„Reisen veredelt den Geist…“ Erster Teil Prof. Dr. Leef H. Dierks hat in Lübeck an der Fachhochschule die Professur für Finanzierung und Internationale Kapitalmärkte am Fachbereich Maschinenbau und Wirtschaft inne. Im Rahmen einer Gastvorlesung an der Partnerhochschule ZJUT (Zhejiang University of Technology) in Hangzhou, China referiert Dierks über erste Auswirkungen der gegenwärtigen Finanzkrise auf China. Dierks hatte vor Antritt seiner Reise zugesagt, über seine Erwartungen und Eindrücken von seinem Aufenthalt und der Vorlesung vor chinesischen Studierenden zu bloggen. Hier ist sein erster blog (bereits bebildert). Die drei Bilder stammen übrigens vom Stadtspaziergang durch diese Stadt mit sieben Millionen Einwohnern, die außerhalb der Grenzen Chinas kaum jemand kennt - obwohl es Marco Polo sogar bis hierher verschlug. Teil I: Erwartungen Reisen veredelt den Geist und räumt mit allen unseren Vorurteilen auf. Oscar Wilde (1854-1900) Um neuen Eindrücken und Erfahrungen aufgeschlossen gegenüber stehen zu können, sollten Reisen, noch dazu jene in die Ferne, möglichst unbefangen und gänzlich ohne Erwartungen angetreten werden. Alles andere führt unweigerlich dazu, dass wir das, was uns vermeintlich ohnehin bekannt ist, nur zu bestätigen suchen. Und dennoch trete ich die zehntägige Reise an unsere Partnerhochschule nach Zhejiang mit einer ganzen Fülle an Erwartungen an: Was erwarte ich? Was erwartet mich? Wer erwartet mich? Und was erwartet man von mir? Die erste Frage ist schnell beantwortet: Meine frühere Tätigkeit im Investmentbanking hat mich seit 2006 immer wieder in das Reich der Mitte geführt. Auch wenn diese Reisen stets kurz waren, bilde ich mir ein, bereits erste Einblicke in Kultur und Mentalität gewonnen zu haben. Ungeachtet der Direktheit vieler Chinesen wäre ich beispielsweise durchaus überrascht, wenn mich das Auditorium im Rahmen der anstehenden Vorlesungen mit Zwischenfragen oder Anmerkungen unterbräche. Nicht etwa, weil Desinteresse am Thema herrschte, mitnichten, sondern weil das Verhältnis zwischen Redner und Zuhörern schlicht anders als in Europa ist. So ziemt es sich nicht, das vermeintliche Expertenwissen sogleich und offen kritisch zu hinterfragen. Dies heißt nicht, dass die getroffenen Aussagen unkritisch übernommen würden. Doch wäre es gänzlich inakzeptabel, und das gilt für Redner wie Auditorium gleichermaßen, dem Gegenüber einen Gesichtsverlust beizubringen. Ich bin skeptisch, ob es nach der Vorlesung zu einer breiteren Diskussion mit den Studierenden kommen wird – oder ob mich, wie zum Beispiel bei Kunden in Peking, regelmäßig freundliches Schweigen erwartet. Hinsichtlich der Forschung suchten die Kollegen in Hangzhou übrigens schon im Vorfeld meines Besuchs in Erfahrung zu bringen, welche Themenbereiche denn aktuell im Mittelpunkt des Interesses stünden. Konkret steht hier also der Austausch von Ideen – und, wer weiß, später möglicherweise auch eine gemeinsame Veröffentlichung an. Nun, das ist es also, was ich glaube, was mich dieser Tage an der Zheijiang University of Technology erwarten wird. Doch die Antwort auf die Frage danach, wie sich die Vorlesungen dann tatsächlich entwickelten, was mich konkret erwartete und ob ich den Erwartungen gerecht werden konnte, folgte in Kürze: in Teil II dieses etwas anderen Reiseberichts. Für fachlich Interessierte: Gegenstand der Gastvorlesungen in Hangzhou werden erstens die Auswirkungen der gegenwärtigen Finanzkrise auf China sein. Das Hauptaugenmerk des Vortrags wird dabei auf den realwirtschaftlichen Ansteckungseffekten liegen, da das chinesische Finanzsystem in Folge seiner lediglich begrenzten Öffnung nur indirekt betroffen war. Dennoch sollte die Rolle des in China so bedeutsamen Schattenbankensektors, von dem in Folge einer zunehmenden Instabilität eine wachsende Gefahr ausgeht, nicht vernachlässigt werden. Zweitens werden die Gastvorlesungen die deutsch-chinesischen Handelsbeziehungen im Wandel der Zeit portraitieren. Zwar beliefen sich diese 2013 auf insgesamt mehr als €140Mrd., doch während deutsche Unternehmen Waren im Werte von lediglich €67Mrd. nach China lieferten, summierten sich die Exporte chinesischer Firmen nach Deutschland schon auf €74Mrd. Wie werden sich die Handelsströme zukünftig entwickeln – und welche Konsequenzen werden daraus erwachsen? Prof. Dr. Dierks auf dem Campus … vor Studierenden der ZJUT. … mit chinesischem Kollegen Prof. Yu Bin Zentralgebäude der ZJUT Arbeitsdokumente mit Merchandise-Artikel Stadtimpressionen Stadtimpressionen Stadtimpressionen Ochsenfrosch zum Dinner – Zweiter Teil Seit meinem ersten Bericht ist mittlerweile etwas mehr als eine Woche vergangen. Ich habe mich zwischenzeitlich gut eingelebt und vieles, was zunächst noch exotisch anmutete, darunter Ochsenfrosch mit Chili und Koriander zum Dinner um halb sechs oder das schier pausenlose Hupen in Hangzhous Stadtverkehr, erscheint jetzt beinahe alltäglich. Prof. Dr. Dierks in der Vorlesung Meine Vorlesungen finden auf dem erst 2002 eröffneten, 20km vom Stadtzentrum entfernt gelegenen Pingfeng Campus statt, der in seinen Wohnheimen aktuell knapp 21.000 Studierende in Vierer-Wohngemeinschaften beherbergt. Davon entfallen alleine 4.000 auf die Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät, in der ich vorübergehend im Büro meines Gastgebers Yu Bin, seines Zeichens Professor für Volkswi rtschaftslehre, untergebracht bin. Die Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät Auch wenn das Pendeln zwischen den beiden Standorten selbst im universitätseigenen Shuttlebus nervtötend ist und dank des dichten Verkehrs jedes Mal bis zu einer Dreiviertelstunde in Anspruch nimmt, ist die Luft vor den Toren der Stadt nahe der unter Naturschutz stehenden Xixi Wetlands spürbar sauberer - und der Geräuschpegel kaum mit dem der Großstadt vergleichbar. Hangzhous Stadtverkehr Hangzhous Stadtverkehr Sehenswert neben der schieren Größe der Anlage (213ha) ist vor allem die 60.000m2 große Universitätsbibliothek (mit eigenem Museum zur Geschichte der ZJUT) als Mischung zwischen Petersdom und Weißem Haus, deren Bestand aktuell etwas mehr als sieben Millionen Bücher umfasst. Innenstadt Professionelle Tafelwischer Die erste Vorlesung im Rahmen meines Aufenthalts (zum Thema „Zukunft der DeutschChinesischen Handelsbeziehungen“) hielt ich vor einem Auditorium von etwa 80 teils noch sehr jungen Undergraduates. Vom Augenscheinlichen einmal abgesehen, gibt es kaum nennenswerte Unterschiede zu Lübeck, sprich in Anbetracht akuter Raumnot (sic!), wichen wir auf die Hörsäle der Juristischen Fakultät aus, die unseren, sieht man einmal von dem professionellen Tafelwischer ab, in nichts nachstehen. Ungewohnt jedoch, dass sich die Studierenden, wollen sie eine Frage stellen, stets erheben. Auch wenn mein Mandarin jenem Marc Zuckerbergs noch nicht ganz nahe kommt, gelang es mir wohl, mich verständlich zu machen, worauf zahlreiche Rückfragen zum Inhalt der Vorlesung hindeuteten. Auf starkes Interesse stieß dabei in diesen wie auch anderen Gesprächen stets die Wahrnehmung Chinas aus Perspektive eines Ausländers. Meine nächste Vorlesung widmete sich den „Auswirkungen der Finanzkrise auf China“. Auch hier das gleiche Bild: 20 interessierte Undergraduates, die der nicht immer ganz unkomplizierten Materie dennoch größtenteils problemlos folgen und am Ende mit pointierten Kommentaren sowie kritischen Anmerkungen aufwarten. Eine richtige Diskussion, doch ist das vermutlich eher auf die sprachliche als die fachliche Barriere zu schieben (die wirtschaftswissenschaftliche Fakultät der ZJUT belegte im Ranking unter knapp 1.500 chinesischen Universitäten den 63. Rang), wollte trotzdem nur bedingt in Gange kommen. Rushhour auf dem Campus Am Sonntag um neun Uhr (nein, kein Schreibfehler) dann ein knapp vierstündiges Seminar des englischsprachigen MBA-Studiengangs, das kurzerhand aus den Räumlichkeiten der ZJUT an ein Teehaus am Ufer des die etwa 1.700km von Peking nach Hangzhou reichenden Grand Canal verlegt wurde. Zunächst entsteht ein wenig Unruhe, da sich, solange der Dozent noch steht, niemand zu setzen traut. Doch lässt sich dieses Problem kurzfristig angehen, so dass wir schon bald mit der Kombination aus traditioneller Teezeremonie und Seminar beginnen können. In Anbetracht des im Vergleich zu den Undergraduates zumeist tieferen Fachwissens der etwa 25 Teilnehmer einigen wir uns auf eine offen geführte Diskussion, während derer sich mein Verständnis der chinesischen Sicht auf die wirtschaftliche Lage Europas maßgeblich verbesserte. Einige der Teilnehmer haben zudem bereits den Schritt in die Selbständigkeit gewagt und teilen ihre dabei gesammelten Erfahrungen bereitwillig. Hauptanliegen ist jedoch die Frage nach der Stabilität des chinesischen Finanzsektors bzw. des immensen Schattenbankensystems. Für fachlich Interessierte: Binnenmarkt mit 1,4 Milliarden Konsumenten Ungeachtet des in Europa noch vier bis fünf Mal so hohen Pro-Kopf-Einkommens ist die Größe des Binnenmarktes mit seinen knapp 350 Millionen Konsumenten im Vergleich zu dem auf mittlerweile 1,4 Milliarden Verbraucher angewachsenen chinesischen Markt eher moderat. Doch unter der Prämisse, dass mit dem stetigen Wachstum der chinesischen Mittelklasse auch deren verfügbares Einkommen zunimmt, wird die Bedeutung des Marktes gerade für die deutsche Exportwirtschaft, allen voran den Maschinenbau und die Automobilbranche, deren Erzeugnisse hier tagtäglich in wachsender Zahl auf den Straßen zu sehen sind, noch zunehmen. Letzteres wird übrigens aktuell im Rahmen einer Forschungsarbeit seitens eines Studierenden des Masterstudiengangs BWL in Lübeck untersucht. Anstehende Besuche in chinesischen Unternehmen Bevor ich in wenigen Tagen die Heimreise antrete, stehen neben Terminen mit der Universitätsleitung auch Besuche bei Unternehmen wie Alibaba oder der HZ Investment Corporation an. Erklärtes Ziel ist es zu eruieren, inwiefern die Möglichkeit einer zukünftigen Kooperation besteht, so beispielweise im Hinblick auf Bachelor- oder Masterarbeiten. Zudem wurde ich eingeladen, schon im kommenden Jahr erneut nach Hangzhou zu reisen. Ich wurde gebeten, der im April 2015 an der ZJUT stattfindenden Global Finance Conference als Redner zum Thema Finanzkrisen beizuwohnen. Mein Bericht, lieber Leser, endet an dieser Stelle; gilt es neben dem Packen der Koffer doch eine Vielzahl in kurzer Zeit gemachter Eindrücke und Erfahrungen zu verarbeiten. Ab Montag bin ich wieder in dem vergleichsweise beschaulichen Lübeck.
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