei eine Post-hoc-Analyse der Mortalitätsdaten dann einen Überlebensvorteil der Dalteparin-behandelten Patienten aufdeckte (11). Eine weitere Studie, in der
eine einjährige Anwendung von Dalteparin in prophylaktischer Dosierung (FAMOUS Studie) untersucht wurde, verdeutlichte für zumindest
bestimmte Patientensubgruppen einen Überlebensvorteil (12). Weitere Studien, die sich allerdings in der Art, Dosierung und Behandlungsdauer der NMH-Anwendung voneinander unterschieden, zeigten
aber grundsätzlich einen ähnlichen Ausgang mit einem Überlebensvorteil solcher Patienten, deren Tumorerkrankung noch wenig fortgeschritten war und offensichtlich noch keiner Metastasierung unterlag.
Die Eingeschränktheit der Befunde wird jedoch erkennbar, wenn die
NMH Wirkung hinsichtlich eines Überlebensvorteils der Patienten bei
Tumorentitäten hoher Aggressivität betrachtet wird. In einer Studie
an Patienten mit Pankreaskarzinom zeigte NMH zwar eine hohe Effektivität in der Thromboseprophylaxe, aber keinen signifikanten
Überlebensvorteil der Patienten (13). Auch die hinsichtlich Patientenanzahl (> 3200 Patienten) sehr breit angelegte SAVE-ONCO Studie
unter Anwendung des sehr kleinen NMH-Derivates Semuloparin, das
mittlerweile in seiner klinischen Entwicklung gestoppt wurde, zeigte
letztlich keine Signifikanz im Überlebensvorteil der heparinisierten
Patienten (14).
Diese heterogene Datenlage war Anlass für vielfältig publizierte Bewertungen und Interpretationen (15). Man kann aber resümieren, 9
PHARMAZEUTISCHE WISSENSCHAFT
Abbildung 3: Die von Tumorzellen exprimierten glykosidischen Strukturen können als Liganden für P-Selektin auf Thrombozyten, für
L-Selektin auf Leukozyten sowie für E-Selektin auf dem Endothel dienen und vermitteln somit entscheidend die Verbindung der Tumorzellen
im metastatischen Geschehen.
dass NMH für Patientensubgruppen bestimmter Tumorentitäten (z.B.
kleinzelliges Bronchialkarzinom) einen möglichen Überlebensvorteil
entfaltet. Aufgrund der Studienlage kann aber keine Empfehlung zu
einer generellen Heparinanwendung bei allen Tumorpatienten, auch
ohne das Vorliegen einer VTE gegeben werden.
10
Die metastatische Kaskade als Mortalitätsfaktor
(…. und ein kurzer Exkurs zur Wirkung von ASS)
Die aktuelle Statistik des Robert-Koch-Instituts (16) bestätigt die bekannte Tatsache, dass maligne Tumore nach Herz-Kreislauf-Erkrankungen die zweithäufigste Todesursache in Deutschland darstellen.
Die Mortalitätsrate der Tumore ist aber seltener durch die Primärtumore bedingt, vielmehr ist die metastatische Verbreitung solider Tumore im Körper über das Lymph- oder Blutsystem für die hohe Mortalität verantwortlich. Vor dem Hintergrund der o.g. potentiell Lebenszeit-verlängernden Effekte von NMH bei der Behandlung von
Tumorpatienten fokussiert dies so auch den Blick auf eine mögliche
Interferenz der NMH mit der Metastasierung der Tumore.
Die Metastasierung eines soliden Tumors ist ein hochkomplexer kaskadenartiger Prozess, der in seinem Ablauf nur ansatzweise verstanden und schwer zu generalisieren ist. Dies erklärt auch, dass gegenwärtig keine Pharmakotherapie existiert, die gezielt hemmend in den
Prozess der metastatischen Kaskade eingreifen kann. Eine schematisch vereinfachende Übersicht ist in Abbildung 1 dargestellt.
Tumorzellen migrieren nach Verlust ihrer zellulären Kontakte im Primärtumor durch das Gewebe, wobei von den Tumorzellen sezernierte
Enzyme (Heparanase oder Matrixmetalloproteinasen) durch hydrolytischen Abbau der extrazellulären Matrix-Substrate diesen Prozess forcieren. Nach Überwindung der Basalmembran der Blutgefäße und
Eintritt in das Gefäßsystem werden die Tumorzellen sehr schnell mit
Thrombozyten ummantelt. Dies sichert einerseits einen Schutz vor
den physikalischen Scherkräften des Blutes. Blutplättchen sind in
diesem Zusammenhang aber weit mehr als nur schützende Verkleidungen, denn durch freigesetzte Signalmoleküle schützen die Thrombozyten die Tumorzellen auch vor einer Erkennung durch die natürlichen Killerzellen (17) (Abbildung 2).
Durch die immer besser verstandene Rolle der Thrombozyten in der
Metastasierung wird auch eine mögliche, und aktuell viel diskutierte
antimetastatische Wirksamkeit von Acetylsalicylsäure besser erklärlich. Niedrigdosiertes ASS (75-100 mg) wird in verschiedenen Studien
als ein protektiver Faktor, insbesondere beim Kolonkarzinom hinsichtlich Erkrankungsfortschritt und Metastasierungsanfälligkeit beschrieben (18). Da ASS in niedriger Dosierung insbesondere die
COX 1 hemmt, die auch in Plättchen exprimiert wird, sorgt eine
längerfristige ASS Einnahme bekanntermaßen zu einer reduzierten
Plättchenaktivierung, die sich somit auch hemmend auf das metastatische Geschehen äußern könnte. Eine Studie aus dem schwedischen Cancer Register der Jahre 2006-2009 zur Korrelation der Erkrankungshäufigkeit und Verlauf bzw. Metastasierung einer Tumorerkrankung bei ASS-Nutzern vs. Nichtanwendern zeigte für
kolorektale und Lungenkarzinome, nicht aber für Prostata- und
Brustkrebserkrankungen protektive Effekte (19). Mit Fokus auf eine
reduzierte Metastasierungsanfälligkeit konnte in einer weiteren Studie nur für Adenokarzinome ein ASS-Effekt verifiziert werden (20).
Aktuelle Daten belegen aber auch für Prostatakarzinom-Patienten
einen potentiellen Nutzen einer niedrig-dosierten ASS Anwendung
(21,22). Obwohl die genannten Studien eine relative Risikominimierung für bestimmte Tumorerkrankungen und ihre Verlaufsformen
unter einer dauerhaften ASS Prophylaxe nahelegen, sind doch aus
der Heterogenität der Studien hinsichtlich Anwendungszeiten und
Dosierungen keine endgültigen Schlussfolgerungen und kein
„Freischein“ für eine Selbstmedikation zu ziehen. Im Zusammenhang dieses Artikels unterstreichen sie aber die Rolle der Thrombozyten und verweisen auf ein eigenes Kapitel der überraschenden
„Nebeneffekte“ in der Tumortherapie.
Unter Einbeziehung von Leukozyten entstehen mithilfe der Thrombozyten um die Tumorzellen herum auch Mikroemboli, die den Tumorzellen das Ansiedeln in sekundären Organen erleichtern. Nicht
nur eine physikalische Restriktion der Emboli im Mikrogefäßsystem,
sondern auch die von Leukozyten, Thrombozyten oder den Tumorzellen selbst freigesetzten Signalstoffe (Chemokine, Wachstumsfaktoren, u.a.) bewirken eine komplexe Kommunikation (Abbildung 2),
die letztlich zur Aktivierung der Gefäßoberfläche, zur Tumorbindung
und zur Gewebeaufnahme führt.
Aber auch die Koagulationskaskade ist an der Emboliebildung und
Restriktion der Tumorzellen beteiligt. Hierfür wird insbesondere der
von Tumorzellen exprimierte Tissue Factor als Initiator einer lokalen
Thrombinbildung verantwortlich gemacht (23).
Die „pleiotropen“ Effekte von NMH zur Hemmung der
Metastasierung
Die o.g. klinischen Befunde einer möglichen positiven Beeinflussung des Krankheitsverlaufes von Tumorpatienten unter NMH-Anwendung haben eine intensive präklinische Forschung induziert,
deren Ziel die Aufdeckung der zugrunde liegenden molekularen Mechanismen des Heparins ist. In vitro Modelle sowie in vivo Untersu-
Zertifizierte Fortbildung
Abbildung 4: NMH (rote Linien) blockieren P- und L-Selektin (blaue und gelbe Symbole) sowie das Integrin VLA-4 (in Wechselwirkung mit
Ligand VCAM-1; grün) und damit die Ummantelung von Melanomzellen mit Thrombozyten, die Melanombindung am Endothel sowie die
Mikroembolibildung mit Leukozyten. Dadurch wird auch ein physikalischer Arrest im mikrovaskulären Gefäßsystem unterbunden (rechte
Abbildung).
chungen zur experimentellen Metastasierung, d.h. Inokulierung von
Tumorzellen in den Blutkreislauf von Versuchstieren und Detektion
des Metastasierungsverlaufes, konnten eindrucksvoll beweisen,
dass NMH über verschiedene Mechanismen „pleiotrop“ hemmend
in die metastatische Kaskade der Tumorzellen eingreift. Hierbei
spielt die Struktur des Heparins als ein saures, negativ geladenes
Mucopolysaccharid eine wichtige Rolle. Grundsätzlich existieren
mittlerweile vier verschiedene Wirkungspostulate, die in Abhängigkeit der verwendeten Modelle mit unterschiedlicher Dominanz einzeln oder in ihrer Gesamtheit zum Tragen kommen und auch die
klinische Wirksamkeit von NMH erklären können.
Diese sind im Folgenden kurz zusammengefasst:
• Die antikoagulatorische Aktivität der NMH scheint, trotz anfänglicher Ingnorierung dieses Aspektes einen entscheidenden Beitrag
zur verminderten Metastasierung zu leisten. Es konnte gezeigt werden, dass NMH eine Aktivierung des tissue factor pathway inhibitors (TFPI) induziert und damit hemmend in die von Tumorzellen
(TF-Expression) forcierte lokale Thrombinbildung eingreift (24).
Dies hat neben einer verminderten Adhäsivität der Tumorzellen insbesondere eine reduzierte Signalwirkung des Thrombins in der
Kommunikation der Tumorzellen mit Thrombozyten, Leukozyten
und dem Endothel zur Folge.
• Heparin wirkt hemmend auf das von vielen Tumorzellen exprimierte
Enzym Heparanase. Die Heparanase ist eine Endo-β-Glucuronidase,
die Heparansulfatketten, und so auch Substrate der extrazellulären
Matrix abbauen kann (25). Durch Hemmung der Heparanase wird
die Migrationsfähigkeit der Tumorzellen durch das Gewebe reduziert. Die Heparanase ermöglicht aber auch die Freisetzung von an
zellulären Proteoglycanen gebundenen Wachstumsfaktoren oder
Signalmediatoren, die somit ebenfalls durch NMH unterbunden
wird.
• Heparin kann aufgrund seiner negativen Ladung als Polymer mit
vielfältigen, zumeist positiv geladenen Wachstumsfaktoren und Signalmediatoren eine Wechselwirkung eingehen. Dies hält solche
Faktoren von ihrer Rezeptorbindung fern und hemmt somit die
Angiogenese (Hemmung von VEGF) oder proliferative Effekte (bFGF
Blockade). Durch Bindung und Blockierung von Chemokinen (Abbildung 2) resultiert eine Unterbrechung der Kommunikation in der
Metastasenausbildung (26).
•
Die experimentell am stärksten verfolgte These zielt auf die Hemmung verschiedener Adhäsionsrezeptoren durch NMH. Dies soll im
Folgenden etwas ausführlicher beleuchtet werden soll.
NMH hemmen direkt und indirekt Adhäsionsrezeptoren in der metastatischen Kaskade
Für die in der hämatogenen Passage genannten vielfältigen Wechselwirkungen der Tumorzellen mit zellulären Komponenten des Blutes
sind verschiedene Adhäsionsrezeptoren verantwortlich. Wie in Abbildung 3 ersichtlich spielen die Selektine, eine Familie von Kohlenhydrat-bindenden Rezeptoren, eine herausragende Rolle zur Kontaktvermittlung von Tumorzellen mit ihrer Umgebung. Glykosidische Strukturen der Tumorzelloberfläche können als Liganden für P-Selektin auf
aktivierten Thrombozyten sowie für L-Selektin auf verschiedenen
Leukozyten fungieren und somit die o.g. Mikroembolibildung entscheidend induzieren. Die Bedeutung der Selektine für die metastatische Progression konnte durch eine massiv reduzierte Metastasierung solider Tumore in P- und L- Selektin knock-out Mäusen eindrucksvoll bewiesen werden (27).
Durch ihre Bindungsfähigkeit zu Heparin waren P- und L-Selektin
auch die ersten Targets, die systematisch eine antimetastatische
Wirksamkeit des Heparins zur Erklärung brachten. Wie in Abbildung
4 schematisch verdeutlicht, vermag NMH hemmend in die Wechselwirkung von Tumorzellen mit Thrombozyten, Leukozyten und dem
Gefäßendothel eingreifen, so dass die ausbleibende Mikroembolibildung nicht nur die Ansiedelung einer Mikrometastase erschwert, sondern auch die Tumorzellelimination durch das Immunsystem fördert.
Die Hemmung der Selektinbindung erweist sich als ein herausragender molekularer Mechanismus der Heparinaktivität, der für die Metastasierung aller soliden Tumore von großer Bedeutung ist. Die gute
Inhibitionsfähigkeit der NMH für Selektine erklärt sich insbesondere
durch die Bindungskinetik. NMH besitzen eine deutlich längere Bindungsdauer an P- und L-Selektin als die funktionellen Selektinliganden, wobei die verschiedenen NMH Produkte eine vergleichbare Bindungsaffinität zu den beiden Selektinen aufweisen (28).
Heparin kann aber auch andere für die Metastasierung relevante Adhäsionsrezeptoren blockieren (29). So wird bspw. das Integrin VLA-4,
welches insbesondere auf Melanomzellen stark exprimiert wird und
zur endothelialen Kontaktaufnahme beiträgt, ebenfalls durch NMH
funktionell blockiert (Abbildung 4). Es wurde bewiesen, dass auch
die Hemmung von VLA-4 durch NMH einen wichtigen Beitrag zur
Unterdrückung der experimentellen Metastasierung von Melanomzellen in der Maus leistet (30). Dabei wird nicht nur die Bindungsfähig- 11
PHARMAZEUTISCHE WISSENSCHAFT
Abbildung 5: Cyr61 ist ein Signalmolekül, das von Tumorzellen exprimiert und sezerniert wird. Cyr61 induziert Tumor-fördernde Eigenschaften (Proliferation und Wachstum) durch eine Bindung an, und damit Aktivierung von Integrinen. Da Cyr61 auch von NMH gebunden, und
somit von der Integrinaktivierung ferngehalten wird, offenbart dies einen indirekten Weg der Integrininhibition durch NMH (31), (modifiziert
nach Walsh et al., Mol Interv. 2008).
keit dieses Integrins direkt gehemmt, NMH blockieren auch lösliche
Aktivatoren des Integrins, bspw. Cyr61 (Abbildung 5) und senken so
indirekt die Bindungsfähigkeit und Signalaktivität dieser Adhäsionsrezeptoren (31).
Zusammenfassung und Ausblick
NMH besitzen für die Prophylaxe und Behandlung von VTE bei Tumorpatienten eine herausragende Bedeutung. Obwohl auf präklinischem Gebiet klare Indizien existieren, dass NMH einen multifaktoriell hemmenden Einfluss auf die metastatische Verbreitung solider
Tumore im Körper entfalten können, fehlen hierfür noch eindeutige
Befunde durch kontrollierte klinische Studien, die eine breitere NMH
Anwendung bei Tumorpatienten auch ohne VTE klinisch rechtfertigen
könnten. Die offensichtlich in der Struktur des Heparins begründete
pleiotrope antimetastatische Wirksamkeit wird es auch in Zukunft
von anderen antithrombotischen Wirkprinzipien absetzen. Dies stellt
Heparin als alt bewährten Wirkstoff in ein neues Licht und kann auch
in Zeiten der neuen oralen Antikoagulantien völlig neue Perspektiven
eröffnen.
12
Korrespondenzadresse:
Prof. Gerd Bendas
Pharmazeutisches Institut der
Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn
An der Immenburg 4
53121 Bonn
[email protected]
Referenzen
1. Hach-Wunderle V, Hach W. Das Trousseau-Syndrom - Eine medizinhistorische Betrachtung mit unverminderter Aktualität. Gefäßchirurgie
1999; 4: 50–54.
2. Mandalà M, Falanga A, Roila F, ESMO Guidelines Working Group.
Management of venous thromboembolism (VTE) in cancer patients:
ESMO Clinical Practice Guidelines. 2011; 22 Suppl 6: vi85–92.
3. Lyman GH, Khorana AA, Kuderer NM, Lee AY, Arcelus JI, Balaban
EP, Clarke JM, Flowers CR, Francis CW, Gates LE, et al. Venous thromboembolism prophylaxis and treatment in patients with cancer: American Society of Clinical Oncology clinical practice guideline update. J
Clin Oncol 2013; 31: 2189–204.
4. Bottaro FJ, Elizondo MC, Doti C, Bruetman JE, Perez Moreno PD,
Bullorsky EO, Ceresetto JM. Efficacy of extended thrombo-prophylaxis
in major abdominal surgery: What does the evidence show? Thromb
Haemost 2008; 99: 1104–1111.
5. Lee AYY, Kamphuisen PW, Meyer G, Bauersachs R, Janas MS, Jarner MF, Khorana AA, on behalf of the CATCH Investigators LBA-2 A
Randomized Trial of Long-Term Tinzaparin, a Low Molecular Weight
Heparin (LMWH), Versus Warfarin for Treatment of Acute Venous
Thromboembolism (VTE) in Cancer Patients - the CATCH Study. Poster at 56th Annual meeting of American Society of Hematology, San
Francisco Dec. 2014, https://ash.confex.com/ash/2014/webprogram/
Paper77065.html
6. den Exter PL, Kooiman J, van der Hulle T, Huisman MV. New anticoagulants in the treatment of patients with cancer-associated venous thromboembolism. Best Practice & Research Clinical Haemato-
Zertifizierte Fortbildung
logy 2013; 26: 163–169.
7. Zacharski LR, Henderson WG, Rickles FR, Forman WB, Cornell CJ Jr,
Forcier RJ, Edwards R, Headley E, Kim SH, O’Donnell JR, et al. Effect
of warfarin on survival in small cell carcinoma of the lung. Veterans
Administration Study No. 75. JAMA 1981; 245: 831- 835.
8. Lebeau B, Chastang C, Brechot JM, Capron F, Dautzenberg B, Delaisements C, Mornet M, Brun J, Hurdebourcq JP, Lemarie E. Subcutaneous heparin treatment increases survival in small cell lung cancer.
Cancer 1994; 74: 38–45.
9. Siragusa S, Cosmi B, Piovella F, Hirsh J, Ginsberg JS. Low-molecular-weight heparins and unfractionated heparin in the treatment of
patients with acute venous thromboembolism: results of a metaanalysis. Am J Med 1996; 100: 269–277.
10. Lee AYY, Levine MN, Baker RI, Bowden C, Kakkar AK, Prins M,
Rickles FR, Julian JA, Haley S, Kovacs MJ, Gent M, Randomized Comparison of Low-Molecular-Weight Heparin versus Oral Anticoagulant
Therapy for the Prevention of Recurrent Venous Thromboembolism in
Patients with Cancer (CLOT) Investigators. Low-molecular-weight heparin versus a coumarin for the prevention of recurrent venous
thromboembolism in patients with cancer. N Engl J Med 2003; 349:
146–153.
11. Lee AYY, Rickles FR, Julian JA, Gent M, Baker RI, Bowden C, Kakkar
AK, Prins M, Levine MN. Randomized comparison of low molecular
weight heparin and coumarin derivatives on the survival of patients
with cancer and venous thromboembolism. J Clin Oncol 2005; 23:
2123–2129.
12. Kakkar AK, Levine MN, Kadziola Z, Lemoine NR, Low V, Patel HK,
Rustin G, Thomas M, Quigley M, Williamson RCN. Low molecular
weight heparin, therapy with dalteparin, and survival in advanced
cancer: the fragmin advanced malignancy outcome study (FAMOUS).
J Clin Oncol 2004; 22: 1944–1948.
13. Riess H, Pelzer U, Hilbig A, Stieler J, Opitz B, Scholten T, Kauschat-Brüning D, Bramlage P, Dörken B, Oettle H. Rationale and design of PROSPECT-CONKO 004: a prospective, randomized trial of
simultaneous pancreatic cancer treatment with enoxaparin and chemotherapy). BMC Cancer 2008; 8: 361.
14. Agnelli G, George DJ, Kakkar AK, Fisher W, Lassen MR, Mismetti
P, Mouret P, Chaudhari U, Lawson F, Turpie AGG. Semuloparin for
thromboprophylaxis in patients receiving chemotherapy for cancer. N
Engl J Med 2012; 366: 601–609.
15. Kakkar AK, Macbeth F. Antithrombotic therapy and survival in
patients with malignant disease. Br J Cancer 2010; 102 Suppl 1:
S24–29.
16. Krebsstatistik des Robert-Koch-Institutes
http://www.rki.de/Krebs/DE/Content/Publikationen/Krebs_in_
Deutschland/kid_2013/krebs_in_deutschland_2013.pdf?__
blob=publicationFile
17. Kopp H-G, Placke T, Salih HR. Platelet-Derived Transforming
Growth Factor-B Down-Regulates NKG2D Thereby Inhibiting Natural
Killer Cell Antitumor Reactivity. Cancer Res 2009; 69: 7775-7783.
18. Rothwell PM, Wilson M, Elwin CE, Norrving B, Algra A, Warlow CP,
Meade TW. Long-term effect of aspirin on colorectal cancer incidence
and mortality: 20-year follow-up of five randomised trials. Lancet
2010; 376: 1741-1750.
19. Jonsson F, Yin L, Lundholm C, Smedby KE, Czene K, Pawitan Y.
Low-dose aspirin use and cancer characteristics: a population-based
cohort study. Br J Cancer 2013; 109: 1921-1925.
20. Rothwell PM, Wilson M, Price JF, Belch JF, Meade TW, Mehta Z.
Effect of daily aspirin on risk of cancer metastasis: a study of incident
cancers during randomised controlled trials. Lancet. 2012;379: 15911601.
21. Jacobs CD, Chun SG, Yan J, Xie XJ, Pistenmaa DA, Hannan R, Lotan
Y, Roehrborn CG, Choe KS, Kim DW. Aspirin improves outcome in
high risk prostate cancer patients treated with radiation therapy. Cancer Biol Ther 2014; 15: 699-706.
22. Bosetti C, Rosato V, Gallus S, La Vecchia C. Aspirin and prostate
cancer prevention. Recent Results Cancer Res. 2014; 202: 93-100.
23. Gil-Bernabé AM, Lucotti S, Muschel RJ. Coagulation and metasta-
sis: what does the experimental literature tell us? Br J Haematol 2013;
162: 433–441.
24. Mousa SA, Mohamed S. Inhibition of endothelial cell tube formation by the low molecular weight heparin, tinzaparin, is mediated by
tissue factor pathway inhibitor. Thromb Haemost 2004; 92: 627–633.
25. Pisano C, Vlodavsky I, Ilan N, Zunino F. The potential of heparanase as a therapeutic target in cancer. Biochem Pharmacol 2014; 89:
12-19.
26. Battinelli EM, Markens BA, Kulenthirarajan RA, Machlus KR, Flaumenhaft R, Italiano JE Jr. Anticoagulation inhibits tumor cell-mediated
release of platelet angiogenic proteins and diminishes platelet angiogenic response. Blood 2014; 123: 101–112.
27. Borsig L, Wong R, Hynes RO, Varki NM, Varki A. Synergistic effects of L- and P-selectin in facilitating tumor metastasis can involve
non-mucin ligands and implicate leukocytes as enhancers of metastasis. Proc Natl Acad Sci USA 2002; 99: 2193–2198.
28. Simonis D, Fritzsche J, Alban S, Bendas G. Kinetic analysis of
heparin and glucan sulfates binding to P-selectin and its impact on
the general understanding of selectin inhibition. Biochemistry 2007;
46: 6156–6164.
29. Bendas G, Borsig L. Cancer cell adhesion and metastasis: selectins, integrins, and the inhibitory potential of heparins. Int J Cell Biol.
2012; 2012: 676731.
30. Schlesinger M, Roblek M, Ortmann K, Naggi A, Torri G, Borsig L,
Bendas G. The role of VLA-4 binding for experimental melanoma
metastasis and its inhibition by heparin. Thrombosis Research 2014;
133: 855-862.
31. Schmitz P, Gerber U, Schütze N, Jüngel E, Blaheta R, Naggi A, Torri
G, Bendas G. Cyr61 is a target for heparin in reducing MV3 melanoma
cell adhesion and migration via the integrin VLA-4. Thromb Haemost.
2013; 110:1046-1054.
Der Autor
Prof. Dr. Gerd Bendas
Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn,
Fachbereich Pharmazie, Pharmazeutische Chemie
An der Immenburg 4
D-53121 BONN
Tel: +49 228 73 5250
Fax: +49 228 73 4692
email: [email protected]
Prof. Dr. Gerd Bendas; 1985-1990 Studium der Pharmazie an der
Martin-Luther-Universität in Halle, 1991 Approbation als Apotheker; 1994 Promotion zum Dr. rer. nat., 2000 Habilitation für
das Fach Pharmazeutische Chemie an der Universität Halle und
folgend Tätigkeit als Oberassistent, seit 2003 Professor für
Pharmazeutische Chemie an der Friedrich-Wilhelms-Universität
Bonn.
13