Brückenbauer setzen Meilensteine in Istanbul

SPEZIAL
Seite 8 ABcDE nummer 90
Samstag, 18. April 2015
Brückenbauer setzen Meilensteine in Istanbul
Nordrhein-Westfalen forciert die wissenschaftlichen Beziehungen mit der Türkei. Die Textiltechnik der RWTH Aachen zeigt, dass es dafür gute Gründe gibt.
Von ThorsTen Karbach
Aachen/Istanbul. Am Ende steht
ein Händedruck – und es wird natürlich türkischer Tee serviert, ein
feines Ritual, das eine Freundschaft ebenso besiegelt wie die
Tinte unter dem Vertrag. Der
wurde gerade offiziell unterzeichnet von Bayram Aslan und Mehmet Akalin. Aslan vertritt das Institut für Textiltechnik der RWTH Aachen (ITA), Akalin die Textilingenieure der Marmara-Universität in
Istanbul. Beide wollen die bisherige Zusammenarbeit ausbauen,
die Brücke zwischen der deutschen
und der türkischen Hochschule
hat hiermit ein hochoffizielles
Fundament bekommen.
Es klingt richtig und wichtig,
dass Nordrhein-Westfalen dermaßen auf die Türkei zugeht. Das
Bundesland wurde von seinen
Gastarbeitern geprägt. Nun ist erneut absehbar, dass der Industrie
Mitarbeiter fehlen werden. Auch
die Studentenzahlen werden nicht
ewig derart üppig wie derzeit ausfallen, und die Hochschulen müssen sich die neuen Studenten außerhalb Deutschlands suchen.
Schon
im
Wintersemester
2013/2014 kamen 11 944 Studenten an den NRW-Hochschulen aus
der Türkei. Es ist die größte Gruppe
ausländischer Studenten im Bundesland. An der RWTH sind das
noch die Chinesen (1296 von insgesamt 7056 ausländischen Studenten, davon 633 aus der Türkei
im Wintersemester), die landesweit die zweitgrößte Gruppe stellen (7457). Doch die Chinesen gehen im Normalfall nach dem Studium oder der Promotion wieder
zurück in die Heimat, während die
Chance, einen jungen Türken in
Deutschland zu halten, weit größer ist. Das Einleben fällt leichter,
die meisten haben im Zuge der
Gastarbeitergeschichte Verwandte
oder Freunde im Land.
Riesiges Reservoir
2014 war das „Deutsch-Türkische
Jahr der Forschung, Bildung und
Innovation“ mit fast 200 Veranstaltungen und 100 Projekten in
beiden Ländern. Im April 2015
reiste Svenja Schulze (SPD) als erste
Wissenschaftsministerin
eines
deutschen Bundeslandes mit einer
Delegation nach Istanbul, um Verträge wie den des ITA mit der Marmara-Universität zu unterschreiben und die Kontakte zu intensivieren.
NRW betont auf diese Weise das
Interesse an der Türkei und ihrem
riesigen Reservoir junger Menschen: 50 Prozent der Türken sind
unter 30 Jahre alt, die meisten haben in der Schule die Chance, erste
Kenntnisse der deutschen Sprache
zu erwerben. 90 Prozent wählen
tatsächlich Deutsch als zweite
Fremdsprache, zeigen damit zumindest Interesse, auch wenn die
Kenntnisse am Ende kaum mehr
als rudimentär sind. Darüber hin-
der Türkei haben immer noch diesen anderen Grund: „Wir wollen
sehr guten Nachwuchs gewinnen“, sagt der 37-jährige Aslan.
Die Marmara-Universität ist
eine der größeren staatlichen
Hochschulen in Istanbul. Und sie
ist sehr groß: 75 000 Studenten
gibt es an zwölf Standorten. Zum
Vergleich: Die RWTH ist eine der
größeren deutschen Hochschulen
und hat 42 298 Studenten. Der Istanbuler Campus liegt eingezwängt zwischen Wohnblöcken
auf der asiatischen Seite, das Stadion von Fenerbahce ist nicht
weit. Die Gebäude sind schmucklos, aber im Rektorat warten hinter
einer Sicherheitsschleuse luxuriöse Ledersessel.
Der Stolz
Textiltechniker als Brückenbauer: Der Aachener Bayram Aslan hat in Istanbul einen Vertrag über die Zusammenarbeit mit der türkischen MarmaraUniversität unterzeichnet.
Fotos: Ralph Sondermann (4), Thorsten Karbach
aus gibt es staatliche Gymnasien
wie das Istanbul Lisesi, eine Eliteschule, die in der achten Klasse ansetzt und 180 Schüler pro Jahrgang
Deutsch lehrt und am Ende sogar
das deutsche Abitur zusätzlich
zum eigentlichen Abschluss anbietet. 149 Schüler wollten dies im
letzten Jahr auch, die Abschlüsse
sind absolut vorzeigenswert.
Mit Skepsis begegnen
Doch noch ist es so: Erste Wahl der
besten Absolventen ist die USA,
zweite Wahl ist Großbritannien,
erst dann kommt Deutschland.
Und das Werben um die – besten –
türkischen Studenten hat auch anderswo begonnen. Vor allem niederländische Universitäten wie die
in Amsterdam versuchen eifrig
Partnerschaften
aufzubauen.
„Überall wächst das Interesse“,
sagt der Rektor der Istanbuler BilgiUniversität, Remzi Sanver.
Es gibt gute Gründe, der Türkei
in diesen Tagen mit Skepsis zu be-
Drei fragen an
„Extreme Unterschiede“
E SVEnjA ScHUlzE
(SPD)
Wissenschaftsministerin des Landes
NRW
Welche Erkenntnisse haben Sie
aus der Türkei mitgenommen?
Schulze: Die wichtigste Erkenntnis ist, dass das Wissenschaftssystem in der Türkei sehr vielschichtig ist. Es gibt extreme Unterschiede zwischen den Hochschulen. Bei uns in NRW gibt es gute
Hochschulen und sehr gute
Hochschulen. In der Türkei gibt es
sehr gute Hochschulen und viele
Einrichtungen, an denen kaum
Forschung stattfindet. Das Miteinander von Lehre und Forschung,
wie wir es in Nordrhein-Westfalen
pflegen, gibt es dort nicht. Ich
kann verstehen, dass der Schwerpunkt angesichts von zwei Millionen
Studienanwärtern
auf
800 000 Studienplätze zunächst
bei der Lehre liegt, aber diese Diskrepanz zu unserer Hochschullandschaft ist schon gewaltig.
Welche mittel- bis langfristigen
Ziele verfolgt NRW mit der inten-
sivierten Partnerschaft mit der
Türkei?
Schulze: Auf jeden Fall das Ziel,
die Kontakte zwischen den Hochschulen zu stärken und Studierende auszutauschen. Wir wollen
eine zunehmende Zahl von Studierenden in die Türkei schicken
können, aber auch – so schwierig
das ist – türkische Studierende an
NRW-Hochschulen holen. Die
nächste Stufe wäre der Austausch
von Wissenschaftlern. Wir haben
in Nordrhein-Westfalen wie in
ganz Deutschland natürlich auch
ein Interesse daran, gerade in den
technischen Bereichen Fachkräfte anzuwerben. Es ist nicht
mehr so wie früher. In früheren
Jahrzehnten haben wir Gastarbeiter gesucht, jetzt suchen wir Facharbeiter, also junge Leute, die sehr
gut ausgebildet wurden.
Ist die Gastarbeitertradition ein
Vorteil, wenn es nun darum geht,
Facharbeiter zu gewinnen?
Schulze: Es ist ein enormer Vorteil, dass in NRW so viele Menschen mit türkischen Wurzeln leben. Da finden sich Anknüpfungspunkte, die den Weg aus der
Türkei nach Deutschland mit Sicherheit leichter machen. (tka)
gegnen – kurz vor Reisebeginn der
Delegation um NRW-Wissenschaftsministerin Schulze kam die
Nachricht, die türkische Regierung
habe Twitter und Youtube – beliebte Kanäle der Meinungsäußerung im Internet – vorübergehend
blockiert. Die Regierung nimmt
enormen Einfluss auf alles – auch
die Hochschulen. Da sollen Zivilpolizisten in Vorlesungen sitzen,
um die Regimetreue der Professoren zu prüfen. An der Freiheit von
Lehre und Forschung gibt es berechtigte Zweifel. Schwer zu glauben, aber wahr: Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan hat grundsätzlich das letzte Wort, wenn Rektorenposten besetzt werden, und
entscheidet sich immer wieder für
Weggefährten statt der von den
Hochschulen favorisierten Professoren.
Die Frage ist: Warum gibt es keinen offenen Protest wie bei den
Massendemonstrationen zum Erhalt des Gezi-Parks? Warum entwickelt sich in der Türkei kein Widerstand der Wissenschaftler?
Gute Frage. Klare Antworten
gibt es an den meisten Hochschulen nicht. Offene Worte können
Repressalien bedeuten. Eine ausweichende lautet: Vor Erdogan
mag es anders gewesen sein, aber
nicht unbedingt besser. Und in Zukunft? Am 7. Juni wird in der Türkei gewählt. Die Hoffnung ist groß,
dass eine kurdische Oppositionspartei die Zehn-Prozent-Hürde
überspringt, ins Parlament einzieht und sich Erdogans AKP entgegenstellt. Nach einem langen,
kalten Winter, der noch im März
Schnee nach Istanbul brachte,
steht ein heißer Wahlkampf bevor.
Es wird registriert
Auch das wird in NRW registriert.
Der Status quo samt der Situation
der Wissenschaften in der Türkei
wird sorgsam verfolgt. Auch dafür
sind die Kontakte wichtig. Es geht
auch um Unterstützung der freien
Wissenschaften in der Türkei.
Der Kontakt zwischen Bayram
Aslans Aachener Institut und der
Marmara-Universität wurde kontinuierlich ausgebaut. Aufgrund seiner eigenen Geschichte ist Bayram
Aslan als Brückenbauer prädestiniert. Er ist ein typisches Gastarbeiterkind, wurde in Duisburg geboren. Er ist aufgewachsen im
Stadtteil Marxloh, dort wo die
Stahlarbeiter aus Anatolien arbeiteten. Er ging nach Aachen, um
Maschinenbau zu studieren. Er
tendierte zu Luft- und Raumfahrt
und konnte sich dann doch für die
Textiltechnik begeistern – und begeistert nun andere.
Er ist Bereichsleiter Türkei am
ITA. Sein Institutsdirektor, Professor Thomas Gries, ist Türkeibeauf-
AZ-SERIE
Brückenschlag
zum Bosperus
tragter im Rektorat der RWTH Aachen. Entstanden ist die Zusammenarbeit in einem Forschungszentrum in der Türkei, das Mehmet
Akalin gegründet hatte. Zunächst
wurde eine Vereinbarung zum
Austausch von Studenten ge-
schlossen, dann ging es auch um
Masterplätze für Studenten aus der
Türkei und Post-Doc-Stellen, also
die Möglichkeit für promovierte
Absolventen auch in Aachen Textiltechnik zu erforschen.
So wurden von den Textilexperten immer neue Verbindungen in
die Türkei gesponnen. Und das aus
guten Gründen: Die Türkei ist ein
klassisches Textilland, es gibt dort
mehr Unternehmen in der Branche als in Deutschland Beschäftigte. Die türkische Textilindustrie
steckt dabei im Umbruch, das Bestreben, innovativer zu werden, ist
groß. Die Aachener wollen davon
profitieren, ihr Know-how wird
nachgefragt. In die Türkei gibt es
viele Verbindungen – nach Izmir,
Denizli, Adana und Gaziantep. In
der 2,3-Millionen-Einwohnerstadt
Bursa wurde nun das erste Büro der
Vertriebsfirma für Industrieprojekte, die das ITA in Aachen als „3T
GmbH“ gegründet hat, eröffnet.
Die „3T Limited“ soll den großen
türkischen Markt bedienen.
Und alle Aktivitäten des ITA in
Der Stolz über die Gäste aus Nordrhein-Westfalen und die Freude
über den Kontrakt mit der RWTH
Aachen sind nicht zu übersehen.
„Es ist ein Meilenstein für unsere
Beziehungen“, sagt Vize-Rektor
Akalin, der Professor ist Leiter des
Fachbreichs Textile Engineering.
„Es ist wichtig, dass wir solche Brücken bauen“, betont NRW-Wissenschaftsministerin Schulze.
Die Marmara-Universität – gegründet 1883 – betont gerne ihre
guten Verbindungen in die Industrie – das passt gut zur RWTH Aachen. Und die türkische Universität will die Zusammenarbeit ausweiten, beispielsweise Richtung
Medizin. Es ist ein gutes Rezept für
eine türkische Hochschule, die eigene Forschung mit Partnern aus
Deutschland und anderen europäischen Nationen oder den USA
zu befeuern. Die Marmara-Universität hat dies verstanden.
Sie zählt ohnehin zu den staatlichen Vorzeigehochschulen. Seit
mehr als 20 Jahren gibt es eine Abteilung für deutsche Sprache. Seitdem steigt auch die Zahl sogenannter Rückkehrerkinder, deren
Eltern einst als Gastarbeiter nach
Deutschland gingen. Die Marmara-Universität hat das einzige
deutschsprachige Studienangebot
in Wirtschaftsinformatik in der
Türkei. „Ich sehe in solchen Einrichtungen eine große Chance für
beide Länder“, sagt Vize-Rektor
Akalin. Was er nicht sagt: Hauptziel ist natürlich, dass die jungen
Menschen in der Türkei bleiben,
auch wenn sie wie geschaffen sind
für den deutschen Arbeitsmarkt.
Passt das zu den deutschen Interessen?
Das Ringen um die Besten, es
kommt. Sie werden die Wahl haben zwischen der Türkei, Deutschland und anderen Ländern.
Im Rahmen unserer Serie „Brückenschlag zum Bosporus“ werden Beispiele für Verbindungen aus der Region in die Türkei aus dem Bereich
Hochschule und Forschung aufgezeigt. Im nächsten Teil geht es um
den Aufbau der Türkisch-Deutschen Universität in Istanbul.
Die TürKische hochschullanDschafT
E 180 Hochschulen (im Bild die
Istanbuler Marmara-Universität)
gibt es in der Türkei. Seit 2002 sind
80 staatliche und 60 weitere Hochschulen gegründet worden, weil die
Nachfrage größer und größer
wurde. Hinter den 60 steht jeweils
eine Stiftung, die die Hochschule
letztlich finanziert. Privat sind die
Universitäten deswegen aber nicht,
der Staat hat auch hier – mit wenigen trotzigen Ausnahmen wie der
betont liberalen Bilgi-Universität
– große Möglichkeiten, Einfluss zu
nehmen. Unter anderem bei der
Besetzung von Rektorenstellen. Die
meisten neuen Hochschulen sind
noch recht klein, haben wenige
Professoren und überschaubare Angebote. Ihnen fehlt das wissenschaftliche Fundament und vieles
mehr. „Es sind längst nicht alle Universitäten ausreichend qualifiziert.
Das macht mir Sorgen“, sagt Professorin Ayse Bugru der Bosporus
Universität, die selbst in Istanbul
und Kanada studiert hat.
E Viele Hochschulen sind reine
Lehruniversitäten – in Sachen Qualität gibt es kolossale Unterschiede.
Weil es zunächst einmal gilt, Studienplätze zu schaffen, hinkt die Forschung in der Türkei im europäischen Vergleich hinterher. Zwangsläufig ist die Ausstattung der Labore der staatlichen Hochschulen
– das muss so deutlich gesagt werden – in der Regel schlecht und für
moderne Forschung kaum geeignet. Das drückt sich beim Europäischen Patentamt in drastischen
Zahlen aus: 2014 wurden aus der
Türkei 136 Patente angemeldet –
und das zum Teil von deutschen
und anderen ausländischen Firmen.
Aus Deutschland waren es 2014
mehr als 13 000, aus den USA sogar mehr als 14 000. Immerhin: Die
Türkei will bis 2023 44 Milliarden
Euro in Forschung und Entwicklung
investieren. Bereits in den vergangenen elf Jahren wurden die Investitionen – auf niedrigem Niveau –
verdoppelt.
E Der Druck der jungen Menschen, an eine Hochschule zu gehen, ist noch einmal höher als in
Deutschland, denn es gibt keine Alternative in Form einer dualen Ausbildung. Wer nicht studiert, der arbeitet. Gut bezahlt sind solche Jobs
nicht. „Die jungen Türken wollen
unbedingt studieren“, sagt Orhan
Uslu, Professor für Umweltingenieurwesen in der Yeditepe Universität in Istanbul. Die Verteilung der
Erstsemester erfolgt nach einer
zentralen Prüfung: Wer gut abschneidet, kommt an eine gute
Hochschule, wer nicht so gut ist
eben an eine andere. Die Studenten
dürfen eine Art Wunschliste ausfüllen, aber nur ein herausragendes
Abschneiden bei der zentralen Prüfung garantiert, dass es am Ende
auch eine Wunschhochschule am
gewünschten Studienort wird. Die
besten Hochschulen bekommen so
wiederum nur die Abiturienten mit
den besten Testergebnissen. Aktives Bewerben an einer Hochschule
der eigenen Wahl gilt nicht.