Deutsche Haiku-Gesellschaft e.V. Die Deutsche Haiku-Gesellschaft e.V.1 unterstützt die Förderung und Verbreitung deutschsprachiger Lyrik in traditionellen japanischen Gattungen (Haiku, Tanka, Haibun, Haiga und Kettendichtungen) sowie die Vermittlung japanischer Kultur. Sie organisiert den Kontakt der deutschsprachigen Haiku-Dichter/-innen untereinander und pflegt Beziehungen zu entsprechenden Gesellschaften in anderen Ländern. Der Vorstand unterstützt mehrere Arbeits- und Freundeskreise in Deutschland sowie Österreich, die wiederum Mitglieder verschiedener Regionen betreuen und weiterbilden. Der Mitgliedsbeitrag beträgt 40 € im Jahr und beinhaltet die Lieferung der Zeitschrift. Anschrift: Deutsche Haiku-Gesellschaft e.V., z. Hd. Stefan Wolfschütz, Postfach 202548, 20218 Hamburg Web: http://www.deutschehaikugesellschaft.de E-Mail: [email protected] Ehrenpräsidentin: Margret Buerschaper, Auenstraße 2, 49424 Goldenstedt Info/DHG-Kontakt und Redaktion: Claudia Brefeld, Auf dem Backenberg 17, 44801 Bochum, Tel.: 0234/70 78 99 E-Mail: [email protected] [email protected] Protokoll: Horst-Oliver Buchholz, Wöhlerstraße 20, 63454 Hanau-Kesselstadt, Tel.: 06181/66 80 162 E-Mail: [email protected] Kassenwart: Georges Hartmann, Ober der Jagdwiese 3, 57629 Höchstenbach, Tel.: 02680/760 E-Mail: [email protected] Webmaster: Stefan Wolfschütz, Curschmannstraße 37, 20251 Hamburg, Tel.: 040/477965 [email protected] Internationale Kontakte: Klaus-Dieter Wirth, Rahserstraße 33, 41747 Viersen, Tel.: 02162/12243 [email protected] Bankverbindung: Landessparkasse zu Oldenburg, BLZ 280 501 00, Kto.-Nr. 070 450 085 (BIC: BRLADE21LZO IBAN: DE97 2805 0100 0070 450085). Die finanzielle Unterstützung der DHG quittieren wir mit Spendenbescheinigungen. 1Mitglied der Federation of International Poetry Associations (assoziiertes Mitglied der UNESCO), der Haiku International Association, Tôkyô, der Gesellschaft für zeitgenössische Lyrik e.V., Leipzig, Ehrenmitglied der Haiku Society of America, New Orleans. Editorial Liebe Leserinnen und Leser, in der Kleinheit steckt seine Größe – und so wirft die kleinste Lyrikgattung – das Haiku – mutig seine langen Schatten voraus. Dass die Herbstzeit die Länge dieser Schatten mitzeichnet, ist ein Aspekt: Gemütliche Abende laden ein, das eine oder andere Buch zur Hand zu nehmen. Vielleicht jenen Band, welcher – im Sommer gekauft –, noch unberührt seinem Öffnen unter der Leselampe harrt? Und eine gute Zeit, um sich innerlich aufzumachen, dem Schatten zu folgen – und sich auf unsere kommende DHG-Haiku-Tagung zu freuen. Die Wiesbadener Haiku-Gruppe hat dafür die Zügel in die Hand genommen, vor Ort Unterkunft und Unterhaltung geplant und organisiert. Sei es der Ginko (Haiku-Spaziergang) im Kurpark-Ambiente oder die besondere Rundfahrt mit der THermine, lassen Sie sich locken und nehmen Sie Platz im Kaminzimmer zum gemütlichen Beisammensein und Austausch. Ein reichhaltiges Workshop-Angebot – vom HaikuQuiz bis zum Tanka – erwartet Sie am Samstag, der seinen Abend mit Haiku-Lesung und Koto-Spiel ausklingen lässt. Zudem hat sich die Wiesbadener Haiku-Gruppe noch eine Besonderheit ausgedacht ... Habe ich Sie jetzt neugierig gemacht? Bevor die weihnachtlichen Vorbereitungen Sie in Anspruch nehmen, sollten Sie sich gerade jetzt die Zeit nehmen und im Kalender 2015 nicht nur das erste Wochenende im Juli für dieses DHG-Treffen vormerken, sondern auch das diesem Heft beigelegte Programm studieren, das Sie unweigerlich verleiten wird, die Anmeldung auszufüllen und sich so ein interessantes und kurzweiliges Gesamtpaket rund ums Haiku zu sichern. Kommen Sie gut durch die Winterzeit! Ich wünsche Ihnen ein gesundes und kreatives 2015 und freue mich, Sie in Wiesbaden zu treffen. Es grüßt Sie herzlich Ihre Claudia Brefeld 2 Inhalt EDITORIAL Claudia Brefeld 2 AUFSÄTZE/ESSAYS Klaus-Dieter Wirth: Grundbausteine des Haiku (XXI) – Literarischer Bezug 4 BERICHTE Georges Hartmann: Die französische Ecke Silvia Kempen: Ein Porträt – Horst Ludwig Haiga: Angelika Holweger LESERTEXTE 20 24 28 Ausgezeichnete Werke Haiku- und Tanka-Auswahl Haiga: Gabriele Hartmann Haibun Tan-Renga Rengay Kettengedichte, Sequenzen 29 31 40 41 45 47 50 HAIKU UND TANKA AUS DEM INTERNET Haiga: Margareta Hihn 52 56 REZENSIONEN Reinhard Dellbrügge: Hink-stap-sprong. essays over haiku von Mark Meekers Claudia Brefeld: Durch Shikis Garten von Petra Lueken Haiga: Ion Codrescu und Christa Beau Rüdiger Jung: Zauber eines Augenblicks. Das Haiku im Wandel der Jahreszeiten von Regina F. Fischer. Claudius Gottstein: Shirley – Visionen der Realität Klaus-Dieter Wirth: FONTANA DI TREVI von Ralph Günther Mohnnau Haiga: Simone K. Busch und Bea Bareis MITTEILUNGEN Haiga: Ion Codrescu und Rüdiger Jung 57 59 61 62 63 65 67 68 71 3 Aufsätze und Essays Klaus-Dieter Wirth Grundbausteine des Haiku (XXI) dargestellt an ausgewählten fremdsprachlichen Beispielen Literarischer Bezug Honka-dori, die geschickte Bezugnahme auf einen älteren, bekannten Text der Haiku-Literatur hat in Japan eine lange Tradition. Einmal ruft das sogenannte Déjà-vu-Erlebnis, das Wiedererkennen von Vertrautem, beim Leser ein gewisses Gefühl der freudigen Überraschung, wenn nicht des Stolzes auf die eigenen Kenntnisse hervor, zum anderen kommt hier natürlich auch das Problem des Plagiats ins Spiel. Bei japanischen Haijin galt diese Echo- bzw. Anspielungspraxis jedoch grundsätzlich eher als ein Zeichen der besonderen Wertschätzung des Originals, des Respekts vor seinem Autor. Es ist ein In-den-Dialog-treten mit Texten aus der Vergangenheit, keine bloße Paraphrasierung des erinnerten Inhalts, keine gezielte Parodie, vielmehr formal eine gekonnt spielerische Übernahme, inhaltlich eine Ablenkung von der Erwartungshaltung beim neuen Rezipienten, so gesehen also ein durchaus ehrwürdiges Verfahren. Da gerade beim traditionellen Haiku die Thematik ziemlich eng gefasst ist, wurden auch kleinste Änderungen schon als legitime Möglichkeiten anerkannt, um zu neuen Texten zu gelangen. Haruo Shirane äußerte sich zu dieser besonderen Form der direkten oder indirekten Anlehnung an frühere Vorlagen, sei es durch gewisse wörtliche oder auch nur gedankliche Übernahmen und ihren Abänderungen wie folgt: „Bezeichnenderweise ist honka-dori, die ‚anspielende Abweichung‘, eine der fundamentalsten Techniken der japanischen Poesie, wenn nicht der gesamten japanischen Literatur, … Es bindet das Gedicht, wie das Jahreszeitenwort, in die poetische Tradition als ganze ein.“1 Und ähnlich Doreen King: 1 Haruo Shirane: „The 21st Century Ehime Haiku Prizes“ (translated by D. Burleigh and T. Kimiyo), Culture Foundation, Japan, 2003, S. 23. 4 „Bei einer derart komprimierten Gedichtform wie dem Haiku können schon ein oder zwei andere Wörter eine ganz neue Dimension erzeugen und beim honka-dori hilft das Wiederholen, historische Aspekte und traditionelle Kontinuität zu bewahren.“2 Auch in der westlichen Welt galt die „Imitatio“, die „Nachahmung von musterhaften Vorbildern durch Anpassung an deren Stil, Wortgebrauch, Metrik, Figuren und Bilder“3 lange als ein positiv besetztes Grundprinzip, entstanden schon in der Antike, als die Römer griechischen Literaten nachzueifern begannen. Noch im deutschen Barock empfiehlt Martin Opitz (1597–1639) in seiner Publikation Teutsche Poemata und Aristarchus wieder die Verachtung teutscher Sprach zur Eindeutschung der maßgeblichen Formen der europäischen Lyrik sowie in seinem Leitfaden Buch von der deutschen Poeterey (beide 1624) ausdrücklich das Mittel der Imitation namhafter Vorgänger.4 Und auch Georg Philipp Harsdörffer (1607– 1658) – sein Poetischer Trichter, später Nürnberger Trichter genannt, gilt als Grundlegung der deutschen Verslehre – bezeichnet das „Abborgen einen rühmlichen Diebstahl“. Ein Umdenken setzte erst in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts mit der französischen „klassischen Generation“ ein, als Charles Perrault seine programmatische Rede in der Französischen Akademie hielt (27.1.1687) und damit den „Streit zwischen den Altertumsfreunden und den Anhängern der Moderne“ auslöste.5 „Erst mit wachsendem Originalitätsstreben, Selbstbewußtsein und Eigenständigkeit der modernen Literatur erhält der Begriff den negativen Sinn bloßer epigonaler, sklavischer Nachahmung.“6 Trotzdem verfügte das gebildete Bürgertum noch bis ins 20. Jahrhundert hinein über einen relativ großen Grundstock an klassischantikem, mythologischem, biblischem wie auch westlich-literarischem Wissen. Heute lässt sich jedoch kaum mehr darauf zurückgreifen. In 2Doreen King: „The Honkadori“, in Frogpond (American Haiku Society) Vol XXX, N° 3, p. 53. 3Gero von Wilpert: „Sachwörterbuch der Literatur“, Stuttgart 1989, S. 406. 4„Harenbergs Lexikon der Weltliteratur, Autoren-Werke-Begriffe“, Dortmund 1989, Bd. 4, S. 2197. 5P.-G. Castex et P. Surer: « Manuel des études littéraires françaises », Tome I, Hachette 1954, p. 426-428. 6Gero von Wilpert (s.o.) 5 Japan dagegen sind trotz ähnlicher Tendenzen zumindest im Haiku-Bereich entsprechende Kenntnisse deutlich verlässlicher vorhanden. Trotz alledem hat sich auch im westlichen Haiku schon eine gewisse Kultur der Intertextualität herausgebildet, und zwar weniger als allgemeine Bezugnahme auf literarische Werke als vielmehr durch einzelne Auseinandersetzung mit genre-internen Vorbildern, zum Teil sogar über die Sprachgrenzen hinweg, umso erstaunlicher für eine Gattung mit so junger Importgeschichte. Neben diesem bewussten Zurückgreifen auf Beispiele der Haiku-Literatur selbst tauchen eher ungewollt gelegentlich ebenso mehr oder weniger starke Ähnlichkeiten, wenn nicht Übereinstimmungen auf, die allein schon durch den nur knappen Raum, der dem Haiku zur Verfügung steht, zu erklären sind. Hinzu kommt die aus der Warte des traditionellen Rahmens weiter eingeschränkte Thematik an sich. Man denke nur an die unüberschaubare Menge der Kirschblüten- und Mondgedichte. Nichtsdestoweniger blicken vergleichbare Inhalte und Anspielungen in der japanischen Lyrik auf eine lange Geschichte zurück. Bezüglich dieser allgemeinen Problematik des Honka-dori noch drei Stimmen zu seiner Rezeption im westlichen Lager: „… the variation on certain subjects in haiku is one of the most interesting challenges the genre offers a poet, and can result in refreshingly different ways of ‘seeing anew’ for the reader.“7 („… die Variation gewisser thematischer Gegenstände im Haiku ist eine der interessantesten Herausforderungen, die das Genre dem Dichter zu bieten hat, und sie kann zu erfrischend anderen, neuen Sichtweisen beim Leser führen.“) „… sometimes a haiku will move us so much that we might want to respond to it with one of our own.”8 („… manchmal bewegt uns ein Haiku so sehr, dass wir mit einem eigenen darauf antworten möchten.“) „… To ‘echo’ another haiku takes skill. To enhance the earlier haiku is a gift, an homage. We recognize many similarities but usually these are written by happen7 Cor van den Heuvel (editor): The Haiku Anthology – English Language Haiku by Contemporary American and Canadian Poets, 31999. 8Bruce Ross: How to Haiku: A Writer's Guide to Haiku and Related Forms, 2002. 6 stance.”9 („… Ein anderes Haiku ‚widerhallen‘ zu lassen erfordert Kompetenz. Das frühere Haiku möglicherweise zu verbessern ist eine Gabe, eine Huldigung. Wir erkennen viele Ähnlichkeiten wieder, doch für gewöhnlich gelangen sie eher zufällig zu Papier.“) Beginnen wir mit Beispielen aus der japanischen Haiku-Literatur selbst: Como el poeta Saigyô croa en cuclillas la rana. Wie der Dichter Saigyô* quakt in der Hocke der Frosch. Kobayashi Issa (1763–1828) *Saigyô Hôshi (1118–1190) stammte aus einer Samurai-Familie und ging schon als junger Mönch auf Wanderschaft durch ganz Japan. Seine Gedichtsammlung Sankashû (Sammlung eines Priesters) enthält 1552 Waka. Weniger vom Stil der Klassiker (shin kokinshû) geprägt, teilt sie die Gefühle und Erfahrungen des Autors stilistisch einfach, gerade heraus mit. Issa bezieht sich hier auf eine zeichnerische Darstellung von Saigyô in der klassischen, japanischen Anthologie Ogura Hyakunin Isshu, die 100 Waka von 100 verschiedenen Dichtern vorstellt. Auch von Matsuo Bashô (1644-1694) kennen wir eine ähnliche, diesmal jedoch auf ihn selbst zurückweisende, direkte Bezugnahme: This life, now I am living long, just like Sôgi sheltering under eaves from rain Dieses Leben, das ich jetzt schon so lange lebe, gleicht dem von Sôgi, der sich vor dem Regen unterstellt. Sôgi (1421-1501), ein Priester, hatte den Vergleich seiner eigenen Lebenserfahrung zuvor so formuliert: 9Hans Jongman: The Honkadori Revisited: Have I read this before? Déjà vu in Haiku, Haiku Canada Review, Vol. 5, October 2011, N0 2, p. 24. 7 This life, now I am living long, is as short as sheltering under eaves for wintry drizzle to pass. Dieses Leben, das ich jetzt schon so lange lebe, ist so kurz, wie wenn man sich unter einem Dachvorsprung unterstellte, um zu warten, bis der winterliche Sprühregen vorbeigezogen ist. Einen anderen Rückgriff nimmt Katô Shûson (1905–1993) vor, wenn er sein Haiku mit der Wiedergabe des ersten Verses (hyakudai no kakaku) von Bashôs Reisebericht „Auf schmalen Pfaden durchs Hinterland“ beginnen lässt, Wegzehrung so vieler Haiku-Dichter: „Monate und Tage sind ständige Passanten, und auch die Jahre, die sich ablösen, sind Reisende.“ Diese Reisende der Vergangenheit sind hier die nachfolgenden Generationen von Haijin, an die auch der Dichter anknüpft. Katô Shûson war bekannt für seine Liebe zu Katzen, und man sieht, inwieweit er selbst das Bild des Kätzchens in rührender Weise in die Reihe der verstorbenen Dichter einordnet: Longue lignée de voyageurs un chaton ferme la marche Lange Nachkommenschaft von Reisenden ein Kätzchen beschließt den Marsch Noch ein zeitgenössisches Beispiel von Katô Ikuya (1929-2012), in dem er Bashôs berühmtes Herbstgedicht humoristisch parodiert: on the withered branch alighted a crow – autumn evening auf kahlem Ast ist eine Krähe gelandet – Herbstabend Matsuo Bashô a day passed by without a crow cawing on the withered branch ein Tag ging vorbei ohne dass eine Krähe krähte auf dem kahlen Ast Katô Ikuya Kommen wir nun zu einer erfreulichen Vielfalt von Beispielen, die zei8 gen, wie sehr inzwischen gewisse klassische japanische Haiku zum allgemeinen Literaturgut auch schon im Westen geworden sind. Erwartungsgemäß hat hier Bashôs „Froschteichgedicht“ den größten Reiz ausgeübt. Doch zuvor noch in direktem Vergleich quasi als Übergang eine „Antwort“ aus dem „Land der aufgehenden Sonne“ selbst: ein alter Teich … ein Frosch springt hinein der Klang des Wassers Matsuo Bashô the frog’s pond now a shopping mall sound of money ein alter Teich … nicht einmal der Klang eines hineinspringenden Froschs Ryôkan (1758-1831) der Froschteich jetzt ein Einkaufszentrum – der Klang des Geldes Anne LB Davidson (USA) Froschteich … ein Blatt fällt hinein ohne Geräusch Bernard Einbond (USA) Übersetzung von Dietmar Tauchner, nach Haruo Shirane: „Traces of Dreams“ poetry meeting I try to read my haiku … a frog in my throat Dichtertreffen ich versuche, mein Haiku vorzulesen ein Frosch im Hals Betty Kaplan (USA) a long dry spell but there is the old pond pink water lilies Trockenperiode doch da ist der alte Teich rosa Seerosen Bruce Ross (USA) ach oude vijver een jongetje plast erin geluid van water ach alter Weiher ein kleiner Junge pieselt hinein Geräusch von Wasser Luc Lambrecht (B) 9 au vieux temple de l'ombre la mailloche au métal plonge gong! Le bruit de l'onde im alten verschatteten Tempel der Aufschlag des Metallschlägels gong! Der Klang der Welle Francis Kretz (F) Der Autor selbst versicherte, dass er bei „plonge“ und „le bruit de l‘onde“ ausdrücklich an Bashôs Haiku gedacht hat. den Stein geworfen Bashôs Frosch ist nicht hier Traude Veran (A) Fügen wir in diesem Zusammenhang ausnahmsweise auch noch ein Tanka des deutschen Autors Reiner Bonack an: Am Teich leise jene Worte sprechen mizu no oto dann wieder Stille Selbst Bashôs Allgemeinempfehlung „Was eine Kiefer ist, lerne von der Kiefer! Was Bambus ist, lerne vom Bambus!“, wurde wiederholt aufgegriffen: learning from the bamboo, but my nose wanders to the rose vom Bambus lernen, aber meine Nase wandert zur Rose Sabine Miller (USA) Nicht vom Wind, vom Schnee haben die Bambusblätter das Schweigen gelernt Klaus-Dieter Wirth Auch Bashôs historisierendes „Sommergras-Gedicht“, nach dem ja unsere Haiku-Zeitschrift benannt wurde, war von weiterführendem Interesse: 10 Sommergras …! Von all den Ruhmesträumen die letzte Spur … Übersetzung G. S. Dombrady young grasses … a mountain bleeds from the helmet full of dreams junge Gräser … ein Berg blutet aus dem Helm voll von Träumen Dimitar Anakiev (SRB/SLO) Aber schon Bashôs Vorläufer fanden gleichfalls Beachtung. So bezog sich etwa Michael Fessler (USA/J), genauso wie Kobayashi Issa (s. o.), auf Saigyô Hôshi und eins seiner berühmten Waka: Even a person free of passion would be moved to sadness autumn evening in a marsh where snipes fly up Selbst eine leidenschaftslose Person würde von Traurigkeit ergriffen sein: Herbstabend im Sumpfgebiet, wo Schnepfen auffliegen coming to the place where Saigyô was moved by the snipe's fluttering komme zu der Stelle wo Saigyô gerührt war von dem Aufflattern einer Schnepfe Und auch Moritake (1472–1549), Shinto-Priester am Schrein zu Ise, fand seine Nachahmer: Ein Blütenblatt, das zurückkehrt zu seinem Zweig? – Ein Schmetterling! Übersetzung Dietrich Krusche Pale pink butterflies released from mountain cherries by the breeze it seems Barbara Casterline (USA/J) Blassrosa Schmetterlinge von Bergkirschbäumen durch die Brise freigesetzt, wie es scheint 11 fresh start cherry blossoms back on the tree Neustart Kirschblüten zurück am Baum Robert Epstein (USA) Als nächstes Beispiel das recht bekannte Haiku von Ryôkan (s.o.): Den Mond im Fenster hat der Dieb zurückgelassen. Übersetzung Dietrich Krusche Hout voor de haard – ook de geur naam hij mee de dief in de nacht. Gré Wansdronk (NL) Holz für den Herd – auch den Geruch nahm er mit der Dieb in der Nacht. Es wäre kaum zu glauben, wenn nicht auch Kobayashi Issa (s.o.) seine speziellen Bewunderer gefunden hätte. In den folgenden Haiku geht man allgemein auf seine besonders auffallende Beziehung zu Insekten ein: Oh Issa … what would you think of flea collars? Oh Issa … was würdest du von Flohhalsbändern halten? Garry Gay (USA) comme les vrais haijins moi aussi je suis piquée par les puces! Isabel Asúnsolo (F/E) oh, Issa Issa it's hard to love the flies wie die wahren Haijin werde auch ich von den Flöhen gestochen bzw. als Wortspiel: bin auch ich über die Flöhe pikiert oh, Issa, Issa es ist nicht einfach, die Fliegen zu lieben Marinko Španović (HR) Höchstwahrscheinlich hat sogar der Amerikaner Stephen Addiss eins der bekanntesten Haiku von Issa, nämlich 12 Ja, Schnecke, besteig den Fuji, aber langsam, langsam! Übersetzung Dietrich Krusche vor Augen gehabt, als er sich zu seiner folgenden Beobachtung inspiriert fühlte, was wiederum die große Spannweite dieses HaikuGrundbausteins bezeugt: slowly slowly November sunlight ages the rocks langsam langsam lässt Novembersonnenlicht die Felsen altern Auch der letzte der vier Haikuväter, Masaoka Shiki (1867–1902), geriet ins Blickfeld: deep in the woods the pond's ice so thick tief im Wald das Eis des Teichs so dick Deep in our argument my boyfriend's head so thick Tief in unserm Disput mein Freund so schwer von Begriff Adele Kenny (CDN) Takahama Kyoshi (1874–1959), neben Kawahigashi Hekigotô (1873–1937) der wichtigste Schüler Shikis, beeindruckte mit diesem Haiku: Die Schlange glitt davon, doch ihre Augen blieben im Gras. Übersetzung Dietrich Krusche a grass snake escaping into my thought of it eine Grasschlange flieht in meine Gedanken an sie A. Kudryavitsky (IRL/RUS) Möglicherweise unabhängig davon entstanden sind: 13 crossing the road and still on both sides the reticulous python überquert die Straße und ist noch auf beiden Seiten der Netzpython Karen Hoy (GB) under the stone ledge the rattlesnake's absence unter dem Steinvorsprung die Abwesenheit der Klapperschlange Ruth Mittelholtz (CDN) Selbst an die Exaltiertheit des zeitgenössischen Gendai-Haiku-Autors Ban‘ya Natsuishi mit seiner „Flying Pope“(„Fliegender Papst“)-Sequenz wurde bereits angeknüpft: The Flying Pope lands in Sacramento the cardinals sing Der Fliegende Papst landet in Sacramento die Kardinäle* singen *auch ein amerikanischer Sperlingsvogel mit kardinalrotem Gefieder Monarchs mass for the visit of the Flying Pope Monarchen* kommen in Massen zum Besuch des Fliegenden Papstes Jann Wirtz (GB) *auch ein in Amerika weit verbreiteter Edelfalter, der sich in Riesenschwärmen auf den Weg nach Süden macht Als dritte Kategorie ist – einigermaßen erstaunlich – auch schon im Westen eine junge eigenständige Honka-dori-Tradition nachweisbar. So hat etwa der berühmte Zweizeiler In a Station of the Metro The apparition of these faces in the crowd; Petals on a wet, black bough. In einer U-Bahn-Station Die Erscheinung dieser Gesichter in der Menge; Blütenblätter auf einem nassen, schwarzen Zweig. 14 des amerikanischen Imagisten Ezra Pound (1885-1972), der zwar nicht unumstritten als „the first fully realized haiku in English“ (Jim Kacian), also als „das erste, bewusst als solches wahrgenommene, englischsprachige Haiku“ gilt, zu folgenden „Wiederaufnahmen“ angeregt. Zunächst eine eher ironische Version des Kanadiers George Swede: an apparition in the crowd of white petals the wet black bough eine Erscheinung in der Menge weißer Blütenblätter der nasse, schwarze Zweig riding the metro past bare black trees into town no face in the crowd mit der U-Bahn an kahlen, schwarzen Bäumen entlang in die Stadt kein Gesicht in der Menge Chris Boultwood (GB) Oder der „Klassiker“ des amerikanischen Haiku-Pioniers Nicholas Virgilio (1928–1989): lily: out of the water … out of itself Seerose: aus dem Wasser … aus ihrem Selbst aching tooth out of its socket out of itself schmerzender Zahn aus seinem Sockel aus seinem Selbst Marsh Muirhead (USA) Gently his fat weight sinks the lily pad – and yet the frog is himself Sacht senkt sein fettes Gewicht das Seerosenblatt – und dennoch der Frosch bleibt er selbst David E. LeCount (USA) Ein weiteres amerikanisches Vorzeige-Haiku schrieb James W Hackett (*1929): A bitter morning: sparrows sitting together without any necks. Ein bitterer Morgen: Spatzen sitzen zusammen ganz ohne Hälse. 15 spring snowfall on the tucked-in heads of drifting seabirds Schneefall im Frühjahr auf die eingezogenen Köpfe treibender Seevögel Tom Noyes (USA/GR) subway blast of rigid air ducking deeper into myself U-Bahn steifer Windstoß sich tiefer in sich selbst ducken Hans Jongman (CDN) Ähnlich bekannt ist dieses Haiku von Raphael de Gruttola (USA): frozen lake – an oak leaf half in, half out gefrorener See – ein Eichenblatt halb drinnen, halb draußen on the snow a lone leaf somewhat lost, somewhat found auf dem Schnee ein einsames Blatt irgendwie verloren, irgendwie gefunden Tom Clausen (USA) Auch William Wordsworth (1770-1850), einem englischen Romantiker, wurde bei etlichen Haiku-Autoren ein ehrendes Gedenken zuteil, und zwar insbesondere im Hinblick auf den Anfang seines folgenden, berühmt gewordenen Gedichts: I wandered lonely as a cloud That floats on high o'er vales and hills, When all at once I saw a crowd, A host of golden daffodils; … Ich wanderte einsam wie eine Wolke, Die hoch über Täler und Hügel schwebt, Als urplötzlich ich eine Menge sah, Eine Heerschar goldner Osterglocken; … From the topmost bough one last persimmon hanging – ‘lonely as a cloud …‘ James Kirkup (GB/AND/J) 16 Vom obersten Zweig herabhängend eine letzte Kakipflaume – ‚einsam wie eine Wolke …‘ ‘Lonely as a cloud’ – a handful of daffodils next to the pond ‚Einsam wie eine Wolke‘– eine Handvoll Osterglocken neben dem Teich David Burleigh (GB) Besonders interessant ist der internationale Verzahnungshintergrund bei diesem Haiku des Amerikaners Johnye Strickland: first snow … running to the window to watch for Mother Goose erster Schnee … zum Fenster laufen um Mutter Gans zu beobachten Mutter Gans ist nämlich eine literarische Figur in Kinderreimen und Weihnachtsgeschichten, die vor allem in Amerika und Großbritannien weit verbreitet ist, ihrerseits aber bereits zurückgeht auf den französischen Märchensammler Charles Perrault und seine „Ma Mère l‘Oye“ (1697). Aus noch früherer Zeit stammt das Sonett des französischen Renaissancedichters Joachim Du Bellay (1522–1560), dessen Anfangsvers wohl jedem gebildeten Franzosen geläufig ist: Heureux qui comme Ulysse, a fait un beau voyage, … Glücklich wer, wie Odysseus, eine schöne Reise gemacht hat … maison d'enfance heureux comme Ulysse – plus de parents Haus der Kindheit glücklich wie Odysseus – keine Eltern mehr Daniel Salles (F) Das nächste Beispiel nimmt Bezug auf eine der Fabeln von Jean de la Fontaine (1621-1695): La grenouille qui voulait se faire aussi grosse comme un bœuf Der Frosch, der so groß sein wollte wie ein Ochse à mon toucher la grenouille s'est gonflée effet bœuf bei meiner Berührung blies sich der Frosch auf Ochseneffekt Carole Melançon (CDN) 17 Der Niederländer Hans Andreus, Pseudonym für Johan Wilhelm van der Zant (1926–1977), war einer der ersten Schriftsteller seines Landes, der auch Haiku verfasste, zehn Jahre, bevor das Genre gegen Ende der Siebzigerjahre des vorigen Jahrhunderts in seinem Sprachraum bekannter wurde. Viele seiner Landsleute werden in den ersten beiden Zeilen seines folgenden Haiku den Anfang eines klassischen, unverkennbar romantischen Sonetts wiedererkennen, das Willem Kloos (1859-1938) geschrieben hatte: TUINMAN GÄRTNER Ik ween om bloemen, in den knop gebroken: weer een dag extra werk. Ich weine um Blumen, schon an der Knospe abgebrochen: wieder ein Tag Extraarbeit. Und offensichtlich an Rainer Maria Rilkes Gedicht “Der Panther“ orientierte sich die Österreicherin Traude Veran: der jaguar schnürt sein pfad am gitter entlang ist ausgetreten Zur Erinnerung der Anfang von Rilkes Original: Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe so müd geworden, daß er nichts mehr hält Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe und hinter tausend Stäben keine Welt. Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte … Ein vierter Bereich betrifft Parallelen, die mehr oder weniger bewusst zustande gekommen, entsprechend etwas weiter hergeholt und damit auch fragwürdiger in ihrer direkten wechselseitigen Beeinflussung sind: on the wrong train the fury of the man with the white stick im falschen Zug die Wut des Mannes mit dem weißen Stock David Cobb (GB) out of the haze the dog brings back the wrong stick Max Verhart (NL) 18 aus dem Nebel bringt der Hund den falschen Stock zurückgeht house for sale – the apricot tree in bloom as never before Haus zu verkaufen – der Aprikosenbaum blüht wie nie zuvor Ion Codrescu (ROM) Das Haus ist verkauft – Nie duftete der Garten wie am Abschiedstag Gerhard Stein (D Als auf jeden Fall unabhängig voneinander entstanden, wie die Autoren selbst versicherten, damit aber auch nicht die eigentliche Echofunktion eines honka-dori erfüllend, sind diese Paarungen: the clerk's lip ring I forgot what I wanted der Lippenring des Angestellten ich vergaß was ich wollte Yvonne Hardenbrook (USA) song of a cardinal I forget the purpose of my errand Gesang eines Kardinals (s. o.) ich vergesse den Zweck meiner Besorgung Hans Jongman (CDN) Vereister Wasserfall. Wir lauschen dem Klang fallenden Schnees. Volker Friebel (D) vereister wasserfall wir lauschen der tonleiter aus licht Bernadette Duncan (D) Über die bloße Vermittlung dieser besonderen Technik des honka-dori hinaus sind zwei Ergebnisse festzuhalten: Einmal hat sich dieses Verfahren offensichtlich von einem innerkulturellen Phänomen inzwischen bereits zu einem interkulturellen weiterentwickelt, zum anderen belegt es, dass die heftige Diskussion, die in den Neunzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts westliche Haiku-Autoren so sehr bewegt hatte, grundsätzlich überflüssig war, nämlich bezüglich der Frage, ob es überhaupt gestattet sei, sogenannte Schreibtisch-Haiku zu verfassen, also solche, die nicht durch unmittelbares Erleben in der Natur entstanden sind. 19 Berichte Georges Hartmann Die französische Ecke Die Freiheit des Menschen liegt nicht darin, dass er tun kann, was er will, sondern dass er nicht tun muss, was er nicht will, hat Jean-Jacques Rousseau irgendwann mal in die Welt gesetzt, während Marie von Ebner-Eschenbach einen weiteren Aspekt aufspürte und behauptete, dass glückliche Sklaven die erbittertsten Feinde der Freiheit seien. „Ja, was ist das denn jetzt schon wieder?“, werden Sie sich vielleicht fragen und womöglich ein „Hat der jetzt noch alle Latten am Zaun?“ anfügen. Nun, ich bin über den Begriff „liberté“ gestolpert, weil die französische HaikuGesellschaft im aktuellen GONG (das Gegenstück zu unserem SOMMERGRAS) statt eines Haiku-Themas die Parole „En toute liberté“ ausgegeben hatte, was ich in einem ersten Anlauf „In aller Freiheit“ übersetzt habe, mir aber als Aufforderung, ein Haiku nach eigenem Geschmack zu formulieren, nicht so wirklich eingängig erschien. „Sind denen die Themen ausgegangen?“, habe ich mich dann gefragt und es mit der Wendung „frei von der Leber weg“ versucht, was aber sicherlich auch nicht so wirklich passt, weil das ja wieder bedeuten würde, all das aufzulisten, was einem beim Lesen von Haiku schon immer quer im Hals gesessen hat. Ich habe es dann noch mit „mach mal“ versucht, um so auf den gefährlichen Trichter zu kommen, dass dieses Motto ebenfalls dazu verleiten kann, die Werke der einzelnen Autoren dahingehend zu untersuchen, ob diese mit der eigenen Auffassung vom Haiku übereinstimmen, bzw. aus dem eigenen Blickwinkel heraus für gut oder schlecht gehalten werden. Vielleicht könnte es aber auch eine Aufforderung gewesen sein, etwas „zwischen den Zeilen“ auszudrücken, vornehm wie die Franzosen in ihrer charmanten Art halt manchmal auch sind … 20 cueillette de cersises dialogue à bâtons rompus entre les échelles Kirschernte Zwiegespräch über dieses und jenes durch die Leitersprossen Hélène Duc Nein, nein, werden Sie jetzt möglicherweise denken und damit argumentieren, dass man ja auch mal seine Wunschvorstellungen in einem Haiku verpacken könnte. „Wenn ich mal im Ruhestand bin, werde ich das Gitarre Spielen lernen“, habe ich mehr als einmal jedem erzählt, der es nicht hören wollte, bis ich es dann nach genau 46 Jahren auch dem Westerwälder Ortspfarrer ins Ohr gebrannt hatte, der mich postwendend zu einem Kurs verdonnerte, den ich dann zu seiner Enttäuschung bereits nach der ersten Unterrichtsstunde geschmissen habe, um mich anschließend als totalen Narren zu beschimpfen. Man sollte halt das Sprichwort Schuster bleib bei deinem Leisten verinnerlichen und es zuerst mal mit ganz normalen Wunschvorstellungen versuchen. mon réfuge – une île … de quatre cents pages Mein Zufluchtsort – eine Insel aus vierhundert Seiten Christian Cosberg Aber möglicherweise ist auch solch eine Überlegung manchmal recht vermessen, wie ich nach dem georderten Probeabonnement der Wochenzeitschrift „Die Zeit“ messerscharf erkannt habe, weil ich nach vier Tagen feststellen musste, immer noch keine Zeit gefunden zu haben, auch nur eine Seite zu lesen, in drei Tagen aber wieder die nächste Ausgabe im Postkasten stecken wird. Da kann man sich schon mal die Schicksalsfrage stellen, ob man noch alle Tassen im Schrank hat, und einfach nur zu viel will und damit hoffnungslos an der Realität vorbei schlittert. Vielleicht mal völlig abschalten und ungestört nur in seine innere Welt abtauchen … ami disparu – encore présente sa voix sur son répondeur Der Freund verschollen seine Stimme noch gegenwärtig auf dem Anrufbeantworter Patrick Somprou 21 Man kann es drehen und wenden, wie man will, alles Mögliche versuchen, das selbstbestimmte Leben favorisieren oder auf der freien Willensentscheidung bestehen, bis dann irgendwann der uns allen beschiedene Augenblick heranrückt, wir wieder als in alle Winde zerstreute Atome nichts mehr von uns wissen und es den Hinterbliebenen beschieden bleibt, in aller Freiheit mal all das über uns loszuwerden, was sie davor vielleicht allenthalben nur hinter verborgener Hand getan haben. arrosoir à la main une femme à tout petit pas entre les tombes Die Gießkanne in der Hand eine Frau mit kleinen Schritten zwischen den Gräbern Damien Gabriels Wenn Ihnen das jetzt irgendwie zu düster erscheint oder Sie es schon immer gewusst haben, dass mit mir was nicht stimmen kann, was ich Ihnen nicht verübele, will ich noch ein abschließendes Haiku in den Ring werfen, das beinahe zu einem handfesten Streit geführt hätte, aber an dem sich gut zwei mir wichtig erscheinende Dinge darstellen lassen … Début d’automne Dans ses yeux le même bleu qu’autrefois Herbstanfang In ihren (seinen) Augen dasselbe Blau wie damals Isabelle Ypsilantis Ein Haiku, das möglicherweise wieder die Sehnsucht nach jener Person wachruft und aus der Erinnerung neuerlich das damals unerfüllt gebliebene Begehren, eine aus Angst nicht umgesetzte Annäherung oder das abrupt beendete Miteinander wachruft. „So weit, so gut“, werden Sie jetzt vielleicht denken, während ich noch an der Übersetzung herumkaute und dabei an jenen Punkt stieß, den ich nicht für möglich gehalten hätte, weil das Französische für den Ausdruck „le (même) bleu“ auch weitere Bezeichnungen bereithält, von denen eine richtig gut zu Gesicht stand und dem Haiku aus meiner Sicht plötzlich eine deutlich andere, weniger bedeutungsschwere, eher unbeschwerte Wendung gibt. 22 Herbstanfang In ihren (seinen) Augen derselbe Grünschnabel wie früher Als ich mich dann dann zu fragen anfing, ob das nun alles richtig ist, was man da so ins Blaue hinein übersetzt, präsentierte mir die französische Verwandtschaft in Person meiner Cousine noch eine weitere Möglichkeit, nämlich, dass die Frau oder der Mann auch den herbstlich blauen Himmel gemeint haben könnte, den sie oder er mit dem Blau verglich, das ihr oder ihm noch aus einem früheren Urlaub gegenwärtig war. Woraufhin der Gatte meiner Cousine aus dem Hintergrund kaum noch zu halten war und verkündete, dass die Person im Haiku eindeutig eine Frau sei, und man mit „le bleu“ auch einen „Anfänger“ bezeichnet …, was der Textaussage dann allerdings eine sehr private Wendung gäbe … Ich will damit andeuten, dass man in der ständigen Gefahr steht, nicht immer den tatsächlichen Hintergrund der fremdsprachigen Autoren zu erfassen, und selbst die Wortwahl der Übersetzung (damals bzw. früher) rein gefühlsmäßig eine andere Tonlage ergeben kann. Ich ermuntere an dieser Stelle auch dazu, die Haiku nicht bloß zu konsumieren, sondern sich möglichst oft mit anderen darüber auszusprechen, um dadurch auf dem eigenen Haiku-Weg nicht an der nächsten Kreuzung womöglich in eine Richtung zu laufen, die nur einem aktuellen Massengeschmack entspricht. Haiku schreiben ist nicht die Kunst, um jeden Preis veröffentlicht zu werden, sondern auch dazu da, mehr über sich selbst kennenzulernen. Und weil das Haiku ebenfalls den Effekt hat, mit anderen in Kontakt zu kommen, sich miteinander auszutauschen oder Gemeinsames zu gestalten, ermuntere ich an dieser Stelle „en toute liberté“ dazu, die Mitgliederversammlung 2015 auch mit Ihrer Gegenwart zu bereichern, und Sie dazu, jetzt kein „Nein“, sondern ein kräftiges „Yes, I will“ von sich zu geben, Sie also in Übereinstimmung mit Rousseau dann genau das tun, was Sie schon immer mal vorhatten, aber bis heute nicht verwirklichen konnten. 23 Silvia Kempen Ein Porträt – Horst Ludwig Zur Einstimmung eine Passage aus „Beate Conrad, Reflektierende Sichten, Ein Feature zu Horst Ludwig, in Chrysanthemum Nr. 12, Oktober 2012, online unter: http://www.bregengemme.net/chrysanthemum/media/ aktuell/Chrysanthemum_12.pdf (Quellen innerhalb des Zitats ebenda.): „… gilt sein größtes Interesse dem Auffinden von einfacher, aber klarer Sprache, die präzise das Beabsichtigte ausdrückt, mit realistischen und zurückhaltenden poetischen Bildern. Das Ergebnis ist Kunst, die kunstlos zu sein scheint (4; 5). Aber sie ermöglicht die Schönheit der Form und des Klanges, Originalität des Ausdrucks, Objektivität und Subjektivität, Bedeutungstiefe und Komplexität. Kurz: Haikukunst ist für ihn solides Handwerk, das den Anschein erweckt, daß sich Haiku ohne Anstrengung ganz natürlich ergibt (5). Wie sich herausstellt, ist bei ihm dessen ungezwungene und einfache Ausdrucksweise das effektivste Strukturelement (1).“ Persönliche Daten Horst Ludwig wurde am 10. Mai 1936 in Ritterswalde bei Neisse in Oberschlesien geboren. Nach dem Abitur 1956 am Gymnasium Martino-Katharineum in Braunschweig studierte er zunächst an der Technischen Hochschule Braunschweig Deutsch, Englisch und Philosophie, wechselte aber noch im selben Jahr an die Freie Universität Berlin, wo er Germanistik, Amerikanistik, Publizistik, Philosophie und Pädagogik studierte. Zwischenzeitlich war er als Fulbright-Austauschstudent an der Universität von Minnesota und studierte dort Deutsch und Englisch. Horst Ludwig erwarb folgende Abschlüsse: Philosophikum (Berlin, 1963), Magister Artium (University of Minnesota, 1965) und die Erste (Wissenschaftliche) Staatsprüfung mit der Abschlussarbeit (Thesis): Emersons Theorie der Lyrik: Ihr Verhältnis zu Struktur und Thema seiner Gedichte (Berlin, 1964). Von 1965 bis 2012 lehrte er als Associate Professor deutsche Spra24 che und Literatur am Gustavus Adolphus College in St. Peter, Minnesota, USA, wo er auch einige Haiku-Seminare durchführte. Seine Spezialgebiete sind die Strukturen des Deutschen und anderer Fremdsprachen sowie die kulturellen Unterschiede, die ihre Literaturen reflektieren. 1977 und 1994 unterrichtete er im Rahmen einer Austauschprofessur an der Kansai Gaidai University in Osaka, Japan. Horst Ludwig bereiste diverse europäische und amerikanische Länder sowie Japan, Singapur und die UdSSR. Er lebt weiterhin im Bundesstaat Minnesota in den Vereinigten Staaten von Amerika und nimmt dort nach wie vor am kulturellen Leben, besonders „seines Colleges“, teil. Berührung mit Haiku „Bereits im Gymnasium in den fünfziger Jahren, gleich nachdem Coudenhoves Vollmond und Zikadenklänge erschien, begann Horst Ludwig Haiku in deutscher Sprache zu verfassen. Während seines ersten Japanaufenthalts wurde er unter der Anleitung von Yukio Kotani, einem Professor für Französisch und Deutsch, der auch einem Kasenzirkel in Tokio vorsaß, dann besonders mit der Geschichte und der Struktur des Haiku vertraut (6). Nach seiner Rückkehr aus Japan beschäftigte sich Horst Ludwig kontinuierlich mit dem Haiku …“ (So Beate Conrad) Haiku-Werdegang 60 Jahre Haiku schreiben, das ist ein langer Zeitraum, und da ist es kaum möglich, alle Stationen aufzuzeigen. Von Anfang an hat Horst Ludwig seine Haiku in der traditionellen 5-7-5-Silbenform geschrieben und ist dieser Form weitgehend treu geblieben. Als mit der deutschen Sprache Aufgewachsener und mehrere Jahrzehnte in Nordamerika Lebender schreibt er seine Haiku sowohl in deutscher als auch in englischer Sprache. Er ist mit seinen Haiku national und international vertreten in den Medien (elektronisch (Zeitschriften, Internetportale, Werkstätten) und auf Papier (Zeitschriften, Anthologien usw.) diverser HaikuGesellschaften und anderer Herausgeber. Haiku und Tanka von ihm haben auch Preise in nationalen und internationalen Wettbewerben gewonnen; z. B. wurde er 1993 für seine Lyrik mit dem Robert-L.25 Kahn-Preis ausgezeichnet, 2002 erhielt er den 3. Preis beim 7. Internationalen Kusamakura-Haiku-Wettbewerb und beim 4. Hoshi to Mori Tanka Contest einen Supplementary Award. Neben der Haiku-Dichtung befasst sich Horst Ludwig auch mit dem Schreiben von Tanka, Haibun und Ketten- bzw. Partnerdichtung. Außerdem gibt es von ihm Artikel zum Haiku-Schreiben und Analysen und Auseinandersetzungen zu Haiku anderer Autoren. Einige Literaturangaben: - Wind im Bambusspiel: Sechsunddreißig Haiku. Waisenhaus-Druckerei und Verlag, 1981 – 36 Seiten (1991 mit einer englischen Übersetzung von Nancy Hanson Nash neu aufgelegt.) - Blicke in ein Jahr. Eine Pastellbilderserie von Beate Conrad mit neunzehn Haiku von Horst Ludwig. Zu beziehen über: http://www.haikuglobus.org/Blickindex.html - Zwölf Monde: Eine zweisprachige Rengeeserie mit Max Verhart, Nachwort: Charles Trumbull, 's-Hertogenbosch: 't Schrijverke, 2005 - Minnesota Month, (Gedichte), in mehrfachen Ausgaben Haiku-Verständnis Dazu Horst Ludwig: „Beim eigenen Schreiben versuche ich, Texte zu schaffen, die literarisch wertvoll, sprachliches Kunstwerk sind, also etwas bringen, was lesenswert ist. Dabei bin ich in meiner Haltung sehr von Adalbert Stifter beeinflußt, in dessen südostdeutschem Kulturraum auch ich zu Hause bin, wie ich immer mehr herausfinde, und dem das Wunderbare gerade das so Einfache ist (das „sanfte Gesetz“ [Vorwort zu *Bunte Steine*]). Auf ähnliche Weise beeindruckt mich auch das japanische Haiku. Selbst die Tragik des Lebens kommt da ganz einfach zur Sprache, – so in Bashôs „Sommergras“ und dem für mich größten Haiku der Moderne von Yamaguchi Seishi, „Einmal überm Meer / kehren die Winterwinde / niemals mehr wieder (Dt. Fassung meine); und in dem Zusammenhang dürfen wir nicht vergessen, daß bei all dem allgemeinen und ja schier unaufhörlichen Preis der Kirschblüte in Japan immer mitschwingt, daß sie nicht dauert und sogar schon sehr bald zu Ende ist. – Lesenswert macht Haiku als sprachliches Kunstwerk natürlich auch, daß der Klang wesentlich Strukturelement ist. Was viele Autoren und Leute von bewertenden Haikurabbinaten bei Haiku als inhaltlich neu ansehen, ist meist gar nicht so neu für den, dem 26 Literatur ein wichtiger Lebensteil ist. Es die saubere Feinarbeit zusammen mit der empfindsamen Sicht, die einem Haiku besonderen „Lesenswert“ verleihen. Bei meiner Haikukritik steht für mich immer im Vordergrund, daß sich Menschen soviel ihnen möglich mit Haikuschreiben versuchen sollen. Ich meine, Versuche zur künstlerischen sprachlichen Wiedergabe dessen, was man erfährt, tragen zur Hebung der eigenen Kultur bei und damit auch zur Kultur überhaupt. Ich vergleiche das oft mit Chorsingen: Nicht alles da ist größte Leistung und müßte der Nachwelt auf Tonträgern aufgezeichnet werden. Aber daß man da mitmacht, das ist etwas sehr Gutes fürs Leben überhaupt; es bereichert es. Das größte Geschenk, das Japan mit seiner Haikukultur der Welt gemacht hat, ist aufzuzeigen, daß erstmal jeder Haiku schreiben kann: Man muß nur einfach hinblicken und das so Erblickte einfach sagen. Derartiges Geschenk trägt zur Wahrheit im Leben bei. Und die ist Kultur.“ Haiku-Beispiele: unterm Apfelbaum so viele Spuren im Schnee, und schon die Knospen Ein blauer Reiher gleitet tief über den Strom ans andre Ufer. Sag, was tust du, Mond, wenn die Wolke dich bedeckt? Lächelst du dann auch? Asche auf der Stirn. Eiliger gehn die Leute in den kalten Tag. Am steinernen Kreuz, manchmal zittert es etwas, das trockene Gras. Die Sonne versinkt. Er geht am Ufer entlang, ein alternder Mann. Außerdem ein Haibun: Grenzsituation „Und das hier …“ „Sind Haikubücher.“ „Von Ihnen.“ „Ja.“ „Wie viele?“ 27 „Fünfzehn Expemplare.“ „Das ist Ware.“ „Ja. Was macht‘s?“ „Ach, nennen wir‘s Geschenke.“ „Sind's auch.“ ‘ne Zigeunerin bietet mir Maiglöckchen an. – Ich hab noch kein Geld. Haiga: Angelika Holweger 28 Lesertexte Ausgezeichnete Werke zusammengestellt von Claudius Gottstein Vancouver Cherry Blossom Festival Haiku Invitational 2014 Zum neunten Mal gab es einen Haikuwettbewerb zum Vancouver Cherry Blossom Festival. Die Einsendungen zum Wettbewerb wurden in fünf Regional- (Vancouver, British Columbia, Kanada, USA und International) und eine Jugendkategorie eingeteilt. In jeder Kategorie kürte Richter Marco Fraticelli ein Gewinnerhaiku. Darüber hinaus wurden die nächstplatzierten Haiku mit dem Sakura Award bzw. Ehrenden Erwähnungen (Honourable Mentions) ausgezeichnet. In allen Kategorien gab es insgesamt 1099 Einsendungen. Die Internationale Kategorie gewann Helen Davison aus Australien. Weiter vergab Marco Fraticelli in dieser Kategorie fünfmal den Sakura Award (u. a. Heike Stehr) und 23 Ehrende Erwähnungen (u.a. Claudia Brefeld und Bernadette Duncan). Fukushima commemoration the cherry blossom petals between the cobblestones Heike Stehr blossom shower … carefully I clear only his name Claudia Brefeld still no call just blossoms rustling Bernadette Duncan 29 Festival International de Haïku de l’AFH 2014 Vom 9.–12. Oktober lud die Association Francophone de Haiku (AFH) in Vannes zu ihrem sechsten Internationalen Haikufestival ein. Neben Workshops, Vorträgen und Diskussionsrunden gab es auch drei Kukai. Im Festival-Wettbewerb zum Thema „Die Elemente“ erreichte Eleonore Nickolay den ersten Platz. Die Übersetzung stammt ebenfalls von ihr. champs vendus dans sa paume ratatinée une poignée de terre die Felder verkauft in seiner welken Hand ein wenig Erde Eleonore Nickolay Nagoya City Board of Education Award Hier war Klaus-Dieter Wirth gleich doppelt erfolgreich. Er erhielt zwei ehrende Erwähnungen (Honourable Mentions). Das erste Haiku wurde in der Kategorie Herbst/Winter 2013 ausgezeichnet. Das zweite Haiku bekam seine Auszeichnung in der Kategorie Frühling/Sommer 2014. Beide Übersetzungen stammen von Autor. lonely seagull on a rock – in its wings remains of wind einsame Möwe auf dem Fels – in den Flügeln noch Reste vom Wind Klaus-Dieter Wirth a herd of cattle crossing the river for a green taste of grass Klaus-Dieter Wirth 30 Rinder durchqueren den Fluss – dorthin, wo das Gras grüner schmeckt Haiku- und Tanka-Auswahl Dezember 2014 Im Zeitraum August bis Oktober 2014 wurden insgesamt 300 Haiku und 11 Tanka von 71 Autorinnen und Autoren für diese Auswahl eingereicht. Einsendeschluss war der 15. Oktober 2014. Jeder Teilnehmer konnte bis zu 5 Haiku oder Tanka einsenden. Diese Texte wurden vor Beginn der Auswahl von mir anonymisiert. Die Jury bestand aus Birgit Schaldach-Helmlechner, Gabriele Brunsch und Birgit Heid. Die Mitglieder der Auswahlgruppe reichten keine eigenen Texte ein. Alle ausgewählten Texte (47 Haiku und 1 Tanka) sind nachfolgend alphabetisch nach Autorennamen aufgelistet – es wurden bis zu max. drei Texte pro Autor/-in aufgenommen. „Ein Haiku/ein Tanka, das mich besonders anspricht“ – unter diesem Motto besteht für jedes Jurymitglied die Möglichkeit, ein oder bis zu drei Texte auszusuchen (noch anonymisiert), hier vorzustellen und zu kommentieren. Der nächste Einsendeschluss für die Haiku/Tanka-Auswahl ist der 15. Januar 2015. Es können nur bisher unveröffentlichte Werke eingereicht werden. Keine Simultaneinsendungen. Die Einsendungen bitte im Mail-Body, keine angehängten Dateien. Bitte senden an: [email protected] Da die Jury sich aus wechselnden Teilnehmern zusammensetzen soll, möchte ich an dieser Stelle ganz herzlich alle interessierten DHGMitglieder einladen, als Jurymitglied bei kommenden Auswahl-Runden mitzuwirken. Das macht Spaß und man lernt viel dazu. Petra Klingl 31 Ein Haiku, das mich besonders anspricht Blaulicht Pflastersteine werfen Schatten Hans Jürgen Göhrung Bereits der Begriff „Blaulicht“ führt den Leser in Sekundenschnelle auf die Dramatik eines Notfalls hin. Es sind ebenfalls Sekunden, die in einer solchen Situation von entscheidender Bedeutung sein können. Ein herannahendes Blaulicht taucht die Umgebung in ein unwirkliches Licht, vor allem in der Dunkelheit. Es lässt auch Unbeteiligte erahnen, dass es neben dem gewohnten Leben auch eine Daseinsmöglichkeit unter äußerst schweren und dramatischen Bedingungen gibt. Pflastersteine erheben sich aus Gründen der Trittsicherheit in der Regel nur unbedeutend vom Untergrund ab, das heißt, die Fugen liegen etwa einen Zentimeter unter der Oberfläche der Pflastersteine. Wenn nur geringe Erhebungen Schatten werfen, bedeutet das für mich, dass man mit den Augen nah dran ist. Ich ahne aus der Formulierung, dass jemand auf der Straße liegt, als das Blaulicht herankommt. Möglicherweise könnte auch ein Kleinkind die Entdeckung machen, dass Pflastersteine kleine Schatten werfen, aber die dichte Wortwahl und die Kombination mit dem Wort „Blaulicht“ lässt mir kaum eine andere Möglichkeit, als anzunehmen, jemand habe einen Unfall erlitten oder seine Gesundheit sei in akuter Gefahr und die Sanitäter kämen in diesem Moment. Die beiden Bilder fügen sich! Von der Beobachtung, dass Pflastersteine Schatten werfen, lässt sich der oder die Betroffene womöglich kurzzeitig von der schmerzhaften Lage ablenken, die kleinen Pflastersteinschatten werden ebenso bedeutsam wie der Schatten, der über den notleidenden Menschen gekommen ist. So wandelt sich durch mein Lesen und meine Überlegung der Eindruck eines akuten Notfalls in das Mitfühlen einer Dankbarkeit gegenüber den eintreffenden Sanitätern, einem Gesundheitssystem gegenüber, das einem die berechtigte Hoffnung auf ärztliche Hilfe gibt. Ausgesucht und kommentiert von Birgit Heid 32 stille Post was wissen die Alten schon von Liebe Gabriele Hartmann Da ist sie wieder, die Flüsterkette aus Kindertagen. Was der Letzte in der Tuschelreihe laut vorträgt, hat wenig mit der Ursprungsnachricht zu tun, sorgt aber, längst vor dem Abgleich mit dem Original, für Gelächter. Ich gebe hier gerne schmunzelnd meinem gedanklichen Spieltrieb nach. Eine harmlose Variante, die beim leisen Transport der Wörter aus der zweiten und dritten Zeile entstehen könnte, soll genügen: Die Kissen lallten vor schönen Dieben. Während (jüngere) Kinder sich noch trauen, solche Satzgebilde unzensiert herauszuposaunen, versuchen Erwachsene in der Regel das Lückenhafte, wo etwas nicht genau verstanden wurde, mit eigenem Erfahrungsschatz aufzufüllen. Schon ist unter Umständen eine Ölspur in die Gerüchteküche gelegt. Es sei hier kurz erwähnt, weil sich darin ebenfalls das Bedürfnis nach Mitteilung und der Wunsch nach Zugehörigkeit zeigen. Was wissen die Alten schon … wage ich zu verallgemeinern, trifft mit der Pubertät alle Eltern. Urplötzlich sind sie peinlich, stellen dumme Regeln auf, sind Hinterwäldler, die null Ahnung haben, was Sache ist, und sollen sich deshalb am besten aus allem raushalten. Hormonausschüttungen und Umbaumaßnahmen in den verschiedenen Gehirnstuben läuten einen Aufbruch ein. Von bisher gültigen Ansichten abrücken, heißt doch aber auch, auf die Suche gehen, um eigene zu finden. Dass auf diesem Weg Kommunikationspartner außerhalb der Familie an erster Stelle stehen, unterscheidet sich nicht vom Abgrenzungsverhalten aus früheren Zeiten. Rasant verändern sich allerdings die Möglichkeiten der Beziehungsgestaltung über die Netzkommunikation. WhatsApp, posten, bloggen, twittern, Chatiquette, Avatar etc. … da komme ich nicht mit. Nostalgia – einer Alten wie mir darf man heute gerne mal den Stempel aufdrücken, dem aktuellen Stand hinterherzudappeln, das heißt nicht gleich, dass ich ein Offline-Leben führe. In meiner Jugend hatte das einzige Telefon im Haus seinem festen Platz im Flur. Kein Ort für Liebesgeflüster oder große Geheimniskrämerei. Dafür zog ich lieber drei Straßen weiter. 33 Hinter den gläsernen Wänden des öffentlichen Fernsprechhäuschens schickte ich meine ersten Küsse und Schwüre in den Hörer, hauchte die Scheiben an, malte Herzen und schrieb unsere Namen hinein, hatte seine Worte, seine Stimme, jedes Lachen, sehnsüchtige Seufzer im Ohr … Moderne Flirts beginnen schon mal mit sanften Strichen über den Touchscreen. Die stille Post der Chats benutzt Symbole, Kürzel, Inflektive, verschlüsselte Gefühlsbekundungen. Eine Sprache, die der User, will er dazugehören, lernen muss. In den Augen „der Alten“ vielleicht eine unverständliche Verstümmelung, von Regellosigkeit kann dennoch keine Rede sein. Missverständnisse, hoax, zum falschen Wort gegriffen, wie im Gespräch vis-à-vis, seufz, alles menschlich. Es braucht den Austausch, die Reibung, die (Er)Klärung. Hoffentlich sind im virtuellen Freundeskreis die richtigen Empfängerantennen online – wenn fib keinen Landeplatz mehr haben und ein dsh Häufchen Elend dringend Trost braucht. Hoffentlich sind dann aber auch jene wieder gefragt, die live zuhören, in den Arm nehmen, die verstehen, wie es sich anfühlt, weil sie es selber ja auch erlebt haben und weil sich nichts daran geändert hat, an der abgrundtiefen Traurigkeit, wenn die Liebe geht … Ein starkes, stilles Haiku, das den steten Kreislauf im Zeichen der Herausforderungen des Wandels beschreibt. Eine Ewigkeit scheint es her zu sein, seit Großmutter sagte: „Wart‘s nur ab, da kommst ganz von alleine hin.“ Wohin auch immer, es geht weiter. Doch zunächst ist hier e i s (es ist Schluss)! Kommentiert und ausgesucht von Birgit Schaldach-Helmlechner arbeitslos … in meinem Haus ein Tiger Heike Gericke Alles ist schlicht und knapp. Drei Zeilen, sechs Wörter. Mit dem Auftakt: arbeitslos … und den Punkten dahinter, wird ein Kapitel Lebensgeschichte aufgeschlagen, das einer breiten Palette an 34 Interpretationen Raum gibt. Jeder kennt das Wort, weiß, was es bedeutet, doch nicht jeder hat am eigenen Leibe erfahren, was es bedeutet, in diesem Zustand zu sein. Das Wort und auch die folgenden sagen nichts darüber, ob der Zustand schon einige Zeit lang angehalten hat. Wir erfahren nichts über die Gründe, aus denen es dazu gekommen ist. Wenn es uns jedoch nicht gelingt, uns in diesen Zustand hinein zu versetzen, dann wird es uns nicht gelingen, die ganze Schwere und Bedeutung dieses kleinen, unscheinbaren Haiku in uns aufzunehmen. Arbeitslos … Die anfängliche Hoffnung, bald eine gute Arbeit zu finden, ist geschwunden. Der Stolz, man wolle nicht aufgeben, man möchte eine Arbeit auf dem Niveau, das man sich selbst schuldig sei, so hatte man argumentiert, war erst zur Mutlosigkeit, dann aber zur Aggression mutiert. Aggression gegen sich selbst, gegen die Welt und gegen alle, die einen umgeben. Rastlosigkeit und Tatendrang, gemischt mit Wut, Traurigkeit und Resignation sind ein ungutes Wirrwarr an Gefühlen, das den Menschen für sich und die Umwelt unerträglich macht. Diese Unruhe und Seelennot, die fortwährenden Selbstzweifel, die Angst, der Familie nicht mehr das bieten zu können, was sie gewohnt war, die Not, erkennen zu müssen, dass man dabei war zu versagen, dass man vom eigenen Selbst abrückt, schwach wird, verachtenswert, böse … in meinem Haus deutet an, dass es der Schreiber ist, in dessen Haus ein Mensch lebt, der sich im Zustand der Arbeitslosigkeit in einen Tiger verwandelt hat. Da ist er, der Tiger, der vielleicht, wie Rilkes Panther, unruhig hin und her geht, die Räume durchwandernd den Blick ins Leere richtet und trotzdem wachsam, nervös und bedrohlich ist. Was vormals als Problemchen gewertet wurde, führt jetzt zu schweren Auseinandersetzungen, der Tonfall wird anfallsweise aufbrausend und verletzend. Während sich die Interpretationsmöglichkeiten ausbreiten, bleibt das Haiku schlicht und knapp, um nicht zu sagen unaufgeregt sachlich. Da ist nichts, als nur dieser erzwungene Zustand, der mein Haus zu einem Käfig macht, in welchem jetzt ein wildes Tier eingesperrt ist – mit mir und an meiner Seite. 35 Bettlägerig – zum Takt des Windes der Tanz der Bäume Eleonore Nickolay Ein vierzehnsilbiges Haiku, das mich in mehrfacher Hinsicht sofort angesprochen hat. Es spricht meine Musikalität an, mein Gefühl für Rhythmus, Musik und Takt. Gezwungen sein im Bett zu liegen, warum auch immer, die bedrückende Langeweile, die Leere, die Unfähigkeit sich zu erheben, vielleicht erzwungene Bewegungslosigkeit. Man wendet den Kopf zur Seite und blickt zum Fenster hinaus, wo sich plötzlich ein besonderes Spektakel vollführt, das sich einem erst nach einer Weile erschließt. Man sieht das Schwingen der Bäume vor dem Fenster, sieht, wie sie sich neigen und wieder hochgehen, die Zweige, die Äste. Ihr Wiegen und Schaukeln, mal stärker, mal schwächer … Und mit einem Mal erkennt man darin einen Rhythmus, eine Wiederholung, die sich im gleichen Schema vollzieht und man ist versucht, mitzuklatschen und die Taktschläge zu zählen. Man weiß, dass der Wind den Takt angibt, dass er den Tanz der Bäume dirigiert – und mit einem Mal löst sich die Zeit auf und man scheint aufgesogen von diesem bewegten Spiel vor dem Fenster. An diesem Haiku ist nichts geheimnisvoll, alles wird klar und deutlich zum Ausdruck gebracht, und trotzdem liegt genau in dieser rhythmisierten Wiederholung, die ja eine Vielzahl von Wiederholungen und vielleicht auch Abwandlungen in sich trägt, der Reiz für mich, weil ich spüre, wie mich dieses Schwingen ergreift, ich sehe Blätter wirbeln, spüre mich an den Rand des Lebens in einen Herbst hineingedrängt, der mit Sturm und Wind einhergeht, und fühle mich gleichermaßen eingeladen von der Natur, meinen unnatürlichen Zustand der Bettlägerigkeit zu vergessen und trotz der widrigen Umstände in Gedanken mitzutanzen. Ausgesucht und kommentiert von Gabriele Brunsch 36 Die Auswahl überlandfahrt ich pflücke wiesenblumen mit den augen Sylvia Bacher Ein Stück Himmel löst sich vom Himmel im Teich – libellenblau Reiner Bonack aus heiterem Himmel das Echo eines Seufzers Gerd Börner Halloween die Geister poltern in Kinderschuhen Christa Beau Großvater starrt den Schatten an Klezmer Gerd Börner Abendlicht – im kleinen Meer mein zweites Gesicht Gerd Börner Sonntagsfrühstück das Flüstern des Hauses in die Stille Brigitte ten Brink alles was war vor dem Vergessen sternklare Nacht Simone K. Busch das Blau des Himmels dort wo mein Sohn ertrank eine Wellenlänge erster Frost der Zirkus räumt die Träume ein Simone K. Busch berauschend die Rhetorik des Regens Frank Dietrich Obdachlos die Vergangenheit in einer Schachtel Frank Dietrich Hildegard Dohrendorf Eine Sonnenblume inmitten der Flugzeugtrümmer Erster Schnee. Katzenspuren auf dem Pfad zum Mond. Regina F. Fischer Volker Friebel 37 Glockenläuten über dem Schnee – unser Schlitten hebt ab. Volker Friebel arbeitslos … in meinem Haus ein Tiger Heike Gericke Blaulicht Pflastersteine werfen Schatten Hans-Jürgen Göhrung Kreischender Stahlstrang die zarte Mauerblume trotzt der Einsamkeit. Claus Hansson stille Post was wissen die Alten schon von Liebe warten … den ersten Flocken gebe ich Namen Gabriele Hartmann Volkslauf auf der Überholspur „Old Spice“ Martina Heinisch Meeresleuchten ein Stern fällt aus der Milchstraße Margareta Hih Winterlandschaft ein Nachtzug skizziert ihre Formen Gérard Krebs Scherbenmond – eben war da noch ein Traum Eva Limbach Gabriele Hartmann die Schmuckschatulle aus dem Pflegeheim … makellose Kastanien Martina Heinisch die hortensie, immer noch zitiert sie rilke im garten Norbert Kraas Sommer-Euphorie Schwalben ritzen Striche ins Himmelszelt Gérard Krebs Erntemond – ich betrachte die Linien in meinem Gesicht Eva Limbach 38 an den Leuchtturm gelehnt – suche die Grenze zwischen Himmel und Meer Eva Limbach Festgekettet am Fahrradständer der Rollator Birgit Lockheimer der alte Wachhunddas leise Rasseln seiner Träume Eleonore Nickolay Bettlägerig – zum Takt des Windes der Tanz der Bäume Eleonore Nickolay Niederschlag unter den Lidern das Ungesagte Angelica Seithe Stoppelfelder Wind wendet ihren letzten Brie Helga Stania Friedensgruppe mit Megafon ankämpfen gegen den leeren Platz Elisabeth Weber-Strobel Abendhimmel sie zögert ihr übliches Abschminken hinaus Klaus-Dieter Wirth Uferzone zwischen Reflexionen die Tiefe des Himmels Ramona Linke Saisonende – Zwischen den Pappeln wandern zwei Liegestühle Claudia Melchior das Knirschen unserer Schritte wohlan zum letzten Gang Eleonore Nickolay die wanderschuhe alt zum abfall geworfen kehren nachts zurück Theo Schmich Sommerdämmerung im Ofen Asche alter Feuer Angelica Seithe Regenbogen die Augen des Mädchens hängen am Smartphone Helga Stania handgeknüpft wie viele Kinderträume werden getreten … Elisabeth Weber-Strobel der Ruf des Hähers im Trichter des Pilzhuts ein Rest von Regen Klaus-Dieter Wirth 39 allein im kreuzgang für einen moment außerirdisch sein familienfeier vom partyzelt tropft regen in alte wunden Peter Wißmann Peter Wißmann bahnhofshotel das pulsieren der stadt sickert in den schlaf Peter Wißmann beim Rotwein fallen sie aus dem Rahmen die Bilder zuerst die Kameradschaft dann der Granatsplitter Ralf Bröker Haiga: Gabriele Hartmann 40 Claudius Gottstein Haibun Ordnung Sergei steigt aus dem Wagen. Er trägt einen langen Mantel und eine Fellmütze mit einem roten Stern vor der Stirn. In der Hand hält er einen dünnen Papierordner mit Staatswappen darauf. Auch tausend Kilometer südlich des Nordpols arbeitet die Verwaltung reibungslos. Nach einem kurzen Gespräch mit dem Kapitän dürfen wir an Land und haben die Erlaubnis, das ehemalige Kulturhaus zu betreten. Alle sind gespannt auf das sonst verschlossene Gebäude. Turnhalle, Film-und Theatersaal, Musik-und Ballettübungsräume sowie eine Bibliothek grenzen an die aufwendig gestaltete Eingangshalle. Jeder Raum, ob leer oder noch teilweise gefüllt, enthält eine dicke Staubschicht. Sergei bleibt unterdessen an Bord und erfreut sich ohne Mantel, Mütze und Papierordner an den Resten unseres ausgiebigen Frühstücksbuffets … Geräumtes Archiv Die Filmdiva vergilbt auf dem Tisch Grażyna Werner Haibun Garten der Kindheit Das Gras wächst üppig. Keine Spur des früheren Pfades. Bäume verdecken den Blick auf das Haus meiner Großeltern. Nach neunzehn Jahren erkenne ich kaum noch die einst vertraute Gegend. Die wuchernde Natur umarmt die alten Gemäuer, den Brunnen vor dem Eingang sehe ich nicht mehr. Hohe Brennnesseln, Holunder, wilde Obstbäume … Die kleinen gelben Pflaumen schmecken gut, der Saft weckt Erinnerungen … 41 die alte Hütte – Zweige des Walnussbaumes klopfen ans Fenster Eva Limbach Haibun Abendbrot Schwiegervater ist gekommen. Und Vater mit seiner neuen Lebensgefährtin. Sie alle haben als Kind noch den Krieg erlebt. Nach ein paar Gläsern Rotwein sind die alten Geschichten wieder präsent. Der nächtliche Bombenalarm, die ungewissen Stunden im Bunker, die Angst … Zeitzeugen, denen wir schon so oft zugehört haben. Wortlos verlässt du den Raum. windstille Nacht – niemand hört das Fallen der Novemberblätter. Helga Stania Haibun unter dem schutzwald weithin stille, einzig das hecheln des hundes, während wir auf grasbewachsenen wegen bergan steigen. grau, blattlos stehen die alten apfelbäume, vollbehangen mit prallen früchten. ich bin eingeladen, meinen rucksack zu füllen. wie Leben sich aus dem Nebel schält Aromen von Rot 42 Helga Stania Haibun kleines geständnis luzern empfängt mich mit hitze. touristen fotografieren. wie klar sich die berge abzeichnen an diesem spätsommertag. eine bekannte kommt mir entgegen. sie hakt sich unter: „komm mit ins café!“ auf der treppe ein wenig unsicher, steuert sie ihren lieblingstisch an und bestellt espresso. achtzig jahre die tiefe tagheller augen während unseres gesprächs ergreift sie meine hände und flüstert: „ich genieße das. man braucht ja so wenig … und wenn ich im wald spazieren gehe, dann singe ich.“ Silvia Kempen Haibun Herbstliebe Ein Duftpotpourri. Gebrannte Mandeln, Fischbrötchen, Bratwurst … Dazwischen Dosenwerfen, Losbuden, Fahrgeschäfte … auf den Rücken der Karussellpferde Oma und Opa Er hat sie hinauf geschoben. Ihr Lächeln – dankbar und liebevoll. Sein Bein mit einem Schwung – und er war neben ihr. Kerzengerade. 43 Ramona Linke Haibun Wolkenloser Himmel Noch immer auf der Anhöhe sitzend, betrachte ich die rotbraunen Dächer des Fischerdorfes, menschenleere Gassen. Weiße rechteckige Sonnenschirme überspannen den Freisitz des kleinen Restaurants neben der Kirche. Fast alle Fensterläden der hellen Häuschen sind geschlossen. Die Menschen hüten die Kühle in ihren Räumen. Eine leichte Brise weht vom Wasser her und bringt den Duft von Fischsuppe à la maison mit. Heiter verliere ich mich im Lichtspiel von Sonne, Wind und Meer. Den Bleistift anspitzen … wie skizziert man Glück Ruth Guggenmos-Walter Haibun Die Straße Es gibt ein Buswartehäuschen bei unserer psychiatrischen Klinik am Rand der Stadt. Inmitten ihrer Taschen und Tüten sitzt eine alte, bunt gekleidete Frau und strickt … Bei schlechtem Wetter ist sie immer dort. Wenn die Sonne warm scheint, hockt sie mit ihren Dingen auf der anderen Straßenseite im Gras. wegwarte – blau der ferne blau der straße 44 Ramona Linke und Horst Ludwig Annette Grewe und Gabriele Hartmann Tan-Renga Tan-Renga Kräutergartenweib, das Laub an unserm Wege verfärbt sich wieder. die Welt, die Zeit … am Ende aller Fragen ein Abonnement Der Berggipfel! – Die Tiefe spüren unter den Sohlen. der Blick wandert zum Fenster, folgt langen Regenspuren HL / RL GH / AG 45 Rüdiger Jung und Conrad Miesen Gabriele Hartmann und Brigitte ten Brink Submarines Ballett weiterschwimmen i. m. Günter Eich Rengay Seine Maulwürfe täglich neu gestriegelt – mit Whisky getauft Wo lernt man Igelworte? Natürlich unter Wasser 46 Rengay summa summarum dieser Tage vergaß ich zu lachen stets die gleiche Melodie auf der Gedankentonspur Glücklose Träumer Tintenfische – Sie warten auf den Engel Kreise ziehen entdecke einen zweiten Mond Die Eingabe ist verworfen – Was immer das heißt einsamer Wolf das graue Fell im Nacken verfilzt Seepferde gesattelt schwimmen gegen den Strom schneidender Wind Marilyns Rock „Mexiko! Mexiko!“ Einfach nicht aufzuhalten gegen den Strom mit gezogenem Stecker weiterschwimmen CM: 1, 3, 5 / RJ: 2, 4, 6 GH: 1, 3, 5 / BtB: 2, 4, 6 Eléonore Nickolay und Silvia Kempen Gabriele Hartmann und Brigitte ten Brink lauschen wir dem Lied sinnlos Rengay Rengay Teezeremonie die Blüte an ihrer Brust fesselt seinen Blick Traumpfade am Morgen verliert sich ihre Spur Kichern und dann knistern verwelkte Blätter im Händchen tief, ganz tief Felsritzungen irgendwo ein Blues zwei Freundinnen eingehakt zum Klassentreffen sich nähernd durch zerbröselnde Stille Hundegebell „Amsel“ – das Wort hat sie vergessen, doch lauschen wir dem Lied unterm Sichelmond – seinen glatten Worten lauschen vom Altenheim herüber Martinshorn mit Blaulicht sinnlos die Wolljacke gegen das Frösteln Hofgang in der Ferne Rauschen des Verkehrs Kafka am Strand aus dem Seetang gelesen Bernstein SK: 1, 3, 5 / EN: 2, 4, 6 BtB: 1, 3, 5 / GH: 2, 4, 6 47 Gabriele Hartmann und Silvia Kempen Schleier Doppel-Rengay 48 changierendes Grün sein eisiger Blick Herbstblätter sie färbt ihre Ballerinas mit Goldspray auf Zehenspitzen zum Kühlschrank … das letzte Stück wieder nicht zugehört! panaschierte Iris im Zwielicht sein eisiger Blick kiss the rain die letzten Akkorde Abendröte unendlich tief mit klammen Fingern Saiten aufziehen changierendes Grün der Fremde verliert ein Wort weißt du noch nach jeder Szene hagelte es Applaus durch das Zugfenster von den Lippen lesen schneeweiß: Gretel und der Teufel Bauernopfer die Favoritin bleibt zugeknöpft beim ersten Frost ihr Bauchtanz – für ihn ohne Schleier SK: 1, 3, 5 / GH: 2, 4, 6 GH: 1, 3, 5 / SK: 2, 4, 6 Claudia Brefeld und Martina Heinisch Europa – ohne Grenzen* Rengay-Zyklus – Teil IV (letzter Teil) Alpha und Omega Windmühlen Auf dem Areopag Der Wind flüstert „wir haben gesiegt“ Noche de San Juan all die vielen Sünden im Meer Pomeranzenduft im Schatten von Platanen Windmühlen - so weit das Auge reicht – La Mancha mit jedem Ouzo Alpha und Omega geraten ins Wanken an der Ruta Rosa Schinken suhlt sich unter Eichen Neumond kaufe Gummistiefel am Markusplatz 25 de Abril nach vierzig Jahren ihre Nelken verblasst Mitternacht – der Mongibello öffnet seinen Schlund Weinen im Publikum beim Fado zum Ursulinenkloster eine Stimme rockt um die Welt Cristo Rei schützend über Stadt und Land Ein Versprechen CB: 1, 3, 5 / MH: 2, 4, 6 MH: 1, 3, 5 / CB: 2, 4, 6 *Teil I: Deutschland, Schweiz und Österreich (SG 100) Teil II: Frankreich und BeNeLux, Großbritannien und Irland (SG 102) Teil III: Skandinavien, Polen und Tschechien (SG 104) Teil IV: Griechenland und Italien, Spanien und Portugal 49 Claudia Brefeld und Helga Stania Vier Renhai Der goldene Schnitt Frühling Pudels Kern der Zauberbann eines Pentagramms HS Spuren zerteilen das Land blühend im Goldenen Schnitt CB HS letztes Drittel der Himmel unvollendet CB Klippen Sommer 50 Druidenstein des Sonnenwendfeuers flackerndes Licht HS hineinstürzen ins tiefe Blau von der Klippe ein Schrei CB HS ägäische Winde das Segelschiff neigt sich zum Olymp CB Veränderung Herbst ein Schatten huscht vorbei – noch nah dein Lachen CB die Dame mit dem Hündchen zwischen Augenblick und Herbst HS CB verweht der Duft von Kürbissuppe und Elternhaus HS Bewegung Winter Eulenflügel … in kahlen Zweigen klirrt der Mond CB die Turmuhr schlägt Schnee stäubt vom Wasserspeier HS CB als sie den Impfstoff bringen nach Nome HS 51 Haiku und Tanka aus dem Internet Internet-Haiku-Kollektion von Claudia Brefeld, Eleonore Nickolay und Maren Schönfeld Aus der Werkstatt auf haiku.de und aus den Monatsauswahlen August, September und Oktober auf haiku-heute.de wurde folgende Auswahl (35 Haiku) für das SOMMERGRAS zusammengestellt: Im Krankenzimmer umringt von Teddybären der alte Mann Marita Bagdahn einen Blitz lang dachte ich: nimm auch einen Stein Gerd Börner breaking news irgendwas mit menschen Ralf Bröker Sommernacht ein Bagger gräbt den Traum um Simone K. Busch Sommerende … der Schatten des Reihers immer kleiner Cezar-Florian Ciobîca Schwerkraft … kein Wort das mich noch hält Gerda Förster beschwingt vor dem Premium Outlet Bettelglöckchenklang Simone K. Busch nur die glocke nimmt es heute auf mit den bergen Bernadette Duncan Trennung – der dunkle Raum zwischen den Sternen Gerda Förster Der Mond balanciert auf der Spitze des Berges … leise …nicht atmen Irene Friedrich-Preuß 52 Trennungsjahr – das Besuchen des Hundes Heike Gericke Schiffsreise Die Kabinenwand schnarcht Claudius Gottstein das einfache berghotel – mit tausend sternen Gérard Krebs Abendspaziergang – im Gegenlicht der Gruß des Fremden Tobias Krissel Mittsommer am Rande der Schatten Schmetterlinge Angelika Holweger Hexenschuss die Sterne um mich herum Gérard Krebs Mittagsruhe – im Blumentopf die Stille gießen. Tobias Krissel Sommerregen ihr Lachen ein Riss in den Wolken Tobias Krissel aus deinem Mund der fremde Klang meines Namens Eva Limbach reife Walnüsse im alten Baumhaus wohnt das Licht Ramona Linke Herbst – die Bäume geben uns den Himmel zurück. Michael Mintel Verlorene Münze bück mich nach einem Stück Mondlicht Rudi Pfaller Mondflucht … die Schrift des Windes auf dem Fluss Ramona Linke Besetzt. Ich verbinde mich mit dem Mond Claudia Melchior Sommerregen – in meinem Buch verliebt sich ein Paar Eleonore Nickolay starkregen einmal nichts sein als nass René Possél 53 Nachtbus – der Fahrer chauffiert eine Ladung Licht Gerd Romahn meine gedanken auf und davon mit den krähen Ehekrach: draußen küsst ein Schmetterling meine Dahlie! Kiki Suarez Schlafzimmer plötzlich existiere ich Dietmar Tauchner Jörg Schaffelhofer Nachtdienst zwischen drei und vier das Gewicht der Zeit Elisabeth Weber-Strobel Frühmesse – die Leere räuspert sich Friedrich Winzer Sattes Grün zwei Hunde modellieren eine Schafherde Friedrich Winzer regenwolkenwand im buswartehäuschen die fliege und ich Peter Wißmann Am späten Abend das Rotweinglas gefüllt mit Monolog. Birgit Zeller 54 Internet-Tanka-Kollektion von Claudia Brefeld, Eleonore Nickolay und Maren Schönfeld Aus dem Tanka-Online-Magazin „einunddreißig“ auf www.einunddreissig.net wurde folgende Auswahl für das SOMMERGRAS zusammengestellt: Vertieft in den Krimi und vor dem Fenster versinkt die heile Welt im Nebel Christa Beau an diesem Baum ging uns immer die Sonne in die Nacht voraus jetzt liegst du hier wie schlafend in einem engen Pappkarton Ralf Bröker unausweichlich das Zirpen der Zikaden im Abendwind kommen die Erinnerungen an den toten Bruder Silvia Kempen Ganz zu entschweben mit meiner Gartenschaukel – Der Himmel dreht sich und Sonnenblumen neigen sich über ein leeres Buch. Conrad Miesen angekommen in der neuen Wohnung – Großmutters Uhr, der Nierentisch und jene Angst vor einem Krieg Tony Böhle eine Kröte durchdringt den schwarzen Spiegel des Teichs – Mondscherben und das Klirren des Wassers Frank Dietrich In kühlem Winde wie das Tageslicht verfällt auf leeren Feldern die Schreie der Wildgänse einen aufblicken lassen Horst Ludwig auf dem Totenbett seine Schuhe ungeputzt an der Sohle noch das kleine Eichenblatt … ihr langer Spaziergang mit ihm für Tatjana A. und Peter Kurzeck Angelica Seithe 55 Wollgras Wer immer davonging – das Leben im Sommerwind leicht fliegt dahin Angelica Seithe Haiga: Margareta Hihn 56 Rezensionen Reinhard Dellbrügge Hink-stap-sprong Rezension Hink-stap-sprong. essays over haiku von Mark Meekers. Demer Uitgeverrij, Belgie. 2013. ISBN 978-1-291-13686-9. 100 Seiten. Der flämische Dichter (auch Haiku-Dichter) und Essayist Mark Meekers, der unter seinem bürgerlichen Namen Marcel Rademakers auch als bildender Künstler tätig ist, hat ein Buch über Haiku geschrieben. Es besteht aus neun Essays beziehungsweise Kapiteln, und sein Hauptthema ist die Qualität des niederländischsprachigen, besonders des flämischen Haiku im Vergleich mit der „normalen“ Dichtung. Warum genießt es nicht, so fragt sich der Autor, volle Anerkennung als eine Form moderner Poesie unter anderen? Beschäftigt es sich vielleicht zu sehr mit der Natur, mit Pflanzen, Tieren und den Jahreszeiten und weicht damit der modernen Lebenswelt aus? Oder ist es schlechterdings zu kurz? Arbeiten die Haiku-Dichter zu oft mit Klischees? Verfehlt das Haiku das Wesen moderner Poesie, die nach Meekers hermetisch und mehrdeutig und folglich metaphernreich ist? Sollte es nicht dem Individualismus und dem Ego mehr Raum geben? Ist es bereits ans Ende seiner Möglichkeiten gekommen? Die Liste der Fragen ließe sich problemlos verlängern. Freilich kommen in Meekers Buch auch Themen zur Sprache, die nicht oder nicht direkt auf die Maßstäbe moderner Poesie bezogen werden: die Geschichte der Öffnung Japans im neunzehnten Jahrhundert und die kulturellen Reaktionen darauf in Europa, der Geist des Haiku, das Jahreszeitenwort, Zen, Realismus, Einfachheit, Authentizität, das moderne Haiku, die Annäherung von Haiku und Senryu – um nur einige zu nennen. Meekers Abhandlung behandelt alle wichtigen Aspekte des Haiku und lässt viele Autoren mit sehr unterschiedlichen Auffassungen zu Wort kommen. Roter Faden und Hintergrund aber bleibt der Vergleich zwischen moderner Poesie und der angeblich hinterherhinkenden Haiku-Dichtung. Dabei bleiben die Maßstäbe moder57 ner Dichtkunst oftmals undeutlich und könnten nur durch eine Negation des Negativen, also der angeführten Haiku-Defizite, hypothetisch bestimmt werden, was aber auch nur manchmal möglich ist, da, von einigen zwar klaren, aber nicht sonderlich aufschlussreichen Mängeln wie etwa Biederkeit oder Klischeehaftigkeit abgesehen, der kritische Diskurs vieles in der Schwebe hält. Wie ist zum Beispiel die häufig anzutreffende Charakterisierung des Haiku als Naturgedicht zu bewerten? Meekers benutzt sie selber, lehnt sie an anderer Stelle als unzeitgemäß ab, relativiert sie, hebt sie als Möglichkeit hervor, die Entfremdung des modernen Menschen von der Erde etwas zu verringern, und erweitert sie, indem er kulturelle Gegebenheiten in den Naturbegriff einbezieht. Der Autor schreitet nicht dialektisch fort, sondern lässt verschiedene, zum Teil einander widersprechende Gesichtspunkte einfach unvermittelt nebeneinander bestehen. So baut er Spannungsfelder auf, die zu keiner Lösung der angehäuften Probleme führen. Ein Leser, der sich von dieser Abhandlung einigermaßen klare Ergebnisse versprochen hat, wird nach der Lektüre ratlos sein. Es sei noch die kleine Stichprobe erwähnt, die den neun Kapiteln des Buches beigefügt ist. Meekers hat 500 Haiku von 102 Autoren aus seinem Sprachraum auf die häufigsten benutzten Substantive, Adjektive und Verben sowie auf sprachliche Eigenheiten hin untersucht. Und er findet, wie zu erwarten, viel Konventionelles. Wenn Meekers auch vieles anspricht und dabei wenig klärt, so entwickelt er doch anregende Gedanken und Überlegungen, welche die Lektüre seines Buches lohnend machen – jedenfalls für einen Leser, der solche Anregungen zu schätzen weiß und ihnen den Vorzug gegenüber jenen eindeutigen und verbindlich sein wollenden Resultaten gibt, die sich, werden sie gewogen, als zu leicht erweisen. 58 Claudia Brefeld Durch Shikis Garten Rezension Durch Shikis Garten von Petra Lueken. Haiku einer Japanreise. Druckservice Spengler, Bruchköbel. 2014. 76 Seiten. Zu beziehen unter: [email protected] Als ich den Haiku-Band auspacke, halte ich ihn für einen Moment ein wenig ratlos in den Händen. Welche der beiden Seiten ist die Vorderseite? Es erinnert mich daran, dass wir ein japanisches Buch, trotz Wissen, doch eher intuitiv von der falschen Seite her öffnen. Bei diesem Gedanken muss ich lächeln und schlage die zuoberst liegende Seite auf. Ich muss es drehen, um dann auf der ersten Seite über die Gestaltung des Covers zu lesen: Foto (Kimono). Eine schöne Idee. Ich betrachte die Covergestaltung erneut: stilisierte Zweige auf schwarzem, leicht strukturierten Untergrund. So kostbar und geheimnisvoll der Umschlag, so gewichtig der Anlass des Inhalts: Eine Japan-Reise, die im Jahre 2002 von 12 Mitgliedern der Frankfurter Haiku-Gruppe anlässlich des 100. Todestages Masaoka Shikis (1867–1902) unternommen wurde. Und so wird der Leser auch gleich Kapitel für Kapitel mit auf die Reise zu den einzelnen Stationen genommen – er läuft und eilt mit, immer die Uhr im Auge behaltend, denn Unpünktlichkeit ist in Japan eine Unhöflichkeit; aber auch tiefe, besinnliche Momente lassen ihn innehalten und verweilen. 1. Nihon desu (Frankfurt-Tokyo) Zum Abschied scheint der Mond noch einen letzten Blick auf die Reisetruppe werfen zu wollen. Der volle Mond hangelt durch das Gestänge von Terminal 2 (S. 10) 2. Hände voll Kirschblüten (Kamakura) 3. Wie unsere Jungs (Tokyo) 59 Frühlingswind der Bambus raschelt an Shikis Grab (S. 29) 4. In Netzen gefangen (Im Shinkansen nach Kyoto) Kaum zu glauben, auf Hochhäuser üben Golfspieler. Am Meer in Netzen gefangen Golfspieler (S. 40) 5. Kinderglück (Kyoto) 6. Zanken im Friedenspark (Hiroshima) Mit dem Zeigefinger fährt das Kind im schwarzen Stein das Wort Frieden nach (S. 50) 7. Touristenflut (Miyajima) 8. Ein Kirschschössling (Matsuyama) Die Schwierigkeit, sich zurechtzufinden, und aus den fremden Zeichen Vertrautes zu entziffern, bleibt ein ständiger Begleiter. Die Schrift auf dem Rollbild fremd – vertraut die Chrysantheme (S. 62) 9. Fremdeln (Heimkehr) Am Ende bedarf es keiner weiteren Erläuterung. Ein Gepäck voll mit Erinnerungen und doch … Alles sicher nach Hause gebracht verloren daheim (S. 76) Jedes Haiku darf eine eigene Seite beanspruchen und wird zwischen60 durch skizzenhaft von informativen Texten begleitet – ein wirkliches Reisetagebuch mit wohltuendem Freiraum für den sich jeweils unaufdringlich entwickelnden Nachhall. So habe ich immer wieder das Buch zur Hand genommen und bin gedanklich für viele Augenblicke ein Reisebegleiter geworden – inzwischen weiß ich längst, dass die Seite mit dem Zweig und den roten Beeren die Vorderseite ist. Haiga: Ion Codrescu (Zeichnung) und Christa Beau (Haiku) 61 Rüdiger Jung Zauber eines Augenblicks. Zauber eines Augenblicks. Das Haiku im Wandel der Jahreszeiten von Regina F. Fischer. Literareon im Herbert Utz Verlag, München. 2009. ISBN 978-3-83161408-0. 76 Seiten. Eine dem Leben zugewandte, lebenserfahrene und sozial engagierte Autorin findet einen Anker für ihr lyrisches Schaffen im Haiku. Selbst Japan hat ihr − in Gestalt eines Briefes von Nobuyuki Yuasa − dafür schon Anerkennung gezollt. Ein geschulter Blick für das Wesentliche nimmt wahr, was bleibt, was Bestand hat: Noch immer ihr Gedeck auf dem Esstisch (S. 20) Ihr leeres Zimmer mit den Weihnachtskeksen in der Dose (S. 43) Im Sakko des Toten klingelt sein Handy (S. 53) Das klassische japanische Haiku atmet Vergänglichkeit und einen leisen Hauch von Wehmut. Eine Wehmut, in der Regina F. Fischer keineswegs stecken bleibt. Ihre Verse haben Transzendenz, die Amsel wird zum Signet der Auferstehung: Zwiesprache am Grab – in den Wipfeln der Gesang der Amsel (S. 17) Der Blick in die Natur legt Kräfte der Resilienz, der Überwindung frei: Eis in den Kaskadenschalen – Vögel trinken Schnee 62 (S. 43) Nach Orkanböen in der Nacht wieder die Amsel (S. 13) Es mutet an wie ein Gruß an Kobayashi Issa, wenn Regina Franziska Fischer sich sogar in eine Schnecke einfühlen kann: Am Salatherz nagen bis zum Morgensonnenschein (S. 28) Hut ab vor der Autorin, die auch eine schwere Lebenskrise in Form einer Krebserkrankung gemeistert hat und davon u. a. in dem Haibun „Advenire“ (S. 57ff) Zeugnis ablegt, wo eine unverhofft hilfreiche und aufbauende Begegnung in dem Haiku kulminiert: In der Dunkelheit – eine Stimme mit Flügeln (S. 58) Unter den Haibun gilt ansonsten meine größte Zuneigung dem (verfrühten) „Aprilwetter“ (S. 60f), wo ein „größerer Junge“ es sich auch von den „Märzgraupeln“ nicht nehmen lässt, „eine mittlere Eistüte“ zu erwerben, um sie genüsslich zu schlecken. Claudius Gottstein Shirley – Visionen der Realität Filmhinweis Der Maler Edward Hopper in 13 Bildern „Shirley – Visionen der Realität“ – Österreich 2013 Regie, Buch: Gustav Deutsch; Darsteller: Stephanie Cumming, Christoph Bach, Florentin Groll, Elfriede Irrall, Tom Hanslmaier; Länge: 93 Minuten; Kinostart: 18. September 2014Ein Haiku zeigt uns in seiner Kürze und Schlichtheit ein gegenwärtiges Bild der Realität. In seinem Nachhall eröffnet uns ein gelungenes Haiku einen tiefgründigen 63 Blick auf die dargestellte Situation. Wie oft produziert das Bild des Haiku eine Erinnerung an die eigene Vergangenheit? Wie oft versuchen wir eine Projektion des Beschriebenen in die Zukunft? Ähnliche Fragen und Empfindungen kann ein Gemälde auslösen, wenn es eine Alltagssituation zeigt. Der amerikanische Maler Edward Hopper hat auf seine eigene realistische Weise den American Way of Life eingefangen. Ein leeres Zimmer, ein Raum mit zwei Personen oder eine Hotellobby sind, neben seinem berühmtesten Werk Nighthawks (Nachschwärmer, 1942), nur einige Beispiele seiner Arbeit. Der österreichische Filmemacher Gustav Deutsch hat sich 13 Gemälden von Edward Hopper angenommen und versucht, ein mögliches Davor und/oder ein Danach aufzuzeigen. In dreizehn Episoden zeichnet er das Leben seiner Protagonistin Shirley von den 1930ern bis 1960ern nach. Jede Episode basiert auf einem Bild von Edward Hopper. Irgendwann im Laufe jeder Episode entsteht das Hoppersche Bild genau einmal auf der Leinwand. Folgende Bilder hat Gustav Deutsch für seinen bemerkenswerten Episodenfilm verwendet: Hotel Room (1931) Room in New York (1940) New York Movie (1939) Office at night (1940) Hotel Lobby (1943) Morning Sun (1952) Sunlight on Brownstones (1956) Western Motel (1957) Excursion into Philosophy (1959) A Woman in the Sun (1961) Intermission (1963) Sun in an Empty Room (1963) Chair Car (1965) 64 Klaus-Dieter Wirth FONTANA DI TREVI Rezension FONTANA DI TREVI – ein HAIKU Jahr von Ralph Günther Mohnnau. Alpha Literatur Verlag, Frankfurt am Main. 2014. ISBN 978-3-924510-74-1. 136 Seiten. Eine eigenwillige Neuerscheinung in vielerlei Hinsicht! Erstaunlich schon die Auflagenzahl 300, davon 50 signierte und mit Prägestempel versehene Vorzugsexemplare. Dann die Aufmachung, gedruckt auf Bütten-Vorsatzpapier, die Schrift gesetzt in Maiandra GD, im ungewöhnlichen Format 18 x 21 cm, also beinahe quadratisch, mit roter Kordelheftung, wobei die Seitenhöhe mit 14,5 cm von unten beginnt, um in zwölf Etappen mit der Abfolge in Monaten nach oben auf die volle Höhe anzuwachsen. Die so sichtbar werdenden Überstände sind durch verschiedene kräftige Farben, wie bereits die einzelnen Titelbuchstaben des Deckels, hervorgehoben. Ebenso auffällig treten einem die Haiku im Buchinneren entgegen, und zwar in unsystematisch bunter Reihung, allein oder bis zu dritt auf einer Seite, zudem durchgängig in Kleinschreibung. Gelegentlich variieren sogar die Schriftgrößen, und etliche Haiku werden aus ihrer Zeilenwaagerechten in eine leichte Schräglage gebracht. Es gibt keine Seitenzahlen. Die linke Blattseite bleibt jeweils frei. Als Grundeinteilung dienen die zwölf Monate, denen fünf bis neun Haiku zugeordnet werden. Insgesamt sind es 89. Die den einzelnen Monatsabschnitten vorangestellten Titel kommen weitgehend unmotiviert daher. So heißt es etwa als Ankündigung zum April: „frühmorgens am see“ oder zum Dezember „im gelben zwielicht gehe ich voran“. Dazu ist keinerlei Verbindung zu einem der Haiku erkennbar. Ebenso vermisst man meistens eine inhaltliche Korrespondenz zwischen den Monaten und ihren Haiku-Vertretern. Schließlich fehlt jede nachvollziehbare Linie innerhalb jedes Monatsbereichs selbst. Soweit der formal-systematische Tatbestand. Wer darin keine Konzeptionslosigkeit sehen möchte, mag diese Art der Präsentation – ganz aus der Gegenperspektive betrachtet – sogar im 65 Sinne einer Tour de force der Überraschungen besonders schätzen. Sei es, wie es sei, letztlich wichtiger ist natürlich die aussagemäßige Qualität der Haiku. Auch hier begegnet einem ein buntes Potpourri: Im Juni zum Beispiel heißt es hintereinander auf derselben Seite: manchmal besucht mich ein engel lässt seine flügel fallen – tanderadei der regenbogen wärst du ein falke sähst du hundert farben kreidekreise auf dem pflaster ringelstrümpfe hüpfen und hüpfen Dieses letzte Beispiel – ein unbestreitbar gelungenes – ist offensichtlich dem traditionellen 5-7-5-Silbenschema verpflichtet, zeigt kühne Zeilensprünge in direkter Aufnahme der locker lustigen Alltagsbeobachtung (kreidekreise – ringelstrümpfe) und konzentriert die Diktion geschickt auf das Wesentliche. Umso fragwürdiger erscheinen die beiden anderen! Auffallend ist der relativ große Anteil an Haiku aus dem menschlichen bis hin zum persönlich erotischen Bereich, ohne dass der Autor dabei je ins plump Provokative abgleitet: du über mir das reinste ikebana Selten liest man eher Banales, wie der ice hält die bremsen vereist – ich schäle eine banane (januar) (juli) Unhaikuhaft aphoristisch wirkt etwa: oder auch liebe sagt sie ist wie salzwasser trinken du trinkst und verdurstest (august) wer den abgrund liebt muss flügel haben oder einen schutzengel (oktober) Das Gros bewegt sich zum Glück betont flockig zwischen diesen Polen, stets einem neuen Sujet zugewandt. 66 wie doch der frühling alles öffnet: veilchen klee deine lippen auch (märz) blaue düfte – gibt’s die? ohja wie blauer wind blauer schatten blaue zeit (april) schief ihre zähne schief der hut – doch ihr lachen unverschämt gerade (april) Ein offenes Konzept, das – positiv gesehen – auf jeden Fall die Neugierde wachhält. In technischer Hinsicht stören zu oft unausgewogene Enjambements. Alles Dreizeiler, das wiederum ein Plus! Auch die große Spannbreite der Themen, die gleichsam unbefangen auf den Leser zustürzen, ihn zur Auseinandersetzung auffordern. Keine Normalkost! Ein Buch, das man kaum anders als in einem Zug lesen wird. Haiga: Simone K. Busch (Haiku) und Bea Bareis (Foto) 67 Mitteilungen Neuveröffentlichungen 1. Petra Lueken. Durch Shikis Garten. Druckservice Spengler, Bruchköbel. 2014. 76 Seiten. Zu beziehen unter: [email protected] 2. Gontran Peer: Neun bis vierzehn. Wiesenburg-Verlag, Schweinfurt. 2014. ISBN 3956321979 3. Stefan Wolfschütz (Hg.): Mitten ins Gesicht. Haiku aus dem Krieg 1914–1918. Junge französische Intellektuelle, mitten im Kriegsgefecht, verwendeten die ihnen kürzest mögliche Form – das Haiku, um das Unfassbare, grauenhafte Geschehen eines menschenverachtenden Krieges zu dokumentieren. Zusammenstellung der Sammlung: Dominique Chipot, Übersetzung: Klaus-Dieter Wirth. Hamburger Haiku-Verlag, Hamburg. 2014. ISBN 978-3-937257-754. 136 Seiten. 4. Rita Rosen: Eefeljold – Eifelgold. Haiku-Sammlung. Dialekt-Haiku im Eifeler Platt ins Hochdeutsche übertragen. Engelsdorfer Verlag, Leipzig. ISBN 978-3-95744-322-9. 78 Seiten. Sonstiges 1. Vorbei am Acker der Kindheit – Angelika Holweger liest Haiku und Haibun (von Angelika Holweger) Ein lange gehegter Wunsch geht nun doch unerwartet schnell in Erfüllung. Ich darf im Kloster Kirchberg, Berneuchener Haus, eine Lesung halten. Jener Freitag, 5. September 2014, wird mir lange in guter Erinnerung bleiben. Das Wetter ist unbeständig, deshalb wird die Veranstaltung kurzfristig nach drinnen in den Kapitelsaal verlegt. Wie gerne hätte ich im Stillen Garten gelesen. Doch ich kann mich sehr schnell mit dem hellen, freundlichen Raum anfreunden. Mein Sohn Ulrich, der meine Lyrik mit klassischem Gitarrenspiel umrahmt, ist von der Akustik 68 begeistert. Circa 40 Stühle stehen bereit. Und diese sind auch sehr schnell besetzt. Der Besucherstrom reißt nicht ab, der Hausmeister schleppt unzählige weitere Stühle herbei. Ich werde etwas nervös. Vor so vielen Leuten habe ich noch nie vorgetragen. Uli dagegen ist die Ruhe in Person. Die Stimmung ist wunderbar. Vor den Fenstern die Abendsonne in den Bäumen, hier im Raum eine wohltuende, aufmerksame Stille. Aus meinem neuen Buch „Vorbei am Acker der Kindheit“ trage ich sommerliche Haiku und Haibun vor. Zwischendurch die weichen Klänge der Gitarre. Meine Stimme wird immer ruhiger. Fast vergesse ich Raum und Zeit, bin ganz bei mir. Als Abschluss wähle ich nachfolgendes Haiku, das vom Klostergarten dort inspiriert ist. Mondesaufgang – der Klostergarten atmet alte Stille Danach lang anhaltender Applaus und ein regelrechtes Blitzlichtgewitter. Begeisterte Rückmeldungen, einige der Zuhörer erwerben mein Buch oder auch von meinen Kunstkarten. Dies wäre ja schon Lohn genug, doch wir bekommen noch je eine Flasche Klosterlikör überreicht. Diesen gelungen Abend feiere ich anschließend mit Freundinnen unterm alten Kastanienbaum neben dem Klosterladen. Dort steht schon Rotwein und Gebäck bereit. Zu später Stunde leuchtet uns der Mond dann heim. 2. Ausschreibung Haiku-Jahrbuch 2014 Für das Haiku-Jahrbuch 2014 werden die besten Haiku gesucht, die 2014 entweder geschrieben oder erstmals veröffentlicht wurden. Ausdrücklich sind Verse mit und ohne Einhaltung der bekannten 17 Silben, mit und ohne Jahreszeitenwort gleichermaßen erwünscht, gerne auch in Mundart (zur leichteren Beurteilung bitte mit Übersetzung ins Hochdeutsche). Senden Sie bitte Ihre besten Haiku des Jahres ein (maximal 50). Die Texte müssen keineswegs unveröffentlicht sein, Sie müssen aber über die Rechte verfügen. Auch Tan-Renga sind erwünscht. Längere Kettengedichte, Tanka oder Haiku-Prosa können leider nicht aufgenommen werden. Bitte fügen Sie noch ei69 nige Zeilen zu Ihrer Person hinzu, die, bearbeitet, ins Autorenverzeichnis aufgenommen werden können (Vor- und Nachname, Geburtsjahr, Wohnort, Tätigkeit, Sonstiges). Das Jahrbuch wird sowohl als Papierdruck als auch elektronisch in mehreren Formaten veröffentlicht. Freiexemplare des Papierdrucks können leider nicht verschickt werden. Jeder aufgenommene Autor erhält aber bei Bestellungen an die Adresse von Volker Friebel bzw. an Haiku heute einen Mitarbeiter-Rabatt und außerdem, soweit er eine E-Mail-Adresse angibt, kostenfrei eine elektronische Datei. Mit der Einsendung erklären Sie, dass Sie über die Rechte an den eingereichten Texten verfügen und mit dem kostenfreien Abdruck im Haiku-Jahrbuch 2014 (Papierdruck sowie E-Buch) unwiderruflich einverstanden sind. Alle weiteren Rechte bleiben bei Ihnen, Sie können über Ihre Texte also weiterhin frei verfügen. Einsendungen bitte an: Volker Friebel, Denzenbergstraße 29, 72074 Tübingen (Deutschland), vorzugsweise aber durch Versand an [email protected] und der Kennzeichnung „Für das Jahrbuch“. Die Einsendefrist endet am 15. Januar 2015. Benachrichtigungen erfolgen über www.Haiku-heute.de und über die E-Mail-Adressen der Einsender. Erratum SOMMERGRAS Nr. 106 Betrifft: Haibun von Elisabeth Weber-Strobel (Seite 75): Richtig muss die Überschrift lauten: Spurensuche im Lonetal Covergestaltung Das Cover dieser Ausgabe wurde von Angelika Holweger gestaltet (Jahrgang 1954, wohnt in Epfendorf-Trichtingen). Im Jahr 2000 wurde wenige Kilometer von Angelika Holwegers Heimatort entfernt eine private Kunstschule gegründet. Obwohl sie sich im Malen völlig unbegabt glaubte, belegte sie ein paar Schnuppertage, war fasziniert und blieb dabei. Über 10 Jahre nahm sie dort regelmäßig Unterricht. In dieser Zeit lernte sie neben unzähligen anderen Möglichkeiten den Linol- und Holzschnitt kennen. Diese Technik inspiriert sie am meisten. Die Feinheiten dazu lernte sie dann bei dem Künstler Frieder Preis auf verschiedenen Sommerakademie-Veranstaltungen. Seit einem Jahr beschäftigt sie die Darstel70 lung von Licht und Schatten, fotografiert sie auf Buchenstämmen. Ebenso auch von der Sonne beleuchtete Blätterkonstellationen. Aus dieser Serie wurde das Cover für das vorliegende SOMMERGRAS ausgewählt. Haiga: Ion Codrescu (Zeichnung) und Rüdiger Jung (Haiku) 71 Impressum Vierteljahresschrift der Deutschen Haiku-Gesellschaft 27. Jahrgang – Dezember 2014 – Nummer 107 Herausgeber: Vorstand der DHG Tel.: 040 / 460 95 479 E-Mail: [email protected] Redaktion: Claudia Brefeld, Maren Schönfeld, Eleonore Nickolay Titelillustration: Holzschnitt von Angelika Holweger Satz und Layout: Martina Sylvia Khamphasith Druck: Hamburger Haiku Verlag – Erika Wübbena E-Mail: [email protected] Vertrieb: Deutsche Haiku-Gesellschaft e.V. Georges Hartmann, Ober der Jagdwiese 3, 57629 Höchstenbach E-Mail: [email protected] Freie Mitarbeit erwünscht. Ihre Beiträge schicken Sie bitte per E-Mail an: Claudia Brefeld, Maren Schönfeld, Eleonore Nickolay [email protected] Post an: Silvia Kempen, Brückenweg 1, 26689 Apen Einsendeschluss für die Haiku- und Tanka-Auswahl Redaktionsschluss: 15. Januar 2014 25. Januar 2014 Jahresabonnement Inland (inkl. Porto) 25 € Jahresabonnement Ausland (inkl. Porto) 30 € Einzelheftbezug Inland/Ausland 6 € (zuzügl. Versandkosten) Auslandsversand nur auf dem Land-/Seeweg. Für Mitglieder der DHG ist der Bezug im Mitgliedsbeitrag enthalten. ISSN: 1863-088X © Alle Rechte bei den Autoren. Nachdruck nur mit Genehmigung des Herausgebers gestattet.
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