Ätzende Eiskristalle

Ätzende Eiskristalle
Wie das Ozonloch entsteht und warum es nicht am Nordpol auftritt / Von Hans Schuh
Seit der Entdeckung des „Ozonlochs“ über der Antarktis im
Jahre 1985 rätseln Wissenschaftler, wie dieses Phänomen
letztlich zu erklären sei und warum zum Beispiel der Ozonabbau am Südpol so ausgeprägt ist und am Nordpol nicht.
Amerikanische Wissenschaftler glauben nun, eine Theorie
gefunden zu haben, mit der sich die bisherigen Beobachtungen und jüngsten Messungen in der Antarktis unter einen
Hut bringen lassen. Vor allem zwei Faktoren sind offenbar
wichtig für die Entstehung des Ozonlochs in jedem antarktischen Frühling, das heißt in den Monaten September und
Oktober: Erstens herrschen zu dieser Zeit infolge der winterlichen Abkühlung extrem niedrige Temperaturen von etwa
minus 85 Grad Celsius in der Stratosphäre. Hier, in etwa 20
Kilometer Höhe, kommt das Ozon vorwiegend vor. Zweitens
bildet sich zu dieser Zeit am Südpol ein gigantischer, wochenlang andauernder Wirbel, dessen gewaltige innere
Luftmassen von einem Gasaustausch mit anderen Teilen der
Atmosphäre abgeschirmt werden.
Während normalerweise ein abgeschlossener, tiefgekühlter
Raum hervorragend konserviert, weil chemische Zersetzungsprozesse buchstäblich „eingefroren werden“, wirkt sich
in der Antarktis paradoxerweise gerade die extreme Kälte
fatal auf die Ozonzersetzung aus. Satellitenbeobachtungen
zeigen, dass bei diesen Temperaturen in der ansonsten sehr
wasserarmen Stratosphäre winzige Eiskristalle entstehen.
Diese Kristalle üben eine geradezu magische Anziehungskraft aus auf zwei Umweltgifte, die gewöhnlich in dieser
Höhe kaum eine Rolle spielen, nämlich auf Salzsäure (HCl)
und Stickoxide (NOx). Die Affinität dieser Gase für Eis ist so
hoch, dass HCl und NOx bald fast völlig aus der Umgebung
verschwunden und zu 99 Prozent in den Eiskristallen konzentriert sind.
Dies bleibt nicht ohne Folgen: Die plötzlich eng in den Kristallen vereinten, ätzenden Umweltgifte treiben miteinander
Chemie; es entsteht unter anderem Chlorgas. Dieses grüngelbe Gas, dessen süßlich stechender Geruch jeder von Badeanstalten kennt, dampft aus den Eiskristallen ab – und
treibt in der Stratosphäre ein zerstörerisches Spiel mit dem
Ozon.
Ähnlich wie der Katalysator im Autoauspuff die weitere
Zersetzung energiereicher und chemisch aggressiver Verbrennungsprodukte beschleunigt, so fördert auch das Chlor
als Katalysator die Umwandlung des energiereichen und
chemisch aggressiven Ozons (O3) in eine harmlosere und
stabilere Form, nämlich Sauerstoff (O2; im Gegensatz zu
Sauerstoff und vielen anderen Gasen in der Luft, schluckt
Ozon einen bestimmten, für viele Lebewesen gefährlichen
Ultraviolettanteil des Sonnenlichts). Das Endergebnis einer
relativ langen Kette chemischer Reaktionen: aus jeweils zwei
O3-Molekülen entstehen drei stabile O2-Moleküle, und das
Chlor geht unverändert aus diesem Prozess wieder hervor,
kann also weiter Ozon abbauen. Ähnlich wie der Katalysator
im Auto, der erst angewärmt werden muss bis er „anspringt“,
braucht auch das Chlor eine Energiezufuhr, um als Katalysator zu wirken. „Angeschaltet“ wird es durch das schwache Licht des beginnenden Polarfrühlings, das von dem
grüngelben Gas intensiv absorbiert wird. Das Cl2-Molekül
spaltet sich dadurch in zwei Cl-Atome oder Radikale. Diese
machen ihrem Namen alle Ehre und greifen radikal das Ozon
an, indem sie ihm eines seiner drei Sauerstoffatome entreißen. Hierbei entstehen Chloroxid-Radikale (ClO). Sie sind
im Ozonloch direkt nachweisbar, insbesondere dort, wo der
Abbau am stärksten vorangeschritten ist. Dies und andere
Messergebnisse, die die neue Theorie entscheidend stützen,
sollen in den kommenden Wochen in Fachzeitschriften veröffentlicht werden.
Da es über dem Nordpol und in der übrigen Stratosphäre
keine so extrem niedrigen, zur Eiskristallbildung führenden
Temperaturen gibt und auch keine lang andauernden Luftwirbel den Gasaustausch verhindern, bleibt das Ozonloch
eine Spezialität der Antarktis. Da gerade die Salzsäure in den
letzten zehn Jahren in der ganzen Stratosphäre zugenommen
hat, erscheint damit auch der verschärfte Ozonabbau in
jüngster Zeit plausibel. Die Salzsäure stammt zu einem wesentlichen Teil von den Treibgasen, die sich bei ihrem langsamen Aufstieg in die oberen Luftschichten über den ganzen
Globus gleichmäßig verteilen und dann von energiereicher
Strahlung unter anderem zu dieser Säure zersetzt werden.
Dennoch besteht kein Anlass zur Entwarnung. Steven Wofsy
sieht vor allem zwei mögliche Gefahren für die Zukunft:
Wenn das Ozonloch wie bisher weiter wächst und vor allem
der Luftwirbel alljährlich noch länger bestehen bleibt, dann
nimmt die energiereiche Ultraviolettbestrahlung am Südpol
drastisch zu (unter anderem weil im November oder gar
Dezember der Sonnenstand wesentlich höher ist). Die Strahlung könnte dann durchaus Werte wie in den Tropen erreichen. Niemand übersieht bisher die möglichen Konsequenzen. Aber es ist sehr wohl denkbar, daß schwerwiegende
Folgen für das empfindliche antarktische Ökosystem auftreten, etwa wenn ultraviolettempfindliche Algen oder andere
Bestandteile der Nahrungskette beeinträchtigt oder gar zerstört werden. Falls der bisherige Entwicklungstrend andauert, ist etwa bis zum 30. Breitengrad, also in großen Teilen
Chiles, Argentiniens, Australiens oder in ganz Neuseeland
mit gesteigerter hochenergetischer UV-Strahlung zu rechnen.
Eine überwiegend auf der nördlichen Halbkugel verursachte
chemische Umweltverschmutzung könnte dann vielen Bewohnern der südlichen Hemisphäre eine Strahlenbelastung
bescheren, die langfristig jene von Tschernobyl in den Schatten stellt.
DIE ZEIT vom 25.8.1989
Aufgaben:
1.
2.
3.
4.
Welche Faktoren beeinflussen die Entstehung und die Größe des Ozonlochs? Wo entsteht es vorzugsweise und warum ist
seine Entstehung an anderen Orten nicht so einfach möglich?
Welche Wirkungen hat das Ozonloch?
Wie wird die Entstehung des Ozonlochs chemisch erklärt? Nenne die beteiligten Stoffe und beschreibe mit eigenen Worten,
welche Reaktionen ablaufen.
Wieso wird einerseits über zu wenig Ozon, andererseits über zu viel Ozon geklagt? Erkläre diesen scheinbaren Widerspruch!