BSG-Krankengeld-Falle

BSG-Krankengeld-Falle
Diskussion zur Bundessozialgerichts-„Recht“sprechung im Forum von Report Mainz
Verfasser: Machts Sinn, 29.03.2015
Die Papageien-Rechtsprechung bröckelt - das Krankengeld-Recht sucht sich seinen Weg
geschrieben von: Machts Sinn ()
Datum: 29. März 2015 07:26
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Schon ist nicht mehr wichtig, weshalb der 5. Senat des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz seine Krankengeld-Rechtsprechung von Oktober / November 2014 unter der Decke hält aber klar, wieso
das Bundessozialgericht bei den 5 BSG-Krankengeld-Fallen-Entscheidungen vom 16.12.2014, beim Jahrespressegespräch vom 19.02.2015 sowie in den schriftlichen Fallen-Urteils-Begründungen bis Mitte März 2015 so unbekümmert war:
Das Bundessozialgericht ging offenbar davon aus, dass die Meuterei der Sozialgerichte Trier, Mainz und Speyer durch das Landessozialgericht Rheinland-Pfalz nieder geschlagen und mit der Lösung des einzig weiteren Abweichler-Problems aus der zweiten Instanz beim Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen unter den Krankengeld-Richtern wieder Ordnung hergestellt ist.
Irrtum!
Mit „Basta-Vorgaben“ lassen sich wohl viele Krankengeld-Sozialrichter beeindrucken. Immerhin war ihre Papageien- und Kopiervorlagen-Rechtsprechung bis vor zwei Jahren noch unumstritten. Inzwischen müsste aber auch
beim letzten Krankengeld-Sozialrichter angekommen sein, dass richterliche Unabhängigkeit auch Unabhängigkeit vom BSG und die Pflicht zur eigenständigen und selbstverantwortlichen Rechtsanwendung bedeutet
– also auch beinhaltet, BSG-Rechtsprechung auf – rechtliche – Schlüssigkeit zu hinterfragen statt – als Vorgabe –
blind zu kopieren.
Und tatsächlich, der interne Bereinigungsprozess geht - öffentlich - weiter. Die dezidierten Argumente liegen
– unverbraucht – auf dem Tisch und können trotz der „Machtworte aus Mainz und Kassel“ uneingeschränkt erneut
verwendet werden. Jedenfalls sind dem BSG – auch für Laien ersichtlich – keine Gegenargumente eingefallen. Seine bisherige Antwort ist nicht nur peinlich, sondern veranlasst zu näheren Untersuchungen – gerade auch weil
das Bundesgesundheitsministerium mit Antwortschreiben vom 24.03.2015 über den dort gestellten Antrag auf
Prüfung einer Nichtanwendungsregelung entsprechend dem aktuellen Beispiel aus dem Sozialministerium
kommentarlos hinweg gegangen ist. Das derzeit laufende Gesetzgebungsverfahren mit beabsichtigten Änderungen zum Krankengeld ist jedenfalls kein Hinderungsgrund, sondern setzt die vorherige Klärung der rechtlichen
Details voraus.
Unter solchen Umständen verwundert nicht, dass der Ton schärfer wird, wenn Teile der Basis erneut meutern und
auf ihrer richterlichen Unabhängigkeit beharren. Dagegen sind letztlich auch das BSG und das Gesundheitsministerium machtlos.
In welche Richtung die Entwicklung gehen wird, lassen aktuelle Entscheidungsgründe / Formulierungen erahnen
(auszugsweise Zitate):
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Sofern das BSG in seiner ständigen Rechtsprechung die Auffassung vertritt, … vermag die Kammer dem weiterhin nicht zu folgen. Auch die zuletzt noch am 16.12.2014 gefällten Urteile des 1. Senats des BSG, die zu den
sehr fundiert begründeten Urteilen des LSG Nordrhein-Westfalen vom 17.07.2014 ergangen sind, bieten keine
nachvollziehbare Begründung für die vom 1. Senat des BSG vertretene Auffassung.
Letztlich lässt der 1. Senat des BSG Ausnahmen von der bislang als „wortgetreu“ bezeichneten „Auslegung“ des §
46 Satz 1 Nr. 2 SGB V und des § 49 Abs. 1 Nr. 5 SGB V zu ( … ), ohne kenntlich zu machen, welchen Anknüpfungspunkt er im Normtext für das behauptete Erfordernis der weiteren „den Krankengeldanspruch erhaltenden“ Feststellung oder Meldung sieht.
Zuletzt hat der 1. Senat des BSG, der nach dem Geschäftsverteilungsplan seit dem 01.01.2015 nicht mehr für das
Krankengeldrecht zuständig ist, in mehreren Urteilen vom 16.12.2014 seine bisherige Rechtsauffassung noch einmal bekräftigt ( … ). In diesen Entscheidungen hatte er sich mit der Auffassung des 16. Senats des LSG NordrheinWestfalen auseinanderzusetzen, welcher dem BSG mit mehreren Entscheidungen entgegengetreten war ( … ). Die
nunmehr vorliegenden Entscheidungsgründe vermögen jedoch weiterhin nicht zu überzeugen.
Der 1. Senat wiederholt zunächst das … Erfordernis der eigenständigen Prüfung jedes Bewilligungsabschnitts. W arum hieraus aber folgen soll ( … ), dass für die Aufrechterhaltung des Anspruchs eine erneute ärztliche Feststellung
vor Ablauf des Bewilligungsabschnitts erforderlich sei, wird trotz der hiergegen mittlerweile zahlreich erhobenen Einwände ( … ) weiterhin nicht begründet.
Sofern der 1. Senat ausführt, es sei nicht Sache der KK, den Versicherten (…) auf die „besondere gesetzliche Regelung“ und „deren im Regelfall gravierende Folgen“ hinzuweisen; KKn seien nicht gehalten, Hinweise auf den „gesetzlich geregelten Zeitpunkt“ einer ggf erneut erforderlichen AU-Feststellung zu geben ( … ), ist dies durchaus
als unlauter zu bezeichnen. Es handelt sich erkennbar um den Versuch, eine gesetzliche Regelung zu suggerieren, ohne dass kenntlich gemacht wird, auf welche konkrete Norm hier Bezug genommen werden soll. Eine
solche gesetzliche Regelung über einen Zeitpunkt für die erneut erforderliche AU-Feststellung mit im Regelfall
gravierenden Folgen gibt es im SGB V nicht.
Sofern der 1. Senat hier auf § 46 Satz 1 Nr. 2 SGB V abstellen sollte, ergeben sich die „gravierenden Folgen“ de rzeit lediglich aus der dort vorgenommenen, denWortlaut überschreitenden „erweiternden Auslegung“ der
Norm. Eine rechtswissenschaftlich zulässige Methode, mit der das Vorgehen und die Ergebnisse des 1. Senats begründet werden könnten, lässt sich nicht ausmachen. Der Senat selbst legt nicht offen, ob und gegebenenfalls hinsichtlich welches im Gesetzestext enthaltenen Elementes eine Auslegung oder eine Analogie angenommen wird. Mangels konkreterer Ausführungen in den Entscheidungsgründen ist zu vermuten, dass er
den im Normtext enthaltenen Begriff „entsteht“ in dem Sinne „erweiternd auslegt“, dass hierunter auch die Bedeutung „besteht fort“ oder „entfällt nicht“ zu verstehen sei. Aus diesem Normverständnis leitet sich dann offenbar die
Annahme ab, dass der „Tag, der auf den Tag der ärztlichen Feststellung der Arbeitsunfähigkeit folgt“ nicht nur
ein Tag sei, sondern dass es immer wieder „Tage“ gebe, die auf „erneut erforderliche“ oder „nachfolgende“
ärztliche Feststellungen folgten.
Zunächst verbietet sich eine Auslegung zu Lasten der Versicherten schon im Hinblick auf die Auslegungsregel des § 2 Abs. 2 SGB I. Dieser bestimmt, dass die sozialen Rechte bei der Auslegung der Vorschriften des Sozia lgesetzbuchs und bei der Ausübung von Ermessen zu beachten sind; dabei ist sicherzustellen, dass die sozia len
Rechte möglichst weitgehend verwirklicht werden. Ein soziales Recht in diesem Sinne normiert § 4 Abs. 2 Satz 1
Nr. 2 SGB I, der u.a. festlegt, dass derjenige, der in der Sozialversicherung versichert ist, im Rahmen der gesetzl ichen Krankenversicherung ein Recht auf wirtschaftliche Sicherung bei Krankheit hat. Unter der Auslegung eines
Normtextes kann zulässigerweise aber ohnehin nur eine Interpretation verstanden werden, die sich innerhalb des
Rahmens der Bedeutungsmöglichkeiten (hier des Begriffes „entstehen“) bewegt. Der Wortlaut eines Gesetzes
steckt die äußersten Grenzen funktionell vertretbarer und verfassungsrechtlich zulässiger Sinnvarianten ab. Entscheidungen, die den Wortlaut einer Norm offensichtlich überspielen, sind unzulässig ( … ).
Eine „erweiternde“ Auslegung ist demgegenüber die erklärte Überschreitung der Wortlautgrenze. Eine solche
Rechtsanwendung kennzeichnet in Abgrenzung zur Auslegung eine (nur unter bestimmten Voraussetzungen zulä ssige) Analogiebildung.
Ohne dass der 1. Senat dies ausdrücklich kenntlich macht, bildet er tatsächlich zu dem in § 46 Satz 1 Nr. 2 SGB V
geregelten Fall des „Entstehens“ des Anspruchs eine Analogie für den Fall des „Fortbestehens“. Denn in den Begriff des Entstehens kann erkennbar die Bedeutung „Fortbestehen“ nicht im Wege einer Auslegung „hineingedeutet“ werden, da ersterer Begriff immer auf einen Anfang/Beginn bezogen ist. Für eine analoge Anwendung des §
46 Satz 1 Nr. 2 SGB V auf eine fortbestehende Arbeitsunfähigkeit fehlt es aber nicht nur an einer planwidrigen Regelungslücke, sondern eine solche Analogie zu Lasten der Versicherten verbietet sich auch in Ansehung des §
31 SGB I. Denn in § 31 SGB I ist normiert, dass Rechte und Pflichten in den Sozialleistungsbereichen dieses Gesetzbuchs nur begründet, festgestellt, geändert oder aufgehoben werden dürfen, soweit ein Gesetz es vorschreibt
oder zulässt.
Ohne auf die hierzu geäußerte Kritik einzugehen, fügt der 1. Senat des BSG gleichwohl weiterhin den
gesetzlich normierten Anspruchsvoraussetzungen über den Wortlaut des Gesetzes hinaus weitere Voraussetzungen (hier: erneute „fristgemäße“ ärztliche Feststellung im Falle des Fortbestehens) hinzu. Durch eine
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solche Rechtsanwendung wird der gesetzliche Anspruch auf Krankengeld aber entgegen § 31 SGB I ohne Anhalt
im Gesetz nur im Hinblick auf die Zweckmäßigkeit der selbst aufgestellten Kriterien verkürzt. Das Bedürfnis nach
Überprüfung bei jeder weiteren Bewilligung von Krankengeld vermag aber weder eine Analogiebildung zu Lasten
der Versicherten noch eine "Rechtsfortbildung contra legem" zu rechtfertigen ( … ).
Zu Recht hat das BSG in seinem Urteil vom 10.05.2012 ( … ) selbst darauf hingewiesen, dass nicht
ein richterrechtlich entwickelter Pflichtenkanon, sondern die gesetzlich geregelten Anforderungen für den Inhalt und die Voraussetzungen des Krankengeldanspruchs maßgeblich sind.
Die immer wieder gleichsam formelhaft angeführte Bezugnahme auf Sinn und Zweck und Regelungszusamme nhang vermag eine Begründung für die Verkürzung des gesetzlich eingeräumten Krankengeldanspruchs
nicht zu ersetzen. Denn – ohne dass der 1. Senat angibt, was genau seiner Ansicht nach Sinn und Zweck der
Vorschriften zum Krankengeld ausmacht -, kann ausgeschlossen werden, dass deren Sinn und Zweck darin
bestehen, Krankengeldzahlungen an erkrankte Versicherte so frühzeitig wie möglich zu unterbinden.
Die Behauptung, die Funktion des Krankengeldes sei ein „regelhaft kürzere Zeiten“ überbrückender Ersatz für
krankheitsbedingt entfallenden Lohn oder sonstiges Erwerbseinkommen ( … ), ist mit der insofern recht klaren
Regelung des § 48 SGB V nicht zu vereinbaren. § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB V lautet: „Versicherte erhalten Krankengeld ohne zeitliche Begrenzung, für den Fall der Arbeitsunfähigkeit wegen derselben Krankheit jedoch für
längstens achtundsiebzig Wochen innerhalb von je drei Jahren …“. Sinn und Zweck der Regelung dürften darin bestehen, Versicherten einen Anspruch auf Krankengeld zu gewähren, solange sie arbeitsunfähig erkrankt sind („ohne zeitliche Begrenzung“, aber „längstens achtundsiebzig Wochen innerhalb von je drei Jahren“).
Letztlich behauptet der 1. Senat anlässlich der Revisionsentscheidungen über die Urteile des LSG NordrheinWestfalen vom 17.07.2014 ( … ), die Auffassung des LSG, die ärztliche AU-Feststellung habe nur für die Entstehung des Krg-Anspruchs Bedeutung, würde vom Gesetzeswortlaut des § 46 SGB V nicht getragen. … Dem muss
ausdrücklich widersprochen werden. Nimmt man den Wortlaut der benannten Norm zur Hand, zeigt sich, dass
dieser zunächst nichts anderes regelt, als den vom LSG Nordrhein-Westfalen zu Grunde gelegten Rechtssatz. § 46
Satz 1 SGB V lautet: … Dieser Wortlaut trägt daher ( … ) nicht nur die Auffassung, die ärztliche AU-Feststellung
habe für die Entstehung des Krg-Anspruchs Bedeutung, er entspricht ihr im Wesentlichen sogar wörtlich.
Dass die Feststellung „nur“ für die Entstehung Bedeutung habe, steht zwar nicht ausdrücklich im Text. Zu behaupten, der Wortlaut „trage“ diese Auffassung nicht, liegt jedoch neben der Sache. Denn jedenfalls regelt die Norm
zunächst einmal nichts weiteres, sondern „nur“ die Entstehung.
Daher ist auch der Befund unrichtig, dem SGB V lasse sich ein Rechtssatz nicht entnehmen, dass der Inhalt
ärztlicher AU-Feststellung (nur) für die Anspruchsentstehung, nicht aber für Fortbestehen oder Beendigung eines
Krg-Anspruchs bedeutsam sei, ein solcher sei ihm fremd. § 46 Satz 1 SGB V enthält eben diesen Rechtssatz für die
Anspruchsentstehung. Wenn der Gesetzgeber eine bestimmte Tatbestandsvoraussetzung für eine bestimmte
Rechtsfolge schafft, muss er nicht hinzufügen, für welche denkbaren Rechtsfolgen diese Tatbestandsvoraussetzung
nicht gelten soll.
Vielmehr lässt sich eine Regelung, die die Auffassung des 1. Senats zu tragen vermag, im SGB V nicht
ausmachen. Die Behauptung, im Gesetz seien den Versicherten zumutbare „Informationsverteilungslasten“ verankert, wird mit konkreten Normen nicht belegt. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass der 1.
Senat im Verlauf der beiden bislang veröffentlichten Entscheidungen von dem (nicht mitgeteilten) „Wortlaut“ des §
46 SGB V ( … ) auf eine „erforderliche ergänzende Auslegung des Gesetzes in diesem Sinne“ ( … ) und letztlich
dann auf die „aufgezeigten allgemeinen Grundsätze“ und die „jahrzehntelang bestehende, wertungskonsistente, in
sich stimmige höchstrichterliche Rechtsprechung“ ( … ) überleitet.
Die Behauptung, dass im SGB V nicht alle Beendigungstatbestände für den Krankengeldanspruch geregelt seien
und dies in der Vielgestaltigkeit der Möglichkeiten der Beendigung seinen Sachgrund habe, entbehrt jeder
Grundlage. Der 1. Senat des BSG unterstellt damit, dass es außerhalb des Gesetzes Rechtsgrundlagen für die Beendigung des Krankengeldanspruchs gibt. Diese Annahme verstößt jedoch sowohl gegen § 31 SGB I, nach dem
Rechte und Pflichten in den Sozialleistungsbereichen des Sozialgesetzbuches nur begründet, festgestellt, geändert
oder aufgehoben werden, soweit ein Gesetz es vorschreibt oder zulässt, als auch gegen das Gesetzesbindungsgebot aus Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 97 Abs. 1 GG.
Der Gesetzgeber hat Beendigungstatbestände für den Krankengeldbezug in den §§ 48 Abs. 1 S. 1, 50 Abs. 1 S. 1,
51 Abs. 3 S. 1 SGB V geregelt und im Übrigen angeordnet, dass Krankengeld - selbstverständlich solange die Anspruchsvoraussetzungen des § 44 SGB V vorliegen - ohne zeitliche Begrenzung gewährt wird (§ 48 Abs. 1 S. 1
SGB V). Dass keine weiteren Beendigungstatbestände geregelt sind, bedeutet, dass es keine weiteren
gibt. Wäre der Argumentationsansatz des 1. Senats des BSG zutreffend, könnten Verwaltungen und Gerichte bei allen Sozialleistungen nach eigenem Gutdünken Beendigungstatbestände hinzufügen.
Damit dürfte ausreichende öffentliche Veranlassung bestehen, die BSG-„Basta-Vorgabe“ zur „BSGKrankengeld-Fallen-Anwendung“ vor dem Hintergrund des § 339 StGB Rechtsbeugung näher zu betrachten.