Manfred Berger „Kommt, lasst uns unsern Kindern leben!" Ein Brief an den Stifter des Kindergartens anlässlich des 175. Geburtstages seiner 1840 in Blankenburg ins Leben gerufenen vorschulischen Einrichtung Friedrich Fröbel (1782-1852), Quelle: Ida-Seele-Archiv Mein lieber hochgeschätzter Herr Fröbel, zuerst meinen herzlichsten Glückwunsch zum großen Festtag! Es wird Sie sicher freuen, vorweg zu erfahren, dass anlässlich dieses großen Ereignisses die "Deutsche Bundespost" für den 11. Juni 2015 eine 215 Cent-Sonderbriefmarke angekündigt hat. Das wertet Ihre Vorschuleinrichtung enorm auf, die ja in Deutschland noch immer nicht den Stellenwert einnimmt, den sie verdient. 17 1/2 Jahrzehnte sind vergangen, seit Sie am 28. Juli 1840 im Rathaus von (heute Bad) Blankenburg den "Allgemeinen Deutschen Kindergarten" stifteten und im "Haus über dem Keller, heute ein international bekanntes Fröbel-Museum, realisierten. Die innovative Institution sollte Ihrer Auffassung entsprechend sowohl in der Familie als auch mit fachkundigen Kindergärtner bzw. Kindergärtnerinnen in Kindergartenhäusern, umgeben von "den Gärten der Kinder" mit Spiel- und Bauflächen und offen für Eltern und Besucher, in allen Ländern dieser Welt stattfinden; getreu Ihrem Motto und Aufruf: „Kommt, lasst uns unsern Kindern leben!" Allein schon die Tatsache, dass die Titulierung Kindergarten bis heute unverändert in über 40 Sprachen verwendet wird, spricht für den Erfolg Ihrer 1 Einrichtung. Der anstehende Geburtstag Ihres Kindergartens ist Grund genug, einen kurzen Augenblick im Alltagsbetrieb innezuhalten und sich auf die Vergangenheit Ihrer "Stiftung" zu besinnen, ganz im Sinne des Kritikers und Schriftstellers Hans Mayer (1907-2001), der treffend formulierte: "Wer die Rückschau verdrängt, entzieht sich der Verantwortung für das Geschehene". I. Ihrer Vorstellung entsprechend, sollte der Kindergarten der "allseitigen Pflege des Kinderlebens" dienen, der Ausbildung des Verstandes, der Sinnesschulung, der motorischen Förderung, der Persönlichkeitsentwicklung, als auch der Vorbereitung auf die Schule. Diese Ziele werden nicht nur durch erzieherische Einwirkungen der Kindergärtnerin erreicht, sondern auch durch die Kindergemeinschaft und insbesondere durch das Spiel, das die Hauptäußerungsform des Kindes ist. Mit Ihrer "Stiftung" wollten Sie eine "Pflanzstätte ächter Kindheitspflege" errichten, die folgende vier Anstalten in sich vereinen sollte: Der erste Kindergarten mit den Gärten der Kinder in (heute Bad) Blankenburg, Quelle: IdaSeele-Archiv "1) eine Musteranstalt für Kinderpflege; 2) eine Bildungsanstalt für Kinderführer und Kinderführerinnen; 3) eine Anstalt, welche angemessene Spiele und Spielweisen zu verallgemeinern sucht; 4) eine Anstalt, mit welcher alle in solchem Geist wirkenden Eltern, Mütter, Erzieher und ganz besonders sich bildende Kindergärtner durch ein von ihr herauszugebendes Blatt in liebevollem Zusammenhang stehen können" (zit. n. Berger 2015, S. 7). 2 Verehrter Kinderfreund, ein beachtlicher Teil Ihre Aussagen zur Bedeutung des Spiels für die kindliche Entwicklung und Bildung sind nach wie vor von Gültigkeit. Sie erkannten schon damals, dass vor allem das Spiel die dem Wesen des Kindes entsprechende Form ist, sich Wissen über sich selbst und die Welt anzueignen. Treffsicher formulierten Sie beispielsweise, dass das Spiel kein didaktisches Mittel ist, mit dem man den Kindern gewünschte Tugenden oder Verhaltensweisen vermitteln kann. Es ist auch kein Motivationsinstrument, um eine Schar Kinder zu beaufsichtigen, ebenso wenig dient es allein der Erholung. Spiel ist für Sie keine bloße Spielerei oder Tändelei, kein Zeitvertreib und auch kein Nichtlernen, sondern vielmehr ein ununterbrochenes Lernen. Spiel ist für Sie, wenn ich Sie, mein lieber Herr Fröbel richtig verstanden habe, Ausdruck und Motivation der kindlichen Selbstentwicklung und Bildung. Des Kindes Kräfte können sich im Spiel harmonisch entfalten, bilden und erstarken und deshalb entspricht "es auch dem Trieb und dem Bedürfnis des Kindes zu erschaffen, weshalb man das Spiel nicht nur tolerieren, sondern angemessen pflegen solle" (Wasmuth 2011, S. 131). Dabei haben Sie deutlich darauf hingewiesen, dass die mitspielende und deutende Spielpflege der Kindergärtnerin notwendig ist, insbesondere Ihre "entwickelnd-erziehenden" Spielgaben betreffend. Dazu sagten sie. "Du läßt Dein Kind bilden, was es will; trittst, da Du nun einen Überblick des Ganzen in Dir trägst, nur einen Augenblick ordnend hinzu, bezeichnest es nach seinem Eindrucke, hier bloß 'hübsch', 'schön'... Hast Du so Deinem Kinde die Form eingeprägt, dann läßt Du sie auflösen und neu gestalten; dies läßt du, wenn es nötig ist, einigemale wiederholen, damit in Deinem Kinde die Auffassung der Form fest werde. Auf diese Weise wird nun das Kind, durch Zufall und mit Absicht, bald mehrere ähnliche Gebilde erfinden; es kann nicht fehlen, daß sich dabei auch nahe liegend verwandte und unmittelbar aufeinander folgende befinden; diese nimmst Du nun... besonders beachtend auf und zeigst Deinem kleinen Bildner, daß es diese auch unmittelbar, eine aus der anderen, habe bilden und entstehen lassen können, ohne die früheren vorher zu vernichten" (zit. n. Heiland 1982, S. 107 f). Leider mussten Sie noch erleben, wie Ihr Kindergarten am 7. August 1851in Preußen verboten, fälschlicher- und irrtümlicherweise "als sozialistisches System, das auf Heranbildung der Jugend zum Atheismus berechnet ist" (Ministerial-Blatt 1851, S. 182) desavouiert wurde. In dem von dem Berliner Polizeipräsidenten Karl Ludwig Friedrich von Hinckeldey (1805-1856) verfassten Immediatbericht wurden Ihre feinsinnig erdachten Kinderspiele mit folgenden Worten gebrandmarkt: "Ein Erziehungssystem, das von solchen Grundsätzen getragen wird, und in seiner Verworrenheit und Unklarheit wie in seiner Entfremdung von allen positiven Grundlagen der Offenbarung den zersetzenden und zerstörenden 3 Richtungen der Zeit ein willkommenes Mittel ist, um ihre Irrtümer in täuschender Hülle der Jugend einzupflanzen, müssen wir auch seiner Theorie nach für ein gefährliches erklären, welchem mit den gesetzlich zulässigen Mitteln entgegenzutreten ist... Die vorhandenen ausführlichen Beschreibungen dieser Kinderspiele und der auf sie gegründeten Erziehung begründen das unzweifelhafte Urtheil, daß die in die Kinderspiele gebrachte Methode und die Anleitung der Spielenden, ihre Handlungen in Worte zu übersetzen, zwar geeignet ist, frühzeitig Bewußtsein und überlegte Thätigkeiten hervorzurufen, zugleich aber die Unbefangenheit des Kindes, und das Gefühl seiner Abhängigkeit zu zerstören, während die consequente Fernhaltung nicht nur jedes positiven religiösen, sondern auch jedes überhaupt des Behaltens würdigen Inhalts eine sehr erfolgreiche Gelegenheit bietet, reflectierende glaubens- und willenslose Schwätzer, und in ihnen die Werkzeuge zur Entsittlichung des Volkes und zur Untergrabung des Bestehenden heranzubilden" (zit. n. Karstädt 1929, S. 30). Diese Verurteilung wirkt schon absurd und dürfte in der Geschichte der Pädagogik einmalig sein. Mir ist bisher kein politisches System bekannt, dass sich durch Kinderspiele in seiner Existenz gefährdet sah. Erst am 17. April 1860, über acht Jahre nach Ihrem Tode am 21. Juni 1852, erfolgte die Aufhebung dieser unsinnigen Prohibition. Der Siegeslauf des Kindergartens konnte sich ungehindert in Deutschland fortsetzen. Männer und Frauen des Bürgertums wirkten in Ihrer Nachfolge. Dazu gehören vor allem Bertha Freifrau Marenholtz-Bülow (1810-1893), Henriette Schrader-Breymann (1827-1899) und August Köhler (1821-1879). Die genannten Frauen haben die Idee des Kindergartens weit über die Grenzen Deutschlands hinaus getragen. Kindergärten und Kindergärtnerinnenseminare gegründet und sich mehr oder weniger umfangreich publizistisch für Ihren Kindergarten eingesetzt. Beide entwickelten unterschiedliche Konzeptionen eines Volkskindergartens. Die Konzeption von Marenholtz-Bülow zielte vordergründig auf eine strikte Trennung der gesellschaftliche Schichten und forderte darum den Volkskindergarten allein für Kinder der armen Bevölkerung. Demgegenüber konzipierte Henriette Schrader-Breymann ihre Einrichtung für Kinder aller Stände. Auch August Köhler gehörte zu der Gruppe jener verdienstvollen Persönlichkeiten, ohne die keine geistige Bewegung eine Überlebenschance gehabt hätte. Den Schuldirektor hatten Sie Herr Fröbel 1852 ja noch persönlich kennengelernt, in Gotha, während einer Lehrerversammlung, die sich mit dem Kindergarten und Ihrer Pädagogik befasste. Dort regte Köhler die Gründung von Kindergärten, Seminaren u.dgl.m. an. Der Gothaer Schulpädagoge veröffentlichte mehrere Fachbücher. Ganz in Ihrem Sinne, konstatierte er, und seine Gedanken klingen moderne denn je, dass der Kindergarten sich an alle Kinder beiderlei Geschlechts wende, "mögen deren Eltern arm oder reich sein, niedrig oder hoch stehen, dieser oder jener politischen Partei angehören, sich zu 4 der einen oder anderen Religion oder Konfession bekennen, gleichviel, denn er ist eine allgemeine Anstalt, deren Zweck ist: mitzuwirken an der Heranbildung des Kindlichen im Kind" (Köhler 1868, S. 3 f). In seinem Kindergärtnerinnenseminar in Gotha hatte Köhler junge Frauen ausgebildet die Ihre Pädagogik und Ihre Idee des Kindergarten im In- und Ausland publik machten, wie in Russland, Ungarn, Österreich, der Schweiz u.dgl.m. Zum Beispiel hatte Friedericke Schiel (1839-1923), Tochter eines Kronstädter Stadtpfarrerstochter, nachdem sie das Gothaer Kindergärtnerinnenseminar von 1873-1874 absolvierte hatte, sogleich ihre Schwester und Cousine zur Ausbildung nach Gotha geschickt. Dies war der Anfang einer erfreulichen Entwicklung des Fröbel'schen Kindergartens in Siebenbürgen (vgl. Mieskes 1986, S. 83 ff.). II. Sie werden es nicht glauben Herr Fröbel, aber mit der Gründung des Deutschen Kaiserreiches 1871 begann bereits schon im Kindergarten eine verstärkte Verherrlichung monarchistischer, nationaler und militärischer Gepflogenheiten. Beispielsweise missbrauchte man Ihre Spielgaben für die politische Instrumentalisierung der Kinder. Militärische Erziehung im Kindergarten, Quelle: Ida-Seele-Archiv Die bekennende Fröbelpädagogin Angelika Hartmann empfahl, mit den Bausteinen der fünften Gabe eine Kaserne zu bauen "auf ein größeres Stück festen Karton, das man mit einer aus Pappe hergestellten Mauer umgibt, die wie aus roten Stein bestehend angemalt ist... Der Kasernenhof kann mit Geschützen und Lanzen, Säbel und Gewehren usw. umstellt sein. Man gibt Zinnsoldaten oder gemalte Soldaten, läßt sie im Hofe aufstellen, miteinander marschieren, 5 wozu die Kinder singen, oder miteinander fechten, wobei zwei Kinder die zwei Reihen befehligen. So kann auch ein Offizier oder General zu den Soldaten gestellt werden, oder an Kaisers Geburtstag läßt man den Hof mit Fahnen schmücken, und der Kaiser kommt zu Pferde in die Kaserne geritten... und die Soldaten salutieren usw... Sehr bildend ist für die Kinder dann ein Spaziergang zu den Kasernen hin, wenn solche sich in der Stadt befinden" (Hartmann 1904, S. 148). Und die katholische Kindergärtnerin Regina Strobel (1872-1948) rät zu folgenden rigiden Lektion mit Ihrer "3. Gabe", der in acht Würfel geteilte Würfel, nachdem alle Kinder bereits den Kölner Dom erstellen mussten: "Wir rücken unsere Domtürme wieder zusammen, nehmen rechts die zwei oberen Würfel herunter und stellen sie rechts daneben. Dann nehmen wir links den obersten Würfel herunter und stellen sie rechts daneben. Dann nehmen wir links den obersten Würfel und setzen ihn rechts auf die beiden. Da haben wir... das Schloß des Kaisers... Wo wohnt denn der Kaiser? In Berlin, da wohnt auch die Kaiserin und ihre Söhne... Ihr habt den Kaiser und seine Familie sehr gern... Wenn Kaisers Geburtstag ist, schmücken wir unser Zimmer mit Fähnchen und das Bild des Kaisers mit Blumen und wir singen dabei gar fröhlich. Auch jetzt wollen wir unser Liedchen recht schön singen, daß es der Kaiser in seinem Schlosse hört! (Das Lied: 'Der Kaiser ist ein lieber Mann' usw.)" (Strobel 1908, S. 121). Der "Hurra-Pariotismus" erreichte in den Jahren 1914-1918 seinen Höhepunkt. Nicht mehr Sie Herr Fröbel, oder eine andere große pädagogische Persönlichkeit wurden als der große Menschenerzieher gepriesen. Fortan stand der Krieg im Mittelpunkt des Kindergartenalltags. Die seinerzeit hochgeachtete Verfechterin des Fröbel'schen Kindergartens, Gertrud Pappenheim (1871-1964), schrieb: "Und wenn wir es sonst für wert halten, die Kinder durch Gewöhnung allmählich zum Verständnis kleiner Tugenden wie Sauberkeit, Ordnung, Verträglichkeit zu führen, wieviel mehr wollen wir jetzt ein Verständnis anbahnen für den großen Menschenerzieher 'Krieg'" (zit. n. Berger 1990, S. 59). III. Mein lieber Herr Fröbel, die 1920er Jahre waren für den Kindergarten eine inspirierende Zeit, zumindest für einige Einrichtungen. Die Zahl der Kinder in den einzelnen Gruppen wurden drastisch verkleinert. Nicht mehr 8O und mehr sondern 40 und weniger Kinder sollten in einem Raum untergebracht werden. Die Räume statte man mit kleinen handlichen Möbeln aus, "Spielecken, die ein ungestörtes Illusionsspiel in kleinen Gruppen begünstigen, wurden abgegrenzt" (Lex 1928, S. 4) und neue Methoden der Kleinkindererziehung erprobt. Beispielsweise hatte Nelly Wolffheim (1879-1965) in Berlin die "psychoanalytische Pädagogik" in ihren Kindergarten eingeführt. Die ausgebildete Fröbelpädagogin "revidiert das Bild und die Vorstellung, die sich 6 die normative Pädagogik von der Natur des Menschen gemacht hatte. Das bedeutete, daß sie die seelische Struktur des Menschen mit ES, Ich und Über-Ich als Gegebenheit annahm. In der Erziehung sollten die aus dem Unbewußten stammenden Konflikte berücksichtigt werden. Sie erkannte, daß eine strenge und fordernde Erziehung zu einem rigiden Über-Ich führte und neurotische Fehlentwicklungen förderte"(Grossmann1994, S. 53). Um neurotische Fehlentwicklungen auszuschließen war für Wolffheim besonders wichtig, die Beachtung der kindlichen Sexualität. An Ihrer Kleinkinderpädagogik, mein lieber Herr Fröbel, bemängelte sie, dass diese die Sexualität des Kleinkindes nicht thematisiert. Diese Lücke, so Wolffheim, entsprach "ganz der damaligen Zeit, muß uns aber bei einem sonst so fortschrittlichen Pädagogen", wie Sie Herr Fröbel, "wundern" (Wolffheim 1975, S. 100). Ein Meilenstein in der Landschaft des Kindergartenwesens war die 1926 erfolgte Gründung des ersten Waldorfkindergartens in Stuttgart. Dieser wurde von Elisabeth von Grunelius (1895-1989) ins Leben gerufen. Mit Recht wird sie als "Urkindergärtnerin" (Berger 1995, S. 60) der Waldorfpädagogik tituliert. Genannte betonte die Wichtigkeit des kindlichen Spiel hinsichtlich der Entwicklung der kindlichen Phantasiekräfte. Dabei stimmte Grunelius m. E. durchaus mit Ihren Äußerungen zum kindlichen Spiel überein, wenn sie äußerte, dass man die "schöpferische Phantasie", die "im Spielen des Kindes lebt", "hegen und pflegen" sollte, da sie "Wärme und Innigkeit in das Tun des Kindes" bringt. In der Sphäre der schöpfenden Phantasie "kann das innere Wesen des Kindes walten, da bleibt seine noch leicht träumerische Lebenshaltung bewahrt" (Grunelius 1980, S. 37). Als in den 1920er Jahren die Montessori-Pädagogik publik wurde, erwuchs Ihrer Pädagogik und Ihrer Idee des Kindergartens schwere Konkurrenz. Diesbezüglich war in Deutschland Clara Grunwald (1877-1943) tonangebend. Die Lehrerin und ausgebildete Montessori-Pädagogin regte die Gründung von Montessori-Kinderhäuser an und trat auch publizistisch an die Öffentlichkeit. Sie forderte, dass die "vereinten Bestrebungen darauf gerichtet sein (müssen; M. B.), daß immer mehr Montessori-Kinderhäuser entstehen, bis ihre Zahl groß genug ist, daß jedem Kinde sein Recht wird auf die bestmöglichste Erziehung und Pflege in den Jahren der zartesten Kindheit, die die entscheidenden für das ganze Leben sind" (zit. n. Berger 1995, S. 67 f). IV. Alle diese neuen Impulse wurden mit Beginn der Nazi-Diktatur jäh beendet, denn die neuen politischen Machthaber duldeten keine andere Konzeption neben der nationalsozialistischen Weltanschauung. Die Gleichschaltungspolitik erstreckte sich massiv auf die in konfessioneller Trägerschaft stehenden Einrichtungen. Es war das erklärte Ziel der NSV ("Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt") peu a peu alle Kindergärten zu übernehmen und ihre Ideologie in die Erziehungspraxis der Kindergärten umzusetzen. Sie werden sich fragen Herr Fröbel: Was wollte die frühkindliche Erziehung im nationalsozialistischen 7 Sinne? Dazu konstatierte SS-Sturmbandführers Rudolf Benze (1888-1966), u. a. Ministerialrat im "Reichserziehungsministerium" und von 1941 bis 1943 Reichskommissar für die deutsche Schule in Istanbul: "Jeder deutsche Junge und jedes deutsche Mädchen soll dem Ideal zustreben und nahe kommen, in gesunden und rassisch wohlgebildeten Körper ein reines Herz, einen festen Willen und einen klare, lebensnahem Verstand zu hegen... Der nationalsozialistische Staat strebt daher vor allem danach, die Jugend zu Willensstärke und Entschlußfähigkeit zu erziehen und in ihr die hohen Charakterwerte zu stärken, die wir an den Besten der deutschen Männer und Frauen in der Vergangenheit und Gegenwart bewundern: Wahrhaftigkeit und Treue, Freiheitsdrang und Ehrliebe, Mannesmut und Frauenwürde, Wehrwille und Opfersinn, Diesseitsfreudigkeit und Lebensernst" (Benze 1943, S. 5 ff.). Die Gleichschaltung der konfessionell ausgerichteten Einrichtungen ist nicht vollends geglückt. Immerhin blieben insgesamt zwei Drittel der christlich gebundenen Kindergärten bis zum Zusammenbruch der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in ihrer ursprünglichen Trägerschaft. Dieser Sachverhalt "darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass in den Einrichtungen eine Annäherung an den nationalsozialistischen Erziehungsvorstellungen vollzogen wurde" (Wustrack 2009, S. 37). Dass die Gleichschaltung der christlichen Kindergärten nicht vollständig gelang, ist u. a. mit ein Verdienst der Elternschaft, die sich mit der Übernahme von Einrichtungen durch die NSV nicht abfinden wollte und in einzelnen Fällen sogar eine Rückgabe an die konfessionellen Träger erzwangen. Insbesondere wenn Ordensschwestern oder Diakonissinen gekündigt wurden, äußerte sich der elterliche Unmut, wie beispielsweise im niederbayerischen Städtchen Vilshofen, "als 1938 den im städtischen Kindergarten angestellten Klosterschwestern gekündigt werden sollte" (Erning 1997, S. 734). Lieber Herr Fröbel, ein weiters mutiges Beispiel der Gegenwehr ist die kleine oberfränkische evangelisch-lutherische Kirchengemeinde Unterrodach, in unmittelbarer Nähe von Kronach. Hier hatte der Pfarrer im hiesigen Wirtshaus, weil der Gemeindesaal dafür nicht ausreichte, eine Zusammenkunft einberufen, um für den Erhalt des evangelischen Kindergartens zu werben. Daraufhin wurde der Geistliche vom Ortsgruppenleiter als "Saboteur" und "Feind der Partei" abqualifiziert. Der Pfarrer der evangelisch-lutherischen Pfarrkirche St. Michael berichtete über die vorgefallene Auseinandersetzung: "'Ob ich wüsste, was mit mir geschehen müsste, wenn ich nicht der Pfarrer wäre? - Der Gemeindesekretär dazwischen: Nach Dachau würde ein anderer kommen - Meine Antwort: Um des Wortes Gottes willen müsste ich auch Dachau als Strafe tragen können'" (zit. n. Bookhagen 1990, S. 80). 8 Ab Mitte der 1930er Jahre wurde der Kindergarten immer mehr "der selbstverständliche Ausdruck der neuen Volksgemeinschaft..., ein organisches Glied des nationalen Erziehungswesens, unter der Voraussetzung, dass dieses so gestaltet ist, dass es den in der Volksgemeinschaft wirkenden Kräften der Erziehung wesensgemäßen Ausdruck verleiht" (Schmidt 1935, S. 130 f). Und so avancierte der Kindergarten zu einem politischen Vehikel. Einer seiner wichtigsten Ziele war der Aufbau eines engen emotionalen Bezugs zu Adolf Hitler. Ihm gehören die Kinder, wie auch er ihnen: "Wir dienen der Zukunft unserer Kinder, wenn wir die Liebe und Treue zum Führer so in ihr Herz einpflanzen, daß fortan er ihnen gehört, wie sie ihm gehören" (Benzing 1941, S. 44). Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges gehörte der Kindergarten "zu den 'kriegswichtigen' Einrichtungen" (Villnow 1941, S. 133), da ja viele Mütter in der Kriegsindustrie ihren "Mann" stehen und darum ihre Kinder versorgt werden mussten. Dementsprechend stieg die Nachfrage an Betreuungsplätzen. Die NSV war bemüht sog. "Hilfs- bzw. Kriegskindergärten" zu errichten, die teilweise in Schulen, Gasthäusern und leerstehenden Gebäuden untergebracht waren. Bereits Mitte Juni 1940 bestanden "2 176 Hilfskindergärten. Gerade die Zahl der Hilfskindergärten zeigt am deutlichsten, wie weit verzweigt das Netz unserer Kindergärten [ist; M. B.]" (ebd., S. 133 f). Die "Hilfs- bzw. Kriegskindergärten" unterstanden der NSV, die sehr gelockerte Maßstäbe hinsichtlich der Raumund Personalfrage, des Spiel- und Beschäftigungsmaterials, sanitären Anlagen etc. festlegte: "Möglichste Helligkeit des Raumes, gute Entlüftbarkeit, Nähe einer Wasserleitung und Klosettanlagen, das sind die einfachsten Voraus- setzungen, die bei der Wahl beachtet werden müssen... Da muß man versuchen, den Raum, der einem zur Verfügung gestellt wurde, auszuwerten und die bestehenden Schwierigkeiten beseitigen. Was nützen der hellste Raum und der schönste Spielplatz dabei, wenn die Mütter erst einen weiten Weg bewältigen müssen, bevor sie ihre Kinder hinbringen oder abholen können? Deshalb muß man sich oft mit einer weniger freundlichen Umgebung und einem etwas dunkleren Raum begnügen; hier liegt es dann an der Geschicklichkeit der Kindergärtnerin, ihm trotzdem durch hellen Anstrich und die Wahl der Vorhänge und Bilder einen freundlichen Ausdruck zu geben. Die kräftigende Wirkung der Sonne läßt sich zwar nicht in einen solchen Raum hineinzaubern, aber die Kindergärtnerin wird unter diesen Umständen so oft wie möglich mit den Kindern spazieren gehen" (zit. n. Berger 2015, S. 45 f). 9 V. Der Zusammenbruch der Nazi-Diktatur ließ auch ein zerstörtes Kindergartenwesen zurück. Innerhalb des geteilten Deutschlands verlief die Entwicklung des Kindergartenwesens sehr unterschiedlich. In der sowjetisch besetzten Zone, der späteren DDR, waren die Kindergärten zumeist Ganztagseinrichtungen und wurden bereits 1946 in das öffentliche Bildungswesen eingebunden und im "Gesetz über das einheitliche sozialistische Bildungssystem" von 1965 die skizzierten Grundsätze endgültig geregelt. Aufgrund der Einbeziehung der Frauen in den Arbeitsprozess wurde der Ausbau des Kindergartenwesen systematisch vorangetrieben, so dass bald jedem Kind ein Kindergartenplatz zur Verfügung stand und die DDR bis zum Jahre 1989 das am besten ausgebaute frühkindliche Betreuungssystem in Europa hatte. Als 1952 in der DDR ihr 100. Todestag gefeiert wurde, schrieb man: "Die gesamte Erziehungsarbeit im Kindergarten dient vor allem dem einen großen Ziel, dem die demokratische Einheitsschule vom Kindergarten bis zur Hochschule zustrebt: der Erziehung unserer Jugend zu bewußten Kämpfern für den Frieden. So werden in unseren Kindergärten frohe, selbständig denkende, schaffensfreudige und friedliebende Menschen herangebildet. Hundert Jahre nach Fröbels Tod können wir verwirklichen, was Friedrich Fröbel forderte: 'Kommt, laßt uns unsern Kindern leben!'" (Deutsches Pädagogisches Zentralinstitut 1952, S. 158). Die Erziehung zum friedliebenden Menschen verschwand im Laufe der Zeit. Es ging immer mehr darum, Menschen heranzuerziehen, die ihr Vaterland verteidigen, wie folgendes Zitat aus der Publikation "Programm für die Bildungs- und Erziehungsarbeit im Kindergarten", dem sogenannten "Blaubuch" belegt. Darin steht unter der Rubrik "Vom Schutz des Friedens und des sozialistischen Vaterlandes" geschrieben, wohlgemerkt für die Drei- bis vier Vierjährigen: "Den Kindern sind Vorstellungen über die Tätigkeiten der Angehörigen der bewaffneten Organe zu vermitteln. Sie sollen erfahren, daß diese das Leben der Menschen und die DDR schützen, weil es noch immer Feinde gibt, die alles zerstören wollen. Die Kinder sollen Menschen begegnen und kennenlernen, die uns schützen. Der Stolz der Kinder auf solche Menschen, auch auf ihre Väter, die den bewaffneten Organen angehören oder bereits gedient haben, ist zu entwickeln" (Ministerium für Volksbildung 1985, S. 51). 10 Aus der Lichtbildreihe "Bei der NVA", Quelle: Ida-Seele-Archiv Nicht nur im "Blaubuch", in allen vorhergehenden Erziehungs- und Bildungsprogrammen der DDR sowie von Anfang an in der 1948 gegründeten Fachzeitschrift "Die Kindergärtnerin" (seit 1951 "Neue Erziehung im Kindergarten und Heim", ab 1955 "Neue Erziehung im Kindergarten"), wurden die Kinder darin belehrt, "daß die Angehörigen der bewaffneten Organe große Verantwortung für den Schutz des sozialistischen Vaterlandes tragen und es mutig und klug vor Feinden schützen, die den Krieg wollen und unser friedliches Land bedrohen" (ebd., S. 222). In "Neue Erziehung im Kindergarten", der einzigen Fachzeitschrift zur Vorschulerziehung, findet sich ein Praxisbericht aus einem Kindergarten in Reichenbach im Vogtland, der aufzeigt, wie bei den Kindern "Gefühle der Verbundenheit... zu den Angehörigen der bewaffneten Streitkräfte " (Ministerium für Volksbildung 1967, S. 8) geweckt wurden: "Das Ziel, freundschaftliche Gefühle zu den Soldaten der NVA ("Nationale Volksarmee"; M. B.) herauszubilden, kann in vielen Organisationsformen und im gesamten Tagesablauf verwirklicht werden, zum Beispiel im Spiel, in der Arbeit und in der Beschäftigung. In einer Beschäftigung zum 'Bekanntmachen mit dem gesellschaftlichen Leben' führte die Erzieherin mit den Kindern ein Gespräch über die Soldaten der NVA. Sie erklärte zum Beispiel an Hand von Bildmaterial, daß die Soldaten gleiche Kleidung tragen, die man Uniform nennt. Die Kinder erfuhren, daß die Soldaten Übungen durchführen, die zum Schutz der Heimat notwendig sind, Sport treiben und in ihrer Freizeit viel lesen, um sich gute Kenntnisse für ihre Tätigkeit in der Armee anzueignen. Nach einigen Tagen machte die Erzieherin die Kinder mit dem Gedicht 'Soldaten' bekannt. Aus dem Inhalt ging hervor, daß die Soldaten alle Kinder, die Eltern, die Häuser, alles, was sie umgibt, beschützen... In einer Arbeitsberatung besprachen wir, wie in allen Gruppen der Jahrestag der NVA für die Kinder zu einem eindrucksvollen Erlebnis gestaltet werden kann. 14 Tage vor dem Geburtstag der NVA (gegr. 1956, M. B.) ging die Erzieherin mit den Kindern zum Wehrkreiskommando und zeigte ihnen das Haus, in dem die Soldaten in ihrer Heimatstadt Reichenbach arbeiten. Gleichzeitig meldeten wir unseren Besuch 11 für den 1. März, den Geburtstag der NVA an. Wir stellten ein kleines Programm zusammen und fertigten Glückwunschkarten an. Die Erzieherin motivierte die Aufgabe so, indem sie die Kinder anregte, sich besonders anzustrengen: denn nur die saubersten und schönsten Karten wollten wir den Soldaten überreichen... Ein uns bekannter junger Mann leistet zur Zeit seinen Ehrendienst bei der Nationalen Volksarmee. Gewissenhaft versehen er und seine Kameraden den verantwortungsvollen Dienst an der Staatsgrenze der DDR. Wir wollten mehr von seinem Leben bei den Soldaten hören und baten ihn, uns darüber zu berichten. In seinen Briefen an die Kindergruppe erzählte er von seinem Wachhund 'Rex', mit dem er als Hundeführer Kontrollgänge absolviert. Er berichtete uns auch darüber, daß man nur dann Hundeführer wird, wenn man ein besonders verantwortungsbewußter Soldat ist... 'Unser Soldat', so nennen ihn die Kinder, treibt regelmäßig Sport und liest viel... Die Kinder versuchen ihm nachzueifern. In Turnübungen werden die Übungen genauer und exakter durchgeführt. Bei Beschäftigungen und auch im gesamten Tagesablauf bemühen sie sich, ihre Arbeiten gut auszuführen und sie ständig zu verbessern. Sie wollen sein wie ihr Soldat" (Spiegler/ Singer 1972, S. 17 f). VI. In den westlichen Besatzungszonen und in den Ländern der späteren BRD knüpfte der Kindergarten an die alte Zuordnung zur Kinder- und Familienhilfe an. Ohne die Chance der Neuorientierung zu nutzen, wurde das System der Weimarer Republik restauriert. Demzufolge blieb auch das Angebot an Kindergartenplätzen lange sehr beschränkt, da die Erziehung in der Familie favorisiert wurde. Der Kindergarten sollte "nur da, aber auch überall (gefordert werden; M. B.), wo die Familie und besonders die Mutter nicht bieten kann, was des Kleinkindes ist" (Göttler 1957, S. 325). Wie aber sah sie konkret vor Ort aus, die Kindergartenpraxis der 1950er- und teilweise der 1960er-Jahre? Sie dürfte in den meisten Fällen eher belanglos gewesen sein, da doch überwiegend, wie Anne Heck sich an ihre Kindergartenzeit erinnerte, die "Frühjahr-SommerHerbst-Winter-Pädagogik", mit den spezifischen Fest- und Feiertagen, Geschenken und Aufführungen, im Mittelpunkt des Alltags stand. Die Kinder auf die Schule vorzubereiten, das war der Hauptinhalt aller pädagogischen Bemühungen: "das Training eines möglichst dialektfreien sprachlichen Ausdrucks durch Nachsprechen von Prosatexten und Gedichten (einzeln und im Chor), die Einübung von Fingerfertigkeiten und durch unermüdliches Auffädeln von Perlenketten und Nachsticken von gelochten Bildkarten - und dabei ein (unbemerktes?) Training des Stillsitzens" (Heck 1995, S. 57). Innerhalb der Geschichte des Kindergartens ist in Vergessenheit geraten, dass nach dem Zusammenbruch der Nazi-Diktatur die österreichische Klosterfrau Mater Margarete Schörl (1912-1991), in engster Zusammenarbeit mit ihrer Freundin Margarete Schmaus (1903-1988), die „sozialpädagogische Methode der Spielführung“, das sogenannte Raumteilverfahren, entwickelte und damit die 12 "althergebrachte" Kindergartenpädagogik zu erneuern versuchte. Genannte Methode unterstützt das Bedürfnis und den Wunsch der Kinder, allein, zu zweit neben- oder miteinander und in kleinen Gruppen zu spielen oder andere Aktivitäten durchzuführen. Über das Raumteilverfahren ist nachzuzlesen: "Ich verstehe darunter ein Verfahren, das die Teilung des Raumes durch die Kinder nach deren Aktionsbedürfnissen ermöglicht. Daraus ergibt sich die Gliederung der Kindergruppe in kleine Interessengruppen und in einzeln spielende Kinder. Durch das Raumteilverfahren ergeben sich bedeutsame pädagogische Situationen. Schon das Zusammenfinden der Kinder in eine Gruppe verlangt Stellungsnahme und freie Entscheidung. Es kommt zu Wahlakten, die dort nicht möglich sind, wo die Kindergärtnerin den Ablauf bestimmt. Darüber hinaus werden sittliche Haltungen grundgelegt, die für das ganze später Leben bestimmend sein können. Nicht, dass das Kind 'arbeitet', indem es spielt, ist das Bedeutsame, sondern wie es arbeitet und wie es sich zur Arbeit als selbstgewählte Aufgabe einstellt. Durch Übung nämlich wird das Kind nicht nur mit dem Material vertraut, sondern auch mit der Tätigkeit an sich und weiterhin mit den Voraussetzungen und Zeilen, wie Ausdauer und Erfolg. Das Kind lernt aus eigener Erfahrung, wie weit es Selbstgewähltes verwirklichen kann" (Schörl 1956, S. 22 f). Ingolstädter Nachkriegskindergartenkinder, Quelle: Ida-Seele-Archiv Neben dem Raumteilverfahren war für Mater Schörl ein wichtiger Aspekt, das Kindergartenkind in seiner individuellen Entwicklung optimal zu fördern, ihm Selbstbestimmung in sozialer Verantwortung zu ermöglichen. Dies setzt natürlich "Führung" voraus, jedoch nicht im dirigistischen, vorschreibenden oder autokratischen, sondern im nachgehenden, abwartenden, beobachtenden, 13 als auch in helfendem und liebendem Sinn. Näher betrachtet, stellt sich "Nachgehen" als besondere Eigenart einer Führungsweise heraus "und zwar ist das Nachgehen die psychologisch fundierte Komponente der Führungsarbeit. Das Führen hingegen ist die entsprechende pädagogische Handlung. Um die Qualität des pädagogischen Anteils zu sichern, wird von nachgehendem Führen gesprochen. Die Führung formt die Qualität der sozialen Interaktion; nachgehende Führung macht die Beziehung zwischen den Kindern untereinander, humaner - menschlicher. Dadurch wird nachgehende Führung zu einem Lernprozeß, vollzogen von der Erzieherin, beantwortet von den Kindern in ihren Lernprozessen!" (Schörl 1976, S. 29). Eine solche Führung, schreibt den Kindern nicht vor was sie zu tun haben, wie sie sich beschäftigen oder was sie spielen sollten, vielmehr werden sie von den erzieherisch Verantwortlichen auf ihre Handlungen und Aktivitäten vorbereitet, in ihrem Tun begleitet, gefördert, gefordert und unterstützt. Das heißt, die nachgehende Führung hilft, "wo Hilfe nötig, denn das Nachgehen lässt erkennen, welches Kind Hilfe braucht und welcher Art diese Hilfe sein soll. Nachgehende Führung lässt kein Chaos aufkommen; durch die Aktivitäten der Kinder und die Aufmerksamkeit des Erziehers entsteht eine geordnete Situation, in der Lehrund Lernprozesse in allen Bereichen, besonders aber im Sozialbereich, vor sich gehen können" (Schmaus/Schörl 1978, S. 62). In der nachgehenden Führung sind die vorrangigen Methoden der Vermittlung: spontanes, angeregtes sowie angeleitetes Spiel, dies wiederum motiviert durch die Raumgestaltung, als auch durch Spielangebote. Bedauerlicherweise wurde/wird die "Schörlpädagogik" nur auf das "Raumteilverfahren" reduziert. Dabei beinhaltet sie eine umfassende Kleinkindpädagogik, deren Grundlagen, auf die an dieser Stelle aus Platzgründen nicht näher eingegangen werden kann, aber teilweise schon ersichtlich wurden, zeitlos sind (vgl. Riedel 2003). Hierbei handelt es sich um folgende Aspekte, die später u.a. vom sogenannten "Situationsansatz" (dazu nachfolgend mehr) oder auch "Offenen Kindergarten" (vgl. Regel/Wieland 1993, S. 143 ff.) aufgegriffen wurden: * Bildungsarbeit über den Umgang des Kindes mit Material (vgl. Caritasverband Hannover e. V. o. J., S. 35 ff.), * Bildungsarbeit über Sprache (vgl. ebd., S. 55 ff) , * Bildnerisches Gestalten (vgl. Schmaus/Schörl 1964, S. 117 ff.), * Unterweisungen der Kinder im Umgang mit Menschen und Dingen (vgl. Schmaus/Schörl 1964, S. 74 ff.), * Religiöse Erziehung (vgl. Schmaus/Schörl 1968), * Lernen in altersgemischten Gruppen (vgl. Schmaus/Schörl 1964, 93 ff.) oder S. 14 * Neuanfang im Kindergarten für das einzelne Kind (vgl. Regel/Wieland, 1993, S. 146 ff.). Mater Margarete Schörl, Quelle: Ida-Seele-Archiv Hochgeschätzter Kinder- und Menschenfreund! Die gesellschaftspolitischen Veränderungen Ende der 1960er Jahre hatten dem Kindergarten die ersten stürmischen Herausforderungen beschert. Einen nicht zu unterschätzenden Beitrag dazu leistete die sogenannte "antiautoritäre Erziehung", die noch immer negative Assoziationen hervorruft. Der erste "antiautoritäre Kinderladen" der BRD wurde im Sommer 1967 in Frankfurt von Monika Seifert (1932-2002), Tochter des bekannten Psychoanalytikerehepaares Alexander Mitscherlich (1908-1982) und Melitta Mitscherlich (1906-1992), ins Leben gerufen, die ihre Einrichtung, genannt "Kinderschule Frankfurt", noch als "repressionsfreien Kindergarten" bezeichnete, da man damals noch nicht von "antiautoritärer Erziehung" sprach (vgl. Aden-Grossmann 2011, S. 143). Die Frankfurter Behörden sträubten sich zunächst, die Kinderschule "finanziell zu unterstützen, unter anderem deshalb, weil die Handtuchhaken in der Toilette nicht den vorgeschriebenen Abstand hatten. Dann gab es das Geld zwar, aber nun sah sich die Volksschule außerstande, für die Absolventen dieses Kindergartens eine eigene antiautoritär geleitete Klasse einzurichten, wie die Eltern gewünscht hatten" (o. V. 1970, S. 72). Ein Jahr später entstanden in Berlin-Kreuzberg ebenfalls anti-autoritäre Einrichtungen sog. "autonome Kinderläden". Die Initiative hierzu ging vom "Aktionsrat zur Befreiung der Frauen" aus, welcher gleichzeitig die zweite deutsche Frauenbewegung einleitete. Die politisch engagierten (überwiegend studierenden) Frauen, allen voran Helene Sander, sahen sich genötigt, ihre Kinder irgendwo unterzubringen, 15 und sie waren sich darüber klar, "daß das in einer normalen staatlichen Kindertagesstätte nicht zum Nutzen der Kinder ist" (Hasselblatt 1971, S. 8). Ihrem politischen Verständnis entsprechend, sind die Akteurinnen bewusst nach Berlin-Kreuzberg gezogen, weil sie in diesem Arbeiterviertel ihr "Modell von Erziehung nicht nur für unsere 'akademischen Elitekinder' anwenden wollten, sondern auch Arbeiterkindern zugänglich machen wollten" (ebd., S. 9). Weitere antiautoritäre/autonome Einrichtungen folgten in allen größeren Städten der BRD, in Stuttgart, Mannheim, Kiel, Köln, Franfurt/Main u.a.m. In München hatten 1969 Eltern der "Aktion Kindergarten" die Gründung eines autonomen Kinderladens mit folgenden Worten begründet: "Wir brauchen den Kindergarten als kompensatorische Einrichtung zur Familie; der Kindergarten ist für die Interessen und Bedürfnisse der Kinder da, diese sind den Erwachsenen gegenüber in der Übermacht, hier finden sie gleichstarke Partner, die sich in der gleichen Phase der geistigen und sexuellen Entwicklung befinden, mit denen sie sich auseinandersetzen und mit denen sie zusammenarbeiten können... Wir halten es jedoch nach unserer politischen Überzeugung für richtig, diese Realität der Unterdrückung nicht als ohnehin veränderbar resignierend hinzunehmen. Vielmehr sind die Bedingungen und der Zusammenhang der Unterdrückung bereits den Kindern durchsichtig zu machen. Unterdrückung ist von Menschen geschaffen und kann von Menschen abgeschafft werden" (zit. n. Netz 1998, S. 95). Worin lag eigentlich der Unterschied zwischen der "Frankfurter Kinderschule" und den Berliner "autonomen Kinderläden"? Für Sanders ging es Seifert " biografisch nicht darum, mit dem Kindergarten auch eigene Probleme als Frau lösen zu müssen, selber Zeit für sich zu schinden, sondern sie befasste sich beruflich mit Erziehungsfragen und hatte persönlich einen anderen materiellen Hintergrund als die jungen studierenden Frauen mit Kindern in Berlin. In Berlin ging es um ein neues politisches Konzept, das Frauen als politisches Subjekt entwickelt hatten. In Frankfurt ging es zunächst um eine inhaltliche Neubestimmung vorhandener Kindergärten, ohne dass dies verbunden gewesen wäre mit Forderungen nach einer neuen öffentlichen Erziehung für alle und mit Frauenemanzipation" (http://www.helke-sander.de/2008/01/die-entstehung-derkinderlaeden/). Im Zuge des "Sputnik-Schocks" und seinen bildungspolitischen Nachwehen entdeckte man die Wichtigkeit der frühen Kindheit und glaubte mit einer Reform der öffentlichen Vorschulerziehung eine Stellschraube für gesellschaftliche Problemlösungen unterschiedlichster Art gefunden zu haben. 1970 wurde im "Strukturplan für das Bildungswesen", herausgegeben vom "Deutsche Bildungsrat" vorgeschlagen, den Kindergarten dem Elementarbereich zuzuordnen, als unterste Stufe des in vier Bereiche gegliederten Bildungssystems: Elementarbereich, Primarbereich, Sekundarstufe 16 I und II, Weiterbildung. Demzufolge sollten statt wie bisher drei Alterstufen (Drei-, Vier- und Fünfjährige, häufig noch Sechsjährige) in "Zukunft nur noch zwei Altersjahrgänge (Drei- und Vierjährige) in die Kindergärten aufgenommen werden, wenn im Primärbereich der Schule die geeigneten Voraussetzungen geschaffen worden sind, um Kinder vom vollendeten 5. Lebensjahr an in einer zweijährigen Eingangsstufe zu fördern" (Deutscher Bildungsrat 1973, S. 102). Das bedeutete konkret, die Fünfjährigen in an (noch nicht reformierten Grundschulen) angesiedelten Vorklassen und Eingangsstufenmodellen ("Modellversuchen" nannte man das Vorhaben) unter schulischen Strukturen zu fördern. Wenngleich sich das vom "Deutschen Bildungsrat" entworfene Modell nicht durchsetzte, ist als Ergebnis des dadurch eingeleiteten Reformprozesses zu würdigen, "dass sich die Länder in den 1970er Jahren nach und nach mit der Verabschiedung von Kindergartengesetzen bzw. Kindertagesstättengesetzen einen größeren Verbindlichkeitsgrad für ihr politisches Handeln im Kindergartenbereich gaben" (Reyer 2013, S. 296). Damit verbunden war ein stetiger quantitativer Ausbau von vorschulischen Einrichtungen sowie die Entwicklung und Erforschung von curricularen Ansätzen. Bis heute wird noch heftig um konzeptionelle Orientierungen diskutiert: hie Situationsorientierter Ansatz, da Situationsansatz, hie Spielzeugfreier Kindergarten, da Early Excellence Centre, hie Waldkindergarten, da Offener Kindergarten, hie Kindzentrierter Ansatz, da Reggio-Pädagogik, hie Montessori-, da WaldorfPädagogik, hie Schörl-Pädagogik, da Kognitivistischer Ansatz, hie ... Ich nehme an Herr Fröbel, dass Sie die unüberschaubare Pluralität an Konzeptionen regelrecht überfordert, wie auch viele heute in der Praxis stehende Erzieher und Erzieherinnen. Grundsätzlich kann gesagt werden, dass sich neben Ihrer Pädagogik, der Montessori- und Waldorf-Pädagogik, der Situationsansatz als die erfolgreichste, wenngleich auch die umstrittenste Konzeption durchgesetzt hat, da er nicht Funktionen schulen sondern die Kinder auf die Bewältigung von Lebenssituationen vorbereiten will. Sein Erfolg "ist nicht zuletzt deshalb zu würdigen, weil er sich in einer pluralistischen Konzeptions- und Trägerlandschaft durchgesetzt hat. Andererseits ist die spezifische pädagogische Gestalt dieses Ansatzes in der Praxis häufig nicht identifizierbar, was bei Außenstehenden den Eindruck der Beliebigkeit hervorruft. Der Situationsansatz ist ein sozialpädagogischer Denkansatz und weist von daher eine gewisse Nähe zu Begriffen wie Lebenswelt und Alltag auf. Aber wie diese Begriffe eher für ein Leitbilddenken stehen, das wenig über Ziele und Methoden in einer wissenschaftlich reflektierten Weise Auskunft gibt so bleiben auch die Verfechter und Verfechterinnen des Situationsansatzes eine solche Auskunft schuldig" (ebd., S. 297). Erfreulich ist, lieber Herr Fröbel, dass inzwischen in allen 16 Bundesländern Erziehungs- und Bildungspläne erarbeitet wurden, mit unterschiedlichem Umfang (von 12 bis 488 Seiten!) sowie Altersgruppenbezug (von 0 bis zehnten Lebensjahr), aber relativ ähnlichen Inhalten. Die Pläne beruhen auf freiwillige 17 Mitwirkung der erzieherisch Verantwortlichen und reichen über den Status von 'Empfehlungen' und 'Handreichungen' nicht hinaus. Fast alle Erziehungs- und Bildungspläne beinhalten Lernfelder, werden Leitgedanken (wie Bildungsverständnis, Umgang mit individuellen Unterschieden und kultureller Vielfalt, Relevanz von Spielen und Lernen) formuliert und das zugrundeliegende Menschenbild skizziert. Allenthalben ist von den Kindern zu erwerbenden "(Basis-)Kompetenzen" und "Schlüsselqualifikationen" die Rede. Ferner werden verschiedene Bildungs- und Erziehungsbereiche bzw. Lern- und Erfahrungsfelder (bspw. mathematische, künstlerische, technische, emotionale, gesundheitliche, musische, sprachliche und mediale Bildung) sowie inklusive didaktische Anleitungen und methodische Hinweise unterbreitet. Ein besonderer Augenmerk gilt der Integration von Kindern mit Migrationshintergrund, Kindern mit erhöhtem Entwicklungsrisiko und (drohender) Behinderung, Kindern mit besonderen Bedürfnissen, Kindern mit Hochbegabung oder die auf die Kinder zukommenden Übergänge ("Transition"), von der Familie oder Krippe in den Kindergarten und vom Kindergarten in die Schule. VII. Mein lieber, geehrter Herr Fröbel. Zum Abschluss meines Briefes erhebt sich noch die Frage: Wie wird es mit ihrer "Stiftung" weitergehen? Die Zukunft wird zeigen, wie die anstehenden und kommenden Probleme, Aufgaben und Einstellungen angegangen und gelöst wurden. Viel Weisheit, Geduld, Toleranz und Phantasie sind im Interesse der Betroffenen, der Kinder und ihrer Eltern, der Erzieher/innen sowie der Träger angesagt. Zweifellos muss der Kindergarten in Zukunft fundamentale Lern- und Bildungsprozesse und Lebenserfahrungen sichern, sich den rasanten technologischen, ökonomischen, ideellen und gesellschaftlichen Veränderungen der Zeit stellen. Ich denke in diesem Zusammenhang an die kleinen traumatisierten Flüchtlingskinder aus Syrien, Äthiopien, Afghanistan etc. die vor unseren Kindergartentüren stehen. Wahrlich eine schwere pädagogische Situation und Belastung für den Kindergarten der Gegenwart und Zukunft. Sicherlich wird Ihre "Stiftung" eine unverzichtbare Sozialisations- und Bildungsinstanz bleiben, für all jene Menschen, die im Erziehungsprozess involviert sind: Erzieher/Erieherinnen, Eltern, Kind, egal welcher gesellschaftlichen. sozialer und kultureller Herkunft. Das historisch geformte Spannungsverhältnis zwischen Betreuung einerseits und Bildung andererseits erfordert für die Zukunft einen kontinuierlich auszutarierenden Balanceakt zwischen Förderung und Betreuung im Aufgabenprofil des Kindergartens. Er wird in Zukunft sicher einen bedeutsamen Beitrag für einen gelingenden Erziehungs-, Bildungs- und Sozialisierungsprozess der Kinder sowie ihrer gesellschaftlichen Integration leisten (müssen). 18 Empfangen Sie, verehrter Herr Fröbel, die Versicherung ganz besonderer Hochachtung, Ihnen und den Ihnen so sehr am Herzen gelegenen Kindern. In diesem, Ihrem Sinne: "Kommt, lasst uns unsern Kindern leben!" Mit besonderer Hochachtung Ihr Manfred Berger Dillingen a. d. Donau, im April 2015 Literatur Aden-Grossmann, W.: Der Kindergarten: Geschichte - Entwicklung - Konzepte, Weinheim/Basel 2011 Benze, R.: Erziehung im Grossdeutschen Reich. Eine Überschau über ihre Ziele, Wege und Einrichtungen, Frankfurt/Main 1943 Benzing, R.: Grundlagen der körperlichen und geistigen Erziehung des Kleinkindes im nationalsozialistischen Kindergarten, Berlin 1941 Berger, M.: 150 Jahre Kindergarten, Frankfurt/Main 1990 Ders.: Frauen in der Geschichte des Kindergartens, Frankfurt/Main 1995 Ders.: Der Kindergarten von 1840 bis in die Gegenwart, Saarbrücken 2015 Ders.. "Gelobt sei alles, was hart macht! Das Kindergartenwesen im nationalsozialistischen Deutschland am Beispiel der Fachzeitschrift "Kindergarten", Saarbrücken 2015 Bookhagen, R. : Evangelische Kinderpflege im Nationalsozialismus. Die Krisenjahre 1939 - 1941, in: Strohm, T./Thierfelder, J. (Hrsg.): Diakonie im "Dritten Reich". Neuere Ergebnisse zeitgeschichtlicher Forschung, Heidelberg 1990, S. 78-107 Caritasverband Hannover e. V. (Hrsg.): Freiraum Kindergarten. Gemeinsam spielen. Gemeinsam lernen. Gemeinsam leben, Hannover o. J. Deutscher Bildungsrat: Strukturplan für das Bildungswesen, Stuttgart 1973 19 Deutsches Pädagogisches Zentralinstitut (Hrsg.): Gedenkschrift. Zum 100. Todestag von Friedrich Fröbel am 21. Juni 1952, Berlin (Ost) 1952 Erning, G.. Geschichte der öffentlichen Kleinkindererziehung - von der Bewahranstalt zur Bildungsanstalt, in: Liedtke, M. (Hrsg.): Handbuch der Geschichte des bayerischen Bildungswesens. Vierter Band, Bad Heilbrunn 1997, S. 718-745 Göttler, J.: System der Pädagogik im Umriss, München 1932 Grossmann, W.: Kinder-Garten. Eine historisch-systematische Einführung in deine Entwicklung und Pädagogik, Weinheim/Basel 1994 Grunelius, E. v.: Erziehung im frühen Kindesalter, Schaffhausen 1980 Hartmann, A.: Fröbels Erziehungsmittel nach der Konzentrationsidee bearbeitet für Kindergarten und Familie, Leipzig 1904 Hasselblatt, U.: Aufstand in der Kinderstube. 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