«Die Leute tauchten Setzlinge in Gülle»

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Bote der Urschweiz | Freitag, 10. April 2015
TAGESTHEMA
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«Die Leute tauchten Setzlinge in Gülle»
Selbst grosser Reichtum bewahrte nicht vor dem Tod. Dies zeigt das Bild des Stanser Malers Martin Obersteg von 1816.
In ihrer Not assen die Menschen (wie in der Ostschweiz, rechts) sogar Gras.
SCHWEIZ Die Kinder grasten
wie Vieh, Soldaten bewachten
Felder: der Historiker Daniel
Krämer über die Folgen eines
Vulkanausbruchs vor genau
200 Jahren für die Zentralschweiz.
INTERVIEW KARI KÄLIN
[email protected]
Daniel Krämer, vor 200 Jahren brach
in Indonesien der Vulkan Tambora
aus und löste in Europa und der
Schweiz eine Hungerkrise aus. Erkannten die Zeitgenossen diesen Zusammenhang?
Daniel Krämer: Nein. Man wusste zwar
Bescheid über den Vulkanausbruch, den
Zusammenhang mit dem Klima entdeckten Forscher aber erst 100 Jahre später.
Die Durchschnittstemperaturen sanken aber deutlich, 1816 ging in Westund Mitteleuropa sowie im Nordosten
der USA als «Jahr ohne Sommer» in
die Geschichte ein. Wo orteten die
Menschen damals die Gründe für die
markante Wetterveränderung?
Krämer: Es gab verschiedene Interpretationen. Zum Teil glaubten die Leute, die
Blitzableiter seien schuld, weil sie die
elektrischen Ströme im Erdinnern verändern würden. Auch Sonnenflecken, das
grossflächige Abholzen von Wäldern oder
das Vordringen des arktischen Eises wurden als mögliche Ursachen aufgeführt.
Die Folgen des Vulkanausbruches beschäftigte die Leute aber viel stärker als
die Ursachenforschung.
Sie meinen die Hungersnot 1816/17.
Krämer: Genau. Die Menschen hatten vor
allem ein Ziel: Es musste genügend Nah-
Bilder Staatsarchiv Nidwalden: P 82/1; Daniel Krämer/ Toggenburger Museum, Lichtensteig
rung auf den Teller kommen. In Schweizer Zeitungen fand man Ratschläge, wie
man ungewohnte Nahrungsmittel zubereiten sollte, ohne sich Magen-DarmKrankheiten einzufangen. Man machte
sich Gedanken, wie Hunger und Armut
am besten zu bekämpfen wären.
Welche Folgen hatte das sonnenarme
Jahr auf den Alltag?
Krämer: Wegen der Missernte stiegen die
Nahrungsmittelpreise massiv an. In Genf
zum Beispiel betrug die Teuerung innerhalb eines Jahres 227, in Rorschach sogar
587 Prozent. Familien gaben zu dieser
Zeit im Durchschnitt 60 bis 70 Prozent
ihres Einkommens für Nahrungsmittel
aus. Eine solche Teuerungsspirale stellte
viele Familien vor massive Probleme. Die
Leute konnten sich quasi nichts mehr
leisten. Darunter litten auch die Handwerker, die ihre Produkte nicht mehr
verkaufen konnten.
In welchen Regionen der Schweiz
herrschte der grösste Notstand?
Krämer: Vor allem in den Ostschweizer
Kantonen St. Gallen, Appenzell, Thurgau
und auch in Glarus war die Hungersnot
offen sichtbar. Einzelne Appenzeller Gemeinden verloren bis zu 10 Prozent ihrer
Bevölkerung. In den übrigen Landesteilen
hinterliess die Hungersnot vergleichsweise wenig demografische Spuren. Die
Geburtenrate sank allgemein, weil die
Frauen wegen der mangelhaften Ernährung teilweise unfruchtbar waren.
Weshalb wütete die Hungersnot vor
allem in der Ostschweiz?
Krämer: Die Ostschweiz war dichter besiedelt und stärker industrialisiert, wies
dafür aber einen geringeren Selbstversorgungsgrad auf als die Westschweiz. Die
Ostschweiz lieferte Textilien nach Süddeutschland und importierte im Gegenzug Getreide. Angesichts der Missernten
schränkte man in Süddeutschland den
70 000
TODESOPFER
forderte der Ausbruch des Vulkans
Tambora am 10. April 1815 allein
auf der indonesischen Insel
Sumbawa und auf den Nachbarinseln.
160
KUBIKKILOMETER
MATERIAL
wurde dabei in die Stratosphäre
geschleudert. Das entspricht
achtmal dem Volumen des Pilatus.
4,6
GRAD
Um diesen Wert kühlte sich das
Klima im Jahr 1816 in Westeuropa im Vergleich zum langjährigen
Durchschnitt ab.
Export ein. Auch innerhalb der Schweiz
verhängten die Kantone Exportsperren
und belieferten einander nicht mehr oder
nur noch beschränkt mit Nahrungsmitteln. Die Ostschweiz stand somit buchstäblich vor dem Nichts.
Wie präsentierte sich die Lage in der
Zentralschweiz?
Krämer: Diese Region kam relativ glimpflich davon. Der Kanton Nidwalden etwa
profitierte stark davon, dass man viel Vieh
und Käse hatte. Dies war wichtig für die
Proteinversorgung. Die Zentralschweiz
war weniger dicht bevölkert als die Ostschweiz. Auch deshalb starben nur vereinzelt Personen an Hunger.
nicht so mager wäre. Schildert das
die ganze Dramatik?
Krämer: Oberstegs Beschreibungen sind
sehr plastisch, aber nicht übertrieben.
Wenn in jenem Jahr die Ernte abermals
mager gewesen wäre, hätte dies in der
Schweiz zu einer grösseren demografischen
Katastrophe geführt. Obersteg gehörte der
Oberschicht an und litt sicher weniger stark
unter der Hungerkrise als die Durchschnittsbürger. Wer genügend Geld hatte,
konnte sich relativ gut
über Wasser halten.
Es gibt aber auch – zum Beispiel aus
dem Kanton Schwyz – Berichte, wonach Kinder im Gras weideten wie
Schafe.
Krämer: Tatsächlich fand man Gras im
Magen von toten Menschen. Es herrschte in der ganzen Schweiz grosser Mangel.
Die Leute tauchten
Kartoffelsetzlinge in
Gülle, damit sie nicht
schon wieder, kaum
hatte man sie gesetzt,
ausgegraben wurden.
An vielen Orten bewachten Soldaten Felder. Im Kanton Uri
verstarb eine Frau
sogar an den Folgen
«In Nidwalden
einer Schussverletwurden auch Diebe
zung. In Nidwalden
wurden zum letzten
hingerichtet.»
Mal in der Geschichte
DA N I E L K R Ä M E R , H I STO R I K E R
des Kantons auch Diebe hingerichtet.
Wie reagierten die Kantone und Gemeinden auf die Krise?
Krämer: Wie immer bei einem Anstieg
der Nahrungsmittelpreise versuchten sie,
Angebot und Nachfrage zu steuern. Man
führte Exportbeschränkungen ein und
versuchte, sich im Ausland mit Getreide
einzudecken. Man verbot, aus Kartoffeln
und Obst Schnaps zu produzieren. Zudem
ordneten die Behörden auch Bittgänge
und Wallfahrten an. Die Nidwaldner etwa
pilgerten 1816 zu Bruder Klaus, ein Jahr
später aber fehlte das Geld für einen
Kreuzgang nach Einsiedeln.
Der Stanser Maler Martin Obersteg
schrieb 1817 in sein Tagebuch, er
hätte Angst, von den armen Leuten
aufgefressen zu werden, wenn er
Welche Lehren zog
man aus der ­Krise?
Krämer: Man setzte
noch stärker auf den
Kartoffelanbau, den
man bereits 1770, nach
der letzten grossen Ernährungskrise, als
wirksames
Mittel
gegen den Hunger gefördert hatte. Man modernisierte die Landwirtschaft und versuchte, die Erträge zu
optimieren. Man realisierte auch, dass die christliche Nächstenliebe an ihre Grenze stiess, und institutionalisierte die Armenhilfe.
Wie veränderte die Hungerkrise den
Blick der Gesellschaft auf die Armut?
Krämer: Vor der Krise galt Armut oft als
selbst verschuldet. In der Krisenzeit realisierte die Gesellschaft, dass es auch
strukturelle Gründe für die Armut gab.
Ein Blick in die Ostschweiz mit der darbenden Textilindustrie genügte.
HINWEIS
Der Historiker Daniel Krämer (38) stammt aus
Stans. Der Titel seiner Dissertation lautet:
«Menschen grasten nun mit dem Vieh. Die letzte
grosse Hungerkrise der Schweiz 1816/17.» Krämer
ist Mitglied des Oeschger-Zentrums für Klimaforschung der Universität Bern.
Vulkanausbruch führte zu Missernten in der Schweiz
NATURKATASTROPHE kä. Es handelt
sich vermutlich um den grössten Vulkanausbruch der letzten 7000 Jahre:
Das Naturereignis, das sich am
10. April 1815 auf der indonesischen
Insel Sumbawa zutrug, war tatsächlich
gigantisch. Die obersten 1500 Meter des
Berggipfels wurden weggesprengt, als
vor 200 Jahren der Vulkan Tambora
ausbrach.
Ein Jahr ohne Sommer
Zu ersten Eruptionen war es bereits
fünf Tage früher gekommen. Allein auf
Sumbawa und den Nachbarinseln for-
derte der Vulkanausbruch mehr als
70 000 Todesopfer. Dies schreibt das
Oeschger-Zentrum für Klimaforschung
der Universität Bern, das in dieser
Woche eine internationale Konferenz
zum Thema veranstaltet hat.
Die Folgen des Ausbruchs beschränkten sich nicht auf Indonesien. Das Jahr
1816 ging in West- und Mitteleuropa
sowie im Nordosten der USA als «Jahr
ohne Sommer» in die Geschichte ein.
Das Klima kühlte sich wegen des Vulkanausbruchs ab, die Temperaturen
lagen im Sommer zwischen 2,3 und 4,6
Grad unter dem langjährigen Durch-
schnitt. Wie war das möglich? Rund 160
Kubikkilometer Material – das entspricht
achtmal dem Volumen des Pilatus –
wurden in die Stratosphäre geschleudert,
also höher als 10 Kilometer.
Gras und Klee mit Salz
Die Konsequenz: In der wolkenlosen
Stratosphäre wurde das Material monatelang um den ganzen Globus verteilt. Niederschlag, der die Luft reinwäscht, gibt es dort nicht. Durch die
verminderte Sonneneinstrahlung kühlte das Wetter weltweit ab. In der
Schweiz etwa schneite es am 2. und
30. Juli 1816 bis in tiefe Lagen. Bereits
seit 1812 liessen nasskalte Sommer die
Getreidepreise auf ein hohes Niveau
steigen. Die Wetterkapriolen führten
1816 zu schlimmen Missernten und
lösten eine Hungersnot aus. Gemäss
Beschreibungen des Priesters Augustin
Schibig verzehrten zum Beispiel die ganz
armen Leute im Kanton Schwyz «die
unnatürlichsten, oft eckelhaftesten Sachen, um ihren Heisshunger zu stillen».
Allerlei Gras, Mattenkräuter, Klee und
Nesseln seien roh oder gesotten oder
angereichert mit etwas Salz oder Milch
gegessen worden. Im Ybrig, in Rothen­
thurm und in den Berggegenden weideten die Kinder laut Schibig oft im
Gras «wie Schafe». Auch im Kanton
Luzern herrschte eine Mangellage: Im
Entlebuch etwa lebten Familien von
der Milch der Ziegen oder mussten
Fleisch von verendeten Tieren verzehren. Wegen der Not begingen die Menschen auch vermehrt Diebstähle, sodass
die Gefängnisse gut gefüllt waren und
die Gärten überwacht wurden. In Einsiedeln zum Beispiel stellte Major Alois
Benziger eine zwölfköpfige Gruppe
zusammen, die ab Juli 1817 rund um
die Uhr im Dorf patrouillierte.