Das Geld wird knapp: Ärzte investieren kaum noch in ihre Praxen

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22. Mai 2015
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Gesundheitswirtschaft
Das Geld wird knapp: Ärzte investieren kaum noch in ihre Praxen
Die wirtschaftliche Lage der niedergelassenen Ärzte stagniert. Geld für Investitionen in die Praxis bleibt kaum noch übrig
D
ie niedergelassenen Ärzte in
Deutschland verdienen weniger.
Während die Jahresüberschüsse auf gleichem Niveau verharren, steigen die Kosten für Personal und Material. Einer Studie
des Zentralinstituts für die kassenärztliche
Versorgung (Zi) zufolge mussten Praxisinhaber zwischen 2009 und 2011 im Durchschnitt 5 Prozent mehr Kosten verbuchen
– ein deutlich höherer Anstieg als der der
Verbraucherpreise im gleichen Zeitraum
(3,2 Prozent).
Den Medizinern steht dadurch weniger Geld für Investitionen in ihren Praxen
zur Verfügung: Für Abschreibungen sowie
Leasing und Mieten von Geräten gaben die
Ärzte weniger aus als in den Vorjahren. Von
2009 bis 2011 sanken die Ausgaben dafür
um etwa 10 Prozent.
Die Betriebskosten steigen drastisch.
Demnach lag der durchschnittliche Jahresüberschuss 2011 bei 145.100 Euro je
Das Einkommen von Ärzten hängt vom Fachgebiet bzw. der Art des Facharztes ab und unterscheidet sich erheblich.
Foto: Flickr/Bratislavská župa/CC BY 2.0
Praxisinhaber. Nach Abzug von Vorsorge- und Versicherungsbeiträgen sowie
Einkommenssteuer bleibt davon ein Nettoeinkommen von 71.476 Euro übrig, was
einem Stundensatz von 30 Euro entspricht.
Die Einnahmen sind dabei von Fachgruppe zu Fachgruppe sehr unterschiedlich:
Ein Viertel der Befragten erwirtschaftete
weniger als 85.400 Euro, ein Viertel mehr
als 181.600 Euro. Zu den Spitzenverdienern
zählen etwa die Radiologen, am unteren
Ende der Skala liegen Psychotherapeuten
und Rehabilitationsmediziner.
Die Betriebskosten legten vor allem für
Personal, Material und Labor zu. Auch für
Versicherungen, Beiträge und Gebühren
mussten Ärzte mehr Geld ausgeben (zwischen 7 und 8,4 Prozent).
„Angesichts faktischer Nullrunden
überrascht es nicht, dass die Investitionsschwäche in den Praxen im Berichtszeitraum anhielt“, sagt Dominik von Stillfried,
Geschäftsführer des Zentralinstituts. Ärzte
im Krankenhaus verdienen immer noch
mehr als ihre niedergelassenen Kollegen.
In dem Bericht wurden Kosten, Einnahmen und Überschüsse von Praxen festgehalten. Die Daten stammen aus 2013 und
umfassen die Jahre 2009, 2010 und 2011.
Sie enthalten die Angaben von 4.739 Praxen,
Analyse
Rekord: 2014 sind 45 neue Arzneimittel auf den Markt gekommen
Das Gesetz zur Nutzenbewertung von
Arzneimitteln führt nicht zu einer Reduktion von zusätzlichen Medikamenten auf
dem Markt. Im Gegenteil: Im Jahr 2014
wurden 45 neue Arzneistoffe zugelassen.
Der Rekord lag bislang bei 36 neuen Medikamenten im Jahr 2009. Im Jahr 2013
wurden lediglich 26 Stoffe neu in den Markt
aufgenommen.
2014 gab es zudem so viele neue Arzneimittel wie noch nie, die derart teuer
waren, berichtet das Wissenschaftliche
Institut der AOK (WIdO). Das liegt daran,
dass unter den neuen Arzneimitteln 14
„orphan drugs“ enthalten sind. Das sind
Medikamente, die für die Behandlung
seltener Erkrankungen zugelassen sind.
Weil es wenige Patienten gibt, ist die Entwicklung dieser Medikamente sehr teuer,
denn die Pharmaunternehmen können
die Kosten nicht durch einen hohen Ab-
satz der Medikamente kompensieren. Der
Preis für eine Packung „orphan drugs“
kann über 10.000 Euro liegen. Bei den
neuen 45 Medikamenten war das bei acht
Präparaten der Fall.
Seit 2011 müssen alle neuen Medikamente durch die frühe Nutzenbewertung.
Dabei wird festgestellt, welchen Zusatznutzen diese Medikamente für den Arzneimittelmarkt haben. Etwa 60 Prozent aller
neuen Medikamente erhalten keine Marktzulassung, weil sie keinen Zusatznutzen zu
bereits bestehenden Präparaten bereitstellen. 75 Prozent aller Medikamente, die mit
dem Merkmal „beträchtlicher Zusatznutzen“ ausgestattet werden, stammen aus
der Krebs- und der Infektionsforschung,
berichtet die Deutsche Gesellschaft für
Hämatologie und Medizinische Onkologie
(DGHO) in ihrer Analyse der ersten Jahre
der Nutzenbewertung.
Doch es gibt auch Kritik an der
Nutzenbewertung. Denn die Bewertung eines Medikaments ist nach der
Markteinführung abgeschlossen. Oft ist
jedoch gar nicht klar, welchen Nutzen
das Präparat entfaltet, wenn es bereits
zwei bis drei Jahre verordnet wurde.
Wolf-Dieter Ludwig, Vorsitzender der
Arzneimittelkommission der Deutschen
Ärzteschaft (AkdÄ), spricht sich daher
für eine „späte Nutzenbewertung“ aus.
Ohne nachfolgende Untersuchungen bestehe die berechtigte Sorge, dass
therapeutische Innovationen aufgrund
formaler Kriterien nicht ausreichend
gewürdigt und berücksichtigt würden,
sagte Thomas Berg, Leiter der Sektion
Hepatologie an der Klinik für Gastroenterologie und Rheumatologie an
der Universitätsklinikum Leipzig, dem
Ärzteblatt.
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was einem bundesweiten Anteil von 4,9
Prozent entspricht.
Je nach Fachgebiet unterscheidet sich
die wirtschaftliche Lage jedoch deutlich: Das
größte Einnahmen- und Überschussplus
verzeichneten die Neurologen (plus 8 bzw. 12
Prozent), ein Minus steht hingegen etwa bei
Gynäkologen und Urologen in den Büchern.
Grundsätzlich ist das Gefälle zwischen
operativ und konservativ tätigen Ärzten
groß. Beispielsweise erzielten operierende
Augenärzte 2011 einen Jahresüberschuss,
der etwa 87 Prozent über dem ihrer rein
konservativ arbeitenden Kollegen lag. Und
schon Dermatologen, die nur selten operieren, verdienen pro Stunde mehr als doppelt
so viel wie ihre konservativ behandelnden
Kollegen.
Die steigenden Kosten mindern den
Anreiz für junge Mediziner, sich mit einer
eigenen Praxis – vorzugsweise in einer ländlichen Region – niederzulassen. Viele ältere
Ärzte hingegen gehen in den Ruhestand oder
ins Ausland. Gleichzeitig wünschen sich viele
Ärzte flexible Working-Life-Modelle und
stellen damit bisher gewohnte hierarchische
Strukturen in Frage.
In Zukunft müssen auch Jungärzte von
verschiedenen Fachgebieten und Schwerpunkten der Medizin überzeugt werden,
um der Überalterung entgegenzuwirken.
Laut der Ärztestatistik der Bundesärztekam-
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mer waren im Jahr 2014 gerade einmal 18,3
Prozent von Deutschlands Ärzten jünger als
35 Jahre (vgl. 1993 mit 26,6 Prozent). Heute
liegt das Durchschnittsalter bei Ärzten im
Krankenhaus bei etwa 41 Jahren.
„Wenn kein Nachwuchs folgt, dauert
es nicht lange, bis uns Fach- und Oberärzte
und schließlich auch Chefärzte fehlen: In
der Klinikhierarchie folgen sie auf die Ärzte. Ohne Chefarzt müssen Kliniken sogar
ganze Abteilungen schließen“, warnt David
Fickeisen, Leiter des Gesundheitsportals
Kliniken.de. Viele Ärzte scheuen die Facharztanerkennung. Vor allem der Fachbereich
Psychologie verliert deshalb momentan an
qualifizierten Kräften.
Vernetzung
BDI: Digitalisierung muss deutsches Gesundheitssystem verändern
Versicherte dürften nicht die elektronische Gesundheitskarte ablehnen, dann aber Daten über Apps preisgeben, so der BDI
D
as Potenzial der digitalen Vernetzung innerhalb des Gesundheitssystems ist groß. Effizientere Abrechnung, weniger Doppeluntersuchungen
und eine verbesserte Kommunikation
zwischen Ärzten und Patienten durch
die elektronische Patientenakte sind nur
einige Vorteile, die die Befürworter eines
digital vernetzten Gesundheitssystems
anführen. Axel Wehmeier von Deutsche
Telekom Healthcare & Security Solutions
und Vorsitzender des Arbeitskreises EHealth bei BITKOM nennt die digitale Vernetzung eine „strategische Antwort auf
den demografischen Wandel“.
Auf einer Veranstaltung des BDI-Ausschusses für Gesundheitswirtschaft, auf
dem mehrere Experten zu dem Thema
Vorträge hielten, wurde der Nachholbedarf
Deutschlands in dem Bereich deutlich:
Nur sechs Prozent der Akutkliniken in
Deutschland sind Teil der übergreifenden
IT-Gesundheitsnetzwerke. In Dänemark
und der Schweiz sind es weit über 50 Prozent. Auch die Hausärzte rangieren weit
unterhalb des EU-Durchschnitts. Am größten sind die Rückstände in der Telemedizin
und im Austausch digitaler Patientenakten.
Der Bundesverband der Deutschen
Industrie (BDI) kritisiert die Versicherten
und macht die Politik für diesen Nachholbedarf verantwortlich: „Die Politik muss die
Wachstumsbremsen endlich lösen“, sagte
Die zentrale Speicherung von Patientenakten und die elektronische Übermittlung von Rezepten sind
nur zwei Baukästen des digitalen Gesundheitssystems.
Foto: Flickr/Jay Reed/CC BY-SA 2.0
Markus Kerber, Hauptgeschäftsführer des
BDI, am vergangenen Donnerstag in Berlin.
Die elektronische Gesundheitskarte bleibe
vorgeblich wegen des Datenschutzes weit
hinter ihren technischen Möglichkeiten zurück. „Derweil nutzen die Bürger begeistert
Apps auf ihren Smartphones und geben
persönlichste Daten preis“, sagte Kerber.
„Diese Schizophrenie gehört schleunigst
beendet.“
Kerber forderte ein Bekenntnis der
Politik zur Digitalisierung der Gesundheit
als ressortübergreifende Aufgabe. Moderne
Lösungen der Industrie böten greifbare
Vorteile, etwa eine höhere Diagnose- und
Therapiesicherheit, effektiveres Arbeiten
und zufriedenere Patienten. Digitale Instrumente wie die Telemedizin müssten
hierzulande flächendeckend eingesetzt
werden können.
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Tatsächlich lässt sich Kerbers angesprochene „Schizophrenie“ gut darstellen: Trotz
großer Skepsis aufgrund von Datenschutzfragen bei der Gesundheitskarte verwenden Patienten das Internet zunehmend
im Kontext ihrer individuellen Bedürfnisse
und ihrer ärztlichen Therapie, zeigt die Umfrage „EPatient Survey 2015“. In Deutschland
entsteht eine ganze Start-up-Branche zum
Thema Internetmedizin. Fast die Hälfte der
Befragten gab an, die Anweisungen ihres
Arztes zu ihren Medikamenten aufgrund
von Informationen aus dem Netz besser zu
verstehen und zu befolgen. Insgesamt sagten 38 Prozent, das Internet habe ihnen im
Alltag und im Umgang mit ihrer Erkrankung
seelisch, beruflich und praktisch geholfen.
Jeder Dritte gab an, durch eine App für seine
Medikamente mit der regelmäßigen Einnahme besser umgehen zu können. Circa
40 Millionen Deutsche können aktuell über
mehr als 8.000 Webdienste und Apps zu
Gesundheitsthemen verfügen. Patienten
möchten Medikamenten-Apps lieber von
ihrem Arzt (57 %) oder ihrer Krankenversicherung (38 %) erhalten als von Google
oder App-Stores. Von den Krankenversicherungen wünschen sie sich außerdem
geprüfte Übersichten zu empfehlenswerten
Webseiten und Apps. Potential zeigt die
Studie auch für Online-Dienste zur Vereinbarung von Arztterminen sowie für digitale
Gesundheitsakten, in denen die eigenen
Behandlungsdaten zusammen mit Röntgenbildern, Arztbriefen etc. gesammelt werden.
Rund ein Drittel der Befragten wünscht sich
solche Angebote. Und immerhin 16 Prozent
würden nach Klinik- und Reha-Aufenthalten
gern eine digitale Nachsorge in Anspruch
nehmen, etwa in Form von App-gestützten
Lernprogrammen zu ihrer Krankheit, um
die weitere Behandlung nach der Entlassung
zu optimieren.
In den USA dagegen ist Skepsis gegenüber der Digitalisierung des Gesundheitssystems nicht vorhanden. Dort wurde ein
Anreizsystem für die Förderung von IT in
Gesundheitseinrichtungen geschaffen. So
wurden in das Telematiksystem der USA
30 Milliarden US-Dollar gepumpt, zur Neueinführung zertifizierter IT-Systeme. In der
Folge haben sich Einsatz und Bedeutung
von IT in US-amerikanischen Arztpraxen
in den vergangenen fünf Jahren von 30 auf
75 Prozent mehr als verdoppelt.
In Österreich gibt es seit 2014 ein Informationssystem, das Patienten, Ärzten,
Krankenhäusern, Pflegeeinrichtungen und
Apotheken den Zugang zu Gesundheitsdaten erleichtert. Das Projekt ELGA soll in
den nächsten Jahren weiter in öffentlichen
Krankenhäusern, bei Kassenärzten und
Apotheken und ab 2017 auch in privaten
Krankenanstalten installiert werden.
In Dänemark gibt es ein zentrales Portal, auf dem die Bürger Zugang zu ihrer
persönlichen Krankengeschichte haben. Sie
können Informationen bis zum Jahr 1977
einsehen, Formulare ausfüllen, Kontaktdaten von Ärzten abrufen und medizinische
Skepsis gegenüber digitalen Gesundheitssystemen sei laut BDI „schizophren”, da Versicherte ihre
Daten freiwillig über Apps preisgeben würden.
Foto: Flickr/Nicola since 1972/CC BY 2.0
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Informationen erhalten. Mitarbeiter des
Gesundheitswesens können über das gleiche
System Zugang zur elektronischen Fallakte
und zu Labordaten bekommen. 70 Prozent
der gesamten Kommunikation wird über
das System Sundhed.dk abgewickelt. 84 %
der Arztbriefe der Krankenhäuser werden
elektronisch übermittelt. Fast alle Laborresultate werden in dem System erfasst.
Alle Rezepte werden automatisch an die
Apotheken weitergeleitet.
Auf europäischer Ebene gibt es epSOS.
Das System soll Ärzte mit Informationen
über Patienten aus anderen Ländern Europas
versorgen. Erklärtes Ziel ist die Verbesserung
der Qualität der medizinischen Versorgung
in Europa. Mehrfachuntersuchungen sollen
so vermieden werden können. Bereits 25
Staaten sind an das System angeschlossen
– darunter Spanien, Frankreich, Österreich,
Italien und Griechenland – epSOS wird schon
seit 2012 in einem Pilotbetrieb getestet. Über
250 Gesundheitseinrichtungen nehmen an
dem Projekt teil.
Deutschland isoliere sich in Europa, so
Axel Wehmeier in seinem Vortrag. Es gibt
keine funktionierende Telematikstruktur,
keine verbindlichen Standards, an denen
sich die Bundesrepublik beteiligt, keine
elektronischen Patientenakten und keine
elektronisch übermittelten Rezepte. Das geplante E-Health-Gesetz der Bundesregierung
enthält keinen Bezug zum europäischen
epSOS-System. Des Weiteren wird in dem
für 2016 angekündigten Gesetz nicht festgelegt, wann verbindliche Standards, die
ePatientenakte und das eRezept eingeführt
werden sollen.
Bislang gibt es über 300 kleine, nicht
nachhaltige Projekte in Deutschland, die
die Digitalisierung des deutschen Gesundheitssystems in einzelnen Bereichen testen. Das sind zu viele Systeme. Das Projekt
Carus Consilium Sachsen (CCS) will einen
Lösungsansatz ab dem dritten Quartal
2015 bereitstellen: eine anwendungsoffene
Telemedizin-Plattform mit standardisierten
Schnittstellen soll die einzelnen Projekte
miteinander verbinden können.
Der Ansatz ist richtig, nur dauert es
in Deutschland im Vergleich zu anderen
europäischen Ländern wesentlich länger,
bis sich datenschutzrechtliche Bedenken beiseite wischen lassen und Platz für
medizinische Innovationen geschaffen
wird.
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Kosten
Unverheiratete bekommen Zuschuss bei künstlicher Befruchtung
Familienministerin Manuela Schwesig will die Förderung einer künstlichen Befruchtung auf unverheiratete Paare ausweiten
I
n Deutschland werden zu wenige Kinder geboren. Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig (SPD) will daher die
Fördermöglichkeiten für eine künstliche
Befruchtung auch für unverheiratete Paare öffnen. Die werden nämlich bislang benachteiligt. Diese Förderung kostet Bund
und Länder jährlich 400.000 Euro zusätzlich. Für Paare belaufen sich die Kosten
für eine künstliche Befruchtung auf bis zu
4.500 Euro. Mit der Gleichstellung könnte
nicht nur die Geburtenrate gesteigert, sondern auch eine unzeitgemäße Regelung
abgeschafft werden.
Die Krankenkasse BKK VBU hat sich
in den letzten Jahren dafür eingesetzt, unverheirateten Paaren einen Zuschuss zur
Kinderwunschbehandlung zahlen zu dürfen: „Der Schritt ist schon lange überfällig
und deshalb richtig“, sagt Helge Neuwerk,
Stellvertreter des Vorstands der Betriebskrankenkasse Verkehrsbau Union (BKK VBU)
zur Ankündigung der Bundesfamilienministerin.
Im Rahmen einer freiwillig geschaffenen Zusatzleistung erhöhte die Kasse den
Kostenzuschuss zur künstlichen Befruchtung von 50 auf 75 Prozent. Zusätzlich wollte
die BKK VBU auch Paaren ohne Trauschein
finanziell unter die Arme greifen. Dafür ist
sie sogar bis vor das Bundessozialgericht
gezogen. Mit Blick auf das Gesetz (§ 27 a SGB
V) lehnten die Richter die Ausweitung der
Zusatzleistung auf Unverheiratete jedoch
ab. „Die künstliche Befruchtung ist damit
weiterhin die einzige Krankenkassenleistung, für die man einen Trauschein braucht“,
macht Neuwerk deutlich.
Die Lebensrealität zeige, dass die Ehe als
Voraussetzung für das Kindeswohl überholt
ist. Laut Statistischem Bundesamt stieg der
Anteil der nichtehelich geborenen Kinder
von 7,2 Prozent im Jahr 1970 auf 34,5 Prozent
im Jahre 2012. Die Richtlinie des Bundesfamilienministeriums sieht derzeit vor, dass nur
Ehepaare finanziell vom Bund unterstützt
werden, wenn das jeweilige Bundesland sich
ebenfalls in mindestens gleicher Höhe an
der Unterstützung beteiligt. Bislang fördern erst fünf Bundesländer die künstliche
Befruchtung.
„In unseren Augen liegt hier sogar eine
doppelte Benachteiligung kinderloser, unverheirateter Paare vor: Sie müssen nicht
nur miteinander verheiratet sein, sondern
auch noch im richtigen Bundesland wohnen,
damit ihnen finanziell geholfen wird“, betont
Helge Neuwerk. Die BKK VBU erhält rund
500 Anträge jährlich von unverheirateten
Paaren auf Zuschuss zur Kinderwunschbehandlung, die sie nach der höchstrichterlichen Entscheidung des Bundessozialgerichts
ablehnen muss.
Doch Familienministerin Manuela
Schwesig bekommt auch Kritik für ihren
Vorstoß,. Die saarländische Gesundheitsministerin Monika Bachmann (CDU) fordert
von Schwesig, erstmal die Hausaufgaben
zu machen und dafür zu „sorgen, dass der
Bund die restlichen Kosten bei Paaren für die
Behandlungsmaßnahmen bei ungewollter
Kinderlosigkeit übernimmt“. Die gesetzlichen
Krankenkassen erstatten ihren Versicherten
für die ersten drei medizinisch notwendigen
und erfolgversprechenden Behandlungen
für eine normale Befruchtung Kosten in
Höhe von 50 Prozent. Die übrigen Kosten
sind von den Paaren zu tragen.
Die Ministerin verwies in diesem Zusammenhang auf die wachsende Bereitschaft
der gesetzlichen Krankenkassen, in ihren
Satzungen Mehrleistungen für Maßnahmen
der künstlichen Befruchtung vorzusehen. „Es
gibt einen klaren Trend bei den Krankenkassen hin zu Leistungsausweitungen bei der
künstlichen Befruchtung“, sagte Monika
Bachmann, „aber wir müssen für ungewollt
kinderlose Paare, die eine künstliche Befruchtung in Erwägung ziehen, eine größtmögliche finanzielle Entlastung erreichen,
denn ungewollte Kinderlosigkeit bedeutet
für die betroffenen Paare oftmals eine hohe
emotionale und finanzielle Belastung.“ Seit
Januar 2012 haben die gesetzlichen Krankenkassen die Möglichkeit, über die genannte
Kostenerstattung hinaus Leistungen für ihre
Versicherten zu erbringen. „Auch Ehepaare
mit kleinem Geldbeutel müssen die Chance
haben, sich ihren Kinderwunsch zu erfüllen“,
so Bachmann abschließend. Dies dürfe die
Bundesfamilienministerin nicht aus den
Augen verlieren.
Deutlicher Widerstand kommt hingegen
von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Deren
familienpolitischer Sprecher Marcus Weinberg stellt die Bedürfnisse des Kindes in den
Vordergrund: „Der gesetzliche Anspruch auf
Bezahlung einer künstlichen Befruchtung
ist zu Recht auf miteinander verheiratete
Paare begrenzt. Nur in der Ehe existiert die
gesetzliche Verpflichtung zur Verantwortungsübernahme. Sie ist die einzige Form,
die Paaren einen Anspruch auf gegenseitigen
Unterhalt, Versorgungsausgleich und auf
Erbschaft garantiert. Von dieser ökonomischen Sicherheit für beide Partner profitieren
mittelbar auch die Kinder.“
Gemäß Bundesverfassungsgericht und
Bundessozialgericht sei es im Interesse von
Kindern, in einer stabilen Partnerschaft
aufzuwachsen. Mit dem Institut der Ehe
schütze und fördere der Staat die rechtliche
Verbindlichkeit einer Partnerschaft, so Weinberg. Dieser verfassungsrechtlich garantierte
Schutzgedanke rechtfertige die besonderen
Privilegien, die Verheirateten zustehen.
Der in den vergangenen Jahren stark
gestiegene Anteil unverheirateter Paare mit
Kinderwunsch legt jedoch nahe, den Schutzgedanken für das ungeborene Kind auch für
unverheiratete Paare zu einer rechtlichen
Pflicht zu machen.
Auch unverheiratete Paare werden jetzt bei den
Kosten für eine künstliche Befruchtung finanziell
gleichgestellt.
Foto: Flickr/Global Panorma/CC BY-SA 2.0
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22. Mai 2015
Sehhilfe
Neue Sehhilfe: Datenbrille lasert Bild direkt auf die Netzhaut
Fujitsu hat eine Datenbrille entwickelt, die Bilder, Texte und HD-Filme direkt auf die Netzhaut wirft
Direkt ins Auge: Die Datenbrille soll auch Brillenträgern ermöglichen, gestochen scharfe Bilder zu sehen.
Foto: QD Laser Inc.
D
er japanische Hersteller QD-Laser
von Fujitsu hat eine Datenbrille entwickelt, die das Bild direkt auf die Netzhaut wirft. Ein schwacher Laser im Brillenrand dient dabei als Projektor, der die
Projektion auf zwei kleine Spiegel wirft.
Diese leiten das Bild auf die Netzhaut des
Trägers um.
Die Laser-Technologie soll unschädlich für die Augen sein und sogar in erster
Linie als Sehhilfe für Menschen mit einge-
schränkter Sehkraft vermarktet werden.
Diese konnten in Tests mit der Brille erstmals scharf sehen. Dadurch könnte eine
weitaus größere Zielgruppe erreicht werden
als etwa mit der bekannten Google-Version
Google Glass, die aktuell Probleme hat,
Käufer zu finden.
Wie das Fachmagazin PCWorld berichtet, lässt sich die Datenbrille mit einem
Smartphone verbinden. So können Nutzer
neben Filmen und Bildern auch Internet-
seiten lesen. Selbst eine 3D-Projektion sei
möglich. Zudem sei eine kleine Kamera
eingebaut, deren Bild sich der Nutzer ebenfalls auf die Netzhaut projizieren lassen
kann. Allerdings muss das Gerät dazu
exakt auf den Träger und dessen Augen
eingestellt werden. Die Datenbrille soll
im März 2016 für rund 2.000 US-Dollar in
Japan, den USA und Europa auf den Markt
kommen.
Das Prinzip der Netzhautprojektion
verbindet die Firma Avegant mit einem
Kopfhörer für das ideale Erlebnis der
virtuellen Realität. Der DatenbrillenKopfhörer Hybrid Glyph soll Menschen
mit großen Sehschwächen eine befriedigende visuelle Welt ermöglichen. Glyph
kann einerseits als reiner Kopfhörer genutzt
werden oder als Datenbrille mit Ton. Das
Bild wird per HDMI-Schnittstelle eingespeist, der Akku hält drei Stunden, berichtet
Golem.de.
Die Produktion des Gehäuses erfolgt
aus dem 3D-Drucker. Das Bild kann exakt
auf die Dioptrinverhältnisse angepasst
werden. So kann Glyph pro Auge ein Bild
von 720 Pixeln auf die Netzhaut des Brillenträgers projizieren. 2 Millionen winzige
Spiegel sorgen für eine dreidimensionale
Darstellung der Projektion. In den USA ist
das Produkt bereits für knapp 500 US-Dollar
im Handel erhältlich.
Ernährung
Fast-Food und Süßes: Deutschland wird immer dicker
Innerhalb von fünf Jahren haben sich die Fälle krankhaften Übergewichts verdoppelt. Experten fordern mehr Sportunterricht
W
egen der starken Zunahme krankhaften Übergewichts in Deutschland fordert ein Experte, mit der Prävention bereits in der Schule zu beginnen.
Thomas Hulisz, der Leiter des AdipositasZentrums in Bochum, rät zu mindestens
fünfmal pro Woche Sport für Kinder. Auch
das Thema Ernährung käme im Unterricht
zu kurz, kritisiert Hulisz. „An Aufklärung
und Bildung passiert noch zu wenig.“
Die Zahl der stationär behandelten Patienten mit der Diagnose Adipositas, also
Fettleibigkeit, steigt bundesweit seit Jahren.
So hat sie sich allein in Nordrhein-Westfalen
innerhalb von fünf Jahren von rund 1800
(2008) auf 3600 (2013) Fälle verdoppelt,
wie das Statistische Landesamt am Freitag
in Düsseldorf mitteilte.
Im Vergleich zu den 80er und 90er
Jahren ist der Anteil übergewichtiger Kinder
um 50 Prozent gestiegen. Ein entscheidender
Grund dafür ist das veränderte Lebensmittelangebot – jederzeit und überall sind stark
kalorienhaltige, hochgradig verarbeitete
Lebensmittel verfügbar und werden massiv beworben.
Ein Mensch gilt als fettleibig, wenn
der Wert seines Body-Mass-Indexes (BMI)
über 30 liegt. Adipositas-Patienten haben
ein deutlich erhöhtes Risiko für Bluthochdruck, erhöhte Cholesterinwerte, Diabetes, Herzschwäche oder Fettleber. Eine
ganzheitliche Behandlung durch Ärzte,
Therapeuten und Psychologen dauert
nach Angaben von Hulisz mindestens
ein Jahr.
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Ausgabe | 19/15
Der von der Bundesregierung vorgelegte Entwurf für ein „Präventionsgesetz“ sei
ungeeignet für den Kampf gegen Krankheiten, die durch ungesunde Ernährung mitverursacht werden, teilt die Verbraucherorganisation foodwatch mit. Keine einzige
Maßnahme im Gesetzentwurf adressiere
die Mitverantwortung der Lebensmittelindustrie für die dramatische Zunahme von
Übergewicht und Fettleibigkeit bei Kindern.
Die Organisation will die Lebensmittelindustrie in die Verantwortung nehmen:
Neben einer Marketingbeschränkung für
unausgewogene Kinderprodukte müssten
etwa auch verbindliche Standards für die
Verpflegung in Schulen und Kindertagesstätten festgelegt sowie der Zucker- und
Salzgehalt in verarbeiteten Lebensmitteln
reduziert werden.
„Es ist eine Kapitulationserklärung vor
den Gewinninteressen der Lebensmittel-
industrie, dass im gesamten Gesetzestext
mit keiner Silbe die Mitverantwortung
der Branche für Übergewicht und Fehlernährung genannt wird“, kritisiert Oliver
Huizinga, Experte für Kinderernährung bei
foodwatch. Durch aggressives Marketing
und ein großes Angebot an übersüßten
und fettigen Produkten würden Kinder
und Jugendliche zu einem unausgewogenen Ernährungsstil verführt. Enormen
Gewinnen auf Seiten der Branche stünden
enorme Kosten für das Gesundheitswesen gegenüber. „Genau hier müsste eine
wirksame Präventionsstrategie ansetzen“,
so Huizinga.
Die Prävention von Fehlernährung,
Übergewicht und Adipositas solle als
Zielvorgabe in den Gesetzentwurf aufgenommen werden. So dürften der Organisation zufolge unausgewogenes Junkfood,
Süßigkeiten oder Softdrinks nicht länger
22. Mai 2015
gezielt als Kinderprodukte beworben und
mit Comicfiguren, Spielzeugbeigaben
oder Gewinnspielen an Kinder vermarktet werden. Vorbild dafür soll ein kürzlich
vorgestelltes Modell der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sein, wonach nur
noch bestimmte ausgewogene Lebensmittel an Kinder vermarktet werden
dürfen.
„Kein einziger Staat hat es geschafft, die
Adipositas-Epidemie in allen Altersgruppen
zu stoppen“, sagte WHO-Chefin Margaret
Chan bereits vor zwei Jahren. „Hier mangelt
es nicht an individueller Willenskraft. Hier
mangelt es am politischen Willen, sich
mit einer großen Industrie anzulegen.“
Die Lebensmittelwirtschaft prägt junge
Konsumenten durch gezieltes Marketing
für jene Produkte, die die größte Profitabilität versprechen: Süßwaren, Softdrinks
und unausgewogene Snacks.
Die Lebensmittelindustrie trägt zur Fettleibigkeit in Deutschland bei, behaupten Verbraucherorganisationen.
Foto: Flickr/Butz.2013/CC BY 2.0
Impressum Geschäftsführer: Christoph Hermann, Karmo Kaas-Lutsberg. Herausgeber: Dr. Michael Maier (V.i.S.d. §§ 55 II RStV). Chefredakteurin:
Jennifer Bendele. Redaktion: Thomas Gollmann, Anika Schwalbe, Gloria Veeser. Sales Director: Philipp Schmidt. Layout: Nora Lorz. Copyright: Blogform
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www.deutsche-gesundheits-nachrichten.de
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