Vorwort
von Barbara Stelzl-Marx
Eduard Spörk kam als „Kriegskind“ auf die Welt: Seine Mutter war
Österreicherin, sein Vater ein französischer Kriegsgefangener. Er ist
nicht allein mit seinem Schicksal. In der gesamten „Ostmark“, im gesamten „Dritten Reich“, wurden Kinder aus Beziehungen zwischen
Einheimischen und ausländischen Kriegsgefangenen bzw. Zwangsarbeitern geboren, teilweise auch als Folge von Vergewaltigungen.
Allein in der „Ostmark“ waren Anfang 1944 mehr als 200.000
Kriegsgefangene untergebracht, darunter rund 81.000 Franzosen.1 Ihr
Leben und Überleben war von einer rassisch-ideologisch aufgebauten
Hierarchie geprägt, die sämtliche Bereiche der Gefangenschaft – von
der Gefangennahme über die Unterbringung in den Lagern, die Versorgung bis hin zu Krankheit und Tod – betraf. An unterster Stelle
standen sowjetische Gefangene, von denen rund 60 Prozent ihr Leben
in deutschem Gewahrsam verloren; an oberster Briten und Amerikaner, gefolgt von den französischen Kriegsgefangenen. Die Mannschaftsränge kamen in allen Bereichen der Kriegswirtschaft zum Einsatz, in der Industrie, im Gewerbe, Bergbau und natürlich in der
Land- und Forstwirtschaft. Gerade hier ergaben sich trotz genauer
Reglementierungen persönliche Kontakte mit der österreichischen
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Hubert Speckner, In der Gewalt des Feindes. Kriegsgefangenenlager in der „Ostmark“
1939 bis 1945. Wien – München 2003, S. 32 f.
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Bevölkerung, die mitunter in – streng verbotenen – Liebesbeziehungen resultierten.
Sogenannte „lose“ Frauen, die im „Dritten Reich“ Verhältnisse mit
ausländischen Kriegsgefangenen oder Zwangsarbeitern eingingen, zogen während der NS-Zeit starke Ressentiments und Strafmaßnahmen auf sich. Aus „volkstums- und rassenpolitischer“ Sicht sollte die
„Reinheit des deutschen Blutes“ nicht befleckt werden. Die Frau verkörperte als „Inbegriff der deutschen Seele“ ein „Bollwerk gegenüber
den anderen, den Fremden, dem Feind“.2 Insbesondere Beziehungen
zu sowjetischen Kriegsgefangenen wurden hart geahndet, dominierten doch in diesem Zusammenhang Vorstellungen einer rassischen
Überlegenheit germanischer „Herrenmenschen“ gegenüber den slawischen „Untermenschen“. Die Personalkarten sowjetischer Kriegsgefangener enthielten daher vielfach den Vermerk „Belehrt über das Verbot betr. Verkehr mit deutschen Frauen“.
Doch auch bei Beziehungen mit Gefangenen anderer Nationalität
drohte im Falle von „Verstößen gegen das gesunde Volksempfinden“
nach Paragraf vier der „Wehrkraftschutzverordnung“ eine mehrmonatige Gefängnishaft. Manchen Frauen wurden zudem als Zeichen
­öffentlicher Stigmatisierung ihre Haare abgeschnitten. Bei den betroffenen Kriegsgefangenen konnte Geschlechtsverkehr mit „deutschen
Frauen“ bis zur Einweisung in ein Konzentrationslager oder zur
­Todesstrafe führen, wobei das Ausmaß der Strafe von der jeweiligen
Nationalität des Gefangenen abhing.
Die Diskriminierung einheimischer Frauen, die sich mit dem
„Feind einließen“, war kein singuläres Phänomen des „Dritten Reiches“. In den Niederlanden etwa warf man nach Ende der deutschen
Besatzung Frauen und Mädchen, die Beziehungen mit deutschen Soldaten eingegangen waren, „Vaterlandsverrat“ vor. Als Strafe wurden
diesen „moffenmeiden“ öffentlich die Köpfe geschoren. Manchen
malte man ein Hakenkreuz auf die noch blutende Kopfhaut. An-
schließend wurden die derart Gebrandmarkten zu Fuß oder auf einem
offenen Wagen durch das Dorf bzw. die Stadt geführt.3
Analog dazu wurden nach der Befreiung auch in Frankreich rund
20.000 Frauen kahl geschoren – die eine Hälfte wegen Kollaboration
mit den Deutschen oder Denunziation, die andere wegen sexueller
Beziehungen zum „Feind“. Man klagte Letztere der „collaboration horizontale“ – der „horizontalen Kollaboration“ – an, wofür sie öffentlich
gedemütigt wurden. Die Inszenierung dieses Phänomens lässt sich
mit mittelalterlichen Schauprozessen vergleichen. Das Bild der „femmes tondues“ – der „geschorenen Frauen“ – blieb im kollektiven Gedächtnis Frankreichs verankert: In den 1980er-Jahren gaben immerhin acht Prozent der Befragten an, primär die „kahl rasierten
Kollaborateurinnen“ mit der Befreiung Frankreichs zu assoziieren.
Hier standen weniger „rassische“ Überschreitungen als vielmehr das
nationale „Fremdgehen“ im Vordergrund.4
Vor diesem Hintergrund galten die Nachkommen von Kriegsgefangenen in Österreich – auch über das Kriegsende hinaus – als „Kinder des Feindes“. Häufig waren sie unterschiedlichen Formen von
Diskriminierung und Stigmatisierung ausgesetzt. Ihre „Schande“ bestand nicht nur darin, meist unehelich geboren worden zu sein, sondern auch darin, den „falschen“ Vater zu haben. Sie waren häufig –
jahrzehntelang – von einer Mauer des Schweigens und versteckten
Anspielungen umgeben.5 Ihr Schicksal unterscheidet sich darin kaum
von jenem der ab Ende 1945 geborenen Besatzungskinder.6
Auch innerhalb der Familie von Eduard Spörk war somit seine
Herkunft lange ein Tabu. Er blieb das einzige Kind im Dorf ohne
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Ingrid Bauer, „Besatzungsbräute“. Diskurse und Praxen einer Ausgrenzung in der
österreichischen Nachkriegsgeschichte 1945–1955, in: Irene Bandhauer-Schöffmann –
Claire Duchen (Hg.), Nach dem Krieg. Frauenleben und Geschlechterkonstruktionen
in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg. Herbholzheim 2000, S. 261–276, hier: S. 269.
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Monika Diederichs, Stigma and Silence: Dutch Women, German Soldiers and their
Children, in: Kjersti Ericsson – Eva Simonsen (Hg.), Children of World War II. The
Hidden Enemy Legacy. Oxford – New York 2005, S. 151–164, hier: S. 157f.
Fabrice Virgili, Enfants de Boches: The War Children of France. Translated by Paula
Schwartz, in: Kjersti Ericsson – Eva Simonsen (Hg.), Children of World War II. The
Hidden Enemy Legacy. Oxford – New York 2005, S. 138–150, hier: S. 145.
Barbara Stelzl-Marx – Silke Satjukow (Hg.), Besatzungskinder. Die Nachkommen
alliierter Soldaten in Österreich und Deutschland. Wien – Köln – Weimar 2015.
Barbara Stelzl-Marx, Stalins Soldaten in Österreich. Die Innensicht der sowjetischen
Besatzung. Wien–München 2012, S. 509 f.
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Vater und fühlte sich nicht zugehörig, auch das ein Charakteristikum
vieler „Kriegskinder“.
Die Suche nach dem Vater ist für viele „Kriegskinder“ – und auch
deren Kinder – zeit ihres Lebens ein Thema. Im Vordergrund steht die
Ergründung der eigenen Identität, die Frage nach den „persönlichen
Wurzeln“. Auch das Bedürfnis, diese Lücke in der eigenen Vita zu
schließen, unabhängig davon, ob die Betroffenen eine „glückliche“
Kindheit verbrachten, ob sie in einer liebevollen Familie oder in einem
Heim aufwuchsen, Diskriminierung ausgesetzt waren, früh oder spät,
direkt oder indirekt, zufällig oder durch die Erziehenden gelenkt von
ihren Vätern erfuhren. Selbst Kinder, die als Folge einer Vergewaltigung auf die Welt kamen, widmen sich dieser Lebensfrage.
Die Biografie von Eduard Spörk trägt dazu bei, das jahrzehntelang
tabuisierte Thema der Nachkommen von ausländischen Kriegsgefangenen und österreichischen Frauen sichtbar zu machen. Sie verdeutlicht, wie schmerzlich die Lücke in der eigenen Biografie durch den
absenten, lange auch verschwiegenen Vater sein kann. Seine Geschichte macht gleichzeitig Mut, sich auf die Spurensuche nach den eigenen
Wurzeln zu begeben und trotz zahlreicher Rückschläge nicht aufzugeben.
Eduard Spörk und Britta Lauber sei für dieses Buch gedankt. Es
stellt einen wichtigen Beitrag dar, die vielfach bis heute vorhandene
Mauer des Schweigens, die zahlreiche „Kriegskinder“ in ihrer unmittelbaren Familie und Nachbarschaft umgibt, einzureißen.
Graz, im April 2015
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Doz. Dr. Barbara Stelzl-Marx
stellvertretende Leiterin des Ludwig Boltzmann-Instituts
für Kriegsfolgen-Forschung
Der Zettel
Matt lehnte sich die Wärme des Sommers an einen wolkenlosen
Himmel. Die trockene Luft knisterte.
„Immer noch besser als in der Ziegelfabrik“, dachte Eduard müde.
Seit einer Woche arbeitete er in der Hitze des Brennofens, die seine
Haut glühen ließ und ihm den Atem nahm. Doch er brauchte das
Geld, sparte für ein Moped und nutzte die Ferientage. Seine Mutter
nickte ihm zu und reichte ihm wortlos ein Glas Wasser. Mit seinen
vierzehn Jahren begegneten sie sich von der Größe auf Augenhöhe,
der schmale, blonde Junge und die brünette Frau, deren Figur die Geburten von drei Söhnen gerundet hatten.
Der Tag neigte sich dem Abend entgegen. Hans, Eduards achtjähriger Bruder, spielte mit Freunden irgendwo draußen am Bach, und
der Mann der Mutter schien unterwegs zu sein.
„Wie war es heute?“, fragte Eduard, obwohl er die Antwort bereits
kannte.
„Wie immer“, die Mutter überraschte ihn nicht. Sie sprach nie viel,
auch nicht über ihre Arbeit in der Tabakfabrik, wo sie seit einigen
Jahren Zigarren aus feinen Tabakblättern rollte. Anfänglich nur mit
den Händen, die von Maschinen abgelöst wurden, schneller und präziser. Nur die teuersten und edelsten Zigarren durften nun noch zwischen Mutters langen, schmalen Fingern schonend geformt werden.
„Wasch dir die Hände, es gibt gleich Essen“, wies sie ihn an. Als
Eduard zurück in die Küche kam, standen nur zwei Teller auf dem
Tisch. Er fragte nicht nach dem Grund. Die Stühle wurden gerückt,
sie setzten sich. Beim Anblick der dampfenden Kartoffeln spürte
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