Julia Schmid, Kinder

Kolumne im Glattaler vom 8. Mai 2015
Respekt heisst Unterschiede wertschätzen
Der Respekt hatte in der Erziehung früherer Generationen einen hohen
Stellenwert. Mit ihm verband man Anstand und Gehorsam. Es galt den
Kindern Respekt beizubringen. Dieser war in aller Regel direkt
verbunden mit Furcht vor Autoritäten. Die Jugendunruhen der 60er Jahre
haben Autoritäten grundsätzlich hinterfragt und abgelehnt. Nach und nach haben
Lehrer, Pfarrer, Gemeindepräsidenten und andere ihre Stellung als Respektspersonen eingebüsst.
Inzwischen scheint der Wind gedreht zu haben. In jüngster Zeit wird unter den wichtigsten Werten der
Gesellschaft immer wieder der Respekt genannt. Respekt ist in. Warum ist das so? und was heisst
Respekt heute?
Mir scheint, der Begriff sei geblieben, doch seine Bedeutung habe sich verändert. Meine Oma
beispielsweise findet es respektlos, wenn jemand im Stehen an der Bushaltestelle ein Sandwich isst.
Meine Nachbarin findet es respektlos, wenn sich im Bus vier Mütter auf Türkisch und nicht auf
Schweizerdeutsch unterhalten. Ich vermisse Respekt, wenn bei einer Verkehrsumleitung der
Fahrradstreifen nicht mitberücksichtigt wird. Respektlos erscheint uns also, was die eigenen Normen
und Regeln verletzt. Dabei geht leicht vergessen, dass auch der Geschäftsmann, der zwischen
Jogastunde und Geschäftstermin im Stehen ein Sandwich verdrückt, nur seinen eigenen Normen und
Werten folgt. In einer immer komplexeren und vielfältigen Gesellschaft erhält Respekt eine neue
wichtige Bedeutung und heisst in erster Linie, andere Werte und Normen anzuerkennen. Wir müssen
uns daher hinterfragen, warum uns etwas respektlos erscheint, und ob der Wunsch nach Respekt
gerechtfertigt ist.
Respekt darf nicht mehr, wie früher, mit der Angst vor der Respektsperson verbunden sein: Ein
Schüler traut sich nicht, die Lehrerin auf einen Fehler auf der Tafel aufmerksam zu machen. Der
Nachbar mit wenig Deutschkenntnissen grüsst mich nicht, weil er Angst hat, dem Grüezi eine falsche
Betonung zu geben. Ein Kind versteckt sich hinter dem Hosenbein der Eltern, wenn eine fremde
Erwachsene es plötzlich anspricht. Es geht bei diesen Beispielen stets um Beziehungen zwischen
zwei Personen, die von Ungleichheit geprägt sind. Die Respektsperson steht in diesen Beispielen
überlegen, stark und selbstbewusst da, die Person, die Respekt erweist, dagegen unterwürfig und
schwach.
Heute meint Respekt eine Begegnung auf Augenhöhe. Respektvoll handeln heisst, die Weltansichten
und Erfahrungen des Gegenübers ins eigene Handeln mit einzubeziehen. In der Anerkennung und
Wertschätzung des Andersartigen erhält Respekt heute einen neuen Sinn und wichtigen Stellenwert in
unserem Zusammenleben.
Julia Schmid (32), Kinder- und Jugendbeauftragte der Stadt Dübendorf