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Die Liebe der Gärtnerin Irene Sieben erinnert an Mary Wigmans letzte Jahre erschienen in Tanzjournal 5/03 Erinnerungen sind trügerisch. Bündeln sie doch meist emotional aufgeladene Ereignisse und klin-­‐
ken sie aus dem Raster einer vermeintlich „objektiven“ Wahrheit aus. Jedes Wort, jedes Bild, je-­‐
der Sinnesreiz wird unterschiedlich gehört, gesehen, gefühlt, verstanden und interpretiert. Vieles fällt in den Abgrund des Vergessens. Begegnungen mit Figuren der Zeitgeschichte, wie hier mit Mary Wigman, werden im Rückblick besonders fragwürdig, wenn sie in jungen Jahren geschahen, in denen es an Lebenserfahrung mangelt, Autoritätsprobleme dominieren. Das Überhöhen in die Mystifikation hinein verfärbt im Falle Mary Wigmans so manche historische Betrachtung, beson-­‐
ders, wenn sie aus dem Munde von Schülerinnen oder Schülern stammt. So sind auch meine, nicht unbedingt euphorischen Erinnerungen an die Zeit im Studio an der Rheinbabenalle 35 nichts als Fixpunkte meines eigenen Lebens und allenfalls Farbschattierungen auf der Wigman-­‐Skala. Ich werde die Lücken füllen mit Kommentaren einiger meiner Zeitgenossen. Wie schillernd ihre Persönlichkeit war – als revolutionäre Tänzerin, Choreografin, Regisseurin, Pä-­‐
dagogin, begnadete Essayistin, Buchautorin, politische und Privatperson – lässt sich in einer Rei-­‐
he von Biografien nachlesen. Ihre Tagebücher, Aufzeichnungen, Fotos, Zeichnungen, choreografi-­‐
sche Skizzen ruhen als Schatz im Archiv der Akademie der Künste Berlin, der sie als eines der ers-­‐
ten Mitglieder nach dem Zweiten Weltkrieg im Westteil der Stadt angehörte. Die Zeitzeugen be-­‐
ginnen auszusterben. Choreografen, die sich auf sie beziehen oder mit intensiver Zeichengebung aus der Quelle des Atems schöpfen und raumarchitektonisch denken können, gibt es nur wenige. Tänzer bekennen heute freimütig, mit dem Namen Wigman, auch mit ihrem Tanz gar nichts mehr zu verbinden – oder ihn nicht einmal zu kennen. Die französische Ballerina Silvie Guillem gestand mir bei den Rekonstruktionsproben des „Hexentanzes“ und des „Sommerlichen Tanzes“, von Mary Wigman während ihrer Ausbildung an der Pariser Oper in Tanzgeschichte nie etwas gehört zu ha-­‐
ben. Die Ära des Ausdruckstanzes in Deutschland war dort einfach gestrichen. Der Modern Dance begann für die französischen Eleven in Amerika mit Martha Graham. Die Zeit im Tanz tickt eben anders. Der letzte Ort der Erinnerung ist nun dahin. Im vergangenen Jahr wurde die senatseigene Dahle-­‐
mer Villa, in der das Wigman-­‐Studio von 1949 bis 1967 residiert hatte und dann zum Altenpflege-­‐
heim mutierte, abgerissen und das Grundstück mit einem hässlichen Klotz neu bebaut. Tanja Hert-­‐
lings Foto des Hauses – im Rahmen einer Dokumentation der Tanzräume in Berlin gezeigt– hat als letztes Zeugnis eines legendären Kunstortes nun Seltenheitswert. Anfang der sechziger Jahre, in denen ich dort studierte, waren für die alternde und durch Krankheit in Kraft und Temperament immer mehr gebremsten Mary Wigman, bereits die Zeit, die sie selbst Winter nannte, die Jahres-­‐
zeit auch des Rückzugs einer Kunstform, die sie selbst mitentwickelt hat. In ihrem 1963 veröffent-­‐
lichten Buch „Die Sprache Tanzes“ (das sie in Ausschnitten mit ihrer tiefen, sonoren Stimme auch für die Schallplatte besprochen hat), bezeichnet sie sich selbst bereits als „alte Frau, und abgese-­‐
hen von den körperlichen Beschwerden, die den Alltag belasten, eine glückliche alte Frau“, die in ihrer Wohnung in der Taubertstraße die Stunde des „kleinen“ Glücks, des Schreibens genießt. „Es ist schön, still und versonnen am Schreibtisch zu sitzen und den Gedanken jene Spielfreiheit zu geben, in der sie ins Träumen abgleiten, ihnen gerade nur so weit zu folgen, wie man etwa den bläulichen Wölkchen des Zigarettenrauchs nachschaut.“ (Battenberg Verlag, S. 7) Da spricht die lyrische, die sanfte Seite ihres Wesens. Mein Eindruck von ihr war oft ein anderer. Mir erschien sie, trotz aller heroischen Selbstbeherrschung, oft hart, resigniert, ungerecht, zuwei-­‐
len höchst sarkastisch und wild. Und das hatte nicht nur persönliche Gründe, die in einem zwie-­‐
spältigen Charakter begründet waren. Ihr Ausdruckstanz, der absolute Tanz, wie sie ihn oft nann-­‐
te, war fast schon erloschen, das Ballett im Aufwind, sie selbst von Husten, Herzattacken und den Folgen von Knochenbrüchen geplagt. Der sprühende Witz aus jüngeren Jahren blitzte nur selten auf, wenn sie sich über etwas mokierte, aus der eigenen oder aus der Tanzhistorie oder wenn sie eine Improvisation kommentierte. Die „Märchenstunden“, in denen wir hockten und lauschten, waren lebendiger Theorieunterricht. Die Vorträge, die sie außerhalb von Berlin noch immer an Universitäten, Tanzhochschulen und Konferenzen hielt, waren nicht für uns bestimmt. Sie be-­‐
schäftigen heute vor allem die Tanzwissenschaft und eine recht begrenzte Leserschaft. Dabei ist das, was Mary Wigman über ihre Kunstform schrieb, zeitlos gültige Philosophie und Praxis. Sie hat-­‐
te eine spezielle Begabung, Bewegung und schöpferische Zustände poetisch zu beschreiben. Je nach Tagesform saß sie im Sessel und zelebrierte wunderbare Wortgebilde, oder sie führte selbst im langen, schmalen Glockenrock, mit schwarzem, hochgeschlossenen Pullover oder mit weißer Bluse die Diagonale an. Nur mit angedeuteten Schritten und expressiver Gestik ließ sie sich zuletzt dabei auch von einer Schülerin stützten. Immer geschminkt, ihr volles lockiges Haar kasta-­‐
niebraun gefärbt, mit rot oder farblos lackierten Fingernägeln und extravagantem Schmuck umgab sie noch immer ein Hauch von Eleganz. Selbst der Stock, auf den sie sich zuweilen stützte war aus feinstem Material. Niemand von uns hatte sie je live tanzen sehen. Es pulsierte, wenn sie mit ausladender Geste zum Himmel blickte, nur eine Ahnung ihres Genies, das 50 Jahre zuvor am Monte Verità von Laban entdeckt worden war. Dort begann ihr „inneres Ringen“ um ein Gleich-­‐
gewicht zwischen Emotion und der „erbarmungslosen Disziplin einer über-­‐persönlichen Kontrol-­‐
le“. Der Qualm ihrer Zigarette (mit Spitze) zog durch den langen schmalen, mit Parkett ausgeleg-­‐
ten Saal. Passivrauchen war noch kein Thema. Ulrich Kessler, ebenfalls mit Zigarette, in typisch gebeugter Haltung am Klavier oder an den Trommeln, 30 Ausbildungsschüler, einige Gäste – die Mädchen in langen Röcken, ein Saumzipfel in die Taille gestopft für etwas mehr Beinblick – folgten ihren bildreichen Kommandos. Wigman war im Unterricht an der Gestaltung, am Erleben interessiert und blieb dabei ganz „Ge-­‐
genwartsfanatikerin“. Sie formulierte die „universale Sprache“ des Tanzes immer wieder neu. Sie spannte elementare Bewegungsprinzipien, rhythmisch-­‐dynamische Gesetzmäßigkeiten in räumli-­‐
che Muster ein: Schreiten (mit hochsensiblen Füßen), Gleiten (ohne jede Erschütterung im Kör-­‐
per), Vibrieren (die Rippen „atmend“ wie eine Ziehharmonika), Springen (in jeglicher Form), Dre-­‐
hen (mit und ohne Frontveränderung) oder – unerbittlich bis zur Übelkeit – die Derwischvariante .. . nicht mehr und nicht weniger lernten wir hier. Sie interessierte dabei nicht der pure technische Aspekt, sondern das geistige Klima des tänzerischen Themas. Die Verfeinerung des Handwerks lag ihr am Herzen: Lebenslang waren die Hände ihre Spezialität, ihr Markenzeichen, ihre Antennen gewesen. Die Intensität der Gebärde – welch altmodisches Wort – war ihr (und unser) Übungs-­‐
feld: kurz und scharfkantig, weit ausladend, verschränkt wie zum Wiegen eines Kindes, aufstre-­‐
bend, sich öffnend wie eine Blume, krallenhaft gekrümmt wie im „Hexentanz“, zum Gebet ge-­‐
schlossen wie beim „Seraphischen Lied“, aufwirbelnd wie fürs „Sturmlied“, ausgespannt ins hori-­‐
zontale Extrem wie zum „Todesruf“. Mir schien in den wenigen Filmschnipseln, die vorhanden sind, gerade dieses „Handwerk“ seltsam manieriert. Susanne Linke, eine der drei letzten Schülerinnen im Wigman-­‐Studio vor dessen Schließung, be-­‐
kannte einmal, dass Mary Wigman der stärkste Mensch gewesen sei, der ihr je begegnet ist und schreibt dem Unterricht ihr grundlegendes Verständnis für Tanz als geistige Kunst zu. Wenn es auch Dore Hoyer war, deren Vorbild als Praktikerin einer Kunst sie folgen konnte. Erst als sie nach dem Aufpolieren ihrer Technik bei Folkwang und der Begegnung mit Pina Bausch an eigenen Soli zu arbeiteten begann, entfaltete sich für sie die Idee des „Tänzers im Raum“ in vollem Umfang. Sie verstand plötzlich, dass Wigmans Tanz sehr wenig mit dem ihm oft aufgepfropften „Ausdruck“ zu tun hatte, sondern mit der Entwicklung der Ganzheit des Körpers im Universum, einer Stringenz und Ehrlichkeit im Gestalten. In der Improvisation waren die permanenten Frage: „Warum mache ich das? Wohin führt die Bewegung? Das durfte keine Gefühlsduselei sein. Wie mit Worten kann man auch mit Bewegung schwafeln. Dass das nicht geht, hat man mir dort schon eingebläut. Am Ende muss eine klare Aussage stehen, ein klares Gefühl. Die Qualität eines Stückes hat immer mit der Quantität dessen zu tun, was man weggeworfen hat. Man schleift einen Diamanten.“ Das Instrument grundsätzlich zu stimmen, geschah in den seltsamerweise „Gymnastik“ genannten Klassen bei Til Thiele, ursprünglich Palucca-­‐Schülerin, in ihren Pantomime-­‐Klassen und der Tanz-­‐
technik der jungen Manja Chmièl. Kesslers Reich war oben auf der Galerie neben den Garderoben der Villa mit ihrer schön geschwungenen Freitreppe, ein Raum voller Schlagwerk für die Rhythmik-­‐
stunden. Wie viel Wert der klassischen Technik und dem Nationaltanz beigemessen wurde, ließ sich an den Quadratmetern des Raumes ablesen. Der Miniballettsaal im Parterre (mit Terrasse) fasste kaum mehr als zehn Trainingswillige. Meist jene, die auch vor hatten, die Tänzerprüfung vor der Bühnengenossenschaft abzulegen. Kein einfacher Job für Daisy Spies, später auch für Gisela Frey, die Assistentin von Sabine Ress, ein Exercise für die „Modernen“ zu gestalten. Hertha Herter, Tatjana Gsovskys pädagogische Koryphäe, hat als Vertretung die Stunden wunderbar beatmet. Der beste Klassisch-­‐Unterricht, der mir je begegnete. „Kein Stil, kein System, kein Dogma oder Kanon“, so wie Walter Gropius das Bauhaus typisierte, ließe sich auch Mary Wigmans Pädagogik beschreiben. Jede Stunde hatte ihre eigene Entwicklung. Im Rückblick, und mit der Erfahrung in Bewegungs-­‐und Lernprozessen, sehe ich diese Klassen mit Hochachtung. Es gab keinerlei festgelegtes Schema. Nach dem Schlagen des geschwungenen Gongs – das tat Mary Wigman stets selbst – bestimmte nur ein Thema den Ablauf. Eine „analyti-­‐
sche Funktionsdurchdringung“, wie sie es nannte, wurde in allen Variationen durchdekliniert (ei-­‐
ne ähnliche Lernstrategie übrigens, wie ich sie in der Feldenkrais-­‐Methode wiedergefunden habe). Der Aufbau entwickelt sich aus den Ingredienzien des Themas selbst, verändert durch verschie-­‐
dene Qualitäten in Spannung, Raumempfinden, Rhythmus und Form. So lernen Kinder, so üben Musiker. Sie sagt es so: „Lehren heißt, den Unterrichtstoff von allen Seiten aus beleuchten...“ (Die Sprache des Tanzes, S. 110). Mary Wigman sah das Unterrichten prozessorientiert als bildnerische Aufgabe, und verglich es mit der Liebe des Gärtners zum lebendigen Wachstum. Virtuosität, „mechanistischer Leerlauf“ waren ihr ein Greuel. Jede „Pflanze“ hatte ihre Berechtigung als Individuum. Manja Chmièl sagt es so: „Damit wurde sie der Tatsache gerecht, dass der Körper ein Organismus und keine Maschine ist, und es blieb ihr erspart, viele kleine Epigonen zu produzieren.“ Petra Kugel, heute Tanztherapeu-­‐
tin, sah sich damals in ihrer Ganzheit erkannt: „Mary Wigman hat die Dinge, die an mir skurril wa-­‐
ren und herausfielen, herausgehoben und benannt – und hat sie wertgeschätzt. Das ist das Wich-­‐
tigste, was mir passieren konnte im Tanz, im Leben, das hat mich an den Boden gebracht.“ Dass der Körper kein Gefängnis und die Haut keine Barriere sein dürfen, sondern „Passagen für Energie, die aus meinem Inneren hinaus, aber auch von außen in mich hineinströmen“, war Hell-­‐
mut Gottschild, dem Wigman-­‐Schüler und ihrem letzten Assistenten, in einem Vortrag zum The-­‐
ma „Performance“ wichtig. „Das Außen und das Innen im Flux, einander berührend, kollidierend, einander durchdringend: das ist es, was meiner Ansicht nach auch Mary Wigman gemeint hat, wenn sie vom imaginären Raum sprach, vom Raum als Partner. Das ist es, was ich als Herzstück ihres Tanzes und Lehrens ansehe und für mich davongetragen habe.“ Wie sagte sie es doch selbst in der „Sprache des Tanzes“: „...Nicht der greifbare, der begrenzte und begrenzende Raum der konkreten Wirklichkeit, sondern der imaginäre, der irrationale Raum der tänzerischen Expansion, der die Grenzen der Körperlichkeit aufzuheben vermag und der ins Fließen gebrachten Gebärde eine scheinbare Unendlichkeit verleiht, in der sie sich zu verstrahlen, zu verströmen, zu verhau-­‐
chen scheint...“ Sich verströmen und verhauchen. . . Es war dieses Pathos, an dem sich mein Widerstand entzün-­‐
deten. Die Betroffenheit schien mir in ihren Gestaltungs-­‐ und Improvisationsstunde oft übertrie-­‐
ben. Ich konnte damit nicht „ich“ sein. Mein Verhältnis zu meiner Lehrerin, und ihres zu mir, war von Beginn an gespannt, ambivalent, vielleicht, weil ich nicht als unbeschriebenes Blatt zu ihr ge-­‐
kommen war, wie sie es mochte. Sie benutzte – besonders in den Sprungstunden – die imaginäre Peitsche, um mich, damals ein echtes Sprungtalent, schreiend „höher und höher“ zu zwingen. Be-­‐
vor ich ins Wigman-­‐Studio kam, um mich auf meine Pädagogenprüfung vorzubereiten, war ich in der Privatschule von Erna Oelmann klassisch und modern ausgebildet worden. Und ich hatte es Mary Wigmans Präsenz in der Prüfungskommission der Deutschen Bühnengenossenschaft und ihrer Improvisationsaufgabe zu verdanken, dass ich mit meinen eher beschränkten körperlichen Anlagen fürs Ballett durch die Tänzerprüfung hindurchgerutscht war. Diesen Job in der Prüfungs-­‐
kommision hasste sie übrigens. Sie tat‘s, um für die eigenen Schüler zu kämpfen, die nicht selten auch an Staatsbühnen Engagements fanden. An den radikal düsteren Soloabenden von Dore Hoyer, der „letzten Fahnenträgerin“ des Aus-­‐
druckstanzes, hatte sich früh mein Enthusiasmus und mein innerer Anspruch an den Tanz entzün-­‐
det. Doch auch die expressiven Balletten von Tatjana Gsovsky, die mit Musik der Avantgarde eine ganz Epoche prägte, waren für mich faszinierend. So hing ich stets im obersten Rang der Städti-­‐
schen Oper über der Reling. Wie auch andere Kollegen im Wigman-­‐Studio ging ich später nachmit-­‐
tags in Gsovskys Studio oder bei Sabine Ress trainieren. Die Feindschaft zwischen den Künsten und Tänzerstilen begann sich aufzulösen. Gsovsky hatte enorm vom Ausdruckstanz profitiert, sparte aber nicht mit Spott für uns „Tieftänzer“ in Opposition zu den „Hochtänzern“, obwohl sie in ihrem Dostojewsky-­‐Ballett „Schuld und Sühne“ fürs Berliner Ballett sogar Harald Kreutzberg eine Hauptrolle übertragen hatte. Zwischen Wigman und Gsovsky bestand schon seit ihren Leipziger Jahren eine Art Hassliebe. Sie respektierten einander, teilten einen Hang zum Pathos, sparten aber nicht mit Spitzen gegen die Schwächen der anderen Kunstform. Wigman hatte in ihrem legendä-­‐
ren „Sacre du Printemps“ zu den Festwochen 1957 mit den Tänzern des Gsovsky-­‐Balletts gearbei-­‐
tet, sich aber nicht vorstellen können, eine klassische Solistin das Opfer tanzen zu lassen. Es wurde Dore Hoyers Triumph und Mary Wigmans letzter phänomenaler Erfolg. „Ein Wurf von erratischer Wucht“, wie Horst Koegler in der FAZ schrieb. Die schräge Scheibe, auf der sie dem „asymmetrischen Charakter“ von Strawinskys Musik die Füh-­‐
rung überließ, in dem sie die Mitte der Darstellungsebene verschob, um eine Diagonale zu er-­‐
zwingen, fand 1965 in Bayreuth eine Wiedergeburt im berühmten „Ring“ Wieland Wagners. Man munkelte, dass Getrud Wagner, seine Ehefrau und als Choreografin von Wigman inspiriert, die Idee für die Scheibe geliefert habe, auf der wir Wigman-­‐Schüler als Rheintöchter-­‐Doubles für die unsichtbar singenden Sängerinnen in einem schillernden Lichtraum auf hohen Podesten schwim-­‐
mend das Rheingold bewachten. Mit der Eröffnung der Deutschen Oper Berlin im Oktober 1961 schloss sich für Mary Wigman der Kreis um ihre treuen Lebensbegleiter „Orpheus und Eurydike“. Mit der Gluck-­‐Oper war sie in ver-­‐
schiedenen Phasen ihres Lebens konfrontiert worden, und im „Todeswinter“ (wie sie ihn nannte) 1946/47 hat sie ihn erstmals in Leipzig als Regisseurin unter unglücklichen Nachkriegsumständen (keine Heizung, kein Geld für Ausstattung, keine Verkehrsmittel) inszeniert. In Berlin war sie „nur“ Gustav Rudolf Sellners Choreografin für den Furientanz, den „Reigen seliger Geister“ und die Gruppe der Klageweiber. Ihre letzte Arbeit fürs Musiktheater. Wie auch in früheren Inszenierun-­‐
gen („Saul“, „Alkestis“, „Carmina Burana“, Catulli Carmina“ in Mannheim) erarbeitete sie mit fort-­‐
geschrittenen Schüler des Wigman-­‐Studios das Bewegungsmaterial und die Raumwege. Sie ver-­‐
stärkten dann das Ballett, um einen Impuls dieser durchatmeten, lebendigen Bewegungsqualität überschwappen zu lassen. Im Grunde war Mary Wigman die erste Choreografin, die als Regisseu-­‐
rin reüssiert hat. Sie ist also Vorreiterin eines aktuellen Trends, der nun via Reinhild Hoffmann, Trisha Brown, Heinz Spoerli die Opern choreografisch erhellt. Die Elemente für den in Düsternis aufwirbelnden, als dichten Bewegungschor strukturieren Fu-­‐
rientanz waren Unterrichtsstoff. Bäuchlings, sternförmig sehr dicht geschachtelt bäumten wir uns in Wellenbewegungen auf. Die Gruppe verdichtete sich zu einem Strudel und zerstob in wilden Schattenfetzen ekstatisch im Chaos. Für die seligen Geister suchte Mary die ätherischen Typen aus, die in weißen Gewändern und goldenen Masken auf halber Spitze in Zeitlupe über die Diago-­‐
nale schwebten, Eurydike flankierend. Wir Wigman-­‐Tänzerinnen waren über eine längere Zeit im Stückvertrag engagiert. In den Hades, jenes Reich der Schatten, den sie hier tänzerisch so grandi-­‐
os ausgeleuchtet hatte, fühlte sich die 86jährige Mary Wigman 1973, im Jahre ihres Todes, zu-­‐
rückversetzt, als sie nach misslungener Augenoperation dem Erblinden nahe war: „In diesem Reich ist alles Bewegung, keine realistische Bewegungen, ein Sinken und Heben, ein Schwanken und Wanken, manchmal auch ein Schlingern. . .“ (Brief an H. Binswanger, April 1973 in Walter So-­‐
rell, Mary Wigman – ein Vermächtnis, Heinrichshofen, S. 268). Klassische Tänzer am „geistigen Gehalt“ eines Werkes zu interessieren, ob sie es mochten oder nicht, darin war die wortkluge Wigman überaus geschickt. Sie machte ihnen mit souveräner Au-­‐
torität bewusst, dass sie die Träger der Handlung seien und in ihrer Verkörperung sichtbar werden solle, was in der Musik vorgehe. Oft vergebens. So mokiert sie sich in einem Brief : „Mein schöner Trauermarsch! Ich möchte jedes einzelne dieser blöden Gänschen schütteln, wenn sie hinterei-­‐
nander herwatscheln und aussehen, als ob sie Unterleibsbeschwerden hätten, anstatt von tiefem Schmerz gebeugt feierlich zu schreiten...“ (Hedwig Müller, Mary Wigman, Quadriga 1986, S. 296). In welcher systematischen und hochkreativen Weise sie sich ihre Werke erarbeitet, erkämpft hat-­‐
te, davon zeugen die Zeichnungen und höchst amüsanten Anmerkungen, nachzuempfinden in „Mary Wigmans Choreografischem Skizzenbuches“, das Dietrich Steinbeck herausgegeben hat. Die permanenten Geldsorgen des Wigman-­‐Studios wuchsen 1961 mit dem Bau der Mauer um Ber-­‐
lin. Die politisch-­‐geografische Abschnürung betraf alle Künstler und Institutionen. Ausbildungs-­‐
schüler aus dem Osten erschienen nicht mehr zum Unterricht. Rettung der Finanzen waren oft die Amerikanerinnen, die mit Fulbright-­‐Stipendien dem Mythos des German Dance nachspürten – manche herb enttäuscht vom Unterrichtsstil und Mangel an Technik. Auch dieser rege Pendelver-­‐
kehr zwischen den Kontinenten, den die Wigman als reisender Weltstar begonnen hatte, erlahm-­‐
te mit der Unsicherheit der politischen Situation. Doch am 13. November 1961, als wir in einem Wald von bewegten Schildern – mit der Aufschrift ihrer Tanzwerke – und einem Meer von Rosen den 75. Geburtstag der Meisterin feierten, gab es noch ein halbes Dutzend US-­‐Studentinnen in einem Kreis von rund 25 Ausbildungsschülern und Gästen, zu denen zeitweise auch Gerhard Boh-­‐
ner zählte, der sich in seinen späten Soloarbeiten mehr und mehr auf ihren Einfluss berief. Ein Jahr später gab es ein Ereignis mit künstlerischer Strahlkraft. Das erste Internationale Panto-­‐
mimenfestival in der Akademie der Künste – durchaus als Vorläufer der späteren Reihe von Tanz-­‐
gastspielen aus aller Welt zu betrachten, die Nele Hertling und Dirk Scheper initiierten – brachte auch dem Wigman-­‐Studio frischen Wind. Dimitri, der Clown von Ascona, noch jung und neben Marceau und Molcho der Newcomer, unterrichtete in Rheinbabenallee Pantomime. Mary Wigman repräsentierte als prominentes Akademie-­‐Mitglied des Fachbereichs Darstellen Kunst das Festival. Es wurde deutlich, wie das Körpertheater aus dem Ostblock, etwa des Polen Henry Tomaszewsky, eine neue Ästhetik im modernen Tanz vorwegnahm. Mit rasendem Erfolg gastierte Jerome Rob-­‐
bins etwas später mit seiner Truppe in der Städtischen Oper, nachdem sein turbulenter, vom Jazz inspirierter Tanz im „West Side Story“-­‐Film Furore gemacht hatte. Zu diesem Festwochen-­‐Hit – in einer Spielpause des Dauerrenners „My Fair Lady“ – erschien Mary Wigman sogar auf der Bühne, hochbejubelt, wie sie es auch tat, als die alternde Martha Graham in Berlin um Beifall rang. Ihre Präsenz im Publikum war immer ein Ereignis und wurde von den Veranstaltern benutzt, um sie öffentlich zu verkünden. Im Wigmanstudio regte sich unter den Schülern behutsamer Protest, (es war längst noch nicht 1968). Wir diskutierten, philosophierten über zeitgenössische Kunstformen, lasen Ingeborg Bach-­‐
mann, verehrten Buñuel und Godard, hörten Stockhausen und waren von Klaus Kammers phäno-­‐
menalem Kafka-­‐Affen im „Bericht für eine Akademie“ euphorisiert. Die große Gebärde unserer Meisterin schien uns überholt, übertrieben, ausgeschöpft. Nicht erst seit Merce Cunningham und John Cage im Hebbel-­‐Theater einen Skandal entfacht hatten, waren wir vom Virus der Abstraktion und Reduktion von Emotion und Pathos angesteckt. Hellmut Gottschild, Brigitta Herrmann und Inge Katherine Sehnert gründen 1962 die Gruppe Motion, die kurz vor der Auswanderung von Gottschild und Herrmann nach Philadelphia/USA im Jahr 1968 noch zu einer stattlichen Compag-­‐
nie heranwuchs, um in der Akademie der Künste „Countdown für Orpheus“ aufzuführen. Wigman konnte sich für diesen neuen Trend puren Bewegungskomposition nicht sonderlich begeistern. Manja Chmièl, die in Leipzig bei Mary studiert hatte und zehn Jahre lang eine der innovativen Leh-­‐
rerinnen am Wigman-­‐Studio, neben Dore Hoyer eindrucksvolle Einzeltänzerin war, formulierte ihr provozierendes Pamphlet „Mein Tanz ist nicht Ausdruckstanz. . .“ und musste Mary damit im tiefs-­‐
ten Herzen verletzen. Ein Streit um die Verteilung der raren Probenräumen im Studio für choreo-­‐
grafische Arbeit der Schüler und Lehrer führte schließlich zum Eklat und zur Trennung. Chmièl er-­‐
öffnete 1962 (mit mir als Assistentin) ihr eigenes Studio, gründete ihre Gruppe Neuer Tanz Berlin. Ohne Frage: ein herber Verlust für die Schule, wenn auch Hellmut Gottschild, gerade selbst dem Schülersein entwachsen, als Wigmans Assistent und Hauptlehrer in seine Rolle mit starker Indivi-­‐
dualität hineinwuchs. War er es doch, der die letzte, mit Krankheit und Abwesenheit Mary Wig-­‐
mans durchzogene Phase der Schule wesentlich prägte. Seine Trennung von der heute noch existierenden Gruppe Motion, die kürzlich im Berliner Dock 11 gastierte, und die Ära seiner „Zero Moving Dance Company“ führte zu einem ästhetischen Wan-­‐
del, der die Wurzeln des Expressionismus erkennen ließ. Als Professor der Temple University in Philadelphia trug er seine Überzeugung, Tanz sei Berührungskunst und Schwellenerfahrung zu-­‐
gleich, in die amerikanische Tanzwelt. Das Verfeinern der sinnlichen Wahrnehmung in Stille sei nicht mystische Erfahrung, sondern eine Technik, die durchaus als Energiearbeit bezeichnet wer-­‐
den könne, die allerdings Offenheit und Empfangsbereitschaft voraussetze. Der Tanzraum, den Mary Wigman als „irrational und „imaginär“ beschrieb, ist für ihn „real“ geworden. „Tanzraum“ nannte auch Katharine Sehnert ihr Studio in Köln, in dem sie bis zu seiner Schließung in diesem Jahr, ihre vom Butoh beeinflussten Soloarbeiten kreierte – von kühler Motion keine Spur mehr. Brigitta Herrmann – und das ist durchaus Ironie des Schicksals – gründete vor ein paar Jahren in den USA, nach der Trennung von Motion, eine Gruppe mit dem gut deutschen Namen „Ausdruckstanz“. Aus den Abkömmlingen der Urzelle Motion stammen übrigens – mit Umweg über die USA – in Berlin die wichtigsten Gründungsmitglieder der Tanzfabrik und der Tanz Tangen-­‐
te. Und Schülerinnen von einer Wigman-­‐Schülerin sind auch die „Macherinnen“ des Dock 11. Kurz vor ihrem Tod – just zu der Zeit als Pina Bausch das Wuppertaler Tanztheater übernahm – hat sie bekannt, dass der Ausdruckstanz mit seinem „frischen Blut“ seine Aufgabe erfüllt habe, „in dem er eingestoßen ist in etwas, was müde, ein bisschen staubig und verkalkt war, nämlich das deutsche Ballett. . . Er hat Staub gewischt, er hat sauber gemacht, er hat Anregungen gegeben. . . Das Klassische ist doch weg. Es ist doch alles modernes Ballett geworden“ (Sorell, S. 326). Den (nun freilich abebbenden) Einfluss, den der Ausdruckstanz auf den heutigen zeitgenössischen Tanz haben würde durch mehrere Generationen von Lehrern und Schülern in aller Welt, konnte Mary Wigman nicht voraus ahnen.