BdU . SE 17 blackcyanmagyellow Bote der Urschweiz | Freitag, 10. April 2015 TAGESTHEMA 17 «Die Leute tauchten Setzlinge in Gülle» Selbst grosser Reichtum bewahrte nicht vor dem Tod. Dies zeigt das Bild des Stanser Malers Martin Obersteg von 1816. In ihrer Not assen die Menschen (wie in der Ostschweiz, rechts) sogar Gras. SCHWEIZ Die Kinder grasten wie Vieh, Soldaten bewachten Felder: der Historiker Daniel Krämer über die Folgen eines Vulkanausbruchs vor genau 200 Jahren für die Zentralschweiz. INTERVIEW KARI KÄLIN [email protected] Daniel Krämer, vor 200 Jahren brach in Indonesien der Vulkan Tambora aus und löste in Europa und der Schweiz eine Hungerkrise aus. Erkannten die Zeitgenossen diesen Zusammenhang? Daniel Krämer: Nein. Man wusste zwar Bescheid über den Vulkanausbruch, den Zusammenhang mit dem Klima entdeckten Forscher aber erst 100 Jahre später. Die Durchschnittstemperaturen sanken aber deutlich, 1816 ging in Westund Mitteleuropa sowie im Nordosten der USA als «Jahr ohne Sommer» in die Geschichte ein. Wo orteten die Menschen damals die Gründe für die markante Wetterveränderung? Krämer: Es gab verschiedene Interpretationen. Zum Teil glaubten die Leute, die Blitzableiter seien schuld, weil sie die elektrischen Ströme im Erdinnern verändern würden. Auch Sonnenflecken, das grossflächige Abholzen von Wäldern oder das Vordringen des arktischen Eises wurden als mögliche Ursachen aufgeführt. Die Folgen des Vulkanausbruches beschäftigte die Leute aber viel stärker als die Ursachenforschung. Sie meinen die Hungersnot 1816/17. Krämer: Genau. Die Menschen hatten vor allem ein Ziel: Es musste genügend Nah- Bilder Staatsarchiv Nidwalden: P 82/1; Daniel Krämer/ Toggenburger Museum, Lichtensteig rung auf den Teller kommen. In Schweizer Zeitungen fand man Ratschläge, wie man ungewohnte Nahrungsmittel zubereiten sollte, ohne sich Magen-DarmKrankheiten einzufangen. Man machte sich Gedanken, wie Hunger und Armut am besten zu bekämpfen wären. Welche Folgen hatte das sonnenarme Jahr auf den Alltag? Krämer: Wegen der Missernte stiegen die Nahrungsmittelpreise massiv an. In Genf zum Beispiel betrug die Teuerung innerhalb eines Jahres 227, in Rorschach sogar 587 Prozent. Familien gaben zu dieser Zeit im Durchschnitt 60 bis 70 Prozent ihres Einkommens für Nahrungsmittel aus. Eine solche Teuerungsspirale stellte viele Familien vor massive Probleme. Die Leute konnten sich quasi nichts mehr leisten. Darunter litten auch die Handwerker, die ihre Produkte nicht mehr verkaufen konnten. In welchen Regionen der Schweiz herrschte der grösste Notstand? Krämer: Vor allem in den Ostschweizer Kantonen St. Gallen, Appenzell, Thurgau und auch in Glarus war die Hungersnot offen sichtbar. Einzelne Appenzeller Gemeinden verloren bis zu 10 Prozent ihrer Bevölkerung. In den übrigen Landesteilen hinterliess die Hungersnot vergleichsweise wenig demografische Spuren. Die Geburtenrate sank allgemein, weil die Frauen wegen der mangelhaften Ernährung teilweise unfruchtbar waren. Weshalb wütete die Hungersnot vor allem in der Ostschweiz? Krämer: Die Ostschweiz war dichter besiedelt und stärker industrialisiert, wies dafür aber einen geringeren Selbstversorgungsgrad auf als die Westschweiz. Die Ostschweiz lieferte Textilien nach Süddeutschland und importierte im Gegenzug Getreide. Angesichts der Missernten schränkte man in Süddeutschland den 70 000 TODESOPFER forderte der Ausbruch des Vulkans Tambora am 10. April 1815 allein auf der indonesischen Insel Sumbawa und auf den Nachbarinseln. 160 KUBIKKILOMETER MATERIAL wurde dabei in die Stratosphäre geschleudert. Das entspricht achtmal dem Volumen des Pilatus. 4,6 GRAD Um diesen Wert kühlte sich das Klima im Jahr 1816 in Westeuropa im Vergleich zum langjährigen Durchschnitt ab. Export ein. Auch innerhalb der Schweiz verhängten die Kantone Exportsperren und belieferten einander nicht mehr oder nur noch beschränkt mit Nahrungsmitteln. Die Ostschweiz stand somit buchstäblich vor dem Nichts. Wie präsentierte sich die Lage in der Zentralschweiz? Krämer: Diese Region kam relativ glimpflich davon. Der Kanton Nidwalden etwa profitierte stark davon, dass man viel Vieh und Käse hatte. Dies war wichtig für die Proteinversorgung. Die Zentralschweiz war weniger dicht bevölkert als die Ostschweiz. Auch deshalb starben nur vereinzelt Personen an Hunger. nicht so mager wäre. Schildert das die ganze Dramatik? Krämer: Oberstegs Beschreibungen sind sehr plastisch, aber nicht übertrieben. Wenn in jenem Jahr die Ernte abermals mager gewesen wäre, hätte dies in der Schweiz zu einer grösseren demografischen Katastrophe geführt. Obersteg gehörte der Oberschicht an und litt sicher weniger stark unter der Hungerkrise als die Durchschnittsbürger. Wer genügend Geld hatte, konnte sich relativ gut über Wasser halten. Es gibt aber auch – zum Beispiel aus dem Kanton Schwyz – Berichte, wonach Kinder im Gras weideten wie Schafe. Krämer: Tatsächlich fand man Gras im Magen von toten Menschen. Es herrschte in der ganzen Schweiz grosser Mangel. Die Leute tauchten Kartoffelsetzlinge in Gülle, damit sie nicht schon wieder, kaum hatte man sie gesetzt, ausgegraben wurden. An vielen Orten bewachten Soldaten Felder. Im Kanton Uri verstarb eine Frau sogar an den Folgen «In Nidwalden einer Schussverletwurden auch Diebe zung. In Nidwalden wurden zum letzten hingerichtet.» Mal in der Geschichte DA N I E L K R Ä M E R , H I STO R I K E R des Kantons auch Diebe hingerichtet. Wie reagierten die Kantone und Gemeinden auf die Krise? Krämer: Wie immer bei einem Anstieg der Nahrungsmittelpreise versuchten sie, Angebot und Nachfrage zu steuern. Man führte Exportbeschränkungen ein und versuchte, sich im Ausland mit Getreide einzudecken. Man verbot, aus Kartoffeln und Obst Schnaps zu produzieren. Zudem ordneten die Behörden auch Bittgänge und Wallfahrten an. Die Nidwaldner etwa pilgerten 1816 zu Bruder Klaus, ein Jahr später aber fehlte das Geld für einen Kreuzgang nach Einsiedeln. Der Stanser Maler Martin Obersteg schrieb 1817 in sein Tagebuch, er hätte Angst, von den armen Leuten aufgefressen zu werden, wenn er Welche Lehren zog man aus der Krise? Krämer: Man setzte noch stärker auf den Kartoffelanbau, den man bereits 1770, nach der letzten grossen Ernährungskrise, als wirksames Mittel gegen den Hunger gefördert hatte. Man modernisierte die Landwirtschaft und versuchte, die Erträge zu optimieren. Man realisierte auch, dass die christliche Nächstenliebe an ihre Grenze stiess, und institutionalisierte die Armenhilfe. Wie veränderte die Hungerkrise den Blick der Gesellschaft auf die Armut? Krämer: Vor der Krise galt Armut oft als selbst verschuldet. In der Krisenzeit realisierte die Gesellschaft, dass es auch strukturelle Gründe für die Armut gab. Ein Blick in die Ostschweiz mit der darbenden Textilindustrie genügte. HINWEIS Der Historiker Daniel Krämer (38) stammt aus Stans. Der Titel seiner Dissertation lautet: «Menschen grasten nun mit dem Vieh. Die letzte grosse Hungerkrise der Schweiz 1816/17.» Krämer ist Mitglied des Oeschger-Zentrums für Klimaforschung der Universität Bern. Vulkanausbruch führte zu Missernten in der Schweiz NATURKATASTROPHE kä. Es handelt sich vermutlich um den grössten Vulkanausbruch der letzten 7000 Jahre: Das Naturereignis, das sich am 10. April 1815 auf der indonesischen Insel Sumbawa zutrug, war tatsächlich gigantisch. Die obersten 1500 Meter des Berggipfels wurden weggesprengt, als vor 200 Jahren der Vulkan Tambora ausbrach. Ein Jahr ohne Sommer Zu ersten Eruptionen war es bereits fünf Tage früher gekommen. Allein auf Sumbawa und den Nachbarinseln for- derte der Vulkanausbruch mehr als 70 000 Todesopfer. Dies schreibt das Oeschger-Zentrum für Klimaforschung der Universität Bern, das in dieser Woche eine internationale Konferenz zum Thema veranstaltet hat. Die Folgen des Ausbruchs beschränkten sich nicht auf Indonesien. Das Jahr 1816 ging in West- und Mitteleuropa sowie im Nordosten der USA als «Jahr ohne Sommer» in die Geschichte ein. Das Klima kühlte sich wegen des Vulkanausbruchs ab, die Temperaturen lagen im Sommer zwischen 2,3 und 4,6 Grad unter dem langjährigen Durch- schnitt. Wie war das möglich? Rund 160 Kubikkilometer Material – das entspricht achtmal dem Volumen des Pilatus – wurden in die Stratosphäre geschleudert, also höher als 10 Kilometer. Gras und Klee mit Salz Die Konsequenz: In der wolkenlosen Stratosphäre wurde das Material monatelang um den ganzen Globus verteilt. Niederschlag, der die Luft reinwäscht, gibt es dort nicht. Durch die verminderte Sonneneinstrahlung kühlte das Wetter weltweit ab. In der Schweiz etwa schneite es am 2. und 30. Juli 1816 bis in tiefe Lagen. Bereits seit 1812 liessen nasskalte Sommer die Getreidepreise auf ein hohes Niveau steigen. Die Wetterkapriolen führten 1816 zu schlimmen Missernten und lösten eine Hungersnot aus. Gemäss Beschreibungen des Priesters Augustin Schibig verzehrten zum Beispiel die ganz armen Leute im Kanton Schwyz «die unnatürlichsten, oft eckelhaftesten Sachen, um ihren Heisshunger zu stillen». Allerlei Gras, Mattenkräuter, Klee und Nesseln seien roh oder gesotten oder angereichert mit etwas Salz oder Milch gegessen worden. Im Ybrig, in Rothen thurm und in den Berggegenden weideten die Kinder laut Schibig oft im Gras «wie Schafe». Auch im Kanton Luzern herrschte eine Mangellage: Im Entlebuch etwa lebten Familien von der Milch der Ziegen oder mussten Fleisch von verendeten Tieren verzehren. Wegen der Not begingen die Menschen auch vermehrt Diebstähle, sodass die Gefängnisse gut gefüllt waren und die Gärten überwacht wurden. In Einsiedeln zum Beispiel stellte Major Alois Benziger eine zwölfköpfige Gruppe zusammen, die ab Juli 1817 rund um die Uhr im Dorf patrouillierte.
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