CREATE PDF, 4,1 MB

32
create
Das System 180-Magazin für urbanes Leben, Design
Systeme
Was sie belastbar macht
Die Kunst der Inszenierung
Wie Räume zu Erlebnisräumen werden
www.system180.com
Farbe: Emotion und Wirkung
Tempelhof: Lifestyle trifft Baudenkmal
und Architektur
01/2014
startup.net
System 180 ist Mitglied im
Impressum
Herausgeber: System 180 GmbH, Kärntener Straße 21, D-10827 Berlin, T: +49 30 788 58 41, F: +49 30 787 09 160
Chefredaktion: Volker Maier (verantwortlich i. S. d. P.)
Gestaltung/Layout: Marit Roloff
Redaktion: Rainer Janicki, Elke Jakubowski (Schlussredaktion)
Druck: BUD – Brandenburgische Universitätsdruckerei und Verlagsgesellschaft Potsdam mbH
© System 180 GmbH, Berlin
Editorial
Volker Maier,
Chefredakteur create
Das Ganze im Blick
Liebe Leserinnen und Leser, »Never change a running system!«
lautet der Rat, den wir gerne mantraartig proklamieren, wenn eine
komplexe Aufgabe – oft mit erheblichen Anstrengungen – zum Erfolg geführt wurde und wir diesen Zustand gerne dauerhaft konservieren wollen.
Das grundlegende Problem dieser Formel ist, dass sie voraussetzt,
Systeme seien zwangsläufig stabil und nicht – wie leider oft der
Fall – sensibel und störanfällig gegenüber vielfältigen Faktoren von
innen und aussen. Aber nur ständige Kontrolle und gegebenen­falls
Anpassung eines Systems an seine beeinflussenden Rahmen­
bedingungen macht es überlebensfähig und damit erfolgreich.
Eine dauerhafte Herausforderung für alle, die ein System am
Laufen halten wollen.
Mit der vorliegenden Ausgabe von create laden wir Sie ein zu einem kleinen Exkurs in die Welt des systemischen Denkens und
des systematischen Handelns.
Unser Leitartikel räumt auf mit dem Mythos vom statischen System und hält ein Plädoyer für Reflexion, Offenheit und die Bereitschaft zur Weiterentwicklung.
Die systematische Auseinandersetzung mit dem Thema Einrichtung kann den Aspekt Farbe nicht ausklammern. Begleiten Sie
uns auf eine kleine Reise durch die Welt der Farbe, ihrer Bedeutung und Wirkung.
Die erfolgreiche Inszenierung von Räumen erfordert das harmonische Zusammenspiel von mehreren Subsystemen in einem großen Ganzen. Der Designer, Ausstellungsgestalter und Architekt,
Professor Jürg Steiner, gibt in einem Interview Einblicke in sein
Schaffen.
Auch die Eventbranche kommt ohne einen systemischen Ansatz
nicht aus. Damit sich die anspruchsvolle, internationale Modeszene in Berlin wohlfühlt, inszeniert sich die BREAD & BUTTER
zweimal im Jahr sehr erfolgreich im ehemaligen Flughafen Tempelhof.
Wir hoffen, dass Ihnen diese Ausgabe von create gefällt und wünschen gute Unterhaltung beim Lesen.
Ihr
create
Inhalt
Systeme
Faites vos jeux – im Spiel des Lebens
Ist die Welt und unser Leben in ihr Bestandteil vieler ineinandergreifender
Systeme, und wenn ja, sind wir ihnen ausgeliefert oder können wir sie
überlisten? Weshalb Anpassung auch Überlebenshilfe sein kann ...
Seite 6
© Getty Images
© DER SPIEGEL / Michael Bernhardi
Farbe
Die Welt zwischen Licht und Finsternis
»Bleiben wir dem Weiß verpflichtet oder umgeben wir uns mit Farbe?« scheint
nur auf den ersten Blick eine einfache Frage zu sein.
Was Farbe überhaupt ist und was sie vermag ...
Seite 14
Interview
Professor Jürg Steiner
Ob in Kirchen, Gefängnissen oder in Museen – seine Leidenschaft gilt der
Inszenierung von Räumen. Prof. Jürg Steiner gibt Einblick in sein Schaffen ...
© Jürg Steiner
Seite 24
BREAD & BUTTER 2013
Wenn Baudenkmal auf Lifestyle trifft
Was tun, wenn man am längsten Baudenkmal Europas nichts verändern darf,
der Flughafen Tempelhof aber gleichzeitig zur idealen Location der Modemesse
BREAD & BUTTER werden soll? Wie System 180 mit Bravour eine Sommerund Winterlösung fand ...
© BREAD & BUTTER
Seite 32
Foto: © Getty Images
xxx
xxx
Über die Berechenbarkeit von Systemen
Faites vos jeux –
im Spiel des Lebens
D
as Drehen des Kessels wirkt fast schon
hypnotisch. Dann kommt das Klackern
und Rauschen der Kugel … jedes Stolpern über die Rauten quittieren die Nerven mit
maximaler Anspannung … warten … warten …
warten – vielleicht schwarz? Vielleicht rot? Die
Zahl, das Feld? Der ganz große Gewinn?
Die Kugel schert sich einen Dreck darum und
macht was sie will. Dabei war das System so
todsicher geglaubt, sah alles ganz einfach aus:
Alle Einzelheiten bekannt, die Vorgänge auch.
So erklärt man ein System. Und wer das System
kennt, gehört automatisch zu den Gewinnern,
oder?
Das glauben die Menschen seit nahezu 300
Jahren und haben noch immer kein System gefunden, einen Roulettetisch zu ihren Gunsten zu
nutzen. Zumindest keines, das nicht unmittelbar
mit Hausverbot geahndet wurde oder direkt ins
Gefängnis geführt hat. Ausnahmen bestätigen
zwar die Regel, doch üblicherweise gewinnt der,
der das Casino betreibt. Denn am Black-JackTisch nebenan sieht’s nicht anders aus.
Scheitelpunkt der Gaußschen Normalverteilung
befindet? Ob seine abstruse Steuererklärung angenommen wird oder vielleicht doch eine saftige
Nachforderung droht?
Anders ausgedrückt: Auch wenn sich Systeme
mitunter gut berechnen lassen, gehört man
trotzdem entweder zu den Gewinnern oder
Verlierern – und das reduziert die Möglichkeiten ganz drastisch auf eine
50:50-Chance.
Auch beim Steuersystem
Wer das System kennt,
hapert es zuweilen mit der
gehört automatisch zu den
Wer sich aber auch damit
List: Vom Grundgedanken
Gewinnern, oder?
wagemutig arrangiert, sieht
her klar strukturiert, einfach
sich möglicherweise und
zu durchschauen und demurplötzlich mit einem schwarzen Schwan konnach ebenso einfach zu überwinden – denkt
frontiert – einem statistischen Ausreisser, der
sich zumindest der Normalverbraucher. Wohin
wohlweislich definiert ist, um das ganze System
die Kugel fällt, ist hier allerdings eine Frage der
nicht kollabieren zu lassen.
Kontrolle, eine statistische Größe, die zwar beruhigend, aber andererseits auch irritierend ist.
Das entspricht in etwa der Qualität eines MauDenn Statistik sagt nichts über aktuelle Realitärers, der rundheraus behauptet, seine Mauer
ten aus: Wer weiß schon, ob er sich gerade im
könnte auch ebensogut einstürzen, statt ein
auf- oder absteigenden Bereich oder sogar im
8
Haus, eine Brücke oder was auch immer zu
tragen. Das alarmiert natürlich die An- und
Bewohner, die zahlreiche Vorsorge- und Rettungsmaßnahmen einleiten, womit wir uns vom
Roulettetisch über den Bau- zum Bankensektor
bewegt haben.
Casino Royal
Der Finanzsektor ist allerdings – man ahnt es
schon – sakrosankt oder besser: systemrelevant vor dem Kollaps per Definition durch das
übergeordnete System geschützt. Schwarze
Schwäne sind dort nur graue Theorie. Im richtigen Leben aber, im Casino Royal, sind statistische Ausreisser mit ungeheuer zerstörerischer
Kraft die bittere Realität. Deswegen gehen Casinozocker auch öfter mal zu Fuß nach Hause,
Volkswirtschaften pleite und Oma ihr klein Häuschen flöten …
xxx
Schöpfung, die Dinge, die wir geschaffen haben, auch beherrschen? Oder entwickeln Systeme ein Eigenleben? Letzteres trifft zumindest öfter auf Computer
zu. Auch beim Recycling
Entwickeln Systeme
stehen wir angesichts
W ie aber funktionieren
ein Eigenleben?
ganzer Batterien unterdie ganzen Systeme
schiedlicher Mülltonnen
um uns herum? Gesellimmer wieder vor neuen Herausforderungen.
schaftssysteme, die freie Marktwirtschaft, TaTarifsysteme des öffentlichen Nahverkehrs
rif- und Einrichtungssysteme, Recycling-, und
verstehen wir in aller Regel schon gleich gar
Computersysteme? Können wir, die Krone der
nicht. Mit Einrichtungssystemen machen wir,
was wir wollen. Gesellschaftsysteme sind nur
soweit tauglich wie unsere Ideen davon, deren
Realisierung wir täglich überprüfen können. Ist
das Anarchie? Oder liefern wir den Systemen
damit kontinuierlich neuen Input, an dem diese
sich messen (und auch scheitern) können?
Systeme haben immanente Regeln, an die sie
sich per Definition mit stoischer Gelassenheit
halten: Aktion A hat Reaktion B zur Folge. Das
ist allerdings eine rein mechanische Sicht, die
9
Rien ne va plus
Ein System, sagt der Brockhaus, ist ein ganz­
heitlicher, regelhaft strukturierter Zusammenhang von Einzelheiten, Dingen oder Vorgängen.
Kennen wir die Einzelheiten und die Regeln,
können wir das System erklären.
© Getty Images
Können Systeme
kreativ sein?
Sind wir also einfach nur nicht in der Lage, die
zum Beispiel die Humanmedizin seit JahrhunPerspektive zu wechseln? Oder fehlt uns die
derten versucht zu etablieren. Anderslautende
Zeit, um WahrscheinlichAnsichten wurden auf
keiten abzuwarten und
den Scheiterhaufen der
Sind wir einfach nicht in
d a v o n z u p ro f i t i e re n ?
Geschichte verbrannt.
der Lage, die Perspektive
Oder ist unser PerspekWer in dem Ganzen
zu wechseln?
tivwechsel für diejeniaber mehr sieht als die
gen, die sich im System
Summe der Einzelteile,
bewegen, schlicht und ergreifend nicht nachhat es mit dynamischen Prozessen zu tun und
vollziehbar? Kurzum: Können Systeme kreativ
vor allem einer ganz anderen Perspektive, eisein?
ner Außenansicht nämlich.
Seit Kopernikus wissen wir demnach, dass
die Erde doch keine Scheibe ist und weiß
Gott nicht im Zentrum des Universums steht.
Warum? Weil Kopernikus gewohnte Wege verlassen, eine neue Perspektive gesucht hat. Eine
Außen­ansicht. Auch Einstein hat sich bemüht,
die Dinge von außen zu betrachten und dabei
revolutionäre Erklärungen geliefert, die nach unserem Wissen erst einmal das Maß der Dinge
sind. So wie zuvor die Erklärung der Erde als
Mittelpunkt des Universums. Damit sind die
Dinge vorerst schön geordnet, systematisiert
und in ihren Dimensionen verankert. Bringt
uns diese Erkenntnis aber weiter, wenn wir mit
­unserem Müll ratlos im Wertstoffhof stehen?
© Edina Tokodi / mosstika.com
10
Das Auto ist ein System voller Systeme.
Dass sich die Fesseln ganz leicht sprengen
Präzise wie ein Uhrwerk, in dem jedes Rädlassen, zeigen ökologische Systeme, die nach
chen seine Funktion hat und mit anderen interDefinition gar keine Systeme sind, weil sie nicht
agiert. Entsprechenden Nachschub von Benzin
regelhaft strukturiert sind: Zufällige Mutationen
und Öl vorausgesetzt, verfolgt es ein mechaoder Störungen der Beziehungen untereinnisches Prinzip: Es fährt und fährt und fährt.
ander oder in der Umgebung können jederWas so allerdings nicht ganz richtig ist: Der
zeit zu neuen Regeln und Strukturen führen.
Motor ist es, der unentwegt läuft und d
­ adurch
Das hat schon etwas Anarchisches und lässt
etwas antreibt – oder einfach nur sinn­los Öl
sich tag­e in, tagaus vor der eigenen Haustür
und Benzin verbraucht. Egal. In jedem Fall
beobachten: zum Beispiel im frisch anges t e h t e r i n We c h s e l legten Komposthaufen,
wirkung mit mindestens
einem Mikrokosmos für
Fällt ein System aus, hat dies
einem anderen System,
Mikrosysteme, der sich
unweigerlich Konsequenzen für
das wiederum mit je­
– je nach Zutaten – ganz
alle anderen.
weils ganz anderen
anders entwickeln wird.
Systemen in Wechselwirkung steht und so weiter und so fort.
Rund um den Globus können wir beobachten,
Fällt eines davon aus, hat dies unweigerlich
wie unsere hochtechnisierte Welt einen vorKonsequenzen für alle anderen: Fallen dem
mals gemütlichen Lebensraum im Handum­
Fahrer, dem Menschsystem, zum Beispiel die
drehen in eine feindliche Todeszone verwanAugen zu, knallt das ganze Ding in die Leitdeln kann.
planke, was Entwickler dazu anspornt, auto­
© iStockphoto.com/RonfromYork
11
matische Fahrsysteme zu entwickeln. Setzen
sich Elektro­fahrzeuge durch, wird’s eng für
erdölexportierende Länder, die sich neue Einnahmequellen suchen müssen.
Wenn die anderen, die nach- oder übergeordneten, damit zusammenhängenden Systeme offene Systeme sind, werden sie mit Veränderungen umgehen können, einen Ausfall überleben.
12
»Alles wird gut!« – dachte sich auch
der Hamster in seinem Laufrad,
»wenn ich nur erstmal das Ende
der Leiter erreicht habe«.
Eine Wirtschafts- und Finanzkrise, in der jemand
alles verliert, ist seine persönliche Innenansicht,
ein schwarzer Schwan. Die Außensicht: In der
statistischen Gesamt­h eit entwickelt sich das
System weiter, baut Sicherungen ein, verändert
Bedeutungen, setzt neue Schwerpunkte.
optimistisch durch die, wie er meinte, beste aller denkbaren Welten stolpern ließ. »Alles wird
gut!« – dachte sich auch der Hamster in seinem Lauf­rad, »wenn ich nur erstmal das Ende
der Leiter erreicht habe«.
Die Frage ist: Wohin steuern Systeme? Gibt
es diese eine, alles dominierende Alpha-Idee?
Die beste aller denkbaren Welten
Oder wird das Ziel nicht vielmehr in jedem
Augenblick neu definiert, von Gesellschaften,
Für offene Systeme geht es also im Prinzip
Abhängigkeiten und (künstlichen) Intelligendarum, neue Regeln und Strukturen zu finden,
zen geprägt? Die Geschichte zeigt, dass Menauf zufällige Mutationen zu reagieren und sich
schen ab einem gewissen
dementsprechend weiterPunkt auch ganz anders
zuentwickeln bzw. neu zu
Wieder zurück, alles auf
agieren können …
organisieren. Lineare ProAnfang. Faites vos jeux!
gression und Routine?
Offene Systeme sind in
der Lage, Input zu verarbeiten, mit laufenden
Gesellschaften nehmen für sich gerne in AnVeränderungen umzugehen, kreativ zu sein –
spruch, Bewährtes zu bewahren, in Erinne­
also Dinge einbinden zu können und daraus
rungen zu schwelgen. Von der Natur wird
Neues zu schaffen – oder auch aussterben
das Prinzip aber nur müde belächelt, denn
zu lassen. So, wie unsere Spezies den auf­
Veränderung hätte dann keine Chance mehr.
rechten Gang, das Feuer, die Maschinen ent­
Das natürliche Prinzip ist eher ziemlich radikal:
wickelt hat und sich selbst – aller Voraussicht
Was nicht passt, wird modifiziert oder in einen
nach – wieder abwickeln wird. Das Universum
neuen Kontext gestellt – immer weiter, immer
wird trotzdem immer wei­ter expandieren – und
höher, immer schneller?
vermutlich eines Tages auf sich selbst zurückfallen, weil es eben doch nur die Form eines
Bewertungen sollte man dabei besser außen
riesigen Doughnuts hat, einer zirkularen Skala:
vor lassen. Das hat schon Voltaire erkannt, der
Wieder zurück, alles auf Anfang. Faites vos jeux!
seinen Candide im 18. Jahrhundert reichlich
Sofern man also nicht in einem statischen System lebt, muss man nicht umkehren, um an den
Ort der Überzeugung zurückzugelangen. Wir
drehen uns unablässig weiter, ohne Stillstand.
13
© Getty Images
Und trotz­d em bleibt dieser Ort stets in Sichtweite und erreichbar, liegt zugleich hinter und
vor uns!
Wussten Sie übrigens, dass System 180 viel
mehr als ein Einrichtungskonzept, nämlich ein
offenes Raumsystem ist, das Ihren persönlichen Regeln folgt? Ein Subsystem, das sich
in Ihr Umgebungssystem integriert, um als Teil
des Ganzen immer wieder an den Ursprung
zurückzukehren … Alles nur eine Frage der Per­
spektive und der richtigen Verbindung!
14
wollen, oder ist Farbe nicht auch ein Lebensbedürfnis des Menschen? Schauen wir uns also um in der Welt der Farben, ehe
wir neue Experimente wagen.
Farbe ist der Reichtum des Lebens ...
... und das Salz in der Lebenssuppe. Das gilt für Flora und Fauna,
wozu der Mensch sich als Krönung zählt, obwohl er eher farblos
daherkommt. Kein leuchtendes Fell, kein buntes Gefieder, keine
exotische Maserung, die ihm zur Verfügung stünde, um zu signalisieren: Ich bin interessant, oder wahlweise: Ich bin gefährlich! Was
© iStockphoto.com/fpm
M
ag sein, wir nutzen die Ruhe eines Urlaubs, beginnen
einen neuen Lebensabschnitt oder beginnen – einfach
so! – uns irgendwann ganz schlicht zu fragen, warum
wir eigentlich seit Jahren in ewig weißen Wänden leben, während das Leben doch ziemlich bunt daherkommt. Vielleicht
gerade deshalb? Weil wir den Rückzug in die Ruhe, in Reinheit und eine friedliche Atmosphäre brauchen. Oder die ersten
Farbexperimente mit flaschengrünen Wänden und schokoladenbraunen Fensterrahmen uns irgendwann gehörig auf die
Nerven gingen und wir in eine neue Uniformität flüchteten. Und
so hocken wir nun in ungestörter Neutralität, mal mehr, mal
weniger zufrieden. Dabei haben Viele die Freiheit der eigenen
vier Wände; kein Vermieter, der sie auf Farblosigkeit festnageln könnte. Was spricht also gegen: Ruder rum und »alles auf
Farbe«?
bei Fliegenpilzen, Wespen, Tigern oder Vögeln und Fischen zur
»Grün macht glücklich« verheißt die Headline eines Journals,
Grundausstattung gehört, steht uns nicht zur Verfügung. Neutral
das sich dem Bereich Wohnen, Lifestile und Ästhetik widmet.
und angepasst, wie wir Menschen daherkommen, scheint es eiAha ..., aber war es nicht unlängst Gelb? Oder Orange? Wer
gentlich in der Logik der Dinge, in Harmonie mit der Umwelt leben
sich aufmacht, die Farbe für sich zu entdecken, wird schnell
zu sollen und uns Farbe und Ausdruck
verzweifeln, wenn er auf seiner Suche
von außen in unser Leben zu holen. Zu
nach dem idealen Ton beginnt, in einWas bei Fliegenpilzen, Wespen,
keiner Zeit waren die Bedingungen dafür
schlägigen Gazetten zu blättern. Denn
Tigern oder Vögeln und Fischen zur
günstiger als heute, da wir sie nicht mehr
hier wird ein sich ständig wechselnder
Grundausstattung gehört, steht uns
aus Naturstoffen, Pflanzen, Ruß oder Blut
Zeitgeschmack zum Programm und
nicht zur Verfügung.
mühselig und teuer herstellen müssen.
hält ein System am Laufen, das aus
»schneller, bunter, in jedem Fall aber
Genau genommen aber existieren Farben gar nicht, sie sind ein
neuer« besteht. Das scheint nicht anders als bei den zahllosen
Produkt unserer Sinneswahrnehmung, die unser Sehsinn aus
Einrichtungstrends, die uns alle Jahre wieder neue Wege weider wahrgenommenen Schwingung und Energie des Lichts ersen. Ist das Leben mit Farbe also nur einer der üblichen Tricks,
zeugt.
eine Richtung, in die uns geschickte Marktstrategen lenken
Über die Wirkung von Farbe
DieWelt
zwischenLicht
undFinsternis
Farbstudie von System 180 für neue Dekore
16
© iStockphoto.com/manx_in_the_world
Farben wirken über drei
Ebenen auf uns ein: assoziativ,
symbolisch und physikalisch über
Schwingung und Energie.
Was macht die Farbe mit uns?
Die Lehre der Farben
Isaac Newton mit seinem Spektralfarbkreis gilt als eine Art Urvater der Farblehre. Er folgte der physikalischen Erkenntnis der
Lichtbrechung und fand dafür Anhänger und Epigonen, aber
auch Gegner wie Goethe, der seine eigene Farbenlehre entwickelte, der die wissenschaftliche Anerkennung jedoch versagt
blieb. Dennoch blieb er überzeugt, es sei eine Grenze notwendig,
um eine Farbe hervorzubringen und folgerte daraus seine Kernthese, dass die Farben generell zwischen Hellem und Dunklem,
respektive Licht und Finsternis entstehen.
© Gala-Salvador Dalí Foundation
Man kann ihr nicht entgehen, sie beeinflusst uns, ob wir wollen
oder nicht. Farben wirken über drei Ebenen auf uns ein: assoziativ,
symbolisch und physikalisch über Schwingung und Energie. Greifen wir uns die Farbe Rot als eine Art Urfarbe heraus, so assoziie-
ren wir mit ihr seit alters Blut, Feuer und Liebe, aber auch Gefahr.
Symbolisch wurde Rot zur Farbe des Mutes, der Kraft und des
Krieges, und auch Kirche und Politik bemächtigten sich ihrer. Bis
Ende des 19. Jahrhunderts trugen z. B. in Europa Soldaten rote
Röcke und Uniformen, Henker trugen Rot,
und bis heute gewanden sich oberste RichMan kann ihr nicht entgehen,
ter in rote Talare. Die physikalische Wirkung
sie beeinflusst uns – ob wir
der Farbe Rot polarisiert, sie aktiviert Kräfte,
wollen oder nicht.
verursacht aber auch nervöse Zustände.
Philipp Otto Runge, ein Zeitgenosse Goethes, entwickelte ein Farbsystem, das reichlich hundert Jahre später im Bauhaus auf
große Ankerkennung stieß, und von den
Malern Johannes Itten und Paul Klee aufgegriffen wurde. Johannes Itten beschäftigte
sich intensiver mit Runge, modulierte dessen Farbkugel und bezog in sein Modell die Komplementärfarben mit ein. Nachdem die
Maler des Bauhauses »die Farbe einmal für sich entdeckt hatten«,
blieben Itten und Klee dieser lebenslang in besonderer Weise verpflichtet, die Kunstwelt nimmt daran noch heute begeistert Anteil.
Generell wird zwischen kalten und warmen Farben unterschieden,
und natürlich werden auch den übrigen Farben Bedeutungen und
Wirkungen zugeschrieben, viele Farben haben ambivalente Wirkungen, wie am Beispiel Rot gezeigt. Nur wenige haben durchgängig positive Wirkungen wie etwa Gelb. Oder eben: Weiß ...
17
Linke Seite
oben:
Red-Blue-Chair
von Gerrit
Rietveld, 1917
Linke Seite
Mitte:
Sofa »Lips Of
Mae West« von
Salvadore Dalí,
1937
Rechts: Regal
System 180
18
© iStockphoto.com/Nikada
© iStockphoto.com/archimobil
19
Ein bewusst platziertes farbiges
Möbel vermag verblüffende
Effekte zu erzielen.
Mitunter gelingt der Coup, dass Farbe
»zum Design an sich«, zum unverkennbaren Identitäts-Code wird und durch Wiedererkennung jedes weitere Dekor oder Einzeldisziplinen wie Typographie nahezu auszuschalten vermag, wie es beispielsweise
in der Spektralfarben-Reihe des Suhrkamp Verlages der Fall ist.
Aber auch Post-Gelb, Telekom-Magenta, Milka-Lila oder NiveaBlau wissen ihre Erfolgsgeschichten zu erzählen.
Dass kalte Farben Distanz schaffen, beruhigend und kühlend wirken, ist ebenfalls als
gesicherte Erkenntnis zu nehmen – günstig
in heißen Landstrichen. Die empirische Feldforschung in blau
gestrichenen Schlafzimmern hat allerdings gezeigt, dass die in
ihnen schlummernden überarbeiteten Menschen auch alles Weitere vergaßen ... Grün wirkt erfrischend, steigert die Konzentration und dämpft die Angst. Macht also glücklich?
© DER SPIEGEL / Michael Bernhardi
Mitte: Treppenhaus in Paris
Rechts: die SPIEGEL-Kantine
von Verner Panton, 1969
Die Farbe im Wohnbereich
Auch hier herrscht eine verwirrende Vielfalt der Erkenntnisse, zumal auch Einflüsse aus anderen Kulturkreisen in den unseren einfließen, wie die wachsende Zahl der Feng-Shui-Anhänger zeigt.
Die Tücke liegt mitunter im Detail, denn Weiß z. B. ist auch hier
ein Symbol der Reinheit, aber im Gegensatz zu unserer PositivBelegung auch die Farbe der Trauer, weswegen sie in Asien im
Wohnbereich eher gemieden wird.
Fakt ist: Helle Farben weiten Räume, während dunkle sie einengen, aber auch Geborgenheit vermitteln können. Ob das auch
für Schwarz gilt, ist zu bezweifeln, und so wußte Goethe zu warnen: »Freunde, flieht die dunkle Kammer, wo man euch das Licht
verzwickt ...« Dennoch schien in der Phase der Farbexperimente
des Dessauer Bauhauses nichts tabu, und so gab es im Meisterhaus Muche-Schlemmer das Experiment »schwarzes Schlafzimmer«. Muche floh schon nach der ersten Nacht.
Warme Farben dagegen schaffen Nähe und eine anheimelnde
Atmosphäre. Sie wirken anregend und aktivierend – günstig in
kalten Landstrichen, denn die Raumtemperaturen werden um
einige Grad höher empfunden.
Die Suche nach dem idealen Ton ...
... gestaltet sich schwierig, soviel ist gewiss. Da das menschliche Auge bis zu 10 Millionen Farben zu unterscheiden vermag,
gibt es unzählige Varianten der Farbgestaltung. Materialien,
Texturen und Lichteinfall lassen ein und denselben Farbton in
unzähligen Schattierungen erscheinen. Sehr verwirrend, vor allem, wenn man dann noch versucht, die Bücher in den Regalen
und die Bilder an den Wänden ins neue Farbkonzept mit einzubeziehen. Ohne dem neuen Gestaltungsdrang ein farbliches
System zugrunde zu legen, erscheint ein befriedigendes Ergebnis eher dem Zufall überlassen.
20
Da erinnern wir uns lieber des Mottos »weniger ist mehr«,
lassen die Wände klassisch weiß und setzen stattdessen gekonnt farbige Akzente. Ein bewusst platziertes farbiges Möbel
vermag verblüffende Effekte zu erzielen und ist weit mehr als
»nur« Eyecatcher, was zahlreiche farbige Möbelklassiker beweisen.
Aber insgesamt gilt Gropius’ Motto von der »Lieblingsfarbe
bunt« für Möbelhersteller eher nicht. Deshalb sehen selbst
ausgewiesene Experten in der Entwicklung eines Farbkonzepts eine Herausforderung, da sie bislang 90 Prozent ihrer
Produkte in Schwarz oder Weiß verkaufen. Nur wenige stellen
sich der Herausforderung und entwickeln ein Farbkonzept.
System 180 hat sich 2013 dieser Aufgabe gestellt. In einem
mehrstufigen Auswahlverfahren wurden die neuen, farbigen Unidekore bestimmt. Sie bieten jetzt die Möglichkeit, im heimischen
oder gewerblichen Bereich Highlights oder Akzente zu setzen.
Das eröffnet ganz neue Optionen bei unserem Versuch,
Farbe in unser Leben zu holen. Jetzt müssen wir nur noch
anfangen ...
Foto: © LAGO - Air Sofa, design by Daniele Lago
»Die Farbe hat mich. Ich brauche nicht nach ihr zu haschen. Sie hat mich für immer.« Paul Klee
▲
21
System 180 stattet
media.net Lounge beim
animago 2013 aus
Das Medien-Netzwerk
media.net bot, gemeinsam
mit der ZukunftsAgenturBrandenburg (ZAB) und
Berlin Partner, regionalen
Firmen und Institutionen die
Möglichkeit, sich unter der
Überschrift »VFX & Animation
– Made in Berlin-Brandenburg« dem internationalen
Publikum zu präsentieren.
Zentrum der über 100 m2 großen und von System
180 ausgestatteten Lounge war ein u-förmiger BarCounter in Signalrot, der die Besucher zu Erfrischungen und Networking-Gesprächen einlud. An Stehtischen und gemütlichen Sitzgruppen konnten sich
potenzielle Partner und Kunden austauschen.
Bereits zum fünften Mal war der animago zu Gast in
Potsdam-Babelsberg. Die Teilnehmerzahl sowie das
positive Feedback von nationalen und internationalen Besuchern zeigen, dass sich die Veranstaltung
auf hohem Niveau etabliert hat.
Wir freuen uns über ein weiteres Medien-Highlight in
der Region und auf viele erfolgreiche Produktionen –
Made in Berlin-Brandenburg.
▲
Der animago AWARD & CONFERENCE ist die
wichtigste Networking-Plattform Deutschlands für
die ­digitale Medienproduktion. Mit rund 1.000 Besuchern, 40 hochkarätigen Referenten und elf glück­
lichen Gewinnern war auch die diesjährige Veran­
staltung ein voller Erfolg.
Table DT-Line mit einem
Focus Open in Silber
ausgezeichnet
Der Team-Steh-Arbeitstisch der DT-Line wurde
in einer Kooperation von System 180 mit der HPI
School of Design Thinking am Hasso-PlattnerInstitut Potsdam (D-School) speziell für die Design
Thinking-Methode entwickelt. Beim Internationalen
Designpreis Baden-Württemberg überzeugte der
einzigartige Tisch die Jury und wurde mit einem
Focus in Silber gekürt.
Mit seinen zwei Arbeitsflächen dient er Teams bis
zu sechs Personen als Kommunikationsort, Materiallager und Zentrum
für Zusammenarbeit. Die
Tische stehen auf Rollen,
sind leicht und stabil konzipiert, lassen sich einfach
bewegen und dadurch
vielseitig nutzen.
Ergänzt werden die
Tische der DT-Line durch
ebenfalls speziell ent­
wickelte, multifunktionale
Whiteboard-Raumteiler.
Die DT-Line Whiteboards
sind mobile Schreibtafeln,
Pinnwände und Wandschirme zugleich. Bei Nichtgebrauch sind die Boards aufgrund ihrer Konstruktion besonders platzsparend stapelbar.
Wir freuen uns über die Auszeichnung und danken
dem Design Center Stuttgart für die damit verbundene Bestätigung der Qualität unserer Produkt­
entwicklung.
22
23
Interview mit Professor Jürg Steiner
Designer, Ausstellungsgestalter, Architekt
und Erfinder des System 180
Über die Inszenierung von Räumen
Der Appetit kommt beim
© Marit Roloff
Im Gespräch: Prof. Jürg Steiner
und Volker Maier
© Werner Zellien
Urhütte, Afrika –
die Kunst eines
Kontinents
Lieber Jürg, der Blick zurück auf die
letzten Monate deines Schaffens offenbart eine breite Themenvielfalt: Mit dem
Buch »Himmel und Erde – Vertikalpanoramen sakraler Innenräume« versetzt
du den Betrachter – wie es dein Kollege
und Rektor Prof. Dr. Koch formuliert –
in »ehrfürchtiges Staunen«. Im Rahmen
einer Machbarkeitsstudie hast du die
Eignung des Gefängnisses des ehemaligen Präsidiums der Volkspolizei in Berlin für eine künftige Nutzung untersucht,
nachdem es ein Ort war, der exemplarisch Mechanismen der staatlichen
Machtausübung und der Herrschaftssicherung der DDR-Diktatur darstellte. »Das Erbe – Die Ausstellung
zum Bergbau im Saarland«, die du kuratiert und mit System 180
realisiert hast, wurde ein voller Erfolg.
F: Wo siehst du die thematische Klammer zwischen beispielsweise der Neresheimer Klosterkirche und einem Gefängnisbau der
SED-Diktatur?
Rechte Seite: Vertikalpanorama St. Jacobikirche Stralsund
S: Die Klammer über allem ist die Inszenierung von Räumen als
Bühne unterschiedlicher Programmatik. Sei es zur Huldigung
Gottes, zur Inszenierung der Macht oder zur Bewahrung von
Geschichte … Der Zusammenhang erschließt sich aus meinen
© Jürg Steiner
25
Essen
Hauptprofessionen: das Ausstellungsmachen und das Ausstellungsgestalten. Das Ureigene dieser Berufe ist das dreidimensionale Darstellen von Inhalten und das Präsentieren von Objekten.
Dabei ist die theoretische Auseinandersetzung mit den Mechanismen von Inszenierungen genauso wichtig wie die konkrete Auseinandersetzung mit den Inhalten – und es ist ähnlich wie bei der
Nahrungsaufnahme:
Der Appetit kommt
Die Klammer über allem ist
beim Essen.
die Inszenierung von Räumen
als Bühne unterschiedlicher
Ich hatte das Glück,
Programmatik.
in meiner Berufs­
praxis mit den unterschiedlichsten Themen konfrontiert zu werden, und rückblickend
ist zu resümieren, dass es kein langweiliges Thema gab. Ob es
ostasiatische Kunst in Berlin, Dortmund, Köln und Luzern war, das
Thema Zucker im Brauerei-Museum in Dortmund oder im ZuckerMuseum in Berlin oder die Auseinandersetzung mit historischen
Persönlichkeiten wie Alfred Krupp in Essen – jedes Thema ist auch
ein neuer Wissensbaustein, und man schuldet den Auftraggebern
Dank, sich mit einem Thema, das einem möglicherweise ferner
liegt als beispielsweise Bier, intensiv befassen zu dürfen.
Bleibt noch die Frage nach den Vertikalpanoramen. Man könnte
sagen, dass ich mich als Vorbereitung für die große Landesausstellung »Der Naumburger Meister – Bildhauer und Architekt im Europa
der Kathedralen« ab 2006 mit dem Abbild von sakralen Innenräu© Jürg Steiner
26
men befasste. Der Auftrag für diese Ausstellung kam allerdings erst
Ende 2009. Natürlich hat mir bei der Erarbeitung der Ausstellung
die vorhergehende Beschäftigung mit dem Vertikalpanorama dann
geholfen. Anspruch war, einen Kirchenraum
anders abzubilden, als er üblicherweise zu
Grundsätzlich sind wir
Papier gebracht wird und damit das, was
Verfechter des planvollen
man mit dem Auge sieht, auch in einer AbErarbeitens eines Themas.
bildung sichtbar werden zu lassen. Insofern
zielen dann doch alle Bemühungen auf ein
Zentrum, nämlich das Wahrnehmen und Inszenieren von Räumen.
Und kaum stößt man eine Tür auf, öffnen sich fünf neue, und das
führt oft zum Grübeln, wie viel Neues eigentlich in diesem Leben
noch zu entdecken sein wird.
F: Lass uns doch ein bisschen teilhaben am Prozess deines
Schaffens. Wie näherst du dich einer Aufgabe wie beispielsweise
der Gestaltung einer Ausstellung zum Bergbau im Saarland? Was
treibt dich bei deiner Arbeit an? Folgst du einem System?
S: Jedes Projekt ist anders. Im Saarland kam der Auftrag sehr
spät, und dem damaligen Geschäftsführer der veranstaltenden
Industriekultur Saar GmbH, Karl Kleineberg, war daran gelegen,
schon bei der ersten größeren Sitzung – vor der eigentlichen Auftragserteilung – ein komplettes Gestaltungskonzept zu haben.
Dadurch war die übliche Arbeitsweise – sich in ein Thema einzuarbeiten, zu recherchieren und daraus erst einmal eine Basis zu
schaffen – nicht gegeben. Wir gingen also vom äußeren Rahmen
aus, das heißt, von der Idee, einen Raum in Strecken, Stollen und
Querschläge zu gliedern und einen sinnfälligen Rundgang zu formulieren. Dass am Schluss sämtliche vertikalen Bauteile – bis auf
die Rampe, die aus System 180 gefertigt ist – aus Glas sein würden, war am Anfang noch nicht abzusehen.
F: Was war denn der Grund dafür?
Vertikalpanorama
ehemaliges
Polizeigefängnis
Keibelstraße
© Jürg Steiner
S: Es gelang, ein modulares System zu entwickeln, das auf 1 x 1 m
großen Sicherheitsglasscheiben basierte. Nach der technischen
und ästhetischen Bemusterung konnten die üblichen architektonischen Arbeitsphasen realisiert werden, indem endgültige
Form, Ausschreibung, Vergabe nach öffentlichen Richtlinien
27
und Aufbau erfolgten. Grundsätzlich sind wir Verfechter des
planvollen Erarbeitens eines Themas. Das schließt nicht aus,
dass man bei Auftreten von Unvorhergesehenem improvisieren
können muss. Die Erfahrung und Routine, die wir uns im jahrelangen Schaffen in unterschiedlichen Projekten und Thematiken
erarbeitet haben, ist dabei aber hilfreich.
F: Inwieweit bietet der Einsatz eines Bausystems wie dem System
180 bei deiner Arbeit eine Einschränkung oder Erleichterung?
© Jürg Steiner
S: Die Frage ist treffend, weil beides, also Einschränkung und
Erleichterung, wirkt. Zum einen ist es natürlich erfreulich, dass
das System 180 sehr vielseitig einsetzbar ist. Zum anderen
gibt es aber auch Anforderungen, die sinnvollerweise nicht
in System 180 erstellt werden. Wenn wir noch einmal auf die
Ausstellung »Das Erbe – die Ausstellung zum Bergbau im Saarland« zurückkommen, so haben wir dort die Grundstruktur, also
Wände, die auch als Vitrinen fungieren können, selbsttragend
aus Glas gebaut. Lediglich die Beschläge in Form von Schlägel
und Eisen halten die Glasplatten zusammen. Man hätte diese
Vitrinenwände möglicherweise auch aus
System 180 bauen und dann verglasen
Das erste Objekt aus Rohren
stellungssystem entwickelt worden. Das
können; aufgrund der selbstragenden
mit flachgepressten Enden war
stimmt nur bedingt. Das erste ­O bjekt
Eigenschaft von Glas wäre System 180
ein Regal für mich zu Hause
aus Rohren mit flachgepressten Enden
in den Vitrinen dann gleichsam Tara
in der Bleibtreustraße.
war ein Regal für mich zu Hause in der
geworden. Ich glaube, dass das System
Bleibtreustraße. Ich wollte ein selbst
180 von allen Stabbauwerken das am
konstruiertes Regal haben und wollte einer Idee, die schon
universellsten einsetzbare ist, aber es bleibt ein Stabwerk, und
­einige Jahre in meinem Kopf geisterte, freien Lauf lassen.
nicht alle konstruktiven Ideen können mit Stabwerken hergestellt
werden.
Das heißt: Die Wurzeln des Systems liegen – wie ja auch das
180 mm Raster nahelegt – im Möbelbau. Da aber die meisten
Es gibt auch Fälle in der Geschichte von System 180 – ich denke
meiner Aufträge im Ausstellungs­
da an die Gestaltung der »Urhütte« für die Ausstellung »Afrika –
wesen waren, lag es nahe, alle ausdie Kunst eines Kontinents« 1996 im Martin-Gropius-Bau Berlin –,
Die Wurzeln des Systems liegen –
stellungstechnischen Anforderungen
bei denen man die Meinung vertreten kann, dass das System
wie ja auch das 180 mm Raster
erst einmal unter dem Blickwinkel zu
180 letztlich eine Aufbauhilfe war und es sich beim eigentlichen
nahelegt – im Möbelbau.
prüfen, ob sie denn mit System 180
Baukörper um ein Gewölbe aus flächigen, abgekanteten Blechzu bewerkstelligen wären. Für meinen
kassetten handelte.
Freund, den Ausstellungsmacher Christos Joachimides, konnten wir Raumtrenner, Stellwände, verglaste Tonnen­dächer, aber
Oft – auch in der Selbstdarstellung von System 180 – ist davon
auch seine Büroausstattung in System 180 ­erstellen.
die Rede, System 180 wäre Anfang der 1980er Jahre als Aus-
28
© Jürg Steiner
Das Erbe – die Ausstellung zum Bergbau im Saarland
Für meine Dortmunder Freunde, die Museumsdirektoren
Wolfgang Weick, den verstorbenen Ingo Bartsch und Heinrich Tappe konnten wir Eingangspavillons, Vordächer, Wände,
Vitrinen, Shops und Hochregallager in System 180 bauen. Dies
Überall dort, wo Aufgaben mit einem
sind nur einige Beispiele von vieStabbauwerk gelöst werden können,
len. Es gibt nur Einen in meinem
kann das System 180 schlüssige
Bekanntenkreis, dessen Namen
Entwurfsparameter bieten.
ich hier nicht nenne, der sagt,
in sein Haus käme kein System
180. Bis jetzt hat dies unsere freundschaftliche Verbundenheit
nur leicht getrübt (lacht).
Überall dort, wo Aufgaben mit einem Stabbauwerk gelöst werden können, kann das System 180 schlüssige Entwurfsparameter bieten.
F: In deinem Buch »System 180 Bauwelten« zeichnest du das Bild
von den »Räumen, in denen wir leben, als Museumssäle, in den
wir entweder Exponate oder Besucher sind«. Wenn du dich heute
so in den »Museumssälen« umsiehst, gefällt dir dann, was du als
»Publikum« geboten bekommst?
S: Jeder ist heute sein eigener Regisseur. Jeder weiß, wie seine
Diplomarbeit auszustellen und zu präsentieren ist. Jede Tapete,
jeder Stuhl und jedes Schreibgerät ist Teil der persönlichen Inszenierung – das geht weit über sogenannte Statussymbole hinaus.
Alle Gedanken, die wir uns im Großen gleichsam allgemeingültig
machen, sind im Kleinen bereits gedacht. Manche sind stolz auf
ihren Auftritt; andere merken nicht einmal, dass sie einen haben.
F: Und so ist die Inszenierung dann teils gewollt und teils unfreiwillig, denn – frei nach Watzlawick – man kann nicht nicht inszenieren.
29
nen. Dass das einen Rückschluss auf mich zulässt, befürchte ich
S: Ja, du gibst das richtige Stichwort. Mein Interesse jedoch gilt
durchaus. Es sind die Räume eines Menschen, der nach Neuem
mehr dem grand spectacle. Ulrich Borsdorf, der langjährige Direksucht, der Ideen ausprobiert und so lange daran herumtüftelt, bis
tor des Ruhr Museums in Essen, sagt gern, dass das einzige, was
sie verbindlich gescheitert oder erfolgin den Museen störe, das Publikum wäre.
reich veröffentlicht sind. Da kann ich sehr
Und ist es im Leben nicht genauso wie im
Insofern sucht man sich doch
beharrlich sein. Andererseits zeigt die
Museum: Man kann sich das Publikum,
wiederum im Museum und im Leben
Erfahrung, dass wenn man die unvollendas sich im eigenen Werk aufhält, nicht
die Orte aus, in denen Menschen ein
deten Objekte nicht im Auge behält, sie
aussuchen. Das Museum wird ja gerne
vergleichbares Ziel haben.
irgendwann verschwinden und keiner
als außerschulischer Lernort bezeichnet.
weiß, wo sie geblieben sind. Meine FaUnd in der Tat geht man ins Museum
milie muss manchmal tapfer sein im Aushalten der zum Teil nicht
nicht nur, um Fun und Distraction geboten zu bekommen, sondern
ganz pflegeleichten Wohnobjekte.
um etwas auf andere Weise zu sehen als beispielsweise im Fernsehen oder in der Zeitschrift, und man ist sich dessen bewusst, dass
Meine persönlichen,
F: Wenn du heute noch einmal ein Bausysdort andere Menschen sein können. Immerhin weiß man, dass sie
privaten Räume sind eher
tem entwickeln müsstest, worauf würdest
einen ähnlichen oder sogar den gleichen Antrieb haben wie man
ein Prototypenmuseum.
du besonderen Wert legen? Was würdest
selbst. Insofern sucht man sich doch wiederum im Museum und
du anders machen?
im Leben die Orte aus, in denen Menschen ein vergleichbares Ziel
haben. So sieht man beispielsweise in einem Kunstmuseum ein
S: Seit der Beschäftigung mit System 180 habe ich mehrere Sysanderes Publikum als in einem Technikmuseum.
teme entwickelt, produziert und zum Teil wieder eingestellt. Es
gibt beispielsweise eine Blechmöbelserie, an der ich seit zehn
Für Museen zitiere ich da immer gerne meinen Mentor Gottfried
Korff, der sagt, das Museum wäre ein Omnibus im eigentlichen
Sinn des Wortes, also für alle da. Das Bedürfnis im Museum ist
ein anderes als im Supermarkt, und schon ist man in der beliebten Zielgruppendiskussion, an der ich mich im Allgemeinen
nicht gern beteilige. Bazon Brock spricht von der Musealisierung
Europas; er möchte uns alle zu Museumsaufsehern schulen, damit wir in Zukunft die Chinesen und Inder durch die Geschichte
Europas führen. Für ihn ist Europa das zukünftige Museum, und
wir werden nach seiner Voraussage eben Exponate, Aufseher,
Kassierer oder Museumsleiter.
S: Meine persönlichen, privaten Räume sind eher ein Prototypenmuseum. Das erste Regal aus flachgepressten Rohren von 1981
dient meiner Tochter als Aufbewahrungsort ihrer Sachen, auf Prototypen von 1986 stehen meine technischen Geräte, und Prototypen von 1990 rahmen das Klavier ein. An der Decke hängen Prototypen von realisierten und nicht realisierten Beleuchtungsideen
– man könnte die Wohnung als Prototypen-Werkstatt bezeich-
© Jürg Steiner
F: Inwieweit lässt denn die Inszenierung des eigenen privaten
Raums Rückschlüsse auf den darin lebenden Menschen – das
Exponat – zu?
30
Links: Prototyp Kinderschreibtisch
Mitte: Studenten der Bergischen
Universität Wuppertal auf
System 180-Hockern
Rechts: Eingemachtes Licht
© Jürg Steiner
Jahren kontinuierlich, aber mit niedrigen Stückzahlen arbeite. Es gibt den sogenannten Rahmen 2000,
ein hybrides flächiges System aus Glasplatten und
Flachstählen, wobei die Glasplatten ihre Stärken
ausspielen – also Transparenz und hohe Festigkeit
der Fläche – und der Stahl die seinen, da er einfach mit Schrauben und ähnlichem zu verbinden ist.
Diese beiden Beispiele stehen weder in Konkurrenz
zum System 180, noch sind sie in der direkten Nachfolge zu sehen, sondern sie ergaben sich aus Aufgaben, mit denen ich konfrontiert wurde, die eben
nicht mit einem Stabbauwerk realisierbar waren.
© Jürg Steiner
Grundsätzlich ist zu sagen, dass die meisten Entwicklungen aus konkreten Notwendigkeiten entstanden. Das wäre dann auch das entscheidende Kriterium für eine etwaige Neu- oder Weiterentwicklung.
Was verlangt die Aufgabe,
was nicht durch eines der
Der Druck muss von Außen
bestehenden Systeme bekommen, und von Innen muss der
reits gut lösbar ist? Arnold
gleich starke Gegendruck kommen:
Schönberg soll gesagt haSo entsteht Kreativität.
ben »Kunst kommt von
müssen«. Der Druck muss
von Außen kommen, und von Innen muss der gleich
starke Gegendruck kommen: So entsteht Kreativität.
Das war ja auch die treibende Kraft bei der Entwicklung des System 180.
Inzwischen ist die Bandbreite des kreativen Schaffens
größer geworden. Zu nennen wäre beispielsweise das
Thema Beleuchtung, das letztlich auch als System zu
sehen ist. Den von mir entwickelten »Museumsspot«
kann man in manchen Museen antreffen und das
»eingemachte Licht«, also Leuchten, deren Gehäuse
Einmachgläser sind, sind Belege dafür. Andere Designer haben diese Idee übernommen und sind damit
durchaus erfolgreich.
F: Am Lehrstuhl für Interior and Exhibition Design der
Bergischen Universität Wuppertal beschäftigst du
© Marit Roloff
dich mit deinen Studenten mit Themen wie Farbkonzepten, Lichtinszenierung und der Entwicklung von
flexiblen Ausstellungssystemen. In welchen Bereichen siehst du das größte Innovationspotenzial für
die Zukunft? Wo werden uns die Designer mit inte­
ressanten Neuheiten überraschen können?
S: Wahrscheinlich ist das größte Potenzial für Innovationen im Beleuchtungswesen zu sehen. Allein
der rasante Siegeszug der LED, die Glühlampen,
Leuchtstofflampen und Entladungslampen in atemberaubendem Tempo ablösen, verlangt neue Produkte. Die Designer am Automobil zeigen uns bei
jedem neuen Typ neue Anwendungen. Im Leuchtendesign gibt es neue Anforderungen, so sind beson-
31
dere Vorschaltgeräte unterzubringen und andere Wärmeableitsysteme zu berücksichtigen, dafür ist die eigentliche Lichtquelle
kompakter.
Zur Person:
Professor
Jürg Steiner
Hier sind es vor allem neue
Materialien, mit denen
Designer arbeiten können.
Ich selber mache ja seit
Jahren immer wieder
Versuche mit Holzstäben, die sich in das
System 180 integrieren
lassen. Holzprofile mit
quadratischer Schnittfläche, mit entsprechenden Endstücken
aus Flachstahl oder
Schraubhülsen ausgestattet, bilden einen
ebenen, einfach zu beplankenden, flächigen
Rost. Fälzt man diese
Profile, erzeugt man einen kreuzförmigen Querschnitt, der es erlaubt, Plattenmaterialien formschlüssig in diesen Rost einzulegen.
Auch bei System 180 sind solche Entwicklungen im Gange. Die
Kollegen forschen nach neuartigen Plattenwerkstoffen; sie praktizieren die Anwendung von Luftkissen als Wand- und Deckenhaut, und das Büromöbel als solches wird in vielen Variationen
als eigenständiges Marktsegment perfektioniert.
Für die Studierenden, mit denen ich forschen, lehren und lernen
darf, hoffe ich, dass sie ein ausreichendes Rüstzeug für diese
Zukunft vermittelt bekommen und ihre Kreativität angestachelt
wird.
Lieber Jürg, ich danke für das interessante Gespräch und wünsche für die Zukunft und die kommenden Projekte alles Gute und
viel Erfolg.
© Jürg Steiner
Auch bezogen auf Ausstellungssysteme
gibt es viele innovative Ansätze: Hier
sind es vor allem neue Materialien, mit
denen Designer arbeiten können. Gerade im Bereich des Flachglases gibt es neue Gestaltungs- und
Qualitäts­varianten, denn eine Vielzahl unserer Gestaltungsbemühungen sind Vitrinen.
geboren 13. April 1950 in Zürich
Nationalität schweizerisch
1977 Theatermeisterprüfung, Darmstadt
1981 Beleuchtungsmeisterprüfung, Berlin
1989Patent für ein modulares Bausystem
(system180.com)
1992 Aufnahme in die Architektenkammer Berlin
1996Aufnahme in den Bund Deutscher Architekten
2000Professor für Ausstellungs- und Messe-Design
Bergische Universität Wuppertal
Auszug Publikationen:
System 180
Bauwelten
Berlin, Tübingen, 2010
ISBN 978 3 8030 0723 0
Himmel und Erde
Jürg Steiners Vertikalpanoramen
sakraler Innenräume
Weimar, 2010
ISBN 978 3 89739 687 6
museumstechnik
Zweite, erweiterte Auflage
Berlin, 2003
ISBN 978 3 9363 1425 0
Katalog der Werke
Szenische Architektur
Bottrop, Essen, 2000
ISBN 3 89355 214 6
BREAD & BUTTER Sommer 2013
Wenn
Baudenkmal
auf Lifestyle
trifft
W
as braucht es, um einen emotionalen Rahmen für
ein spektakuläres Ereignis zu schaffen? Einen Ort mit
Geschichte und Strahlkraft, eine große Idee und eine
mutige Umsetzung. So geschehen im Sommer 2013 während
der 29. Show der Modemesse BREAD & BUTTER im Flughafen
Berlin-Tempelhof. Das verantwortliche Leitungsteam der Messe
konnte zufrieden sein, Aussteller und Besucher waren es auch
© BREAD & BUTTER
und nicht zuletzt das Team von System 180. Erstmalig wurde in diesem
Jahr auch zur Sommerveranstaltung der BREAD & BUTTER die spekta­
kuläre 400 Meter lange Luftkissenmembranwand von System 180 unter
dem Dach des Flugvorfeldes errichtet. Im Zusammenspiel mit dem historischen Flughafengebäude entstand damit ein Rahmen, der weit mehr als
nur Schutz vor Hitze, Wind und Nässe bot.
Köln – Berlin – Barcelona – Berlin
Die 2001 von Karl-Heinz Müller, Kristyan Geyr und Wolfgang Ahlers gegründete Messe BREAD & BUTTER – tradeshow for selected brands ist viel herumgekommen auf der Suche nach der idealen Location für ihren Anspruch.
Schließlich sollte das als Fachmesse konzipierte Event ausgewählten, international maßgebenden Brands, Labels und Designern aus dem Segment
34






































































































 











 

































 

























  
 
























 














 




















 










 








 
















































































 

 













der zeitgenössischen Street- und Urbanwear eine kreative und
emotionale Marketing- und Kommunikationsplattform bieten.
Klar war, dass die 19.000 m2 große
Fläche unter dem rund 400 m
langen, offenen Flugsteigdach
geschlossen werden sollte.
Nach Stationen in Köln, Berlin und Barcelona hatten die Ausstellungsmacher 2009 endlich gefunden, wonach sie so lange
gesucht hatten: die Gebäude des stillgelegten Flughafens Tempelhof. Mit seinen zwei Hangarbereichen und dem dazwischen
gelagerten Flugvorfeld war ein Areal gefunden, das einerseits
genügend Fläche und andererseits auch eine einzigartige Atmosphäre in zentraler Lage der Kreativmetropole Berlin bietet.
35
Schritte in der Entwicklung der
BREAD & BUTTER-Fassade bei System 180
V. l. n. r.: Ausführungsplanung, Schneiden von
Bauteilen aus Stahl am hauseigenen Laser,
Montage der Fassadenkonstruktion durch
System 180 in Berlin-Tempelhof
Das längste Gebäude Europas wird zum Laufsteg
Lange galt das Flughafengebäude von Ernst Sagebiel als das größte Gebäude der Welt und ist selbst heute noch mit seiner durchgehenden Fassade von 1.231 Metern Europas längstes. Durchaus beeindruckend, wenn
man verstehen will, in welchen Dimensionen die Macher der BREAD & BUTTER planten.
Klar war, dass die 19.000 Quadratmeter große Fläche unter dem rund 400
Meter langen, offenen Flugsteigdach geschlossen werden sollte, um auch
im Winter für den Messebetrieb nutzbar gemacht zu werden. Unklar war,
wie das gehen konnte, denn die Vorgaben des Denkmalschutzes sowie
statische, konstruktive und ästhetische Ansprüche bildeten ein komplexes Lastenheft für die Ausführung. Eine der wesentlichen Vorgaben des
Denkmalschutzes war, dass die Fassade nur für den Zeitraum des Messe­
betriebs stehen durfte. Also musste eine mobile Lösung entwickelt werden.
Ein Konstruktionsprinzip, welches eine einfache Montage in einem möglichst kurzen Zeitraum ermöglichte, gleichzeitig aber eine gestalterisch und
architektonisch anspruchsvolle und überzeugende Lösung darstellte, um
dem hohen Anspruch der Veranstalter zu genügen.
36
Von den physischen und
ästhetischen Vorteilen einer
luftbefüllten Membranfassade
konnte der Kunde schnell
überzeugt werden.
Die Fassade steht:
Die Messe kann
beginnen.
Rechts:
Impressionen 2013
Diese sollte gewährleisten, dass man sich innerhalb der Hülle
auch bei Minus 20 Grad Außentemperatur im T-Shirt bewegen
konnte. Das hieß, dass das Airfield eine klimatische Wetterschutzschicht für den überdachten, aber offenen Bereich des
Flughafens benötigen würde. Eine ambitionierte Aufgabe!
Kunde findet Problemlöser
Mehrere führende Anbieter von Standardlösungen hatten bereits dankend abgelehnt, bevor die Anfrage von BREAD & BUTTER auf den Schreibtischen der Entwicklungs- und Planungsabteilung von System 180 landete. Hier war man gerade mit
der Entwicklung einer Luftkissenmembran für geodätische
Kuppeln beschäftigt, die System 180 aus dem gleichnamigen
universellen Bausystem erstellt. Schnell waren die Parallelen
der beiden Projekte offensichtlich: In beiden Fällen sollte eine
leichte aber steife Tragwerkskonstruktion eine transluzente
aber wind- und wetterfeste Schutzhülle tragen. So war das
interdisziplinäre Team aus Architekten, Designern und technischen Angestellten bestens aufgestellt, um die bereits erworbenen Kenntnisse auf das nun geplante neue Projekt zu übertragen.
© BREAD & BUTTER
Von den physischen und ästhetischen Vorteilen einer luftbefüllten
Membranfassade konnte der Kunde schnell überzeugt werden.
Für das Team von System 180 hieß das jedoch in der Folge: Tragverhalten, Gewicht, Lager- und Dämmeigenschaften, Faltenfreiheit, Form der Kissen bei konstantem Innendruck, Verhalten bei
Wind, geringes Gewicht, Lichtdurchlässigkeit und so manch anderes »Detail« zu messen, zu definieren und zu optimieren. Und das
für eine Fläche von 5.000 Quadratmetern, die den Raum in der
beabsichtigten Weise zu schließen vermag.
Schlimmster Feind des ganzen Projekts: die extreme Zeitknappheit. Denn zwischen dem ersten Kundengespräch und dem ersten Messetag lag gerade mal ein knappes halbes Jahr. So war
es unvermeidbar, dass ab einem gewissen Zeitpunkt Planung,
38
39
© BREAD & BUTTER
© BREAD & BUTTER
Linke Seite: Fassadendurchlass mit
Tragwerksstruktur und Membran
Rechte Seite: Impressionen 2013
heißt, eine Durchdringung der Fassade für notwendige techniProduktion und Montage parallel laufen mußten. Ein veritables
sche und klimatische Infrastruktur musste gewährleistet werden.
Problemfeld, wenn dann neue Ergebnisse der statischen BeAll diese Positionen können sich von einer zur anderen Veranrechnungen Veränderungen der Konstruktion zur Folge hatten,
staltung verändern, also musste die Fassade in ihrer Konzeption
die »mal eben« in den bereits aufgebauten Teil der Konstruktion
darauf reagieren können.
nachträglich integriert werden mussten. Eine Aufgabe, die nur zu
leisten ist, wenn – wie bei System 180 – alle am Projekt beteiNah am Kunden – nah am Projekt
ligten Kompetenzen und Gewerke unter
einem Dach angesiedelt sind und damit
Es sollte ein spektakulärer,
Ausschlaggebend für die Auftragsverüber kurze Wege und Reaktionszeiten mitarchitektonisch anspruchsvoller
gabe an System 180 war von Anfang an
einander agieren können.
Raum entstehen.
die Kommunikation mit dem Kunden auf
­Augenhöhe. Es wurde schnell eine Ebene
Darf’s noch etwas mehr sein?
des Vertrauens hergestellt und eine klare Sprache gefunden,
was ermöglichte, Anforderungen und Bedürfnisse an das VorAls ob die schieren Dimensionen und die technischen Anfordehaben schnell zu erfassen und mit den gemeinsamen gestalterungen der Fassade nicht schon Herausforderung genug gerischen und ästhetischen Vorstellungen in Einklang zu bringen,
wesen wären, ergaben sich durch den geplanten Messebetrieb
die da hießen: Es sollte ein spektakulärer, architektonisch annoch zusätzliche Aufgaben für die Planer. Mit dem ständigen
spruchsvoller Raum entstehen.
Wandel durch schwankende Ausstellerzahlen, variierende Größen und wechselnde Standbauten ergeben sich jedes Jahr neue
Als weiterer Pluspunkt für System 180 als Komplettdienst­leister
räumliche Strukturen, die Anpassungen erfordern.
erwies sich die räumliche Nähe zur Baustelle. Nur wenige Kilo­
meter liegen zwischen dem Firmensitz in Berlin-Schöneberg
So wurden in die Fassade diverse Bauteile wie Notausgangs­
und dem Flughafengelände in Tempelhof. Die kurzen Wege
türen, großflächige Schnelllauftore und Übergänge integriert, die
ermöglichten regelmäßige Besuche vor Ort, um Auflagen des
die Ausstellungsfläche mit Hallen und Zelten im Außenraum verDenkmalschutzes mit den Besonderheiten der Bausubstanz
binden und per Sattelschlepper angeliefert werden können. Das
40
Oben: Premiere von
»The Wall« bei der Winter
BREAD & BUTTER 2010
Unten links und rechts:
Impressionen 2013
© BREAD & BUTTER
Geometrisch entstand eine
selbsttragende, gekrümmte Fläche,
die (…) der monumentalen und
imposanten Flughafenarchitektur
einen eleganten Schwung
entgegensetzt.
abzugleichen, ergänzend zum Planmaterial aus den 1930er
Jahren, umfassendes Aufmaß zu nehmen sowie später in der
Montage­phase auf neue Gegebenheiten schnell reagieren zu
können.
Erfolg ist, wenn alle zufrieden sind
Um den besten Weg zu finden, wurden eine Vielzahl von Entwürfen und Konstruktionsideen durchgespielt. Am Ende setzten sich die bestimmenden Parameter »gestalterischer und
konstruktiver Anspruch, Wirtschaftlichkeit, Funktionalität und
einfache, schnelle Montierbarkeit« durch und die richtige »Gewichtung« wurde gefunden.
Zusätzlich ergaben sich besondere technische oder gestalterische Lösungen wie beispielsweise die Schrägstellung der
Fassade. Durch das Herausziehen der unteren Ankerpunkte
der Wandstruktur bis fünf Meter vor die Dachkante konnte ein
beachtlicher Raumgewinn realisiert werden. Fünf Meter Raum
auf eine Länge von 400 Metern ergibt zusätzlich 2.000 Qua­
dratmeter Standfläche, die sich im zentralen und attraktivsten Bereich – dem Airfield – bestens vermarkten lässt. Zudem
schaffte die Schrägstellung der Fassade einen gänzlich neuen
41
© Mila Hacke
Raumeindruck. Geometrisch entstand eine selbsttragende, gekrümmte Fläche, die neben den Vorteilen im Tragverhalten der
monumentalen und imposanten Flughafenarchitektur einen eleganten Schwung entgegensetzt.
des Jahr aufs Neue wiederverwendet werden können. Oben wird
das System über Klemmplatten an den mächtigen Dachträgern
befestigt.
Und jetzt auch im luftigen Sommerschnitt
Und auch die strengen Vorgaben des Denkmalschutzes wurden eingehalten:
Das Flughafengebäude
blieb gänzlich unberührt.
Nur an den Fußpunkten waren Bohrungen für die Befestigung notwendig, die je-
Die temporäre Fassade, die ursprünglich zum Schutz gegen die
Kälte des Winters geplant war, hat sich in den letzten Jahren so
gut bewährt, dass die Veranstalter der BREAD & BUTTER sie zu-
© BREAD & BUTTER
Neben dem gestalterischen Konzept wussten die Verantwortlichen von BREAD & BUTTER auch funktionale Aspekte zu
überzeugen: Die stehende Luftschicht in den Membrankissen
ermöglicht einen beachtlichen K-Wert von 2,9 und macht somit die Fassade zu einem
wesentlich besser gedämmten Bauteil als das
Flughafendach oder die
großen Hangartore.
Auch die strengen Vorgaben
des Denkmalschutzes wurden
eingehalten.
42
künftig auch für die Sommerveranstaltung einsetzen werden. Denn einerseits vermag sie auch im unberechenbaren deutschen Sommer als wirksamer Wind- und Wetterschutz zu dienen, vor allem hat sie sich aber als
markantes Gestaltungselement bewährt. Denn die monumentale Struktur
mit der transluzenten Membran und den natürlich und künstlich erzeugten Lichtstimmungen schafft eine spürbar bereichernde, atmosphärische
Klammer um die bunte Vielfalt der
Modeindustrie. Für den Sommerauftritt 2013 erhielt die Wand einen
zentral positionierten knapp 50 Meter
breiten und begrünten Durchlass zur
ca. 220 Hektar großen, unbebauten
Grünfläche der Tempelhofer Freiheit.
Mit dieser Sichtachse wurden noch
einmal ganz neue und überzeugende
visuelle Akzente gesetzt.
System 180 hat den Kunden BREAD
& BUTTER über alle Leistungsphasen
vom Entwurf über Planung, Produktion, Montage/Demontage, Qualitätssicherung, Ertüchtigung, Erweiterung,
Lagerung, Reinigung bis zu notwendigen Reparaturmaßnahmen mit FullService, Verlässlichkeit und Qualität
überzeugt. In der Zusammenarbeit
der letzten Jahre ist eine vertrauensvolle Partnerschaft gewachsen, die
eine stabile Basis für die zukünftige
Zusammenarbeit bildet.
Begrünte Freifläche
vor dem zentralen
Fassadendurchlass
33
startup.net
System 180 ist Mitglied im
Impressum
Herausgeber: System 180 GmbH, Kärntener Straße 21, D-10827 Berlin, T: +49 30 788 58 41, F: +49 30 787 09 160
Chefredaktion: Volker Maier (verantwortlich i. S. d. P.)
Gestaltung/Layout: Marit Roloff
Redaktion: Rainer Janicki, Elke Jakubowski (Schlussredaktion)
Druck: BUD – Brandenburgische Universitätsdruckerei und Verlagsgesellschaft Potsdam mbH
© System 180 GmbH, Berlin
create
Das System 180-Magazin für urbanes Leben, Design
Systeme
Was sie belastbar macht
Die Kunst der Inszenierung
Wie Räume zu Erlebnisräumen werden
www.system180.com
Farbe: Emotion und Wirkung
Tempelhof: Lifestyle trifft Baudenkmal
und Architektur
01/2014